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1 Krieg und Vernichtung

1.1 Wann wird der Wahnsinn enden?

„Runter mit dir Franz, du hast gleich eine Kugel in der Rübe! Soldaten, still und Gewehre anlegen. Der Feind naht!“ Amerikanische M22-Panzer der 9. Panzerdivision rollen über die Landstraße auf den kleinen Ort Bundenbach zu, der idyllisch in der hügeligen Landschaft liegt. Die Bevölkerung war schon vor einigen Tagen in die nahegelegenen Schiefergruben geflohen und harrte dort nun aus, bis dieser letzte Kampf entschieden wäre. Zitternd liegen die wenigen Wehrmacht-Soldaten, denen die Verteidigung dieses Ortes befohlen wurde, hinter einem Misthaufen im Dreck und schauen sich an. An der Ratlosigkeit ihrer Gesichter ist abzulesen, dass es für diese Situation nun kein mehr Protokoll gibt.

Der Führer hatte immer wieder gebrüllt: „Ein deutscher Soldat ergibt sich nicht! Er opfert sich für sein Vaterland!“ Nach den vielen Monaten des Rückzugs und der Neuformation waren sie jedoch kampfmüde und nur noch leicht bewaffnet. Wie lächerlich Hitlers Kampfparole „Wir aber stellen den Menschen gegen das Material!“ angesichts der heranrollenden amerikanischen Kampfpanzer erschien! Die Soldaten im vorausfahrenden Spähpanzer würden sie schließlich jeden Moment entdecken. Nun stand ihnen der Tod wohl unmittelbar bevor.

„Für mich ist der Krieg vorbei, ich will nach Hause! Was machen wir nur in diesem Dreck? So eine Scheiße wünscht man nicht einmal seinem schlimmsten Feind! Ich hoffe, dass es so einen Krieg nie wieder geben wird! Mir reicht’s!“ Heinrich wirft seine Pistole in den Misthaufen und geht auf den offenstehenden Kuhstall zu. Der kommandierende Unteroffizier zieht die Pistole und, noch bevor Franz und seine Kameraden reagieren können, sackt Heinrich vor der Tür des Stalles leblos zusammen. „Will noch jemand desertieren oder dem Feind unsere Stellung verraten? - Nein? - Gut, dann werde ich mit euch zweien nun die Panzer direkt angreifen. Marsch!“

Die ersten beiden Kampfpanzer haben den Ort erreicht und werden von den Wehrmacht-Soldaten aus den ersten beiden Wohnhäusern mit Granaten beschossen. Blitzschnell drehen sie ihren Turm und schießen die Häuser in Schutt und Asche. Franz beobachtet, wie die Kameraden und der Unteroffizier aus dem brennenden Haus springen und zu Tode stürzen. Er harrt mit den Verbleibenden weiter im Misthaufen aus.

„Ich hatte schon bei meinem Einzug im September 1941 ein mieses Gefühl, dass dies alles einmal in einem großen Elend enden wird und dass der so hochgelobte Herr Führer sich doch als Spinner entpuppt!“, sagte eine mir wohlbekannte Stimme in einem ernüchternden Ton. „Kann man eine leuchtende Zukunft eines Volkes auf Ausbeutung und Vernichtung eines anderen aufbauen? Wie kann man Millionen von Menschen als unwertes Leben deklarieren, sie vernichten lassen und nur das eigene Volk und seine Verbündeten akzeptieren? Immerhin hat heute morgen Rüstungsminister Speer Hitler erläutert, dass der Krieg aus seiner Sicht nicht mehr zu gewinnen sei. Wäre Hitler hier auf dem Schlachtfeld und hätte er die Jagdbomberangriffe der letzten Tage gesehen, hätte er es wohl selbst mitbekommen. Aber jetzt heißt es: Die Geister die ich rief, werde ich nun nicht mehr los! - Diese Schmach und das Schlamassel, welche aus dieser verbrecherischen Führung resultieren, haben nun nicht nur wir Soldaten, sondern das ganze Volk auszubaden. Unsere Städte werden Tag und Nacht von alliierten Flugzeugen bombardiert, unsere Häuser von Panzergranaten durchlöchert und wenn Gott uns nun nicht beschützen wird, ist unser Leben auch gleich zu Ende! Hass erzeugt nur Hass und Vernichtung!“

„Halt’s Maul, Franz! Lass die großen Reden! Die Amis durchlöchern uns gleich, wenn wir nicht aufpassen. Siehst du da hinten den Schwarzen auf uns zukommen? Da, an der Hauswand entlang! Rutsch zur Seite, ich knall den jetzt ab!“

Mit einer harschen Bewegung stößt Franz seinem Kameraden Heinz sein Gewehr in die Rippen, als dieser zum Schuss anlegt. „Hör auf damit, Heinz, es ist vorbei! Kapierst du es nicht? Wir haben keine Chance mehr! Wir müssen uns ergeben.“

Mit einem Male war es unheimlich still, nur die Vibrationen und das Rattern der Ketten der Panzer waren zu vernehmen. Plötzlich ein lauter Ruf: „Hey, you guys! Come out!“

Heinz schossen die Trägen in die Augen, als er realisierte, dass Franz Recht hatte. Es gab nichts mehr zu verteidigen außer dem eigenen Leben. „Franz, bitte geh du als Erster! Ich hab doch ’ne Frau und zwei Kinder zu Hause. Was ist, wenn der Schwarze mich einfach über den Haufen schießt? Bitte!“

Franz riss einen Teil seines ohnehin schon zerfetzten Unterhemdes ab, band es an die Spitze seines Gewehres und streckte es wedelnd in die Höhe. Wieder ertönte die laute Stimme des Schwarzen: „Hey, you! Come out and hands up!“

Franz ließ sein Gewehr, die Braut des Soldaten, in den Dreck gleiten und verließ zitternd und mit erhobenen Händen den Schützengraben, wohl wissend, dass sein Leben auch jetzt noch durch irgendeine Unachtsamkeit in Sekunden zu Ende sein könnte. Ein letztes Stoßgebet zum Herrgott und noch ein paar Schritte und er stand direkt vor dem Gewehrlauf des Schwarzen, der zu seiner Verwunderung ihn zwar mit fester Stimme herumkommandierte, aber ebenfalls zitterte.

Es dauerte eine Zeit lang, bis alle anderen aus den Gräben hervorkamen. Die Amerikaner sammelten die Soldaten an der Kirche. Der Pfarrer und ein alter Mann, der gut Englisch sprach und schon einmal nach Amerika gereist war, kamen hinzu. Sie verhandelten mit den Amerikanern. Dann wandten sie sich an die Wehrmachtssoldaten: „Es ist vorbei, Männer! Ihr seid jetzt Kriegsgefangene und werdet die Heimat fürs Erste nicht wieder sehen. Steigt auf die LKWs dort hinten! Sie nehmen euch mit und werden euch in Arbeitskommandos einteilen!“

Die gefangenen Soldaten wurden abgeführt und auf den LKW verladen. Dieser fuhr uns zu einem großen und mit Stacheldraht eingezäunten Feld, einem Lager für Kriegsgefangene. Schon wieder saßen sie da, im Schlamm, und vor lauter Hunger griffen sie durch den Zaun, rissen Gras aus und kauten auf den Grashalmen herum, bis ein Tag später endlich ein Truck mit Essen heranrollte. Es gab nur eine dünne Suppe, aber kein Geschirr. Franz fand eine rostige Dose zwischen ein paar Steinen, in die er sich die Suppe gießen ließ. Doch als er austrinken wollte, riss ihm ein anderer die Dose vom Mund…

Ich schreckte zusammen und sprang auf: „So ein Drecksack! Ich werde ihn umhauen!“ Doch dann merkte ich, dass dies wieder einer meiner lebhaften Träume war, denn mein Opa Franz war schon vor Jahren verstorben. „Hey, aber an all diese Geschichten erinnere ich mich noch ganz genau! Er hat mir sie oft erzählt. Immer wenn ich als Jugendlicher bei Oma und Opa war, saß Franz in seinem großen Ledersessel und erzählte mir Kriegserlebnisse. So waren sie bis heute präsent in mir.

Ich tat mich schwer, wieder ins Bett zu gehen, um zu schlafen. Ich suchte stattdessen nach den Tagebüchern und alten Feldpostbriefen, die ich vor Kurzem in Opas Haus gefunden hatte, als wir die Möbel ausräumten und es renovierten. Es war so seltsam für mich, dieses Haus auszuräumen, denn damit ging die Ara meiner Kindheit zu Ende - alle Erinnerungen an das letzte Jahrhundert wurden mit dem Abhängen der Bilder und dem Abziehen der alten Tapeten entfernt. Zurück blieben nur ein paar Fotoalben und zwei Tagebücher, die auf vergilbtem Papier mit der Hand verfasst waren, Gott sei Dank nicht in Sütterlin, sondern bereits in neuerer Schreibschrift.

Endlich fand ich sie in einem Regal in meinem Büro, mitten in einem Bücherstapel über Weltreligionen. Ich setzte mich ins Wohnzimmer und begann zu lesen, während es draußen gerade dämmerte. Die Katze, die ich durch meinen nächtlichen Schrei aufgeschreckt hatte, kam durch die Tür hineingeschlichen, legte sich auf meinen Schoß und schlief dort ein. Ich beruhigte mich und erinnerte mich an eine Situation, als Opa schon Wochen vor seiner Gefangennahme geflohen war. Nach ein paar Minuten Herumblättern fand ich sie. Er schreibt, wie er am 8. März 1945 von seiner Einheit desertierte, weil ihm alles sinnlos vorkam und er die Familie und seine Angebetete vermisste:

Ich desertierte kriegsmüde von meiner Einheit und schlug mich durch den Hunsrück bis nach Hause durch, voller Sehnsucht die Familie und meine geliebte Gretel wiederzusehen. Auf dem Weg durch die Wälder träumte ich davon, dass ich wie im Gleichnis des verlorenen Sohnes heimkehren und mein Vater mich nach all den Entbehrungen des Krieges freudig und erleichtert empfangen würde. Aber es kam ganz anders. Mein Vater war geschockt, dass ich desertiert war, denn er wusste, dass man dafür an die Wand gestellt und erschossen werden würde. Sofort als ich ihn grüßte, wies er mich zurecht und versteckte mich in der Scheune, denn überall wimmelte es von Spitzeln. Anstatt mit der Familie meine Rückkehr zu feiern, verbrachte ich also die Nacht bibbernd in der Scheune bei den Tieren. Am nächsten Morgen konnte ich meine Schwester und meine geliebte Gretel für ein paar kurze Momente sehen. Danach erhielt ich unser altes Fahrrad und musste versprechen, sofort wieder zu meiner Einheit zurückzukehren. Ich fand sie nicht mehr, denn die Soldaten waren schon weiter gezogen. Als ich mit dem Fahrrad so durch die Wälder fuhr, schmiedete ich den Plan, bis tief in den Hunsrück vorzudringen und mich bei der nächstbesten Einheit als ‚versprengt“ zu melden. Dann konnte ich nur noch hoffen, dass mein Plan nicht aufflog.

Nach einigen barschen Worten und der Androhung, dass ich auch nach einigen Tagen noch jederzeit eine Kugel in den Kopf bekäme, wenn ich noch einmal versuchen würde abzuhauen, schickte mich mein neuer Vorgesetzter in den Funkerwagen, wo ich auch zuvor gedient hatte. Ich hatte das Glück, dass ich während des ganzen Krieges keinen einzigen scharfen Schuss abfeuern musste. Ein paar Wochen hatte ich nun wieder Ruhe, doch dann wurde der Funkverkehr eines Tages plötzlich hektisch. Per verschlüsseltem Morsecode übermittelte man mir:

„Feindliche Truppen rücken in deutsches Gebiet ein! Der Rhein wurde bei Arnheim von alliierten Panzern überquert!“ 1

Diese Einträge kamen mir heute alle so unvorstellbar vor. In seinem Büchlein lag ein Zeitungsartikel mit der Überschrift „50-Jahre Kriegsende“. Jetzt nachdem wir seit mehr als einem halben Jahrhundert Frieden in Europa haben, kann ich mir kaum vorstellen, dass man erschossen wird, nur weil man erkannt hat, wie sinnlos es ist, sich gegenseitig niederzumetzeln.

Ich sollte jeden Tag eine Gedenkminute und einen Moment der Stille einlegen und dafür dankbar sein, dass ich alles das nur aus Träumen, Erzählungen und ein paar Bundeswehrmanövern2 kenne. Und wir, die wir uns erinnern, sollten diese schmerzhaften Erfahrungen unseren Kindern und Kindeskindern weitergeben, was ich mit der Zusammenfassung der Erlebnisse meines Opas Franz hier nun getan habe. Aber der Wahnsinn des Krieges ging und geht auch heute noch weiter. Obwohl ich mich als Jugendlicher nie für Geschichte interessiert habe, bin ich in meiner Tätigkeit als Physiklehrer immer wieder auf die dunklen Seite der Menschheit in der Nachkriegsgeschichte gestoßen, an die ich in diesem Kapitel vor allem die Jugendlichen unter meinen Lesern erinnern möchte.

1.2 Feuerbälle über Japan

Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit, zehn Schülerinnen und Schüler, die sich mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigt hatten, beim Japanaustausch zu begleiten, wo sie sich mit den Japanern austauschen sollten. Ziel war die Stadt Hiroshima, wo wir privat Unterkommen würden. Schon oft hatte ich im Physikunterricht in den zehnten Klassen ausführlich den Abwurf der Atombomben, am 6. August 1945 auf Hiroshima und drei Tage später auf Nakasaki, thematisiert. Außer Fragen zur Funktionsweise einer solch mächtigen Bombe stellten die Schüler sehr viele geschichtliche und ethische Fragen:

„Wieso hat Japan nicht aufgegeben, dann wäre doch der Krieg vorbei gewesen? War es wirklich notwendig, diese Bomben zu werfen? Wieso gerade auf diese beiden Städte? Haben sich die Amerikaner danach zu ihrer Schuld bekannt und wurden sie bestraft? Sind die Japaner heute noch sauer auf die Amerikaner? Wie sieht Hiroshima heute aus? Kann man da jetzt rumlaufen, wo da doch alles verstrahlt ist?“

Ich versuchte einige der Fragen ad hoc zu beantworten:

„Also Leute! Nachdem Deutschland am 8. Mai 1945 kapituliert hatte, ging der Krieg für das verbündete Japan noch weiter. Die USA, mit denen Japan seit dem Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 im Krieg lag, forderten zusammen mit Großbritannien die bedingungslose Kapitulation. Dies war jedoch für das japanische Volk undenkbar, da dann sein Gottkaiser, der Tenno, womöglich in Kriegsgefangenschaft gegangen und entehrt worden wäre. Also erduldeten es weiterhin die Angriffe der Alliierten, die ihm mit Vernichtung drohten, sollten sie nicht kapitulieren. Die Atombombe war im sogenannten Manhattan Projekt an einem geheimen Ort namens Los Alamos, in der Wüste von Nevada, auf Befehl des Präsidenten Roosevelt unter großen Anstrengungen von amerikanischen Wissenschaftlern und Ingenieuren entwickelt worden und sollte ursprünglich gegen das Hitler-Regime eingesetzt werden. Wir können also in gewisser Weise Gott dankbar sein, dass sie nicht über Berlin, Hamburg, München oder Frankfurt gezündet wurde. Präsident Truman, der bis zum Amtsantritt nichts von dieser streng geheimen Waffe wusste, befahl am 25. Juli General Spaatz den Einsatz der Spezialwaffe, wobei er einen Angriff nach dem 3. August anordnete. Die Amerikaner hatten schon ca. 70.000 Soldaten im Pazifik-Krieg verloren und Truman befürchtete eine weitere Eskalation des Krieges, sollten sie auf weiteren Inseln landen müssen. Die amerikanischen Soldaten hatten selbst größten Respekt vor dieser Waffe, die zuvor nur genau einmal, nämlich beim Trinity-Test in Nevada, gezündet worden war. Ein christlicher Geistlicher sprach deshalb folgendes Gebet für die Besatzung des Bombers3:

Allmächtiger Vater, der Du die Gebete jener erhörst, die Dich lieben, wir bitten Dich, denen beizustehen, die sich in die Höhen Deines Himmels wagen und den Kampf bis zu unseren Feinden vortragen. […] Wir bitten Dich, daß das Ende dieses Krieges nun bald kommt und daß wir wieder einmal Frieden auf Erden haben. Mögen die Männer, die in dieser Nacht den Flug unternehmen, sicher in Deiner Hut sein, und mögen sie unversehrt zu uns zurückkehren. Wir werden im Vertrauen auf Dich weiter unseren Weg gehen; denn wir wissen, daß wir jetzt und für alle Ewigkeit unter Deinem Schutz stehen. Amen.

Die drei Bomber, die am 6. August 1945 Richtung Hiroshima flogen, wurden zwar von der japanischen Luftraumüberwachung entdeckt, aber der Alarm wurde aufgehoben, weil man sie nur für eine Aufklärungspatrouille hielt. Jene Uran-Bombe namens Little Boy, die Paul Tibbets in der Enola Gay ins Ziel flog, war erst während des Fluges in mehreren Montageschritten scharf gemacht worden. Tibbets warf um 8: 15 Uhr in etwa zehn Kilometern Höhe die Bombe direkt über Hiroshima ab und startete sofort das Wendemanöver, um dem Höllenfeuer und der Druckwelle zu entkommen. Er hatte genau eine Minute, dann explodierte Little Boy planmäßig in 600 Meter Höhe und radierte unter ihm Hiroshima von der Landkarte!“

Für einen Moment war es totenstill in der Klasse! Alle Jungs und Mädels schauten mich entsetzt an, teils mit Tränen in den Augen. Ich konnte ihre Gedanken lesen: „Wie können Menschen so etwas tun? Diese Tat hat so viele Zivilisten auf einen Schlag getötet, darunter auch Kinder wie wir.“

Nach etwa zehn Sekunden in Stille sagte ich: „Es geschah aus einer ganz anderen Denkweise heraus! Es war seit Jahren Krieg und täglich fielen tausende von Menschen. Ein Menschenleben schien nichts mehr wert zu sein, schon gar nicht das der Gegner. Durch die Kriegspropaganda nahm man den Soldaten der gegnerischen Seite gar nicht mehr als Menschen wahr, sondern als gefährliche Kampfmaschine. Die Militärs wussten, dass es nicht nur die in Hiroshima stationierten Soldaten das Leben kosten wird, sondern auch die Zivilbevölkerung jeglichen Alters. Ursprünglich wurde darüber diskutiert, ob man diese Bombe zur Abschreckung über unbewohntem Gebiet abwerfen solle, um Stärke zu demonstrieren, entschied man sich für eine Stadt, in der nur wenige amerikanische Gefangenen waren!

So kam es also für die Japaner zu der für sie undenkbaren Situation, dass der Tenno selbst die Kapitulation verkündete - der Mythos der Unbesiegbarkeit Japans war gebrochen! Dennoch verschonten die Amerikaner den Kaiser und verurteilten statt dessen nur seine Generäle. Es wurde niemals untersucht, ob der Abwurf der Atombombe als Kriegsverbrechen einzustufen ist. Zum einen wegen der ungeheuren wirtschaftlichen und militärischen Macht der USA und zum anderen aber hatten die USA ein Veto-Recht in der neu gegründeten UNO.“

So wurde aus der Physikstunde mehr eine Stunde mit politischen Themen, aber das war gut so, denn die Frage nach der Verantwortung von Naturwissenschaftlern und Technikern wird trotz ihrer essentiellen Bedeutung fast nie gestellt. Viele Menschen in unseren Tagen sprechen von den Verbrechen der militärisch-industriellen Machtelite, die sich aber nur ungenau definieren lässt. Letztendlich sind wir alle verantwortlich, die aktuelle Denkweise, das sog. Paradigma zu überprüfen und den Wahnsinn in unserer Zeit zu stoppen, vom Klimawandel bis zu autonomen Waffensystemen. Die Wirkungen unseres Handelns werden immer gewaltiger, so dass wir jetzt darüber nachdenken müssen, welche Auswirkungen unser Handeln für viele weitere Generationen hat. Hierzu empfehle ich besonders, die Ausführungen des jüdisch-deutschen Philosophen Hans Jonas zu lesen, der sich schon vor einigen Jahren darüber intensiv Gedanken gemacht hat [5].

„Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Hans Jonas

Endlich war es so weit! Es war Herbst geworden und die endlose Vorbereitung des Japanaustauschs neben den schon alleine anstrengenden Stunden in der Mittelstufe und Oberstufe lag hinter mir. Die Anspannung war riesig und alles war akribisch vorbereitet, inklusive der Geschenke für jeden der Gastgeber. Ich hatte das große Glück, durch das Aikido die japanische Kultur etwas zu kennen und zu wissen, dass den Japanern die Verpackung ebenso wichtig ist wie der Inhalt des Geschenks. So konnte ich zum nötigen Feinschliff beitragen und den ausgewählten Schülern beibringen, wie man in Japan Geschenke überreicht.

Der Flug ging über Nacht und im Sonnenaufgang erblickten wir beim Anflug bereits den Berg Fuji. Die fehlenden Stunden, die wir aufgrund unseres Fluges gegen Osten verloren hatte, steckten uns noch in den Knochen. Müde wechselten wir das Flugzeug und landeten nach einigen Stunden schließlich in Hiroshima, welches direkt am Meer liegt. Schon von oben sieht man die Stadt umrandet von Bergen mit ihren vielen Flussläufen und den Inseln Ninoshima, Miyajima und Etajima im Seto-Binnenmeer. Wüsste man nicht, dass sie einmal völlig zerstört gewesen war, würde man nichts Besonderes vermuten. Angekommen am Boden zeigt sie sich als weitläufig mit vielen Grünflächen und dem Friedenspark gleich in der Mitte.

Die Frage, wie man hier mit der Erinnerung an das schreckliche Ereignis des Krieges umgeht, wird uns schon gleich am ersten Tag und später erneut beim Besuch des Friedensparkmuseums beantwortet:

Die Zerstörung ist im Alltag jedes Einwohners und Besuchers präsent, in dem Gebäude, welches die Bombardierung überstand und mit seinem verrosteten und zerstörten Kuppeldach ein Mahnmal ist, in dem Feuer, das für die Ermordeten in der Im Hintergrund das einzig verbleibende Gebäude aus Kriegszeiten, ein großer See und unter dem Torbogen brennt ein ewiges Licht in Gedenken an die Opfer der ersten Atombombe in der Geschichte der Menschheit.


Das Friedensdenkmal am Ground Zero in Hiroshima/Japan

Mitte des Parks brennt, und in den vielen Bildern und Ausstellungsobjekten im Friedensmuseum, welches eine ähnlich erdrückende Wirkung hat wie ein Besuch auf den Massengräbern in Frankreich oder in einem Vernichtungslager. Als spiritueller Mensch spürt man die Energie des Todesengels und die Erinnerung an den Aufschrei der Seelen, die so plötzlich diese Welt verlassen mussten. Deswegen bin ich auch nicht dafür, Besuche an solchen Orten für Kinder verpflichtend zu machen. Es liefen ganze Grundschulklassen durch das Friedensmuseum und schauten sich Bilder von verbrannten Leichen an, bei deren Anblick selbst Erwachsene zusammenzuckten.

Aber eine Frage blieb noch: „Hassen die Japaner die Amerikaner für diese Tat?“ Ich entschied mich, dies den japanischen Physik-Kollegen bei einer privaten Einladung zu fragen, denn es ist unüblich, in Japan öffentlich über solche Dinge zu reden. Die Antwort war sehr ehrlich und gleichermaßen unerwartet:

„Wh- Japaner haben den Amerikanern verziehen, dass sie uns das angetan haben. Es sollte wohl so kommen und der einzige Sinn, den man in diesem Akt der Vernichtung sehen kann, ist die laute Erinnerung und Mahnung an die ganze Welt, dass das Krebsgeschwür des Faschismus niemals mehr so wuchern darf, dass es ganze Nationen vergiftet.“

Diese Erkenntnis verbindet uns Deutsche mit den Japanern und besonders heute, wo wir in vielen Ländern einen starken Rechtsruck erleben, müssen wir jeden Tag darum kämpfen. Trotz dieser Erkenntnis gab es auch schon in meiner Jugend Momente, in denen es fast zu einem dritten Weltkrieg gekommen wäre.

1.3 Das Kämpfen geht weiter

Nach dem Lesen des Kriegstagebuchs meines Opas und meinen Erfahrungen über Hiroshima drängt sich mir die Frage auf:

„Wenn die Menschheit doch bereits zwei fatale Weltkriege erlebt hat, wieso toben heute weiterhin Kriege auf der Welt?“

„Nach dem zweiten Weltkrieg“, so erzählte mir damals Opa Franz, „waren alle unendlich glücklich, dass der Wahnsinn vorbei war. Alle Bürger mühten sich redlich um einen friedlichen Umgang untereinander und vor allem die sogenannten Trümmerfrauen setzten alles daran, in den zerbombten Städten die Trümmer zu verwerten und den Neuaufbau voranzutreiben. Viele ihrer Männer waren ja gefallen oder aufgrund von schweren Verletzungen arbeitsunfähig.“ Opa war körperlich noch nahezu unversehrt. Er ging zusammen mit anderen Männern zum Steinbruch in der Nähe unseres Dorfes und brach dort Steine aus den Sandsteinfelsen, zum Wiederaufbau der Häuser. Bereits während seiner amerikanischen Kriegsgefangenschaft in Versailles musste er in einem Arbeitskommando als Wiedergutmachung die französischen Autobahnen und Straßen reparieren. Bei seinem Weihnachtsbesuch 1947 reiste er zum letzten Mal mit dem Zug von Versailles nach Frankfurt und kam von der amerikanischen Besatzungszone in die Heimat, die französische Besatzungszone war. Fortan war er für seine Familie da. Am 3. April 1948 wurde dann der Marshallplan vom US-Kongress verabschiedet, ein Konjunkturpaket, welches nicht nur der US-Wirtschaft selbst, sondern auch der immer noch notleidenden und hungernden Bevölkerung Europas zugute kam und Deutschland den wirtschaftlichen Aufschwung bis in die 90er Jahre bescherte.

Der Marshallplan war nicht uneigennützig, denn die USA befürchteten, dass die Ideologie des Kommunismus sich von der Sowjetunion, die seit der Oktoberrevolution im Jahr 1917 bestand, über Europa ausbreiten könne. Außerdem hatte man durch den Krieg in den USA nun eine große Überproduktion von Waren, die man verkaufen musste. Der Preis für diesen Aufschwung war, dass die USA weiterhin als Hegemonialmacht die Geschicke in Westdeutschland mitbestimmten und viele Divisionen des US-Militärs auf Militärbasen im Land verblieben. Diese sollten nach der Teilung Deutschlands Westdeutschland vor Angriffen aus der Sowjetunion schützen und erneute faschistische Fehlentwicklungen innerhalb des Landes ausschließen.

Vor siebzig Jahren, am 08. Mai 1949, wurde dann endlich das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet, welches am 23. Mai 1949 in Kraft trat. Es enthielt in Artikel 3, Abschnitt 2 den von Elisabeth Selbert erkämpften, revolutionären Satz:

Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

Es war ein erster Schritt zum Aufbau einer neuen demokratisch strukturierten Gesellschaft, ohne Diskriminierungen, korrupte Machenschaften alter Machteliten, staatliche Überwachung, Unterdrückung und Willkürherrschaft. Es schien, als wären alle alten Probleme beseitigt. Zumindest Opa Franz wirkte sichtlich zufrieden, als er mir von diesen Errungenschaften erzählte.

Dennoch blieb es natürlich nicht weiterhin so friedlich und schon bald wüteten erneut Kriege auf dem Globus. Den oscarprämierten Film Platoon von Oliver Stone aus dem Jahr 1986 sollte jeder einmal gesehen haben, weil dieser Film die Stimmung des Krieges so unglaublich realistisch einfängt und schonungslos seine psychologische Wirkung darstellt. Er beschreibt, wie der junge Chris Taylor, der das College geschmissen hat, sich im Jahre 1967 freiwillig für den Dienst im Vietnamkrieg meldet und dort den blanken Horror erlebt. Die Erlebnisse sind ähnlich wie diejenigen meines Opas in den letzten Tagen des Krieges am Anfang dieses Buches und viel schlimmer als meine Erlebnisse aus den NATO-Manövern in meiner Bundeswehrzeit4, die mich bereits an meine Grenzen brachten:

US-Soldaten irren in Unterzahl durch den Dschungel, physisch und psychisch am Limit, in der Hoffnung, erfolgreich die verfeindeten Kräfte, die den Kommunismus unterstützen, zu bekämpfen. Ein Offizier erschießt seinen Untergebenen, Sprengfallen explodieren und Napalm-Brandbomben setzen den Urwald in Brand. Schwerverletzt verlassen diesen die Soldaten in regelmäßigen Rettungsaktionen mit Kampfhubschraubern, um dann im Hospital mit vielen anderen unter Schmerzen dahinzuvegetieren.

Schon der Vietnam-Krieg machte klar, dass es ein neues Problem gab: Die nun militärisch hochgerüstete Macht USA musste ihre Machtposition behaupten und erweitern. Ähnlich wie einst schon im alten Rom unter Caesar oder im preußischen Staat bestimmte nun zunehmend auch das Militär die Politik. Es brauchte neue Aufgaben und bekam auch welche.

1.4 Der Kalte Krieg

Wir Deutschen vergessen wohl sehr schnell und schon nach wenigen Jahren wissen wir selbst unsere großen Errungenschaften kaum noch zu schätzen. Im Frühling und Sommer 2017 demonstrierten wir auch in unserer Stadt für den Erhalt eines demokratischen Europas und gegen den neuerdings wieder erstarkenden Einfluss rechter Parteien. Es war schon etwas seltsam für mich, weil ich als Naturwissenschaftler immer versucht habe, mich aus allen politischen Diskussionen herauszuhalten, aber die Diskussion mit der Atombombe geht mir nun doch ständig durch den Kopf. So ziehen wir also mit unseren Trommeln und Transparenten durch die Stadt, vorbei an Leuten, die mir aussehen, als wollten sie uns gleich an den Kragen. Doch keiner traut sich, eine so große Gruppe anzupöbeln. Am Ende halten wir vor dem Wahrzeichen der Stadt und singen lautstark die Europahymne, die ich auf der Trompete begleite. Auf dem Heimweg ist mein Gefühl ganz anders. Mit der Trompete um den Hals laufe ich durch enge Straßen, in denen fast nur ausländische Namen an den Klingeln stehen. Da bekommt Multikulti eine andere Bedeutung und mich befällt das Gefühl von Angst und Befremdung. Ich denke bei mir, dass es nichts bringt, die Ängste von Menschen einfach zu ignorieren und immer nur zu predigen, dass schon alles gut gehen wird. Das führt unweigerlich zu einer immer weiteren Spaltung der Gesellschaft, die zu einem Erstarken von extremen Parteien führt und im schlimmsten Fall in einem politischen Putsch oder einem Bürgerkrieg enden kann. Die Menschen müssen sich gegenseitig besser kennenlernen und der Zusammenhalt muss gestärkt werden, sodass auch die zukünftigen Generationen noch den Frieden in Europa erleben und zu schätzen wissen, der politisch so hart erkämpft wurde.

Als der Krieg zu Ende war, begann das Wettrüsten zwischen dem Osten, der Sowjetunion, und dem Westen, der NATO. Als Kinder machten wir uns natürlich keine Gedanken darum, warum die Amerikaner noch mit schwerem Gerät in unserer Stadt herumfuhren und warum es hier noch Kampfhubschrauber gab. Regelmäßig zogen Jagdbomber über uns hinweg und erschreckten uns beim Spielen mit ihrem lauten Überschallknall. Wir Jungs fanden das alles cool und spannend, bis ich schon im Kindergarten meine erste Kritikerin kennenlernte, deren Eltern der Umweltbewegung, den sog. Grünen, angehörten. Sie wurde meine Freundin und während wir am Bach spielten und versuchten, irgendwelche verletzte Tiere zu finden und zu retten, erzählte sie mir oft von den Umweltsünden und unnötigen Kriegsausgaben, die die herrschende Klasse zu verantworten habe. Zu jener Zeit lebte ich in meinem katholischen Dorf, wo man eigentlich nur etwas hinterfragte, wenn es einem wirklich zuwider war. Die Winzer und Bauern im Dorf standen im permanenten Konflikt mit den Grünen, die strengere Auflagen für den Weinbau und Ackerbau forderten. Die heutigen Ideen der rein biologischen Produktion, die vor allem den Verzicht auf Kunstdünger, Pflanzenschutzmittel und Unkrautvernichtungsmittel beinhalten, wurden erst in den 70er Jahren nach dem Bericht des Club of Rome [7] geboren. Es dauerte lange, bis sich ein Umweltbewusstsein und ein Gefühl für Nachhaltigkeit etablierten.

In den Jahren von 1946 bis 1958 hatten die USA auf den Marshall-Inseln mehr als 23 große Kernwaffen gezündet. Als einer der ersten Tests im Rahmen der Operation CROSSROADS wurde auf dem Bikini-Atoll unter dem Codenamen BAKER eine ganze Flotte von ausrangierten Kriegsschiffen, beladen mit Tieren verschiedener Art, der gewaltigen Explosion einer Atombombe mit einer Sprengkraft von 23 Kilotonnen TNT ausgesetzt. Im Jahre 1954 begannen mit der Operation CASTLE erneut Atomtests. Die größte Kernwaffe, die die Welt bis dahin gesehen hatte, eine Wasserstoff-Fusionswaffe, gezündet durch eine kleinere Atombombe, wurde unter dem Codenamen BRAVO ganze 27 Meter unter Wasser gezündet. Sie entwickelte eine infernale Sprengkraft äquivalent zu 15 Millionen Tonnen TNT, die selbst die anwesenden Militärs nicht für möglich gehalten und die Soldaten auf den Beobachtungskreuzern beinahe umgebracht hätten. Wenn ich als Physiker heute diese Bilder im Internet [8] sehe, kann ich mir nicht erklären, wie Menschen einen derartigen Wahnsinn verantworten konnten. In unzähligen Dokumentationen kommt dort ans Licht, was die US-Militärs damals alles verbrochen haben, von der Verseuchung eines friedlichen bewohnten Südseeparadieses über das Töten unzähliger Tiere bis hin zur fahrlässigen Gefährdung der zur Säuberung der Inseln eingesetzten jungen Marine-Soldaten. Verfolgt man außerdem, wie das US-Militär die Bikini-Einwohner mit der Begründung umsiedelt, dass sie eine Verpflichtung der Welt gegenüber hätten, ihre Insel zu verlassen, um es den US-Streitkräften zu ermöglichen, die zerstörerische Atomkraft in etwas Gutes zu verwandeln und hört man, wie die Einwohner antworten, dass es gut ist und sie bereit sind, weil alles in Gottes Händen liegt, so wird außerdem deutlich, dass nicht allein die Muslime ihren Glauben missbraucht haben, um unverantwortliches und gottloses Handeln zu rechtfertigen. Doch der Wahnsinn ging noch weiter.

Auf sowjetischer Seite arbeitete ein Team um Andrei Sacharow an der Entwicklung der Wasserstoff-Fusionsbomben, so dass 1953 die erste Bombe gezündet werden konnte. Er war überzeugt, dass nur ein nukleares Gleichgewicht die Zerstörung unseres Planeten noch verhindern konnte. Doch schon 1955 setzte bei ihm ein Umdenken ein. Währenddessen waren die US-Militärs immer noch besessen von der Idee, die Sowjetunion zu bezwingen. Sacharow wollte, dass die Kernwaffentests möglichst schnell eingestellt werden, weil sie eine große Zahl an Menschenleben gefährdeten. Er hatte verstanden, wie das alles ein Ende haben könnte. Deshalb arbeitete er an der größten Wasserstoff-Fusionsbombe mit, die jemals auf der Welt gezündet wurde, an der RDS-220, Kosename Zar-Bombe. Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Nikita Chruschtschow, wollte die Amerikaner mit einer transportablen 100 Megatonnen-Bombe zur Demut zwingen, damit klar wäre, dass die Sowjetunion in der Lage wäre, Washington DC komplett auszuradieren. Doch Sacharow gelang es, Chruschtschow zu überzeugen, die Sprengkraft auf unter 60 Megatonnen zu begrenzen.

Am 30. Oktober 1961 detonierte dieses Höllenfeuer in vier Kilometern Höhe über der Insel Nowaja Semlja in der Barentsee im nördlichen Polarkreis. Die Sprengkraft entsprach fast 3800 Hiroshima-Bomben! Die Druckwelle erreichte 5,0 auf der Richterskala und es entstand ein Atompilz mit 64 Kilometern Höhe. Bis auf die Verseuchung mit radioaktivem Fallout wurde aber kein Mensch in Gefahr gebracht. Die Amerikaner waren geschockt über die militärischen Fähigkeiten der Russen und testeten nur noch kleinere Atombomben. In den Jahren darauf stiegen auch China, Indien, Frankreich, Großbritannien, Pakistan und Nordkorea und Israel zu Atommächten auf.

In den 80ern herrschte deshalb die Angst vor einem nuklearen Krieg vor. Die beiden Supermächte hatten nun Atomwaffen mit einer Gesamtsprengkraft von 800.000 Hiroshima-Bomben und waren seit diesem Zeitpunkt in der Lage, mehrfach die Menschheit auszuradieren [8]. Die Angst vor diesem Höllenfeuer zwang zur Demut und schreckte jede Seite vor einem unüberlegten Angriff ab. Die Militärs verschwiegen der Bevölkerung die ungeheure Strahlenbelastung durch die zahlreichen Atomwaffentests, die die USA und die UdSSR damals durchgeführt hatten, um ihre Waffenarsenale weiterzuentwickeln. Das war uns als Kindern alles nicht bekannt, sonst wäre ich wahrscheinlich schon damals depressiv geworden.

Als im Jahre 1986 der Atomreaktor im ukrainischen Tschernobyl außer Kontrolle geriet und ausbrannte, informierten die Medien zwar darüber, aber das Wissen der Bevölkerung über solche Umweltkatastrophen war unzureichend. Diese wichtigen Katastrophen dürfen aber nicht in Vergessenheit geraten, weshalb ich im Physikunterricht die historischen Hintergründe genau recherchieren lasse. Wütend macht mich als Physiker die aktuelle pauschale Verurteilung der Kernenergie in Deutschland. Die Atombomben, unzähligen oberirdischen Atomwaffentests sowie auch der fahrlässig herbeigeführte GAU in Tschernobyl sind ein Beleg dafür, mit wie wenig Ehrfurcht manche Menschen die Schöpfung behandeln. Die Kernenergie selbst ist in meinen Augen aber eine wichtige Ubergangstechnologie, die es vor allem den noch unterentwickelten Staaten ermöglichen würde, große Energiemengen zur Verfügung zu stellen, ohne fossile Brennstoffe verwenden zu müssen. Allerdings sind Länder der Dritten Welt meist von Korruption und fehlendem Vertrauen geplagt, so dass ein geregelter und sicherer Betrieb eine politische Herausforderung wäre. Allen Kritikern der Kernkraft sei gesagt: Ein Kohlekraftwerk emittiert mehr Radioaktivität in die Umwelt als ein im Regelfall betriebener Reaktor gleicher Leistung und dazu noch Millionen Tonnen Kohlenstoffdioxid. Deshalb sollten die Kohlekraftwerke vor den Atomkraftwerken abgeschaltet werden!

Dieser erste GAU hatte für uns Kinder zur Folge, dass wir ein paar Wochen nicht draußen im Sand spielen durften, keine Milch mehr trinken sollten und den Salat mehrmals wuschen, bevor wir ihn aßen. Das waren aus meiner heutigen Sicht als Physiker wohl eher Alibi-Maßnahmen. Die radioaktive Belastung war verglichen mit dem, was die Soldaten der USA und der UdSSR bei den Atomtests abbekommen hatten, geradezu lächerlich gering. Das radioaktive Iod 131 zerfiel zum Glück sehr schnell. Das ausgebrachte Cäsium 137 ist dank unserer äußerst empfindlichen Nachweismethoden bis heute noch in Wildschweinen und Pilzen nachweisbar, allerdings in unbedenklichen Dosen. Schon im Oktober 1962, also weit vor meiner Geburt, war die Welt während der Kuba-Krise auf ein Haar einem 3. Weltkrieg entgangen, der mit einer atomaren Auseinandersetzung zwischen den USA und den UdSSR begonnen hätte. Spätestens seit diesem Konflikt war der Welt klar, dass diese beiden Supermächte mit ihren so unterschiedlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systemen, einer Demokratie mit einer freien Marktwirtschaft und der kommunistischen Diktatur mit ihrer Planwirtschaft, die beide ihre Vorteile und Probleme hatten, miteinander im erbitterten Widerstreit standen. Beide versuchten jeweils ihren Einfluss in der Welt auszudehnen und schrecken auch nicht davor zurück, mit Hilfe ihrer Geheimdienste Intrigen und Unruhen anzuzetteln, Umstürze herbeizuführen und Marionetten-Regierungen zu etablieren.

Am 26. September 1983, als ich 10 Jahre alt war, verhinderte allein ein vor einigen Jahren verstorbener russischer Soldat, nämlich Oberstleutnant Stanislaw J. Petrow, dass der 3. Weltkrieg ausbrach. In der Nacht zu jenem Tage hatten die Riesencomputer der UdSSR die empfangenen Satellitensignale ausgewertet und meldeten Alarmstufe Rot einen nuklearen Erstschlagnuklearer Erstschlag der USA! Für diesen Fall sah das Protokoll einen sofortigen nuklearen Gegenschlag vor, der zu einem nuklearen Inferno geführt hätte. Petrow verwunderte jedoch, dass das System einen Angriff von nur fünf Interkontinentalraketen meldete und schloss, dass es sich um einen Fehlalarm handeln müsse. Er weigerte sich, den Gegenschlag auszuführen, was kurzerhand zu seiner Verhaftung führte. Später stellte sich aber heraus, dass Reflexionen von Sonnenstrahlen in den Wolken von den Computern als Raketen klassifiziert worden waren. Für Petrow war es die schwierigste Entscheidung seines Lebens, aber seine Intuition hatte ihn nicht getäuscht und die Menschheit gerettet. Seine Heldentat wurde erst Jahrzehnte später bekannt und von der Öffentlichkeit mit Ehrungen bedacht, da sie bis dahin der Geheimhaltung unterlag. Die ganze Geschichte findet man in der Doku „Die größte Bombe der Welt“ [9].

Natürlich bekam ich als Kind von diesem militärischen Zwischenfall noch weniger mit als von dem Reaktorunglück in Tschernobyl. Es war ja zum Glück auch nichts passiert. Aber das atomare Wettrüsten ging weiter. Gab es im Jahrzehnt vor meiner Geburt auf beiden Seiten jeweils rund tausend atomare Sprengköpfe für diese Raketen, so wuchs die Anzahl in den 70er- und 80er-Jahren bis auf fast zwanzigtausend an. Der Wahnsinn gipfelte in dem von Ronald Reagan angekündigten SDI-Projekt, bei dem die USA das Ziel verfolgten, mit weltraumgestützten Laserwaffen feindliche Raketen und Satelliten abschießen zu können. Dieses Ziel war sowohl technisch als auch wirtschaftlich nicht realisierbar. Als man erkannte, dass man mit den vorhandenen atomaren Sprengköpfen die Erde mehrmals zerstören könne, stellte sich für die Mächtigen allmählich die Frage, wie man aus diesem Wahnsinn einen Ausweg finden könne.

Im Jahre 1968 wurde der Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet, dem nach und nach mehr Staaten beitraten, allerdings scherten sich auch einige neue inoffizielle Atommächte, wie beispielsweise Israel, gar nicht um die Bestimmungen dieses Vertrags. Im Dezember 1987 Unterzeichneten Michail Gorbatschow und Ronald Reagan feierlich den INF-Vertrag, der den Einsatz von atomaren Mittelstrecken regelte und begrenzte und eine Phase der Entspannung für Europa einläutete. Den Grund hierfür fand ich kürzlich in der Islamischen Zeitung in ihrer 291. Ausgabe direkt auf der Titelseite [10]:

Der Konflikt zwischen den USA und der UdSSR war an einen toten Punkt gekommen. Die Demonstrationen in Ostberlin hätten nur unter Einsatz der Roten Armee beendet werden können, was vermutlich doch noch einen Atomkrieg zwischen den Supermächten ausgelöst hätte, oder indem sich die Rote Armee zurückzog und damit die Staatsführung der DDR entblößte, wofür sich Gorbatschow dann entschied.

Leider ging im Jahre 1990 jedoch nur der Kalte Krieg zu Ende, jedoch nicht der Ost-West-Konflikt. […] Dieser konnte jedoch nicht mehr entlang des Eisernen Vorhangs fortgesetzt werden, ohne in einen dritten Weltkrieg zu münden, der diese Menschenwelt wahrscheinlich ausgelöscht hätte. Also wurde er in den Nahen Osten verlagert und dort asymmetrisch fortgesetzt. […] Da Amerika aber schlecht der Welt öffentlich sagen konnte, dass der Konflikt mit der UdSSR in die nächste Runde ging, erfand man als Vorwand den Islam als Bedrohung.

Seither jagen sich nun die USA und Russland gegenseitig im Nahen Osten und suchen sich ihre Verbündeten in der arabischen Welt, sei es in Afghanistan, Irak oder in Syrien. Die Staaten selbst und ihre muslimischen Verbündeten waren und sind derzeit leider untereinander sehr zerstritten und wirtschaftlich nicht stark genug, um ein Gegengewicht zu bilden, aber ihr Tag wird kommen, so Gott will.

Der Islamische Staat allerdings, auch wenn das immer durch seine Propaganda erklärt wurde, verdient aus meiner Sicht nicht diesen Namen, denn es war eine brutale Diktatur von versprengten und wütenden Kämpfern aus Milizen-Armeen, welche in den Jahren zuvor durch die Fehler der Amerikaner im Afghanistan- und Irak-Krieg aufgescheucht worden waren. Seine Herrschaft basierte nicht auf den fünf islamischen Grundprinzipien, so wie ich sie kennengelernt habe.5 Dennoch hofft die islamische Welt auf eine Einigung zwischen Schiiten und Sunniten und ein gemeinsames friedliches Vorgehen gegen die Hegemonialmächte, vor allem gegen den ungebremsten Kapitalismus und sein Zinssystem, der sich wie ein Krebsgeschwür nunmehr auch in der islamischen Welt breit macht, wo fairer Handel immer eine ganz besondere Bedeutung hatte.

Das Misstrauen zwischen den Supermächten wächst derzeit wieder und die Spannungen steigen bis hin zu offenen Drohungen. Der INF-Vertrag wurde unter Präsident Trump Ende 2018 von den USA gekündigt, so dass der Wahnsinn des Wettrüstens erneut losgehen kann. Beide Supermächte beschuldigen sich gegenseitig der Verletzung dieses Vertrags. In Kapitel 4 werde ich darlegen, dass auch die NATO daran nicht unschuldig war.

Aus der Sicht meiner Generation ist nicht nur der Einsatz der Atomwaffen an sich, sondern auch die ungeheure Vernichtung von Steuergeldern völlig inakzeptabel. Hinzu kommt die Tatsache, dass allein schon die Vorbereitung von kriegerischen Aktivitäten eine enorme Ressourcenverschwendung und Umweltbelastung ist. Wie werden kommende Generationen wohl über unser Zeitalter urteilen? Werden sie uns als verantwortungslose Primitivlinge bezeichnen? Wie kann man dieses Paradigma Frieden durch gegenseitige Abschreckung nur durchbrechen? Ist das wirklich das, was wir unter Frieden verstehen - dass keiner den Knopf zur Vernichtung drückt, oder sehnen wir uns nicht nach mehr?

1.5 Religiöse Kriege

Immer wieder äußern atheistische Schüler und Kollegen, dass es ohne die Religionen auf der Welt nahezu keine Kriege gäbe. Erst die Religionen würden die Menschen so richtig gegeneinander aufhetzen, dass sie bereit seien, sich gegenseitig abzuschlachten. Ich argumentiere dann, dass dieses Phänomen nicht auf Religionen begrenzt ist, sondern auf jede Art von geschlossenen Weltbildern. Es tritt immer dann auf, wenn man flammender Anhänger eines Ismus, wie beispielsweise des Kommunismus, Nationalsozialismus, Islamismus, Kapitalismus oder neuerdings auch des Oko-Faschismus ist. Das Problem dabei ist die Geschlossenheit des Weltbilds mit seinen unverrückbaren Dogmen und der Schwarz-Weiß-Malerei, die damit einhergeht. Dies ist der Nährboden der Kette der Gew:

Wir machen es richtig und ihr macht es falsch! Wie könnt ihr nur so leben? Das macht mich sehr wütend. Ihr seid minderwertig! Ändert euch, oder wir müssen euch zwingen, notfalls euch eliminieren!

Dieses Schema ist immer wieder in der Geschichte zu beobachten von den Kreuzzügen des Christentums bis hin zu den Feldzügen des Islamischen Staates. Sie entspringt, wie ich später zeigen werde, einem bestimmten Bewusstseinszustand. Im Islam ist der Verteidigungskrieg erlaubt, nicht aber der Expansionskrieg. Aus den Anweisungen Jesu sind kriegerische Handlungen wohl kaum zu rechtfertigen, denn der Meister gab in der angespannten Situation im Garten Gethsemane Mt 26,52 eine ganz eindeutige Anweisung an seinen Jünger:

Steck dein Schwert in die Scheide; denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen.

Trotz der eindeutig pazifistischen Haltung Jesu finden sich sehr viele brutale Anweisungen in der Bibel, vor allem im Alten Testament. Das Thema Gewalt in der Bibel wurde im Katholizismus seit dem 2. Vatikanischen Konzil und im Protestantimus sogar schon früher untersucht. Zuvor war es tabu, die Bibel derart zu kritisieren. Eine gute Übersicht der kritischen Stellen gibt ein Wikipedia-Artikel zu diesem Thema, aber wenn man nach grausamen Bibelzitaten im Internet sucht, findet man diese in großer Zahl. Das Gleiche gilt auch für den Quran, der viele historische Bezüge hat und sogar zu kriegerischen Handlungen aufruft, von denen sich der Islam heute deutlich distanzieren sollte.6 Die Gedankenkette der Gewalt mit dem Absoluten zu verknüpfen hat zu großen Kriegen geführt.

Deshalb dürfen wir die Ausübung von Gewalt niemals religiös begründen!

Dies fügt der Religion einen großen Schaden zu, ja macht sie gänzlich unglaubwürdig. Doch man muss nicht immer nur den Islam bemühen, um diesbezügliche Negativbeispiele zu finden. Der mit der goldenen Palme ausgezeichnete Film Das weiße Band [11] stellt in erschreckender Weise die gewalttätige Erziehung in einer typischen protestantischen Bauernfamilie im 19. Jh. dar. Der Betrachter ist geschockt am Ende und stellt sich die konkrete Frage:

Was macht gerade religiöse Menschen so wütend, dass sie bereit wären, andere zu quälen und sogar umzubringen?

Meine These ist: Es passiert durch Handlungen oder Äußerungen, die das Paradigma, also das Weltbild und Glaubenssystem des anderen in seinen Grundfesten erschüttern.

Kinder tun das oft, weil sie noch gar kein Paradigma haben. Aber auch Erwachsene, die ein anderes Paradigma haben, können durch ihre Handlungen und Äußerungen den Zorn anderer Menschen derart auf sich ziehen. Es gibt viele Beispiele hierfür in der Geschichte:

Der Mönch Giordano Bruno war Pantheist und Panpsychist, d.h. er nahm das Göttliche in der ganzen Schöpfung wahr und sah die ganze Schöpfung als beseelt an und jedes einzelne Teilchen mit Bewusstsein ausgestattet. Er lehrte, dass das Universum unendlich sei und bestätigte das 1543 veröffentlichte heliozentrische Weltbild des Kopernikus. Für Muslime interessant ist noch, dass er betonte, dass Jesus nicht der Sohn Gottes sei und dass er auch andere Planeten besucht habe. Nachdem er aus Italien geflohen war und in Deutschland auch in Marburg, Wittenberg und in Frankfurt gelehrt hatte, kehrte er schließlich nach Padua in Italien zurück. Dort wurde er dann aber als Ketzer verurteilt und 1600 auf einem Scheiterhaufen in Rom verbrannt. Sein Lehrstuhl in Padua ging danach an Galilei Galileo, der schließlich seinen berühmten Spruch „Und sie dreht sich doch!“ mithilfe der Beobachtungsdaten seines neuerworbenen Fernrohres beweisen konnte. Aber auch er ist nur knapp dem Vernichtungswahn der Inquisitoren entgangen, die die Grundfesten des Glaubens attackiert sahen. Im Jahre 1572 hatte der Däne Tycho Brahe bereits eine Supernova im Sternbild Kassiopeia beobachtet und konnte zeigen, dass dieses Ereignis in einem größeren Abstand zur Erde stattfand als dem, den die anderen bekannten Sterne hatten. Somit wankte die allgemeine Vorstellung, dass alle Sterne auf der Himmelssphäre positioniert waren. Der Deutsche Johannes Kepler und Galileo Galilei lieferten dann schließlich aufgrund der vorliegenden Beobachtungen die Theorie, dass sich die Himmelskörper auf Ellipsenbahnen frei um die Sonne durch den leeren Raum bewegten und nicht die Erde das Zentrum des Universums sei. Diese Umänderung der Denkart, die man einen Paradigmenwechsel nennt, löste bei vielen Menschen damals sicherlich große Ängste aus. Sie stellten sich die Frage: „Welchen Sinn sollte das menschliche Dasein haben, wenn wir nicht das Zentrum der Schöpfung sind, sondern irgendwo im leeren Weltall herumschweben?“ Dementsprechend hart agierte die Kirche gegen die Kopernikanische Wende und verteidigte die alten Dogmen, um Chaos und Ängste, aber vor allem auch ihren Einfluss zu verlieren.

Ähnliche Angstzustände könnte man heute bei streng religiösen Christen erzeugen, wenn man behauptet, dass Jesus gar nicht gekreuzigt wurde. Der Quran sagt nämlich in Sure 4 Vers 157:

[…] sie sagten: „Gewiss, wir haben Jesus, den Sohn Marias, den Gesandten Allahs getötet.“ - Aber sie haben ihn weder getötet noch gekreuzigt, sondern es erschien ihnen so.

Der letzte Satz wird von den meisten muslimischen Gelehrten so ausgelegt, dass ein anderer gekreuzigt wurde, der Jesus ähnlich sah, wie etwa Simon von Sirene, der auch in den ersten christlichen Überlieferungen erwähnt wird.

Auch wenn man die Aussage des Quran ablehnt, so bleibt die kürzlich veröffentlichte These des Frankfurter Historikers Johannes Fried, mit der er die Christen in seinem Buch Kein Tod auf Golgatha [12]. Er behauptet, dass Jesus durch seine Verletzungen während der Geißelung nur einen Scheintod erlebt habe und nach seiner Genesung im kühlen Grab nach Indien zu den verlorenen Schafen Israels gehen können. Heutige medizinische Kenntnisse sollen ergeben haben, dass Jesu Lunge teilweise voll Wasser lief, wodurch er eine Art CO2-Hypnose erlitt. Ausgerechnet der Lanzenstich soll dazu beigetragen haben, dass das Wundwasser abfloss und er langsam wieder zu sich kommen konnte. Für mich als Muslim stellt diese Theorie überhaupt kein Problem dar, zumal es in Kaschmir in Indien tatsächlich ein Haus gibt, von dem die Leute behaupten, dass Jesus darin gewohnt habe. Vielleicht wird es eines meiner nächsten Reiseziele, damit ich die Energie an diesem Ort spüren und sie vergleichen kann, mit der Energie, die ich als Kind immer gefühlt habe, wenn Jesus in mir präsent war.

Viele strenggläubige Muslime kann man schon mit Mohamed-Karikaturen oder Kritik am Quran so wütend machen, dass sie bereit wären, gewalttätig zu werden. Dies hat sich 2011 gezeigt, als auf das französische Satire-Magazin Charlie Hebdo ein Brandanschlag verübt wurde, eben weil es Karikaturen veröffentlicht hatte, welche viele Muslime zutiefst verletzten. Obwohl im Arabischen das Wort Dschihad so etwas wie Anstrengung bedeutet, sehen gerade strenggläubige Muslime darin einen Auftrag, alles, was sie als Gotteslästerung ansehen, aus der Welt zu schaffen, und notfalls dabei über Leichen zu gehen. In ihren Augen greift man die Basis ihrer Existenz und Würde an.

Ich persönlich finde, dass es auch bei solchen Gotteslästerungen keine Rechtfertigung für die religiös motivierte Selbstjustiz gibt, weil keine Lästerung das Göttliche, so wie ich es erfahren und im letzten Band dargestellt habe, in irgendeiner Weise verletzen oder schmälern kann.

Es ist auch in deren Weltbild widersprüchlich, denn dem Göttlichen allein obliegt es zu richten und den Todesengel7 zu entsenden, der für diese Aufgaben zuständig ist.

Eine andere Quelle für Aggression ist angestauter Frust und Ignoranz. Wenn man selbst von sich und vom Leben gelangweilt ist, wächst der Frust von Tag zu Tag und es steigt das Risiko, dass sich die Energie staut und sich plötzlich einen Weg bricht. Hier hilft es nur, einen Weg einzuschlagen, bei dem man nicht stehen bleibt, sondern man sich aktiv öffnet, um zu suchen, sich vom Leben verzaubern zu lassen und Weisheit zu erlangen. Diese Ursache lässt sich einfacher beheben als das Feststecken in einem überkommenen Paradigma. Im Kapitel 3 werde ich darauf noch näher eingehen.

Welch starke Gefühle es in den Menschen entfesselt, wenn man ihr Paradigma zerstört, kann man also auch in unserer angeblich so aufgeklärten und säkularisierten Welt noch beobachten. Nicht zuletzt erkennt man dies auch an dem aktuellen Rechtsruck in vielen Nationen, mit dem Menschen sich erhoffen, ihr lange gekanntes Paradigma zu erhalten und jegliche Veränderung zu verhindern. Aber der Weise erkennt, dass dies nicht in unserer Hand liegt und man die Entwicklung nicht anhalten kann. Die Argentinier drücken es so aus:

Vivir es cambiar! - Leben bedeutet Veränderung!

1.6 Die Kriege der Gegenwart

Bei meinen vielen Aufenthalten in Brasilien und dem langen Aufenthalt in Argentinien, die ich in Band I ausführlicher geschildert habe, stieß ich immer wieder auf Erinnerungen aus den Militärdiktaturen in diesen Ländern. Im Regierungsviertel in Buenos Aires erinnern die Madres de la Plaza de Mayo an die ca. 30.000 in den Jahren 1976-1983 Verschwundenen, die Desaparecidos, die ihre Männer und Söhne waren. Jede der Frauen hat ihre eigene traurige Geschichte zu erzählen, die nicht in Vergessenheit geraten soll, auch wenn sie schon lange nicht mehr daran glaubt, dass sie jemals erfahren wird, was damals passiert ist. Mich hat das sehr betroffen gemacht, diese Frauen mit dem weißen Kopftuch und den Bildern ihrer Lieben im stummen Protest um den Platz kreisen zu sehen.

Auch in Brasilien gab es in den 60ern instabile Zeiten, als sich die Nachfolger von J. Kubitschek, nämlich die Präsidenten da Silva Quadros und Goulart darin versuchten, die Wirtschaft zu stabilisieren und sich aus der Abhängigkeit von den USA zu befreien. Wie es die freigegebenen Dokumente aus dem National Security Archive der USA belegen, half im Jahre 1964 die CIA im Auftrag von Präsident L. Johnson den brasilianischen Präsidenten aus dem Amt zu putschen und eine Militärregierung zu installieren [13]. Kein Wunder, dass ich bei allen Aufenthalten gespürt habe, dass auch die Südamerikaner nicht gut auf die USA zu sprechen sind. Die Militärdiktatur dauerte in Brasilien bis ins Jahr 1985. Aber immerhin wurden die Greueltaten unter den Präsidenten Lula da Silva und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff aufgearbeitet, so dass im Abschlussbericht aus dem Jahre 2014 Täter und Opfer benannt werden konnten.

Auch in Europa gab es noch Ende des Jahrtausends eine Serie von Kriegen auf dem Balkan, die den Zerfall des damaligen Jugoslawien zu Folge hatten. Es handelte sich um den 10-Tage-Krieg in Slowenien (1991), den Kroatienkrieg (1991-1995), den Bosnienkrieg (1992- 1995), den kroatisch-bosniakischen Krieg (1992-1994) im Rahmen des Bosnienkriegs, den Kosovokrieg (1999) und den albanischen Aufstand in Mazedonien (2001). Auch im Verlauf dieser Kriege wurden Massaker verübt sowie Menschen gequält und verschleppt. Hier folgte eine Aufarbeitung, in der hauptsächlich serbische Generäle wie etwa Milosević vom UN-Kriegsverbrechertribunal wegen Völkermords angeklagt wurden. Im Juli 1995 wurde an 8000 muslimischen Bosniaken das sog. Massaker von Srebrenica unter dem Kommando von Ratko Mladić und anderen Kommandeuren trotz Anwesenheit von Blauhelmsoldaten verübt. Es sind nicht die einzigen Massenverfolgungen von Muslimen in der jüngsten Geschichte. Zu nennen wäre noch der Genozid an den Rohingya in Myanmar 2017, bei dem 24.000 Muslime getötet und tausende von Frauen vergewaltigt wurden. Außerdem traf es die Uiguren in China, von denen zwischen 120.000 und 3 Mio. in Umerziehungslagern inhaftiert sind, weil sie mit der rigiden Politik der chinesischen Regierung nicht einverstanden waren. Doch noch heute schockt mich die Tatsache, dass es zu dieser Zeit schon moderne Medien und Friedenstruppen gab und dies alles trotzdem in Europa möglich war.

Wenn man heute im Urlaub auf dem Balkan unterwegs ist, kann man sich kaum mehr vorstellen, dass dort noch vor zwanzig Jahren ein Krieg tobte. Und leider kam ich mit den Menschen dort nicht tief genug ins Gespräch, so dass sie ihre authentischen Erinnerungen hätten teilen können. So bleiben nur die Bilder der Tagesschau vor zwanzig Jahren, die an diesen Krieg erinnern.

Im Dezember 2010, als wir gerade unsere Rückübersiedlung nach Deutschland vorbereiteten8, startete eine Serie von Protesten in der arabischen Welt , die vielen Muslimen die Hoffnung bescherten, dass die politischen Systeme in ihren Ländern verbessert würden. Wir sahen in Argentinien meist die Nachrichten der Deutschen Welle, welche die Proteste in Ägypten gegen Hosni Mubarak ausführlich zeigten. Uns war klar, dass diese sich auf viele arabische Länder ausdehnen würden. So gab es schon ein paar Monate später auch in Syrien Proteste gegen den Präsidenten Bashar el Asad, die nach und nach in den nun schon seit achtzehn Jahren andauernden Krieg mündeten, in dem der Islamische Staat groß werden konnte und später durch das Eingreifen der Supermächte zerschmettert wurde. Den Schätzungen der Vereinten Nationen zu Folge wurden in diesem Krieg über 400.000 Menschen getötet und Millionen von Menschen sind geflohen. Sie gingen in die Türkei, den Libanon, aber auch bis zu uns nach Deutschland, so das auch wir zwei Familien betreut haben, bis sie einigermaßen auf eigenen Beinen standen. Dieser Konflikt ist mit dem Abzug der US-Truppen und dem Einmarsch der Türkei weiterhin offen. Der islamische Staat scheint zwar besiegt, aber die Kurden fordern nach wie vor ein hohes Maß an Autonomie, wenn nicht sogar einen eigenen Staat, und fühlen sich nun vom Rest der Welt verraten. An Frieden ist hier noch lange nicht zu denken.

Der letzte noch heiße Konflikt ist der Krieg in der Ukraine, der schon seit dem Jahre 2014 wütet. Grob gesagt kämpfen dort prorussische Kräfte für die Abspaltung der zwei durch sie proklamierten Volksrepubliken Donezk und Luhansk von der Ukraine. In der Öffentlichkeit versucht man die russische Unterstützung zur Annexion der beiden Republiken geheim zu halten, genauso wie die Unterstützungen zur Annäherung der Ukraine an den Westen, aufgrund Präsident Viktor Janukowitsch, der nach heftigen Protesten auf dem Maidan, die angeblich auch von CIA-Agenten unterstützt worden waren, das Land verlassen musste. Im März 2014 annektierte Russland zudem die Halbinsel Krim, die von herausragender militärischer und strategischer Bedeutung ist und nach Meinung der Russen sowieso die meiste Zeit zu Russland und erst seit 1991 zur Ukraine gehört hatte. Auch dieser Konflikt ist noch nicht ausgestanden und bereitet der aktuellen Politik noch viele Sorgen. Russland ist verärgert und zeigt immer weniger Gesprächsbereitschaft bei Kritik aus dem Ausland und sieht bereits das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine als Bruch der Vereinbarung, dass die Ukraine neutrales Territorium sei. Auf die verschiedenen Sichtweisen auf diesen Konflikt werde ich in Kapitel 4.6 noch einmal genauer eingehen.

Droht uns wieder ein neuer flächendeckender Krieg in Europa oder verhindert das große Waffenarsenal aller beteiligter Staaten, dass es zu einem heißen Krieg kommt? Setzt man vielleicht auf einen Wirtschaftskrieg, der dem Westen einen Vorteil brächte, oder einen Cyberkrieg, wie ihn die Industriestaaten wahrscheinlich schon begonnen haben? Was werden wir und unsere Kinder noch in den nächsten Jahre erleben? Werden die in Deutschland stationierten nuklearen Sprengköpfe der USA irgendwann einmal Geschichte sein? Was wird mit den 1,6 Millionen Tonnen Kriegsmunition und Giftgasfässern passieren, die von den Alliierten in der Nord- und Ostsee nach dem Krieg in Windeseile entsorgt wurden? Werden wir weiter akzeptieren müssen, dass Supermächte in aller Welt mitmischen und Stellvertreterkriege führen? Wird die bisher längste Friedensepoche in Europa bald ein Ende haben und die Spirale der Gewalt sich erneut drehen? Oder werden wir irgendwann alle diese Altlasten des Zeitalters des Krieges los sein und erleben, wie die Menschheit langsam aus ihrem Tiefschlaf erwacht?

Wir sollten alle dazu beitragen, dass Letzteres geschieht, denn alles andere wäre verheerend für die Menschheit, aber auch für das ganze Ökosystem Erde, das wir vor uns selbst retten müssen! Um es in den Worten der Hippies der 70er-Jahre auszudrücken:

Make Love, not War!

oder, wie wir es damals in Deutschland herausriefen:

Besser Petting als Pershing!

1 Anmerkung: Der Text ist zusammengefasst wiedergegeben. Auszüge aus den Originaleinträgen des Kriegstagebuchs befinden sich in Anhang A.

2 Die Geschichte hierzu findet man in Band I auf Seite 8.

3 siehe Seite 7 in [4]

4 siehe Band I Seite 8 [6]

5 siehe hierzu Band I [6] Seite 102-103

6 Dies habe ich Band I in Kapitel 3 und im Anhang schon diskutiert.

7 Im Quran in Sure 32: 11 erwähnt und meist mit dem Erzengel Azrael identifiziert.

8 siehe Band I Kapitel 5.8

Bruder Brahim II

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