Читать книгу Hitler-Jugend - Michael Kater - Страница 10

Schulungs-, Disziplin- und Führungsprobleme

Оглавление

Um sich vom herkömmlichen Schulsystem unabhängig zu machen, versuchte die Hitler-Jugend, eigene Bildungseinrichtungen zu schaffen: die ‘Adolf-Hitler-Schulen’ (AHS). Baldur von Schirach plante sie Anfang 1937 hinter Reichsminister Rusts Rücken im Zusammenspiel mit einem anderen führenden Kopf der NSDAP, dem Führer der ‘Deutschen Arbeitsfront’ (DAF) Robert Ley. Natürlich schäumte Rust vor Wut, als er davon erfuhr. Doch Hitler stand auf Seiten Schirachs und der Schulen, die seinen Namen tragen sollten.

Die erste dieser Schulen wurde am 20. April 1937, dem 48. Geburtstag des ‘Führers’, in einer von Leys Ausbildungseinrichtungen im pommerschen Crössinsee eröffnet. Geplant waren etwa 50 solcher Schulen – mindestens eine pro NSDAP-Gau – für insgesamt 15 000 Schüler. 1941 gab es allerdings erst zehn, und Ende 1943 hatten die Adolf-Hitler-Schulen gerade einmal 2027 Schüler. Ein Grund dafür war Geldmangel, denn die NSDAP war mit fortschreitendem Krieg zunehmend knapp bei Kasse. Nach dem Schulabschluss am Ende der zwölften Klasse (davon sechs Volksschul- und sechs AHS-Jahre) sollten die Absolventen der Adolf-Hitler-Schulen zur weiteren nationalsozialistischen Ausbildung eine der Leyschen ‘Ordensburgen’ besuchen. Den letzten Schliff wollte man der zukünftigen politischen Elite anschließend auf einer vom Chefideologen der Partei, Alfred Rosenberg, geführten, speziellen nationalsozialistischen Universität geben, der ‘Hohen Schule’.174

Als neuer weiterführender Schultyp waren die Adolf-Hitler-Schulen auf die NSDAP zugeschnitten und weckten bei Parteiführern wie Schirach und Ley schon bald entsprechende Erwartungen. Die gesamte Struktur dieser Anstalten, beim Aufnahmeverfahren angefangen, sperrte sich gegen bisherige Bildungsideale und war gegen Tradition, Wissen, Gymnasium und Eltern gerichtet. Inspiriert war die Ausrichtung der Schulen angeblich von einer revolutionären Dynamik, die ihre Schüler motivieren sollte, den nationalsozialistischen Dogmen immer oberste Priorität einzuräumen. Vorgesehen war, die neuen AHS-Schüler, von denen jedem Gau jährlich ein bestimmtes Kontingent zustand, von HJ-Führern und regionalen Parteivertretern auswählen zu lassen. Dabei sollten zwar Söhne bewährter Parteigenossen bevorzugt werden, die Eltern für ihre Sprösslinge aber keinen Aufnahmeantrag stellen und sie später auch nicht von der Schule nehmen können. Den Auswahlkriterien nach mussten die Hitlerjungen mindestens zwölf Jahre alt, rassisch einwandfrei, sportlich und drilltauglich sein, das heißt, sie mussten schon eine herausragende pronationalsozialistische Disposition mitbringen und darüber hinaus etwas, das höher als der Intellekt des Einzelnen eingestuft wurde: eine auf den nationalsozialistischen Vorstellungen von Ehre, Tapferkeit und Treue gegenüber dem ‘Führer’ beruhende „charakterliche Haltung“. Soweit es das NS-Regime betraf, strebten die AHS-Schüler als Berufsziel in erster Linie einen Arbeitsplatz innerhalb der Parteihierarchie an, etwa als HJ-Führer oder leitender Mitarbeiter in der Gauverwaltung, und in zweiter Linie eine herkömmliche Stelle als Staatsbeamter.175

Weil die Lehrpläne mit denen der gewöhnlichen weiterführenden Schulen nicht abgestimmt wurden und weil die Eltern am AHS-Auswahlverfahren kaum beteiligt waren und ihre Kinder lieber auf traditionelle Schulen schickten, wurden die für diese neue Institution vorgesehenen Quoten nie erreicht. Es sei keineswegs überraschend gekommen, höhnte Albert Speer in seinen nach dem Krieg verfassten Memoiren, dass „die hohen Funktionäre ihre eigenen Kinder nicht in diese Schulen sandten“.176 Als die Parteifunktionäre gegen Ende des Kriegs ihren Fehler einsahen, beschlossen sie, nun mehr Wert auf Intelligenz als auf „charakterliche Haltung“ zu legen und auf dem Weg zum AHS-Schulabschluss die förmlichen Lernvoraussetzungen zum Erwerb der Hochschulreife zu schaffen. Doch das geschah viel zu spät, um den bereits entstandenen Schaden noch beheben zu können.177

Die geringe Qualität des Unterrichts lag an dem Profil der von der HJ-Führung handverlesenen AHS-Lehrerschaft. Die älteren Lehrer waren meist zuverlässige Parteigenossen, während die – keine 30 Jahre alten – jüngeren Pädagogen HJ-Vertrauenslehrer waren, die Bildung für weniger wichtig hielten als die nationalsozialistische Politik und Ideologie. Von den altehrwürdigen Schulbüchern wollten sie nichts wissen, und sie arbeiteten lieber mit Unterrichtsmaterial, das von HJ-Praktikern erstellt worden war.178 Bereits 1938 gab es Pläne für eine spezielle AHS-Lehrerbildungsanstalt in Sonthofen, die aber auch fünf Jahre später noch nicht verwirklicht waren.179 Alle diese Lehrer seien „gute Kameraden“ gewesen und hätten „das beste Wollen, aber nicht genug Wissen“ gehabt, gesteht der ehemalige AHS-Schüler Harald Grundmann ein.180

Dieser Qualifikationsmangel spiegelte sich auch im Lehrplan. Schirach behauptete 1938 zwar, in seinen neuen Schulen werde bei geänderten Lehrmethoden der gleiche Stoff wie bisher vermittelt, doch die Wirklichkeit sah anders aus.181 Einen Großteil des Unterrichts nahmen Geistes- und Leibesübungen ein, die schon aus dem normalen HJ-Dienst bekannt waren und nun an den Adolf-Hitler-Schulen noch intensiver betrieben wurden. Bei den konventionellen Schulfächern wurde besonderer Wert auf jene gelegt, in denen sich – wie in Geschichte, Geographie und Biologie – die ‘ruhmreiche’ Vergangenheit und ‘rassische Überlegenheit’ der Deutschen hervorheben ließ; der Fremdsprachenunterricht sollte die Schüler nur in die Lage versetzen, zukünftigen Sklavenvölkern Befehle erteilen zu können.182 Für diesen geistigen Bereich waren jedoch nicht mehr als eineinhalb Stunden pro Schultag vorgesehen, während dem Sport jeweils fünf Stunden zukommen sollten.183 Zum Sport zählte man dabei auch die alten Drill- und Leibesübungen, die letztlich der Kriegführung dienen sollten. Didaktisches Motto war „die Liebe zum Kampf und die Bereitschaft zum Heldentod“.184 Da man den Intellekt des Einzelnen für weniger wichtig hielt als seine nationalsozialistisch geprägte „charakterliche Haltung“, kam der ideologischen Indoktrination oberste Priorität zu. Man ließ AHS-Schüler Konzentrationslager besichtigen, damit sie den innenpolitischen Feind kennen lernten. Ein Medizinprofessor erläuterte ihnen das ‘Euthanasie’-Programm – die Ermordung geistig oder körperlich behinderter Menschen. Und in ‘Kampfgesprächen’ ging es um die Politik der Nationalsozialisten, ihre neuen Sitten und ihre Weltanschauung – z. B. um die Frage, warum die arische Rasse allen anderen Rassen überlegen sei.185 Während seiner Schulzeit sei er „geistig nie überfordert“ worden, „körperlich aber wohl“, erinnert sich Grundmann.186

Die Hitler-Jugend hoffte, hohe Aufnahmezahlen in den Adolf-Hitler-Schulen würden sich förderlich auf das allgemeine nationalsozialistische Ziel einer sozialen Revolution zugunsten der Chancengleichheit aller gesellschaftlichen Klassen auswirken – ein Ideal, das die HJ vor 1933 hochgehalten hatte und dem sie weiterhin zumindest Lippenbekenntnisse zollte. Hitler selbst sagte 1942, er wolle durch die AHS ermöglichen, dass „auch der ärmste Junge zu jeder Stellung emporsteigen kann, falls er die Voraussetzungen dazu in sich hat“.187 Daher wurde von den Schülern für Unterricht, Unterkunft und Verpflegung fast kein Schulgeld verlangt.188 Doch obwohl die Kinder aus den unteren Schichten in den Adolf-Hitler-Schulen etwas stärker als in den herkömmlichen weiterführenden Schulen vertreten waren, reichte ihre Zahl nicht, um am Mittelschichtscharakter der höheren Schulen im Reich insgesamt zu rütteln.189 Die proklamierte soziale Gleichstellung vermochte nicht, das Ansehen der AHS-Schulen zu erhöhen.

Eine weitere Ursache für den mangelnden Erfolg der Adolf-Hitler-Schulen bei der Ausbildung der zukünftigen Parteielite lag in dem nicht eingelösten Versprechen, Anschlussinstitutionen zu schaffen. Leys ‘Ordensburgen’– außer Crössinsee noch je eine in West- und Süddeutschland –, die die AHS-Absolventen ab einem Alter von etwa 18 Jahren besuchen sollten, waren weder als Militärakademien konzipiert, wie die Wehrmacht sie bot, noch als traditionelle Universitäten, wie es manche der jungen Männer mit Blick auf ihre angestrebte akademische Laufbahn lieber gesehen hätten. Die didaktische Konzeption der ‘Ordensburgen’ verschwand hinter einem Schleier aus rassistischer Mystik, und angesichts der wenigen Studenten und des unzulänglichen Lehrkörpers erreichten diese nationalsozialistischen Bildungsstätten nie auch nur ein wenigstens rudimentäres Funktionsstadium.190 Ebenso wenig wurde die oberste Ebene dieser NS-Bildungsstättenhierarchie je verwirklicht: Die Errichtung der ‘Hohen Schule’ als Parteiuniversität war erst für die Zeit nach dem Endsieg geplant.191

Eine weitere höhere Schule der NSDAP war die teilweise subventionierte und auf nicht weniger als 40 herrschaftliche Gebäude verteilte ‘NS-Deutsche Oberschule Starnberger See’ (ab August 1939 ‘Reichsschule der NSDAP Feldafing’). Sie wurde von HJ-Führern aber nicht als Konkurrenz zu den Adolf-Hitler-Schulen betrachtet, weil sie eher etwas für Genießer (häufig Sprösslinge aufgeblasener Parteifunktionäre) als für Asketen war: Nach ein paar formalen Unterrichtsstunden gingen die Schüler dort Golf spielen oder segeln, und keiner von ihnen erhielt je eine schlechte Note oder ein schlechtes Abschlusszeugnis. Diese Schule für 12- bis 18-Jährige war 1933 von SA-Chef Ernst Röhm als Rekrutierungsinstrument gegründet worden; nach Röhms Exekution im Juli 1934 sorgte der Stellvertreter des ‘Führers’, Rudolf Heß, für ihren Fortbestand. Für die Einrichtungen der HJ bedeutete diese Schule auch deshalb kaum eine Konkurrenz, weil sie relativ klein und ihr Lehrkörper keineswegs qualifizierter war als in den Schulen Schirachs oder Leys.192

Wenn diese vielfältigen nationalsozialistischen Bildungseinrichtungen für die ein Monopol anstrebenden pädagogischen Ambitionen der HJ noch keine Bedrohung darstellten, so war das aber bei den von der SS geführten ehemaligen Kadettenanstalten durchaus der Fall. Diese ‘Nationalpolitischen Erziehungsanstalten’ (NPEA, ‘Napolas’) machten alles, was die Adolf-Hitler-Schulen zu tun versuchten – nur machten sie es viel besser und mit greifbaren Ergebnissen. Drei NPEA waren unter Schirachs altem Gegenspieler Minister Rust im April 1933 eingerichtet worden; 1940 gab es bereits 21 solcher Anstalten.193 Mit Rusts stillschweigendem Einverständnis übernahm Himmlers SS 1936 die Verantwortung für die NPEA, als das Amt des zuständigen Inspekteurs an SS-Gruppenführer August Heißmeyer fiel. Die NPEA-Lehrer hatten eine traditionelle akademische Ausbildung und waren großteils überzeugte SS-Mitglieder.194 Die Schüler der NPEA kamen in der Regel mehrheitlich aus der oberen Mittel- und der Oberschicht und hatten zur HJ nur eine nominelle Bindung.195 Sie wurden durch unmenschlichen Drill und kalkuliert eingesetzte seelische Folter völlig gefügig gemacht und strömten spätestens ab September 1939 in großer Zahl zur SS. Als ‘politische Soldaten’ töteten sie ohne jeglichen Skrupel andere Menschen.196 Ihre schulischen Leistungen waren dennoch beachtlich: Sie lagen knapp unter dem reichsweiten Durchschnittsergebnis der Gymnasiasten.197

Dass die HJ-eigenen Schulen bei ihrem Versuch, das herkömmliche Bildungswesen zu ersetzen, Schiffbruch erlitten, wurde unter anderem an den Disziplinproblemen deutlich, die gleich bei der ersten dieser Institutionen auftauchten und nach Kriegsbeginn eskalierten. Auch außerhalb ihrer Schulen stieß man überall in der Hitler-Jugend auf mangelnde Disziplin. Die HJ sei „ein Sauhaufen“ gewesen, schreibt Heinz W. Kämmer, der 1933 in Erfurt in die nationalsozialistische Jugendorganisation eintrat.198 Im selben Jahr informierte Hitler Schirach darüber, dass Reichspräsident Paul von Hindenburg zornig auf ihn sei, weil „die Jugend nicht den notwendigen Respekt vor alten Offizieren, Lehrern und Geistlichen habe“.199 Später im ‘Dritten Reich’ waren Jungvolk-Mitglieder dafür bekannt, kleinere Diebstähle zu begehen, Eisenbahngleise zu blockieren und auf der Straße Zivilisten anzupöbeln.200 Bei älteren HJ-Mitgliedern wurden Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung zu einem ernsten Problem, etwa wenn sie mit Dienstwagen Wettrennen veranstalteten und dabei manchmal unbeteiligte Passanten verletzten. HJ-Führer seien mit ihren Wagen gewohnheitsmäßig so schnell unterwegs, dass sie diese „nicht mehr rechtzeitig genug zum Halten“ bringen könnten, wurde offiziell beklagt.201 Unter HJ-Mitgliedern nahmen homosexuelle und sadistische Handlungen überhand.202 In einem berüchtigten Fall vom Sommer 1938 quälte ein jugendlicher HJ-Führer bei einem Ausflug seine Schützlinge dadurch, dass er ihnen die Hände und Füße zusammenschnürte und dann mit seinem eisenschnallenbewehrten Gürtel auf sie einschlug.203

Die Öffentlichkeit und auch verschiedene Parteistellen warfen älteren Aufsichtspersonen aus den Reihen der HJ vor, unfähig zu sein, die von Schirach beschworene Führungsverantwortung zu übernehmen. Arrogante HJ-Mitglieder suchten regelrecht Streit mit Angehörigen der SA, der Polizei und der NSDAP und machten nach dem Frühjahr 1935 nicht einmal vor der Wehrmacht halt.204 Und so wuchsen die Probleme.

Obwohl sich die Masse der HJ-Mitglieder vor allem ab 1939 durch den Wehrdienst größere Disziplin aneignete, nahmen diese Schwierigkeiten zu. Jungen und Mädchen begingen auch in den Kriegsjahren Straftaten wie Diebstahl, Amtsanmaßung oder schweren Vandalismus. So kam es in wachsendem Maße zu Zusammenstößen zwischen der Polizei (oder anderen Behörden) und der HJ.205 „Unsere HJ. verbummelt“, befand ein schwäbischer NSDAP-Funktionär im Januar 1943, zwei Wochen vor der Katastrophe von Stalingrad.206 Trotz der nationalsozialistischen Charakterbildung gelang es nicht, homosexuelle Handlungen zu unterbinden, außerdem waren Frauen stärker als zu Friedenszeiten mit sexueller Belästigung konfrontiert.207

Grundlegende Ursachen dieses Debakels waren die Führungsstrukturen der Hitler-Jugend und die in ihr herrschenden Prinzipien. Von der Weimarer Jugendbewegung, die auf ihre – tatsächliche oder eingebildete – Unabhängigkeit von der älteren Generation stolz gewesen war, hatte Schirach das Motto entlehnt: „Jugend soll durch Jugend geführt werden.“208 Natürlich war Schirach selbst kaum 26 Jahre alt, als Hitler ihn im Juni 1933 zum Jugendführer des Deutschen Reiches ernannte, und er ließ dem Motto entsprechend Jungen bzw. Mädchen jeder Altersstufe Kinder oder Jugendliche führen, die nur ein paar Jahre jünger als sie selbst waren. Diese Vorgehensweise entsprach Schirachs antiintellektueller Ansicht, dass Charakterbildung durch Erfahrung höher einzustufen sei als formale Geistesschulung.209 Im Einklang mit den nationalsozialistischen Führerschaftsprinzipien und zumeist im Gegensatz zur Praxis der Jugendbewegung der Weimarer Republik wurden diese Führer und Unterführer allerdings von oben bestimmt und für ihre Handlungen gegenüber den ihnen unterstellten HJ-Mitgliedern nie zur Verantwortung gezogen.210 Dieses Führerschaftsprinzip mag jungen Deutschen damals verlockend erschienen sein, es öffnete aber Inkompetenz, Missbrauch und Korruption Tür und Tor.211

Schirach und – ab August 1940 – sein 27-jähriger Nachfolger Artur Axmann versuchten dem Machtmissbrauch dadurch gegenzusteuern, dass sie für die wachsende Zahl immer jüngerer HJ-Führer eigene Führerkurse, -schulen und -akademien einrichteten. Noch vor Schirachs offizieller Ernennung wurde im April 1933 in Weyarn südlich von München unter der Leitung eines Polizeioffiziers die erste dieser Institutionen eröffnet. Da man hier einer „soldatische[n] Haltung“ besondere Bedeutung zumaß, wurde, was kaum überraschen kann, Disziplinfragen mehr Beachtung geschenkt.212 Als Haupteinrichtung der HJ gab es schon bald eine Reichsführerschule in Potsdam und später über das Reich verteilt mehrere kleine HJ-Führerschulen, die in ein- oder mehrwöchigen Kursen nicht nur richtiges Befehlen vermittelten, sondern auch ideologischen Unterricht in ‘Rassenkunde’ und deutscher Geschichte erteilten. Schirach gab an, dass bis Januar 1935 bereits rund 50 000 Jugendführer und -führerinnen aller Hierarchieebenen geschult worden seien.213 Ihre Zahl stieg 1936 auf 78 000, doch da es zu dieser Zeit (bei insgesamt etwa fünf Millionen HJ-Mitgliedern) rund 496 000 HJ-Führerinnen und -Führer gab, bedeutete dies, dass von ihnen nur 16 Prozent tatsächlich geschult waren.214

Außerdem war der Wert der angebotenen Schulungen selbst nach HJ-Standard zweifelhaft. Im Januar 1935 deutete Schirach persönlich an, dass es schwierig sei, entsprechendes Schulungspersonal zu finden.215 Zwei Jahre später kritisierte einer seiner regionalen Befehlshaber bei einer Berliner Ausschusssitzung, dass die Schulungen bislang qualitativ minderwertig seien und man sich auf schlechte Schulungskräfte stütze. Diese könne man nicht angemessen ausbilden, weil die Bezahlung von Lehrkräften bei der HJ zu gering sei, als dass jemand eine solche Stelle annehmen würde.216 Einige Monate später schrieb HJ-Oberbannführer Oskar Riegraf, dass er bis vor kurzem dem Stuttgarter Gauleiter Wilhelm Murr zuliebe 56 Kurse erteilt und nun „mit der HJ abgeschlossen“ habe.217

Als es dann im Krieg besonders schwer war, an Lehrkräfte zu kommen, scheint der Schulungsstandard für zehntausende angehender HJ-Führer und -Führerinnen auf ein ziemlich tiefes Niveau gesunken zu sein. Ein junger Teilnehmer, dem es tatsächlich gefiel, unter Druck gedrillt zu werden, so wie heutzutage manchen Jugendlichen die Ausübung von Extremsportarten gefällt, berichtete im März 1943 von Schulungsstunden, in denen Themen aus Mein Kampf sowie die Geschichte der NS-Bewegung und der Aufstieg des ‘Dritten Reiches’ seit 1933 behandelt wurden. Nachmittags hätten sie über Göring, Himmler und Goebbels gesprochen, schrieb er.218 Ein älterer, aus der ‘Ostmark’ (Österreich) stammender Teilnehmer war zur Schulung nach Eichsfeld in Thüringen geschickt worden, nachdem er bereits an der Front gekämpft hatte. „Ich sollte wieder mit der weltanschaulichen Linie vertraut und auf den letzten Stand gebracht werden. Zu meinem Erstaunen kam ich da nicht mehr ganz mit. Bald merkte ich, worin der Unterschied lag. Es fehlte die Offenheit der Soldaten.“ Dieser erfahrene Frontsoldat klagte, die in der Heimat gebliebenen HJ-Funktionäre seien Bürokraten geworden und hätten verlernt zu führen. Sie hätten sich „in vielen Stellen eingenistet und unentbehrlich gemacht“, hätten niemanden zu Worte kommen lassen, der „etwas anderes, etwas Besseres darunter verstand“ und hätten gemeint, „das Heldentum gepachtet zu haben“.219

Die HJ-Führung hatte anfangs geglaubt, durch eine in Braunschweig geplante ‘Akademie für Jugendführung’ alsbald Abhilfe schaffen zu können. Im Oktober 1935 verkündete Schirach, er sei sich mit der Stadt Braunschweig über einen Grundstückskauf einig geworden. Und 1936 wurde angekündigt, die Akademie werde Ende des folgenden Jahres ihre Arbeit aufnehmen.220 Tatsächlich eröffnet wurde die Akademie mit ihrem angeblich anspruchsvollen Studiengang allerdings erst im April 1939. Selbst dann musste das erste Semester zunächst auf einem Sportgelände in Berlin absolviert werden, bis das Akademiegebäude endlich fertig gestellt war und man im August nach Braunschweig umziehen konnte. Zu den Aufnahmebedingungen gehörten das Abitur, eine strenge Vorauswahl, ein viermonatiges Praktikum in einem HJ-Gau und ein achtwöchiger Lehrgang an der Führerschule in Potsdam. Im Anschluss an den zwölfmonatigen Aufenthalt in der Akademie mussten die Kandidaten drei Wochen lang in einem kriegswichtigen Betrieb arbeiten und einen sechsmonatigen Lehrgang im Ausland absolvieren. Der erfolgreiche Abschluss war mit der offiziellen Ernennung zum ‘Jugendführer des Deutschen Reiches’ verbunden – allerdings nur, wenn man sich für mindestens zwölf Jahre Vollzeitdienst in der HJ verpflichtete. Immerhin bestand die Aussicht, dann als eine Art HJ-General einen hohen Status zu genießen.221

Es stellte sich jedoch heraus, dass die Akademie die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen konnte. Im Krieg sorgte der Personalbedarf der Wehrmacht rasch dafür, dass das prächtige Gebäude weit weniger genutzt wurde als vorgesehen. Die notdürftig zusammengestellten Lehrgänge dauerten statt der geforderten zwölf kaum fünf Monate. Die „gründliche Ausbildung“ erwies sich bestenfalls als irreführende Versprechung, weil sie nicht annähernd das Niveau einer heutigen Fachschule erreichte.222 Die „namhafte[n] Wissenschaftler und Hochschullehrer“, die Axmann für seine 1995 erschienenen Memoiren erfand, waren in Wirklichkeit drittklassige Gastdozenten aus den Reihen des nazifizierten Lehrpersonals abgelegener Universitäten. Die Akademieschüler des ersten Sommersemesters blieben nur wenige Wochen in der Einrichtung, ehe sie zur Front abfuhren. Diejenigen, die nach September 1939 kamen, waren überwiegend Jugendführer der mittleren Hierarchieebene, die neben einer Kriegsverletzung Kampferfahrung mitbrachten. Viel konnte die Akademie ihnen nicht mehr beibringen.223

Wie schlecht die Akademie für das durchschnittliche HJ-Mitglied gerüstet war, veranschaulichen zwei Nachkriegsberichte. Ein Veteran schreibt, das Leben in Braunschweig habe, soweit vorhanden, einem „gemütlichen Urlaub“ geglichen – jedenfalls in den Augen zynischer junger Männer, die schon an der Front gekämpft hatten. Der Drill habe aus lockeren Märschen durch die idyllische Stadt Braunschweig bestanden. Von den Vorträgen der Gastdozenten habe keiner wirklich Eindruck gemacht, und dementsprechend sei „kaum etwas haften“ geblieben. „Die philosophisch vorgebrachte Weltanschauung blieb uns unverständlich.“ Und als Schirach höchstpersönlich vor den Lehrgangsteilnehmern eine Ansprache zu halten geruhte, „entschlummerte einer nach dem anderen“.224 Ein anderer Absolvent der Akademie berichtet vom Besuch eines hohen HJ-Führers und Ritterkreuzträgers. Dieses im ganzen Reich bewunderte Vorbild aller angehenden Führer habe bei seiner Inspektion nur Arroganz zur Schau gestellt. 1942 in Braunschweig, so erzählt dieser Zeitzeuge und damalige Lehrling bei Stollwerk in Köln, habe er dem „hochgestochenen Schulungsprogramm intellektuell nicht folgen“ können, und das, obwohl er damals bereits einen sehr hohen Rang innegehabt habe. In seinen 1994 veröffentlichten Erinnerungen gibt er zu, bei den als intellektuell anspruchsvoll angekündigten Vorlesungen eingenickt zu sein.225 Als Gesamteindruck der Zeit bis 1945 hält dieser ehemalige HJ-Bannführer fest: „Die Führer wurden immer jünger, ihre Ausbildung immer geringer.“226

Die chronisch unzulängliche Rekrutierung von HJ-Führern und die unzureichenden Schulungen trugen zwangsläufig zu den systemischen Mängeln in der Führungsstruktur bei, die sich im Fehlen fähiger Führungspersönlichkeiten manifestierten. Ob in der Pfalz, in Braunschweig oder Bayern – überall sah sich die HJ gezwungen, jeden als Führer zu akzeptieren, der daran Interesse zeigte; das katastrophale Ergebnis war vorauszusehen.227 Das traf vor allen Dingen auf dem Land zu, wo Jungen wie Mädchen am Wochenende und werktags nach der Schule eher in der Landwirtschaft arbeiteten, als zur HJ zu gehen.228 Unterdessen versuchte Schirach seine Kritiker mit den Worten zu besänftigen, Jugendführer würden nicht „mit abgeschlossener Ausbildung geboren“, daher müsse man eben für diese „größte Jugendbewegung der Welt“ auch weiterhin nach geeigneten Leuten suchen.229

Der Beginn des Zweiten Weltkriegs verschärfte diese Schwierigkeiten noch, weil nun die Gruppe der älteren HJ-Führer (von 17 Jahren an aufwärts) eingezogen wurde. Bis zum 1. Oktober 1939 waren bereits 273 der 424 obersten Vollzeitkräfte in Schirachs Amtsbereich zu den Fahnen gerufen worden; am 1. Januar 1940 befanden sich 25 Prozent aller Führungskräfte an der Front. Knapp zwei Jahre später war diese Quote auf 60 Prozent gestiegen.230 Was schon in Friedenszeiten ein Problem gewesen war, wurde durch den Krieg noch verstärkt: Die entschwundenen älteren Führer mussten durch immer jüngere HJ-Mitglieder ersetzt werden, denen jegliche Führungserfahrung fehlte.231 Fünfzehnjährige führten 1944 schon das Kommando über Gleichaltrige; in den letzten beiden Kriegsjahren konnten viele Jungen es kaum fassen, wenn sie auf einmal zu einem Rang befördert wurden, der bei der Wehrmacht mindestens dem eines Majors entsprach.232 Lina Heydrich, Witwe des einstigen SD-Chefs, war außer sich, als sie im Juli 1944 Himmler davon unterrichtete, dass ihr kleiner Sohn Heider verwahrlose, weil 16-Jährige die HJ leiteten. Himmler entsprach ihrem Wunsch, Heider fortan von jeglicher HJ-Dienstpflicht freizustellen.233

Ständige personelle Veränderungen in einzelnen Ortsgruppen machten die Kinder und Jugendlichen sowie ihre Eltern, Lehrer und nicht zuletzt die Parteibonzen nervös.234 An manchen Orten gab es wegen Personalmangels überhaupt keine HJ-Posten mehr.235 Die von Martin Bormann geleitete Parteikanzlei versuchte bereits im März 1940, die Hauptverantwortung für die örtliche Jugend an eigene Repräsentanten zu delegieren, doch da das unverkennbar darauf hinauslaufen sollte, die HJ Bormann zu unterstellen, ließ Schirach sich nicht zu einer Reaktion herab. Im November 1942 verfolgte der Reichsinnenminister dieses Thema erneut mit Nachdruck, erreichte aber ebenfalls nichts. Noch bis Anfang 1945 versuchten hohe und höchste Parteistellen Einfluss auf die Personalabteilung der HJ-Führung zu nehmen. Schirach und Axmann ließen jedoch bis zuletzt alle von außen kommenden Interventionen ins Leere laufen und behielten alles selbst in der Hand.236

Auf Insider und auch auf viele Außenstehende wirkte die HJ durch und durch korrupt und verdorben. Bereits 1934 verschafften kleine HJ-Häuptlinge sich dadurch Geld, dass sie es anderen Personen abpressten oder es durch doppelte Buchführung beiseite schafften.237 Örtliche HJ-Führer wirkten eitel und arrogant.238 „Was bei uns in der HJ gegenwärtig für ein Laden ist, wirst Du ja sicher wissen“, schrieb Oskar Riegraf im November 1938 aus Nürtingen an einen alten Kameraden. „Es passieren Dinge, die man als anständiger Mensch bald nicht mehr mitmachen kann.“239 Andere sahen „rauchende HJ-Führer, flirtende BDM-Maiden und betrunkene Jugendführer“ und immer wieder auch HJ-Führer und -Führerinnen, die ihre Sexualität im Dienstzimmer auslebten.240 Spätestens ab 1943 verkehrte Axmann mit Goebbels, der dafür bekannt war, dass er sich für intime Partys in seinen verschiedenen Berliner Liebesnestern Filmsternchen besorgte. Axmann half Goebbels, diese jungen Frauen zu chauffieren, und organisierte nebenbei auch selbst ein paar Partys, zu denen er jene Starlets sowie hübsche BDM-Mitglieder einlud.241 Auch Schirach scheint unverantwortlich gehandelt zu haben, anstatt dafür zu sorgen, dass die Zügel angezogen wurden. Als Gauleiter Anfang 1945 mit der Verteidigung von Wien gegen die Rote Armee betraut, warf er sich eines Tags ähnlich wie Göring in „eine Art Generalsuniform“ und lud eine Gruppe höherer HJ-Führer abends zu Hühnchen mit Reis bei gepflegter Unterhaltung ein; diese hatten jedoch erwartet, strenge Anweisungen für ihren Kampf gegen die Russen zu erhalten. Fünf Jahre zuvor hatte Schirach sich nach ein paar Wochen nominellem Kriegsdienst an der Westfront in der Öffentlichkeit mit dick bandagiertem Kopf gezeigt und so getan, als stamme die Verwundung von einem Fronteinsatz. In Wirklichkeit hatte er schlicht einen Autounfall gehabt.242

Heß und Bormann versuchten, etwas gegen Schirachs planlose Rekrutierungs- und Schulungspolitik zu unternehmen, weil sie verständlicherweise an einer planmäßigen und geordneten Ergänzung und Aufstockung des NSDAP-Personals interessiert waren. Bereits im Frühjahr 1934 hatte Schirach sich mit dem Wunsch von Parteifunktionären einverstanden erklärt, ältere HJ-Führer verstärkt als Adjutanten bei führenden Parteimitgliedern vom Ortsgruppenleiter aufwärts einzusetzen.243 Wie beliebt diese Vereinbarung bei der HJ-Basis war, zeigt sich daran, dass sie nie umgesetzt wurde. Dennoch hielten Heß und Bormann an ihren Forderungen fest und entwarfen entsprechende Erlasse. Als die NSDAP und ihre Unterorganisationen insbesondere nach Kriegsbeginn Führungsnachwuchs benötigten, weil die älteren Führer zur Wehrmacht eingezogen wurden, entgegnete die HJ-Führung jedoch, dass es ihr aus demselben Grund an entsprechenden Leuten fehle und sie daher der Bitte der Partei nicht nachkommen könne.244 Hitler und Goebbels stützten sich in jedem Fall weiterhin auf die Reserven, die die HJ ihrer Meinung nach bereitstellen konnte. Im August 1941 merkte Goebbels an, dass in seinem Bereich, der Propaganda, der Nachwuchs „sehr dünn gesät“ sei und er auf eine Übereinkunft mit der HJ-Verwaltung hoffe, durch die „in größerem Umfang bewährte HJ-Führer“ für sein „Arbeitsgebiet zur Verfügung gestellt“ würden.245 Ein halbes Jahr später hatte er Anlass darüber zu klagen, dass „nach und nach die erste Generation“ der ‘Alten Kämpfer’ der NSDAP wegsterbe.246 Im Mai 1942 beklagte sich Hitler im engsten Kreis, „immer wieder“ müsse er für Führungsaufgaben „auf dieselben Leute zurückgreifen“.247 Nachdem auf dem Schlachtfeld von Stalingrad zehntausende deutscher Männer in der Blüte ihrer Jahre ihr Leben verloren hatten und hunderte von Jugendführern kurz davorstanden, an der ‘Ostfront’ deren Platz einzunehmen, soll Hitler ein Jahr später laut Bormann gesagt haben, die NSDAP dürfe „sich nur noch aus den Reihen der Jugend und den Reihen der Soldaten ergänzen“.248

Wie zuvor begegneten die Jugendlichen den Plänen der Partei mit großer Skepsis. Zwischen 1941 und 1944 meldeten sich nur wenige HJ-Mitglieder freiwillig für Parteiaufgaben, sodass die NSDAP im Herbst 1943 einräumen musste, sie habe ihre Ränge nur „zu einem bestimmten Teil“ mit HJ-Führern besetzen können.249 Und als Anfang 1945 alles so gut wie vorbei war, kam es zwischen der hochrangigen BDM-Führerin Melita Maschmann und ihren männlichen Kameraden zu einem aufschlussreichen Gespräch. Einer von ihnen hatte gesagt, man habe nun den Beweis dafür, dass Parteikanzleichef Bormann Hitler systematisch falsch informiere und Deutschland dadurch in den Abgrund führe. Dies griff Maschmann auf und fragte ihre Kameraden, warum man nicht für Bormanns Verschwinden sorge. „Wozu schleppt ihr eure dicken Pistolen herum? Ich weiß nur eine Antwort auf diese Frage: ihr seid zu feige, um euch für eine solche Tat, die ihr doch für notwendig haltet, zu opfern.“ Maschmann war sich sicher, dass sich die Jugend und die Frontsoldaten nach dem Endsieg mit Hitler verbünden würden, um die alten Parteibonzen zum Teufel zu schicken.250 Aus solchen Gedanken sprach nicht nur die bei vielen oberen HJ-Rängen vorhandene Naivität, sondern auch die von den meisten Deutschen während der ganzen Zeit des ‘Dritten Reiches’ geteilte Ansicht, die NS-Bürokratie lasse zwar zu wünschen übrig, aber Hitler selbst könne nichts falsch machen.251 Manche HJ-Mitglieder waren sogar bereit, jenen Teil der NS-Bewegung von ihrer Kritik auszunehmen, der dem ‘Führer’ bekanntermaßen am nächsten stand: die SS. Soweit sie sich als die junge Elite der Bewegung sahen, wussten sie auch, dass die SS nach damaligen Maßstäben deren reife Elite darstellte. Auch die SS kannte diese angebliche oder tatsächliche Affinität und versuchte schon früh, sie sich zunutze zu machen.

Offensichtlich wurde dies am 27. Juni 1934, als Hitler den Wunsch äußerte, seine SS-Eliteeinheit ‘Leibstandarte Adolf Hitler’ mit 17-jährigen Hitlerjungen zu verstärken, die mindestens 1,78 Meter groß sein müssten (während die SS-Norm als Mindestmaß 1,70 Meter vorsah). Bedeutsam ist das Datum, weil Hitler an diesem Tag bereits wusste, dass er die angeblich von der unbotmäßigen SA unter Röhm geplante Revolte im Keim ersticken wollte. Hitler wusste außerdem, dass es Schirach 1931/32 widerstrebt hatte, offiziell Röhm unterstellt zu werden und die HJ der SA anzugliedern. Als es dann am 30. Juni 1934 zur ‘Säuberung’ kam, wurde sie von der ‘Leibstandarte’ durchgeführt.252 Hitlerjungen waren vielleicht tatsächlich stolz darauf, von einer solchen Einheit (wenn auch zu spät für eine Beteiligung an der ‘Säuberung’) rekrutiert zu werden, dennoch sah sich Schirachs Zentrale im Dezember des Jahres veranlasst, der SS nahe zu legen, keine Jugendlichen von gerade erst 17 Jahren anzuwerben und aufzunehmen. Schirach befürchtete, dass die Jungen dann vorzeitig für die Ziele der HJ verloren wären.253

Im Mai 1936 trieb Himmler die Anwerbung von Hitlerjungen weiter voran, als er sich auf dem Brocken im Harz – unweit von Braunschweig, wo die SS soeben ihre Führerschule eröffnet hatte – mit einer Ansprache an Schirachs HJ wandte. Er erklärte Wesen und Aufgabe eines typischen SS-Führers und lud die Hitlerjungen nach Braunschweig ein – in die Stadt, in der Schirach zur selben Zeit die Errichtung einer eigenen Führerakademie plante.254 Ein solcher Austausch zwischen SS und HJ fand verstärkt zwischen 1937 und August 1938 statt; als dann jedoch die zunehmende Einberufung zur Wehrmacht die Nachwuchsrekrutierung der SS bedrohte, setzte Himmler für seine Anwerbungsbemühungen bequemerweise auf den ‘HJ-Streifendienst’ (SRD). Seit seiner Gründung im Juli 1934 bestand der Streifendienst aus 16- bis 18-jährigen Hitlerjungen, die in enger Zusammenarbeit mit Gestapo und SS erstens widerspenstige Mitglieder der gesamten uniformierten HJ und zweitens (was im Krieg besonders wichtig war) alle sonstigen verdächtigen Jugendlichen im Reich überwachen sollten. Die Übernahme von Streifendienstlern, die der HJ sicherlich mit besonderer Begeisterung angehörten, brachte für die SS zwei wesentliche Vorteile mit sich: Dieser Dienst machte aus überzeugten jungen Nationalsozialisten potenzielle Polizisten und bereitete sie so auf spätere, starke Durchsetzungskraft erfordernde Aufgaben vor – darunter die Unterwerfung anderer Völker und die Tötung von Zivilisten. Außerdem zog der Streifendienst elitebewusste Jugendliche an, die darauf brannten, in ihrem Befehlsbereich konventionelle Grenzen weit zu übertreten. Aufgrund enger personeller und organisatorischer Verbindungen wurden zwischen den beiden Organisationen für HJ-Angehörige Übernahmevereinbarungen getroffen, in denen die HJ-Ränge mit denen der SS abgestimmt waren.255

Ab Ende 1938 machte sich Himmler neben dem SRD auch den Landdienst der HJ zunutze, dessen imperialistische Ideologie den Anschauungen der ‘Artamanen’ in den 1920er-Jahren glich, denen Himmler seinerzeit angehört hatte. Zu diesem Zeitpunkt – das Sudetenland wurde gerade besetzt – erwähnten Himmler und Schirach nicht nur die (schwarze Hemden tragende) ‘Allgemeine SS’, sondern auch die ‘SS-Verfügungstruppen’, aus denen nach Kriegsbeginn die ‘Waffen-SS’ hervorgehen sollte, sowie die ‘SS-Totenkopf-Einheiten’, die bereits Konzentrationslager bewachten.256

Zwei Jahre später zeigte Himmler sich mit den Leistungen der Streifendienst-Angehörigen als jugendlicher Vorhut der SS zufrieden; die bereits vorhandenen 50 000 plante er auf 80 000 aufzustocken.257 Verschiedenen Berichten zufolge soll die Bewerbung mancher HJ-Mitglieder wegen mangelnder Eignung abgelehnt worden sein. In einzelnen Aussagen von Hitlerjungen, die die Aufnahme in den SRD schafften, ist von den Vorteilen eines ausgezeichneten Box- und Jiu-Jitsu-Unterrichts die Rede – vom Stolz auf die „Aufgaben der Polizei“ ganz zu schweigen. Die betreffenden Äußerungen lassen darauf schließen, dass diese aufregenden Aufenthalte für die Hitlerjungen äußerst attraktiv waren, zumal sie wussten, dass die Übungen zu politisch wichtigeren Aufgaben führen konnten.258 Wenn aber der Streifendienst bei den Jungen tatsächlich so beliebt gewesen sein sollte, wie die Quellen vermuten lassen, dann ist das nicht ohne vorherige rassistisch-ideologische Konditionierung vorstellbar.

Das bedeutete, von Kindesbeinen an mit dem Dogma von der ‘rassischen Überlegenheit’ der Deutschen und der ‘Minderwertigkeit’ anderer Völker – vor allem der Slawen, der Juden sowie der (umgangssprachlich als ‘Zigeuner’ bekannten) Sinti und Roma – vertraut zu sein. Dass eine derartige Indoktrination der HJ-Mitglieder ab einem Alter von zehn Jahren auf mehr oder weniger systematische Weise stattfand, wird von Nachkriegsapologeten der nationalsozialistischen Jugendkultur bezeichnenderweise bestritten.259 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Behauptung, die HJ sei an dem beachtlichen antisemitischen Pogrom im November 1938 nicht beteiligt gewesen.260 Tatsächlich aber haben sich HJ-Mitglieder an den Vorgängen der Reichspogromnacht beteiligt, auch wenn die Jungen und Mädchen im Allgemeinen nicht organisiert zu diesen Aktionen hingeschickt wurden. Während ein paar aktiv teilnahmen, war die große Mehrheit dadurch mit einbezogen, dass sie zuschauen, die Erlebnisse verarbeiten und die verlangten rassistischen Schlussfolgerungen daraus ziehen musste. In Alzey jedoch nahm die von der regionalen Parteiführung mit der Pogrom-Inszenierung beauftragte SA die örtliche HJ-Gruppe zur Wohnung einer jüdischen Familie mit, und dort zertrümmerten die jungen Burschen vor den Augen der angsterfüllten Opfer mit der Axt sämtliche Möbel.261 In München fuhr die HJ in pompösen Dienstwagen zu den Häusern bekanntermaßen reicher Juden und nahm manchen von ihnen Geld ab, während sie andere so einschüchterte, dass sie ihre Villen verließen.262

Wichtiger aber war: Die HJ-Führung wollte, dass ihre Schützlinge die handgreiflichen Vorgänge der ‘Kristallnacht’ als Beispiel für den Umgang mit Juden unmittelbar miterlebten – als ersten oder zweiten Schritt einer eskalierenden Abfolge von Vorgängen bis hin zum Holocaust. Viele ideologisch schon entsprechend geprägte Jungen und Mädchen fanden die Vorgänge ebenso faszinierend wie gerechtfertigt.263 Manche HJ-Mitglieder taten sich damit eher schwer, versuchten über das Vorgefallene zu diskutieren oder, vor allem nach eindringlichen Gesprächen mit den Eltern, von ihren Führern eine Erklärung zu erhalten.264 Andere waren zwar verstört, entschieden sich aber, die Augen vor den Vorgängen zu verschließen und sie als unvermeidlich hinzunehmen.265

Aus Sicht der HJ-Führung standen die Juden im Mittelpunkt eines sorgfältig konstruierten Spektrums von Fremden, das den einfachen HJ-Mitgliedern durch tägliche Berieselung und planmäßige Schulungen nahe gebracht werden sollte. So wollte man die Zweifel zerstreuen, die manche der Teenager vor allem in den Anfangsjahren des ‘Dritten Reiches’ noch haben mochten, etwa wenn sie fragten, woran man einen Juden genau erkenne, inwiefern die Juden anders seien oder warum sie als bösartig gelten würden.266 Schließlich drehten sich bezeichnende Fragen um Vorbilder wie Goebbels, der dunkelhaarig sowie „sehr klein und schmal“ war, einen Klumpfuß hatte und entsprechend hinkte. Wie ließ sich dessen körperliches Erscheinungsbild mit dem entgegengesetzten und bei Schulungen ständig beschworenen Stereotyp vom ‘Arier’ in Einklang bringen?267

Diese Schulungen hatten eine theoretische und eine praktische Seite. Die Theorie von den Juden als Untermenschen wurde bei regulären Lagerversammlungen und Heimabenden von älteren HJ-Führern mit Hilfe von speziellen Schulungsheften oder Julius Streichers halbpornographischem Blatt Der Stürmer vermittelt. Die Zeichnungen in diesem Hetzblatt stellten hässliche Juden mit Locken und dicker Hakennase als Verführer blonder deutscher Mädchen dar.268 Bei so einer Versammlung während des Krieges warnte ein Berliner HJ-Stammführer namens Karl-Heinz Wirzberger, das „Weltjudentum“ sei „zum Kampf gegen die germanische Rasse angetreten“.269 Jungen und Mädchen mussten sich versammeln, um besondere Ansprachen anzuhören, z. B. die von Reichswirtschaftsminister Walther Funk im Mai 1938, in der er ihnen erklärte, warum man deutsche Juden enteignen müsse. Nachdem ihnen ihre Geschäfte und Reichtümer genommen seien, könne man ihnen eine Art niedrigen Pächterstatus einräumen, solange nicht die Möglichkeit bestehe, „sie ganz aus Deutschland herauszubringen“.270 HJ-Mitglieder sangen antisemitische Lieder, in denen unter anderem gutgeheißen wurde, dass „das Judenblut vom Messer spritzt“, und 1943 schickte man sie scharenweise ins Kino, um sich den antisemitischsten aller je in Nazideutschland gedrehten Spielfilme anzusehen: Jud Süß von Veit Harlan.271 Ein Hitlerjunge, der im Krieg in der von den Deutschen besetzten Stadt Lodz (damals ‘Litzmannstadt’ genannt) wohnte, wurde einmal von einem deutschen Polizisten im Auto mitgenommen und bekam, als sie am großen Judenghetto vorbeifuhren, zu hören, dass man „in dieses Ungeziefer täglich hineinschießen“ müsse. Und er habe dem zugestimmt, weil er es damals für richtig hielt, erinnert sich der Zeitzeuge rückblickend mehr als 50 Jahre später.272

HJ-Mitglieder sollten erklärtermaßen auch praktische Erfahrungen mit Juden machen. Beim ‘Anschluss’ Österreichs wurden in Wien uniformierte Jungen dazu abkommandiert, die Schikanierung bärtiger, mit dem typischen Kaftan bekleideter, orthodoxer Juden zu beaufsichtigen, die in Synagogen getrieben wurden oder mit Zahnbürsten, gelegentlich auch mit bloßen Händen, die Bürgersteige saubermachen mussten.273 (Als Gauleiter von Wien tat Schirach sich später unter seinen Kollegen dadurch hervor, dass er Hitler von der Notwendigkeit einer ‘Säuberung’ seiner Stadt überzeugte: Die 60 000 Juden könne man leicht z. B. ins besetzte Polen verbringen.)274 1941 kam eine HJ-Gruppe in das im ‘Protektorat’ gelegene KZ Theresienstadt, um den jüdischen ‘Feind’ direkt in Augenschein nehmen zu können. Einer der dort angetroffenen Gefangenen musste, wie es hieß, 24 Stunden lang stehen. „Und wenn er ohnmächtig wird?“, fragte einer der Besucher ungläubig. „Dann setzt es einen Eimer Wasser über den Balg“, erwiderte der wichtigtuerische HJ-Führer lachend. „Sollst mal sehen, wie schnell der wieder lebendig wird!“ Weiter sagte er: „Das sind hier ja keine gewöhnlichen Verbrecher,– das sind verkommene Kreaturen, Auswurf, versteht ihr?“ Und ein SS-Wachmann fügte gleich hinzu: „Am widerwärtigsten ist uns das mit den Juden. Die muß man angehen wie eine Krankheit, wie eine Seuche.“275

Victor Klemperer, ein Romanistikprofessor jüdischer Herkunft, der wegen seiner so genannten privilegierten Mischehe mit einer nichtjüdischen Frau von den Nationalsozialisten auf Widerruf geduldet wurde, erzählt, wie auf dem Höhepunkt des Krieges, als immer jüngere HJ-Führer zu besonderem Dienst an der ‘Heimatfront’ eingeteilt wurden, Dresdner Hitlerjungen ihn und seine Leidensgenossen demütigten. Beim Sammeln der Opfer zum Abtransport in die Konzentrationslager hätten HJ-Mitglieder wichtige Funktionen innegehabt. Anderen sei beim Marschieren der Befehl „Augen rechts!“ erteilt und gesagt worden: „Da habt ihr einen Juden gesehen; wisst ihr, was es mit den Juden auf sich hat?“ 1944 sei an Stelle von Gestapo oder SS die HJ erschienen, um „Vorzugsjuden“ (wie Klemperer selbst) sonntags zu Aufräumarbeiten in bombengeschädigten Häusern abzuholen.276

Antisemitischen Einflüssen waren viele Kinder und Jugendliche zweifellos schon zu Hause sowie in der Schule ausgesetzt, soweit dort Juden hassende Eltern und Lehrer den Ton angaben. Es steht fest, dass Judenhass beim Aufstieg und bei der Machtergreifung des Nationalsozialismus eine integrale und entscheidende Rolle spielte und nach Januar 1933 in deutschen Familien weit verbreitet war. In dieser Atmosphäre wurden die Mitglieder der jüngeren Generation zwangsläufig zu kleinen Antisemiten sozialisiert – die dann allerdings nicht mehr gar so klein waren, als sie 1944 im Alter von 17 oder weniger Jahren zum Kriegseinsatz aufgerufen wurden.277

An den Schulen war die Situation ähnlich, wenn man bedenkt, dass Lehrer, die antisemitische Sprüche von sich gaben, nicht unbedingt eingefleischte Nazis zu sein brauchten. In den Kollegien gab es viel zu viele Nationalisten, darunter Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs und ehemalige Freikorps-Mitglieder, für die der Judenhass eine Glaubensfrage war, weil die Juden Deutschland 1918 angeblich verraten und verkauft hatten.278 Hinzu kam noch, dass manche der jüngeren Kollegiumsmitglieder als Vertrauenslehrer bei der HJ eine Rolle spielten und eine Reihe von Lehrern regelmäßig den Stürmer las, ‘jüdische’ Hakennasen an die Tafel malte, gerne antisemitische Witze erzählte und bei ihrer Arbeit begeistert antijüdische Unterrichtshilfen einsetzte – alles in allem eine tödliche Kombination.279 Selbst in einem Mathematikbuch hieß es: „Fremdrassige sind in Deutschland die Juden. 1933 hatte das Deutsche Reich 66 060 000 Einwohner. Darunter waren 499 682 Glaubensjuden. Wieviel Prozent?“280

Die Kinder vieler dieser ‘Glaubensjuden’ gingen in den Jahren 1933 bis 1936 weiterhin mit ihren nichtjüdischen Klassenkameraden zur Schule, bis eines nach dem anderen hinausgedrängt wurde. Als durch die so genannten Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935 juristisch festgelegt wurde, dass jeder, der mindestens drei jüdische Großeltern hatte, Jude sei, durften ‘Mischlinge ersten Grades’ (mit zwei jüdischen Großeltern) und ‘Mischlinge zweiten Grades’ (mit einem jüdischen Großelternteil) weiterhin deutsche Schulen besuchen – allerdings auf eigenes Risiko, wie sich zeigte, wenn sie bösartigen Lehrern oder ‘arischen’ Mitschülern zum Opfer fielen. Schlimmer traf es in der Regel natürlich die ‘Volljuden’, solange sie noch am Unterricht teilnahmen. Nicht jeder hatte soviel Glück wie der 1923 geborene – und heute unter dem Namen Peter Gay als Historiker bekannte – Peter Fröhlich, der in den Anfangsjahren des ‘Dritten Reiches’ das Berliner Goethe-Gymnasium besuchte. Seine Lehrer seien im Großen und Ganzen frei von Intoleranz gewesen und hätten es nicht darauf angelegt, ihren jüdischen Schülern das Leben schwerer zu machen als den nichtjüdischen, schreibt er.281 Die meisten wissen jedoch anderes zu berichten. In einer anderen Berliner Schule erklärte kurz vor dem Krieg ein Lehrer seiner Klasse, dass alle Juden schlecht seien und dass dies sogar – und dabei deutete er auf einen dunkelhaarigen Schüler, der sich nichts hatte zuschulden kommen lassen – auf Esau und die anderen beiden jüdischen Schüler der Klasse zutreffe.282 Die Schülerinnen und Schüler konnten dem dauernden Antisemitismus in der Schule nicht entrinnen, zumal es nur eines von mehreren potentiell antisemitischen Lehrern bedurfte, um die ganze Klasse zum Judenhass zu bekehren. Ein Zeitzeuge hat beispielsweise folgende Erinnerung an einen ehemaligen jüdischen Klassenkameraden: „Mit dem wollte ich nichts zu tun haben, klar[,] den habe ich nicht beachtet, aber ich habe ihm auch nichts getan. Der hat irgendwie Flöhe gehabt, den mochte ich nicht. Nicht, weil er mir persönlich unsympathisch war, ich habe da gar keine Beziehung aufgenommen, aber er war eben Jude, und deswegen mochte ich ihn nicht.“283

Eine solche spitzfindige Einstellung konnte, was kaum überraschen dürfte, auch dazu führen, dass bloße ‘Mischlinge’ ausgegrenzt wurden – und zwar egal ob ersten oder zweiten Grades, denn Pseudounterscheidungen dieser Art wurden nur in den nationalsozialistischen Gesetzbüchern wichtig genommen. Beispiele für Demütigungen durch Mitschüler(innen) wie Lehrer(innen) gibt es viele. So wurde ein ‘arisch’ aussehendes Mädchen, dessen nichtjüdischer Vater vom Ersten Weltkrieg her den ‘Frontkämpfer’-Status genoss, von der gesamten Klasse geächtet, als bekannt wurde, dass sie eine jüdische Mutter hatte. Frühere Freundinnen betatschten sie nun und schrien dann: „Pfui, ich habe die Steinbrecher angefasst, jetzt rieche ich nach Knoblauch!“284 Sie kam dann auf eine jüdische Schule, in deren Klassenzimmern man sich in einigem Abstand zu den Fenstern hinsetzen musste, um keinen der Steine abzubekommen, die von ‘arischen’ Passanten in die Scheiben geworfen wurden. Der 1922 geborene Tübinger Neurologe Jürgen Peiffer kann sich daran erinnern, dass in Stuttgart Anfang der 1940er-Jahre die zwei ‘Mischlinge’ aus seiner Klasse bei feierlichen Anlässen in der Schule ein weißes Hemd tragen mussten, während alle anderen Schüler in Uniform erschienen. Und ab November 1941 mussten sie natürlich den Gelben Stern tragen. Ein ‘Halbjude’ namens Hanns-Peter Herz berichtet: „Wir hatten einen strammen Nazi als Sport- und Schwimmlehrer. Wir mußten uns versammeln und kriegten den Befehl, Badehosen anzuziehen und am Beckenrand anzutreten. Als die Klasse dann stand, sagte der Sportlehrer: ‘Herz, vortreten. Du bleibst hier stehen, mit einem Nichtarier, einem Halbjuden, werden wir nicht zusammen ins Becken gehen.’ Von diesem Augenblick an mußte ich jede Woche zwei Stunden Schwimmunterricht, stehend am Rande des Beckens, in der Badehose verbringen. Das hatte zur Folge, daß ich erst 1963 schwimmen gelernt habe.“285

Ein früherer Nazi erinnert sich, in der Hitler-Jugend immer gehört zu haben, dass die Juden Deutschlands Untergang seien und der ‘Führer’ sie als Parasitenrasse bezeichnet habe, die für Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich sei.286 Bei dieser Äußerung passt das erste archetypische Klischee von Deutschland und den Juden genau zu dem zweiten von Hitler als unfehlbarem Verkünder letzter Wahrheiten. Von 1933 bis 1945 war der Glaube an den ‘Führer’ Grundlage aller Erziehung im ‘Dritten Reich’, ob sie nun von nationalsozialistisch überzeugten Eltern, Lehrern oder HJ-Führern ausgeübt wurde. Dieser Glaube bildete die Grundlage jeglicher nationalsozialistischen Überzeugung und prägte sich selbst den größten Zweiflern unter den jungen Anhängern ein.

Der Führerkult stand im Mittelpunkt aller HJ- und Schulaktivitäten, und in den meisten deutschen Wohnungen hing mindestens ein Hitler-Porträt an der Wand.287 Nicht nur Schulungshefte der HJ, auch Geschichts- und Deutschstunden widmeten sich Hitlers persönlicher und politischer Biographie. Die zwei höchsten Nazifeiertage – der 20. April als Hitlers Geburtstag und der 9. November als Gedenktag an die (durch einen angeblichen ‘Dolchstoß’ aus der Etappe verursachte) Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg sowie an Hitlers Bierkeller-Putsch von 1923 und, keineswegs zufällig, auch an die Reichspogromnacht von 1938 – wurden peinlich genau beachtet, wobei das Aprildatum den Tag der offiziellen Aufnahme in die Hitler-Jugend bildete. (Für die Aufnahme in die SS und die Beförderung innerhalb der SS nutzte man beide Tage.)288 Mädchen wie Jungen gerieten in Ekstase, wenn sie Hitler persönlich sehen oder reden hören konnten, was in der Anfangszeit seines Regimes häufiger vorkam. Und wenn sie nicht dieses Glück hatten, sammelten sie Hitler-Bildchen, die von Zigarettenfirmen wie Reemtsma hergestellt und wie die Bilder berühmter Sportler in ein Sammelalbum geklebt oder getauscht wurden.289

Auf besonders befriedigende Weise erlebten die Jugendlichen den ‘Führer’ mit, wenn eine seiner vielen Reden im Rundfunk übertragen wurde oder wenn sie ihn bei einer Massenveranstaltung, z. B. während der Olympischen Spiele im Sommer 1936, direkt reden hören und gestikulieren sehen konnten.290 Eine der wirksamsten – weil früh stattfindenden und von Speer und Leni Riefenstahl brillant inszenierten – Veranstaltungen war die Nürnberger Reichsparteitagskundgebung im September 1934. Riefenstahl hat sie in ihrem klassischen Meisterwerk Triumph des Willens anschaulich und sympathisierend festgehalten. Am 8. September marschierten zur Begrüßung des ‘Führers’ 60 000 HJ-Mitglieder im Stadion auf. Minutenlang hallten die ‘Heil’-Rufe über das Gelände. Fanfaren erklangen. Eine HJ-Kapelle spielte das Lied Wir Jungen. Nach ein paar einführenden Worten Schirachs sprach der ‘Führer’: „Vor 12 Monaten hat der Kampf um die Macht uns schon den Erfolg geschenkt, seitdem hat unsere Bewegung, deren junge Garde ihr seid, und deren Träger ihr einst sein werdet, eine Position nach der anderen in diesem Staat in Besitz genommen und damit wieder dem deutschen Volke gegeben […] Wir wissen, es wird nichts im Völkerleben geschenkt. Alles muß erkämpft und erobert werden […] Ihr müßt lernen, hart zu sein, Entbehrungen auf euch zu nehmen, ohne jemals zusammenzubrechen […] Aber in euch wird Deutschland weiterleben, und wenn von uns nichts mehr übrig sein wird, dann werdet ihr die Fahne, die wir einst aus dem Nichts hochgezogen haben, in euren Fäusten halten müssen.“ Als er geendet hatte, brach ein Beifallssturm los, und dann sangen 60 000 Jungen lauthals ihr Erkennungslied, Unsere Fahne flattert uns voran.291 „Es war das Faszinierendste, was ich mir denken konnte“, erinnert sich Bertram Otto, der damals zehn Jahre alt war und sich Riefenstahls Film mehrmals im Kino ansah. „Angestrahlt und angebetet: der Führer, mein Führer.“292

Das alles war für einen höheren Zweck demagogisch geschickt inszeniert. Das ‘Dritte Reich’ brauchte die junge Generation zur Fortführung der nun entstehenden Tradition und zur Deckung des Bedarfs an ehrgeizigen Führern wie auch an folgsamen Mitläufern. Vor allem aber benötigte es die jungen Deutschen für den eher früher als später zu erwartenden Kampf gegen die propagandistisch schon seit langem attackierten Feinde. Der entscheidende Faktor hierbei war die fortgesetzte Gefolgschaftstreue gegenüber Hitler, wie Schirach sie seit 1925 zeigte. Der Reichsjugendführer brachte dies auf prägnante Weise zum Ausdruck, als er 1939 sagte: „Wir marschieren zum Führer – wenn er es wünscht, werden wir auch für ihn marschieren!“293

Hitler-Jugend

Подняться наверх