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Autoritarismus, Militarismus, Imperialismus
ОглавлениеObwohl es nach 1945 von HJ-Führern immer bestritten wurde, war die HJ-Sozialisation im Hinblick auf einen territorialen Expansionskrieg und die in diesem Zusammenhang geplante ‘Neutralisierung’ der europäischen Juden durch Militarisierung gekennzeichnet.68 Zwar hatten militärische Dinge auch in der Jugendbewegung der späten Weimarer Republik schon eine Rolle gespielt, doch aufgrund der Abrüstung nach dem Ersten Weltkrieg hatten sie keine so zentrale und folgenschwere Bedeutung angenommen. Das begann sich mit den Verlautbarungen der NS-Führer ab Februar 1933 und definitiv mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht am 16. März 1935 zu ändern. Reichswehrminister Werner von Blomberg verkündete im April: „Der Dienst in der Wehrmacht ist also die letzte und höchste Stufe in dem allgemeinen Erziehungsgang des jungen Deutschen vom Elternhaus über die Schule, die HJ und den Arbeitsdienst.“69 Gleichzeitig wurden die jüngsten HJ-Mitglieder – also 10- bis höchstens 14-jährige Hitlerjungen – offiziell mit den Worten zitiert: „Was sind wir? Pimpfe! Was wollen wir werden? Soldaten!“ 1937 wurde Oberstleutnant Erwin Rommel, der später während des so genannten Afrikafeldzugs als Hitlers ‘Wüstenfuchs’ berühmt werden sollte, vom Oberkommando der Wehrmacht als erster Verbindungsoffizier zur Reichsjugendführung eingesetzt.70 Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Verbindung zwischen der vormilitärischen Ausbildung in der HJ und dem späteren Kampfeinsatz als Soldat natürlich viel expliziter hergestellt, weil das eine nun Voraussetzung des anderen war.71
Schon vor Beginn des weltweiten Konflikts im September 1939 fanden selbst die aufgewecktesten Hitlerjungen diese Tendenz ganz normal, weil man ihnen in der Schule sowie zu Hause – von der HJ ganz zu schweigen – gesagt hatte, dass Deutschland sich auf einen „unvermeidlichen Krieg“ vorbereite.72 Sogar simple Unternehmungen wie Wandern und Zelten trugen zur vormilitärischen Ausbildung bei, denn diese Aktivitäten wurden bei der HJ weit rigoroser betrieben als zuvor bei den Jugendgruppen der Weimarer Zeit oder den englischen Boy Scouts. Vielerorts wetteiferten HJ-Gruppen bei ‘Kriegsspielen’ begeistert miteinander, wobei so mancher Junge kräftige Blessuren davontrug und sich so für größere ‘Abenteuer’ stählte.73 Örtliche Lagerveranstaltungen schlossen die Übernachtung im Zelt mit ein; zum Spieleprogramm gehörten zahlreiche militärische Vorgänge wie Fahnenappelle, Fanfarensignale und Schießübungen, bei denen eine streng hierarchische Kommandostruktur herrschte.74 Viel Bedeutung wurde dem Kartenlesen und dem Erspähen von Feinden beigemessen, wobei es sich bei Letzteren um imaginäre oder speziell für diese Rolle ausgesuchte Personen handelte (etwa eine Hitlerjungenschar aus einem benachbarten Stadtbezirk). Unter dem Deckmantel von Spielen wurden ständige Wachsamkeit und Disziplin eingeübt.75 Das traf auch auf Nah- und Fernwanderungen zu, bei denen die HJ anstrengende Märsche zu geschichtsträchtigen Orten oder Landesteilen unternahm, die – wie Schleswig (Dänemark) und Ostpreußen (Polen) – vorzugsweise an Länder grenzten, die später erobert werden sollten.76 Bis Kriegsbeginn hatten sich diese Unternehmungen eingespielt und wurden nun ausdrücklich mit dem Zweck fortgesetzt, 18-jährige Jugendliche im Eilverfahren in die Streitkräfte integrieren zu können.77
Im Einklang mit Hitlers eigenen Lehrsätzen in Mein Kampf bestand ein Großteil dieser vormilitärischen Ausbildung in Leibesübungen, wobei der ‘Führer’ das Boxen zu seinem Lieblingssport erkoren hatte.78 Auch in der Hitler-Jugend zählte Boxen zu den bevorzugten Sportarten.79 Programmatisch und entsprechend den der nationalsozialistischen ‘Volksgemeinschaft’ zugrunde liegenden biopolitischen Prinzipien galt Sport nicht als Mittel individueller Entspannung, sondern als „Notwendigkeit zur Gesunderhaltung des Volkes“ und wurde daher ausschließlich in die Hände der monopolistischen staatlichen Jugendorganisation gelegt.80 Nachdem die HJ das staatliche Monopol für die Organisation, Verwaltung und Durchführung aller Arten von Sport erhalten hatte, organisierte die HJ-Führung von 1933 bis weit in den Krieg hinein für ihre Mitglieder große regionale und reichsweite Wettkampfveranstaltungen.81 Die Verbindung zum Krieg war wiederum offensichtlich, weil der Körper durch Sport für den Kampf trainiert wurde und man für spezielle Aufgaben bestimmte Sportler gebrauchen konnte – z. B. Skifahrer, nachdem die Wehrmacht unter General Eduard Dietl im Frühjahr 1940 in Norwegen eingefallen war.82
Ob sie sich nun der militärischen Implikationen bewusst waren oder nicht, den meisten HJ-Mitgliedern gefiel der Sport, weil er Abwechslung bot. Angeboten wurden Gymnastik, Schwimmen, Fechten und Ballspiele, darunter der im ganzen Land beliebte Fußball, von dem es hieß, er stärke das Gemeinschaftsgefühl.83 Der Schriftsteller Siegfried Lenz berichtet, er habe Speerwerfen sogar noch mehr gemocht als Handball und Hochsprung.84
Nicht alle HJ-Mitglieder waren jedoch von Sport und Drill angetan, denn häufig wurden sie dabei körperlich überfordert. Das kommt bei vormilitärischen Formationen zwar überall und immer wieder vor, doch die Nazis perfektionierten die Sport- und Drilltechniken, um ihre jungen Schützlinge so weit zu demütigen, dass sie die Selbstachtung verloren und in diesem entpersönlichten Zustand vollkommen gefügig wurden. „Stundenlang mußten wir laufen, durch Dreck robben, hüpfen“, berichtet ein Betroffener. „Fühlten wir uns gedemütigt, gedrillt, entwürdigt, gefangen?“, schreibt ein anderer rückblickend und erklärt, nicht gewusst zu haben, dass er „für einen Krieg“ gedrillt wurde.85 Die HJ, die sich das sozialdarwinistische Prinzip der Überlegenheit der Tüchtigsten ausdrücklich zu Eigen gemacht hatte, förderte Einzel- und Gruppensadismus, körperliche und psychische Quälerei sowie Schikanieren unter Gleichaltrigen weit stärker, als es je ein Jugendbund der Weimarer Zeit getan hätte. Bei erzwungenen Mutproben mussten Jungen z. B. selbst als Nichtschwimmer vom Fünfmeterbrett springen oder ohne angemessene Sicherung Steilhänge hinaufklettern; außerdem mussten sie immer wieder endlos Kniebeugen machen. Schwere Zwischenfälle blieben nicht aus: Bei einem der Lager ertrank ein Nichtschwimmer im tiefen Teil des Schwimmbeckens.86
Schießen zu lernen, war ein wesentliches Element der vormilitärischen Ausbildung und stand schon früh für alle Jungen im Alter von 10 bis 18 Jahren regelmäßig auf dem Programm. Die Unterweisung erfolgte sowohl theoretisch als auch praktisch, wobei die 10- bis 14-Jährigen mit Luftgewehren übten, und die älteren den Umgang mit Kleinkalibergewehren beigebracht bekamen.87 Bei den Hitlerjungen, die in den ersten Jahren höchstens vermuten, nicht aber vorhersehen konnten, wozu ihre Kenntnisse eines Tages eingesetzt werden würden, waren diese Übungen meist sehr beliebt.88 Die Begeisterung ließ allerdings auch dann kaum nach, als der Krieg begonnen hatte und deutlich zu sehen war, warum sie Schießen lernen sollten. Vielmehr weckten die Schießwettbewerbe, die nun – unter anderem gemäß Verordnung vom 15. Oktober 1939 – häufiger und unter anspruchsvolleren Bedingungen stattfanden, erst richtig den Appetit der HJ-Mitglieder auf echte Kampfeinsätze, zumal die Jungen in einer kriegerisch eingestellten Gesellschaft schon entsprechend konditioniert waren.89 Die zunehmende Vertrautheit mit Schusswaffen und der lockere Umgang mit ihnen führten oft zu Unfällen. So erschoss z. B. im Februar 1941 in München ein 16-jähriger Gymnasiast seinen Freund bei einem Theaterspiel mit einem Browning-Revolver; Handfeuerwaffen dieses Typs wurden damals von HJ-Führern routinemäßig an Hitlerjungen ausgegeben.90
Schießsport wurde in der ganzen HJ betrieben, dürfte aber in bestimmten Teilen der Hitler-Jugend eine größere Rolle gespielt haben als in anderen. Neben der allgemeinen HJ gab es einige spezialisierte und als eher elitär geltende Gliederungen wie die aus so genannten Luftsportscharen hervorgegangene Flieger-HJ. Den Hitlerjungen dort war es – nachdem sie erste Kenntnisse zum Teil anhand von Modellflugzeugen erworben hatten – wichtiger, in der Luft zu sein, als mit Schusswaffen zu spielen.91 Nach Kriegsbeginn wartete natürlich schon Görings Luftwaffe begierig auf diese eifrigen jungen Piloten, genauso wie das Heer sich dann gerne auf ehemalige Motor-HJ-Mitglieder stützte, die Erfahrungen im Krad- oder sogar Autofahren mitbrachten. Manche der bei der Motor-HJ benutzten Fahrzeuge gehörten einzelnen Mitgliedern oder deren wohlhabenden Vätern, andere wurden zur Begeisterung vieler junger Burschen von der HJ zur Verfügung gestellt.92 Im Norden erfreute sich die Marine-HJ großer Beliebtheit, zumal viele Jugendliche aus Hamburg, Bremen oder Kiel schon mit Segelbooten oder Kajaks vertraut waren.93 Nach 1938 fanden diese jungen Männer leicht zur Marine, in die die meisten von ihnen genauso freiwillig eintraten wie andere in die Luftwaffe. Und genau wie ihre Kameraden von der Motor-HJ gingen auch die im Telefon- und Funkwesen geschulten Mitglieder der Nachrichten-HJ sowie die Angehörigen der Reiter-HJ zum Heer.94
Zu den Musikeinheiten der Hitler-Jugend, die es auch gab, strebten eher künstlerisch veranlagte Jungen und Mädchen, die aufgrund ihrer Sensibilität kein großes Interesse an physischen Aktivitäten hatten und deshalb stärker als üblich von Gleichaltrigen schikaniert wurden.95 Die Musikkader der HJ waren meist Rundfunksendern angeschlossen (HJ-Rundfunk-Spielscharen) und sorgten dort für die Umrahmung anderer Angebote, etwa politischer Livesendungen. Diese Chöre und kleinen Orchesterensembles traten aber auch bei öffentlichen Konzertveranstaltungen auf und wurden von der HJ-Führung zur eigenen Inspiration bei Schulungen, Drillübungen und regionalen Zeltlagern eingesetzt oder bei NSDAP-Kundgebungen aufgeboten.96 Zum nationalsozialistischen Bildungskanon gehörte, dass man beim Drillen den Geist der Jungen mit Hilfe ständig wiederholter Lieder abstumpfte.97 Diese Musik ließ sich so einsetzen, dass sie ausschließlich ideologischen Zwecken diente, zumal eine Fülle von ideologisch aufgeladenen Texten zur Verfügung stand. Die HJ-Führung, die sich dessen durchaus bewusst war, unterhielt Musikhochschulen und Lehrstühle an Universitäten, von denen sie sich Hilfe bei der Ausbildung politisierter, der nationalsozialistischen Idee dienender Musiker versprach. Manche geachteten deutschen Komponisten wie Heinrich Spitta und Wolfgang Fortner stellten dafür ihr Talent zur Verfügung, und Carl Orff wollte 1933 mindestens ein Liederbuch für den Massenkonsum der HJ gestalten.98 Tatsächlich waren die meisten Lieder, die die Hitler-Jugend nach Art marschierender Soldaten singen sollte, eindeutig kriegerischer Art und handelten von Vaterland, Pflicht, Ehre, Blut und Boden sowie vor allem von Kampf und Tod.99 Ein vorzügliches Beispiel dafür ist das von dem Möchtegern-Poeten Schirach persönlich getextete Lied Unsre Fahne flattert uns voran, das schon 1933 für Propagandazwecke der HJ zum Einsatz kam, und zwar in dem Ufa-Film Hitlerjunge Quex, in dem das Martyrium eines jungen Nazis namens Herbert Norkus aus dem Jahre 1932 verherrlicht wird. Das Lied beschwört das Bild eines Schlachtfelds herauf, erzählt von erfolgreich ausgestandener Gefahr, einem strahlenden Deutschland, möglichem Untergang und von Hitler, dem ‘Führer’ („Wir marschieren für Hitler durch Nacht und Not / mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot“), und die hingerissenen Sänger versicherten einander: „Wir sind der Zukunft Soldaten.“100
Wie vielleicht zu erwarten, verbrachten die Hitlerjungen und -mädchen sogar in Friedenszeiten unter der Woche jeweils nach der Schule oder Arbeit sowie regelmäßig auch an Wochenenden eine Menge Stunden in HJ-eigenen Häusern. Dort wurden sie indoktriniert und planten besondere Unternehmungen im Freien wie Biwakieren, Sport und Exerzieren. In den Anfangsjahren des ‘Dritten Reiches’ wurden die aus der Weimarer Zeit vorhandenen Unterkünfte der Jugendbewegung konfisziert und HJ-Heime entweder neu errichtet, oder einfachste Gebäude wie Stallungen oder Schuppen wurden dazu um- bzw. ausgebaut. Bei den Bauarbeiten und anschließenden Zusammenkünften sang man die geliebten HJ-Hymnen.101 Besonders wichtig wurden die Heime im Winter, wenn die Jugendlichen nicht aufs Land geschickt werden konnten, um der ‘Volksgemeinschaft’ durch praktische Arbeit zu dienen. Den Bauern auf dem Feld und im Stall zu helfen, erwies sich aus Sicht des NS-Regimes vor allem während der Schulferien im Sommer als wertvolle Aufgabe: So blieben die Jugendlichen körperlich fit und machten dem Nazi-Dogma von „Blut und Boden“ Ehre, das sich unter anderem gegen die seinerzeitige Landflucht richtete. Nicht zuletzt war die Landarbeit der Jugendlichen insgesamt gut für die Wirtschaft und wiederum ein wichtiger vorbereitender Schritt auf dem Weg zur vormilitärischen Rekrutierung und letztlich zum Einsatz an der Front und in den besetzten Gebieten sowie bei kriegsbedingten Notfällen an der ‘Heimatfront’.102
Mit Blick auf später zu erobernde Gebiete richteten die Nazis den ab etwa 1934 organisierten Landdienst von Anfang an auf östliche Regionen aus, und zwar zunächst auf solche, die wie Pommern und Schlesien an Polen grenzten.103 Insofern ergänzte sich die Hilfe auf den Bauernhöfen, ob bei der Ernte, beim Holzeinschlag oder Melken, schon früh mit den kaum verhohlen imperialistisch ausgerichteten Wanderungen der Hitler-Jugend zu den entsprechenden Grenzen.104 Als die Zeit gekommen war, kannten die jungen Leute diese Gegenden und wussten sich ihre Kenntnis zunutze zu machen. Der Landdienst der HJ hatte immer eine imperialistische Komponente. Seine Ideologie stützte sich auf die der rassistischen ‘Artamanen’, einem vor 1933 existierenden rechtsextremen Jugendbund aus ostwärts strebenden Möchtegern-Siedlern, zu denen eine Zeitlang auch führende Nationalsozialisten wie Heinrich Himmler, Reichsbauernführer Richard Walther Darré und der spätere Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, gezählt hatten. Es ist bezeichnend, dass die ‘Artamanen’ zu den wenigen Jugendgruppen der Weimarer Republik gehörten, denen es leicht fiel, 1933 in Schirachs aufstrebender NS-Jugendbewegung aufzugehen.105
Im Krieg zeigte der Jugendlanddienst seinen wahren räuberischen Charakter. Die Jugendlichen wurden in den neu eroberten westlichen Teil Polens geschickt, wo auf dem Lande viele ‘Volksdeutsche’ lebten, deren – von den ‘Reichsdeutschen’ verachteter – Ernährungs- und Hygienestandard meist dem ihrer polnischen Nachbarn entsprach. Aufgabe der deutschen Jugendlichen war es, diese ‘Volksdeutschen’ durch Umerziehung wieder zu der als richtig empfundenen Lebens- und Arbeitsweise ihrer Vorfahren hinzuführen. Diese nationalsozialistische Überheblichkeit erstreckte sich schließlich auch auf jene Deutschen, die in zurückeroberten westlichen Grenzregionen wohnten, etwa in dem ehemals zu Belgien gehörenden Gebiet von Eupen und Malmedy oder den zuvor französischen Regionen Elsass und Lothringen. Entsprechend ins Auge gefasst wurde auch die an das angeschlossene Österreich grenzende und zeitweilig zu Jugoslawien gehörende Untersteiermark.106
1940 wurde dieser HJ-Dienst noch aus freien Stücken abgeleistet, und zehntausende Jugendliche zogen in die Grenzregionen. Sie arbeiteten nicht nur freiwillig auf den Höfen, in den Wäldern und auf den Feldern, sondern erteilten ‘Volksdeutschen’, die ihre Muttersprache nicht mehr oder nicht mehr richtig beherrschten, auch Deutschunterricht.107 Zum erweiterten nationalsozialistischen Katechismus gehörten bald auch ideologische Themen und die auf traditionellen deutschen Liedern oder Volkstänzen aufbauende NS-spezifische Kultur.108 Viele der ‘Volksdeutschen’ aus Polen sollten wieder im Reich angesiedelt werden, und die Zahl solcher Umsiedler stieg stark an: Ab 1942 musste man sich in großen Auffanglagern um ungefähr 350 000 Immigranten aus ländlichen Gegenden der Sowjetunion kümmern, die meisten davon so genannte Wolgadeutsche.109 1942 war diese Kolonisationsarbeit für die Mitglieder der Hitler-Jugend längst Pflicht: Im Sommer oder Herbst wurden üblicherweise ganze Schulklassen zu einem sechswöchigen Arbeitseinsatz geschickt.110 Während solcher Aufenthalte erhielt die deutsche Jugend auch den Auftrag, die Jugend der eroberten Staaten – vor allem die polnische – in speziellen Lagern zu bewachen. So erlernten die reichsdeutschen Jugendlichen Unterdrückungstechniken, selbst wenn das zunächst nicht allen leicht fiel.111 Mehr als je zuvor arbeiteten die HJ-Führer, genau wie Himmlers SS, mit dem Konzept des Wehrbauerntums als Bastion in einem immer weiter eroberten Osten, in dem sie junge deutsche Familien anzusiedeln gedachten – in der einen Hand den Pflug, in der anderen das Gewehr. Nach den ursprünglich von den ‘Artamanen’ in den 1920er-Jahren aufgebrachten Vorstellungen sollten die ortsansässigen Völker unterworfen und als Sklaven auf dem ihnen abgenommenen Land eingesetzt werden, wobei die Deutschen die einzigen Nutznießer und absoluten Herren und Meister wären.112 An der ‘Heimatfront’ ging die HJ im Krieg von Tür zu Tür und sammelte wertvolle, kriegswichtige Rohstoffe zur Wiederverwertung ein, insbesondere Lumpen, Papier und Schrott. Außerdem wurden die HJ-Mitglieder angehalten, noch intensiver nach Pilzen sowie nach Tee- und Arzneikräutern zu suchen. Darüber hinaus mussten sie in der Stadt und auf dem Land in verschiedenen Funktionen aushelfen, z. B. als Schaffner, als Ersatzkaffee-Ausschenker in Bahnhöfen oder als Briefboten.113
Richtig auf die Probe gestellt wurde die Hitler-Jugend allerdings erst, als sie an der ‘Heimatfront’ direkt mit den verheerenden Kriegsauswirkungen in Berührung kam. Nachdem sich das Kriegsglück zuungunsten der Deutschen gewendet hatte, musste die HJ Soldaten, die teilweise bis zur Unkenntlichkeit entstellt waren, während ihres Heimat- oder Genesungsurlaubs helfen. Die Jungen und Mädchen beteiligten sich außerdem auf der Straße oder in Frontnähe am Bau von Barrikaden bzw. Panzersperren und befanden sich in ständiger Rufbereitschaft, um bei Notfällen oder kriegsbedingten Katastrophen wie Überschwemmungen zu helfen.114 Jugendliche fungierten auch als Luftschutzwarte und halfen oft unter lebensgefährlichen Bedingungen bei der Feuerbekämpfung. Was er damals zu sehen bekam, schildert ein ehemaliger Hitlerjunge, der 1940 16 Jahre alt war: „Menschen unter Schock, mit Brandwunden und versengten Haaren, alte Frauen, die irre geworden waren, Mütter mit einem verletzten Baby in einer Decke, vorübergehend Erblindete, Männer, die still weinten. Bilder, die ich als Alpträume in viele Nächte mitnahm.“115 Besonders Schlimmes erlebten HJ-Mitglieder, als halb Hamburg im Juli und August 1943 durch britische Phosphorbomben dem Erdboden gleichgemacht wurde. Das NS-Regime pries diese halben Kinder von 12, 13 oder 14 Jahren als Helden; sie hatten Zivilisten aus brennenden Ruinen gerettet, und einige von ihnen waren dabei selbst in den Flammen umgekommen. Einer, der das Inferno überlebte, dem 42 000 Menschen zum Opfer fielen, berichtet, man habe drei oder vier Tage lang keine Sonne gehabt. In der Ferne sei ein blutroter Ball zu erkennen gewesen, dessen Licht aber die dunkle Wolke aus Rauch und Asche, die tagelang über Hamburg hing, nicht habe durchdringen können. In den Hauseingängen hätten die Toten übereinander gestapelt gelegen. Beim Vorbeigehen habe man nur einen Haufen Füße gesehen, manche davon mit versengten Sohlen. Die Körper seien bis zur Unkenntlichkeit verbrannt gewesen. Noch zwei oder drei Wochen später habe man ganze Familien aus ihren Kellern ausgegraben; sie hätten gemeinsam in eine Badewanne gepasst, weil selbst die Leichen der Erwachsenen sehr klein gewesen seien, denn durch die Hitze seien sie alle vollständig mumifiziert, versengt und zusammengeschrumpft gewesen.116
Man könnte meinen, die von einem totalitären Regime auf solche Weise konditionierten jungen Menschen wären genau wie Spartas Jugend durch die Trennung von ihrer primären – elterlichen wie schulischen – Erziehungs- und Bildungsumgebung abgehärtet worden. Von diesem Ideal ging der NS-Staat bei der Rekrutierung von Führern und Gefolgschaftsangehörigen im Hinblick auf die Fortführung des ‘Tausendjährigen Reiches’ zweifellos aus. Dennoch erwies sich die nationalsozialistische Sozialisation der jungen Generation langfristig als schwierig, weil man dabei in Deutschland bestimmte, traditionell starke Stützen der Gesellschaft akzeptieren musste, nämlich Eltern, Lehrer und in einigen Fällen auch Lehrherren. Während Letztere bald kaum noch ein Problem darstellten, weil das Primat der Kriegswirtschaft allgemein schon frühzeitig anerkannt wurde und die Ausbildungsstätten nicht verlangten, dass die Jugendlichen in größerem Maße zeitlich verfügbar waren, stellten Elternhaus und Schule die HJ-Führung vor schwer zu überwindende Probleme. Die HJ-Führer wussten, dass sie bei den damit verbundenen Auseinandersetzungen auf Hitler selbst zählen konnten: Er hatte in den 1920er-Jahren in seinem nur von wenigen Deutschen gelesenen bzw. ernst genommenen Buch Mein Kampf erklärt, es komme in erster Linie auf die Ertüchtigung des Körpers an, alles andere – einschließlich der „Ausbildung der geistigen Fähigkeiten“ – sei zweitrangig.117 Seine Vorstellung von der völligen Politisierung der Jugend verdeutlichte Hitler, als er nach der Sudetenkrise im Dezember 1938 öffentlich verkündete: „Wenn diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort oft zum ersten Male überhaupt eine frische Luft bekommen […], dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS […], dann [übernimmt sie] die Wehrmacht zur weiteren Behandlung […], und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben!“118
Anfangs tat die – sich als revolutionär empfindende – Hitler-Jugend durchaus so, als unterstütze sie die althergebrachten Institutionen; tatsächlich aber wollte sie diese mit solchen Lippenbekenntnissen nur für sich einnehmen, um letztlich die Oberhand zu behalten. Mit seinen Äußerungen zu einer Elternhaus, Schule und HJ umfassenden Drei-Säulen-Theorie versuchte Baldur von Schirach schon früh die Eltern und Lehrer in Sicherheit zu wiegen und zu suggerieren, dass ihre traditionelle Rolle als Erzieher und Vorbild zu Hause bzw. in der Schule nicht beeinträchtigt werden würde. Allerdings ließ er auch dann keinen Zweifel daran, dass die HJ der Jugend die nationalsozialistische Weltanschauung einimpfen und für ihre Körper- und Wehrertüchtigung sorgen müsse und dass diese Aufgaben Vorrang vor allen traditionellen Erziehungsaufgaben hätten.119 Um vor allem die Lehrer noch weiter zu besänftigen, schuf er zusammen mit dem Reicherziehungsminister im Juni 1934 die Institution des ‘Staatsjugendtages’: Ein Großteil des wöchentlichen HJ-Dienstes sollte sich von nun an außerhalb der Schule und auf den Samstag konzentriert abspielen; die 10- bis 14-jährigen Schüler, die noch nicht in der HJ organisiert waren, durften in dieser Zeit weiterhin die Schulbank drücken. Der Mittwochabend sollte den Heimabenden der HJ gehören.120 Und zur Beruhigung der Erziehungsberechtigten war der Sonntag für die Eltern reserviert. Außerdem hob Schirach 1937 besonders hervor, dass Weihnachten auch in Zukunft „das Fest der deutschen Familie“ bleibe.121 Selbst 1940, als die HJ bereits einen unangreifbaren staatlichen Monopolstatus erlangt hatte, wurde die Drei-Säulen-Theorie noch aufrechterhalten, wobei die Familie als Verkörperung der Vorschulsozialisation galt.122 Unterdessen hatte die HJ-Führung jedoch nicht nur den Dienst in ihren Reihen zur nationalen Pflicht werden lassen, sondern konnte bei ihrem verstärkten Kampf gegen Eltern und Lehrer auch kriegsbedingte Notwendigkeiten als Begründung anführen.
In seinem zeitgenössischen Theaterstück Furcht und Elend des III. Reiches schildert Bertolt Brecht, wie ein Ehepaar in die Gefahr gerät, vom eigenen Sohn denunziert zu werden. Er verlässt kurz die Wohnung, um sich Süßigkeiten zu kaufen, und nach seiner Rückkehr wissen die Eltern nicht, ob er sie bei der Gestapo angezeigt hat. Was sie wissen, ist, dass er ihre regimekritischen Bemerkungen gehört hat und dass er in der Hitler-Jugend ist.123 Dieses fiktionalisierte Szenario war für viele Eltern, die ihre Zunge in Gegenwart ihrer zur HJ gehörenden Kindern nicht zügeln konnten, bittere Realität – zumindest bis zum Kriegsbeginn, das heißt, solange der offizielle Status der HJ nicht ganz geklärt schien und die Eltern noch ihre traditionellen Rechte als Erzieher wahrnahmen. Es gibt tatsächlich Dokumente, die belegen, dass Kinder damals aus dem einen oder anderen Grund die eigenen Eltern bei der Polizei angezeigt haben. Als z. B. ein ehemaliger Kommunist namens Hess den ‘Führer’ einen „blutrünstigen Verrückten“ nannte, wurde er von seinem Sohn, der bei der HJ eine mittlere Führungsposition innehatte, angezeigt und noch am selben Abend verhaftet; er kam nach Dachau und starb dort im Alter von 40 Jahren an plötzlichem „Herzversagen“.124 In anderen Fällen stellten unverschämte HJ-Führer – 16- oder 17-jährige unreife Jungen in Uniform – Väter von Jungen ihrer HJ-Einheit zur Rede und bedrohten sie massiv.125 Mädchen verhielten sich gegenüber Müttern genauso.126 Viel häufiger kam es jedoch, genau wie Brecht schildert, vor, dass die Eltern dachten, ihr Kind habe eine regimekritische Bemerkung mitgehört, oder dass ein junges HJ-Mitglied die kommunistische, sozialdemokratische oder religiös-pazifistische Vergangenheit der Eltern kannte.127 Außerdem waren politische und ideologische Faktoren nicht die einzigen Denunziationsgründe. In der demokratischen Gesellschaft vor 1933 waren Generationskonflikte wohl irgendwie gelöst worden, in Hitlers totalitärer ‘Volksgemeinschaft’ hingegen, in der man aus taktischen Erwägungen oftmals Kinder gegen ihre Eltern ausspielte, wurden solche Konflikte politisiert und von Schirachs HJ ausgenutzt, um die Erwachsenen in Schach zu halten.128 So wurden die Kinder bei grundsätzlichen Konfrontationen zwischen dem Regime und seinen weniger gefügigen Untertanen häufig und vielleicht unbeabsichtigt zu reinen Schachfiguren.
Dass viele junge Menschen die Atmosphäre im Elterhaus als einengend empfanden oder sich nicht mehr an die – nun in der Hitler-Jugend verachteten – religiösen Praktiken ihrer Familie halten wollten, war führenden Regimevertreter zweifellos bekannt und wurde von ihnen auch ausgenutzt.129 Die später als BDM-Führerin einflussreiche Melita Maschmann lernte einmal einen jungen Sympathisanten kennen, der seinen Vater, einen Psychologieprofessor, ablehnte, weil er begeisterter Freudianer war.130 Viele Eltern versuchten aus ästhetischen Gründen, z. B. weil ihnen die plebejischen Nazi-Uniformen nicht gefielen, ihren Nachwuchs vom damals noch freiwilligen Eintritt in die HJ abzuhalten, zogen sich dadurch aber nur den Groll ihrer Kinder zu.131 Der in der Hitler-Jugend zelebrierte Nationalsozialismus stand für etwas Neues. Häufig hielten Jugendliche die von Schirach gern beschworene ‘Revolution’ für echt und glaubten, ihre altmodischen Eltern seien nicht auf der Höhe der Zeit. Viele junge Menschen waren auf Neuerungen und Änderungen aus und meinten, genau das bei der HJ zu finden.
Dennoch ist nicht zu leugnen, dass Spannungen zwischen HJ und Eltern nur eine Seite der Medaille ausmachten und dass auf der anderen Seite eine Mehrheit der Eltern große Sympathie für die Sache der Nazis hegte. HJ-Führer konnten immer darauf zählen, dass weniger begeisterte oder der NS-Bewegung sogar ablehnend gegenüberstehende Erziehungsberechtigte sich schließlich von nationalsozialistischen Eltern für die Sache gewinnen ließen. Letztere, die zum Teil schon seit Hitlers ‘Kampfzeit’ in den 1920er-Jahren aktiv waren, engagierten sich oft in besonderem Maße und gründeten z. B. Anfang 1936 in Hannover einen ‘Elternbund der HJ’ als Interessenvertretung.132
Komplizierter war die Situation im Fall der Schulen und Lehrer, weil die Bildungseinrichtungen unter dem Dach des altehrwürdigen Reichserziehungsministeriums der Parteigliederung und staatlichen Institution ‘HJ’ nominell gleichberechtigt gegenüberstanden (während die Familie im Gegensatz dazu traditionellerweise nicht zum öffentlichen, sondern zum privaten Bereich gehörte). Sobald also das Ministerium im Namen seiner Lehrer mit Schirach zusammenarbeitete, hatte der Reichsjugendführer freiere Hand, andererseits bedurfte es auf seiner Seite jeweils besonderer Anstrengungen, wenn Lehrer oder das Ministerium ihn zu zügeln versuchten. Schirach war zu seinem Glück ein viel dynamischerer und auch wesentlich jüngerer Nazi-Funktionär als der Erziehungsminister und ehemalige Studienrat Bernhard Rust, über dessen Schwäche für Alkohol in NS-Kreisen gern getuschelt wurde.
Bei seinen Auseinandersetzungen mit den Schulen konnte Schirach nach der Verkündung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 indirekt einen Sieg verzeichnen, weil nun ‘unzuverlässige’ Lehrer – etwa Sozialdemokraten und Kommunisten (von Juden ganz zu schweigen) – fristlos entlassen wurden. Die übrige Lehrerschaft wurde ohne Einspruchsmöglichkeit routinemäßig von der Polizei überprüft, und das konnte längerfristig gesehen nur im Interesse der HJ-Führung sein.133 Als im Mai 1934 der ‘Staatsjugendtag’ eingeführt wurde, sah es so aus, als hätte Schirach den Lehrern ein Zugeständnis gemacht, aber die Konzeption und praktische Durchführung dieses wöchentlichen HJ-Tages waren für die Schule immer noch mit so vielen Nachteilen verbunden, dass man ihn im Dezember 1936 wieder aufgab – bezeichnenderweise genau zu der Zeit, als Schirach behauptete, die ganze deutsche Jugend unter seiner Führung vereint zu haben. Für die Lehrer war der ‘Staatsjugendtag’ nur ein fauler Kompromiss gewesen, was sich unter anderem daran zeigte, dass samstags zwar die nicht zur HJ gehörenden Schüler unter 14 Jahren die Schulbank drückten, aber dafür ein Viertel der über 14-Jährigen an diesem Tag den Unterricht versäumte, weil die Betreffenden als HJ-Führer die jüngeren HJ-Mitglieder außerhalb der Schule beaufsichtigen mussten.134 Im Mai 1938 fühlte sich Schirach stark genug, um das Schulsystem in der Öffentlichkeit massiv anzugreifen. Er kritisierte, es sei hoffnungslos veraltet, konterrevolutionär und statisch an das Beamtentum der Lehrer gebunden. Ähnlich wie Hitler in Mein Kampf fragte er: „Wie kommt es, daß fast alle Männer, auf die unsere Nation stolz ist, nicht durch ihre Schulerziehung, sondern trotz dieser Schulerziehung vorwärtskamen?“135
Mit etwas gutem Willen hätte Schirach sich mit den Lehrern einigen können: Zwar waren sie in ihrer Mehrzahl keine Nazis, sie waren aber auch keine Nazi-Gegner, sondern deutschnationale Konservative, die sich trotz der Niederlage von 1918 mit der Weimarer Republik arrangiert hatten und denen es nach 1933 nicht besonders schwer fiel, sich in die neue Ordnung einzufügen. Diesen Typus hat Alfred Andersch 1980 beschrieben: ein Gymnasiallehrer mit Schmerbauch, immer in Anzug und Krawatte, immer geschniegelt, glaubt an Gesetz und Ordnung, verteilt zur Aufrechterhaltung seiner absoluten Machtstellung je nach Laune Lob oder Tadel an seine Schüler und ist natürlich auf seine Leistungen im Ersten Weltkrieg stolz. Dieser Lehrer, bei dem Andersch 1928 am Wittelsbacher Gymnasium in München Griechisch und Geschichte hatte, war Geheimrat Gebhard Himmler, der Direktor jener angesehenen Schule. Heinrich Himmlers allseits geachteter Vater war damals 63 Jahre alt.136
Die autoritäre und militaristische Persönlichkeit von Lehrern wie Himmler senior passte – schon vor dem Druck durch den Zweiten Weltkrieg – letztlich problemlos zu dem nationalsozialistischen Ideal des totalitären Erziehers. Solche Lehrer wiesen im Unterricht ständig auf ihre zwischen 1914 und 1918 gemachten Kriegserfahrungen hin und hielten dadurch nicht nur das eigene Selbstwertgefühl hoch, sondern fanden auch – was Schirach zu schätzen wusste – in den meisten Schülern gebannte Zuhörer. Wenn diese Lehrer den in der Weimarer Republik miterlebten Untergang des Modernismus priesen, brachten sie dabei irgendwie auch Goethe, Beethoven, Nietzsche und Schopenhauer mit ins Spiel. Anforderungsgemäß und problemlos wurde das Konzept der untergegangenen Hohenzollern-Monarchie durch die Vorstellung von einem nationalsozialistischen Reich ersetzt; an die Stelle des Vaterlands trat auch für die Lehrer die ‘Volksgemeinschaft’. Die NS-konformen Geschichtsstunden mit ihrer Konzentration auf germanische bzw. deutsche Persönlichkeiten wie Hermann der Cherusker, Luther, Friedrich der Große oder Bismarck unterschieden sich kaum von dem Geschichtsunterricht der ersten Jahrzehnte nach der deutschen Vereinigung im Jahr 1871. 137
Doch sogar in dieser anpassungsfähigen konservativen Personengruppe gab es Menschen, die sich nur wegen des bedrohlichen Gesetzes vom April 1933 auf die Seite Hitlers und des Nationalsozialismus stellten.138 Weit mehr Gedanken zu diesem Gesetz machte sich allerdings jene kleine Minderheit antifaschistischer Lehrer, die ihre Regimegegnerschaft gezwungenermaßen hinter der einen oder anderen Maske versteckten. Sie mussten den Drahtseilakt zwischen innerer Ablehnung und nach außen demonstrierter Zustimmung zum Nationalsozialismus bewältigen. Viele von ihnen hatten bislang das Glück gehabt, nicht von den Behörden erwischt zu werden; wer auffiel und von übel wollenden Kollegen oder HJ-besessenen Schülern denunziert wurde, verlor unter Umständen nicht nur seinen Arbeitsplatz, sondern auch seine Freiheit – vor allem, wenn er vorher schon einmal eine Disziplinarstrafe erhalten hatte.139
Diese Lehrer bewiesen oft unglaublichen Mut, und die listigen Tricks, die sie zur Täuschung ihrer nationalsozialistischen Vorgesetzten benutzten, waren regelrecht genial. Ein „junger Mann mit starker Brille, hoher Stirn und wirren Haaren“ namens Krättge unterrichtete an einer Berliner Schule Deutsch. Er war nicht gerade beliebt. Wo alle anderen von Kampf redeten, betonte er Friedensthemen und arbeitete z. B. die Grausamkeit eines Gedichts heraus, das von einem Soldaten handelt, der tödlich verwundet und ohne Beistand zwei Tage lang an der Front liegt. Und die Folter-Ballade Die Füße im Feuer über die Hugenottenkriege in Frankreich wurde so interpretiert, dass sie unterschwellig auf Naziopfer hindeutete.140 Heinrich Böll berichtet, sein Kölner Deutschlehrer namens Schmitz habe Mein Kampf als Pflichtlektüre benutzt, um den Schülern anhand eines schlechten Beispiels zu prägnanter Ausdrucksweise zu verhelfen.141 Anrührend ist die Geschichte von dem Lehrer, der heimlich seinen jungen Schüler Max von der Grün anspricht, dessen Vater als Zeuge Jehovas damals im Konzentrationslager Flossenbürg dahinsiecht. Der Lehrer gibt seinem Schüler Max ein in Zeitungspapier eingewickeltes Buch des jüdischen Autors Stefan Zweig, Sternstunden der Menschheit, und beschwört ihn, der die Nazis von ganzem Herzen hasst, den Band niemandem zu zeigen. „Für mich war es die Sternstunde meines Lebens“, schreibt von der Grün. „Ich begann bewußt zu lesen. Ich fing an, mich für Geschichte zu interessieren, und das las sich alles ganz anders als das, was wir im Unterricht hörten. […] Kurzum, ich begann die Geschichte der Besiegten zu lesen, nicht die der Sieger.“142
Wie zu erwarten, bildete die nationalsozialistische Vorstellung von der überlegenen ‘arischen Rasse’ den Rahmen, in dem Fächer wie Biologie, Geschichte und Geographie unterrichtet wurden, und manche Lehrer sorgten auch bei neutralen Fächern wie Physik und Mathematik für eine ideologische Anpassung, indem sie militärische Beispiele, etwa aus der Ballistik, als Aufgaben heranzogen. Im Musikunterricht legte man Wert auf Beethoven und Wagner und ignorierte jüdische Komponisten wie Mendelssohn.143 Die solchermaßen aktiven Pädagogen demütigten ständig einzelne oder auch alle jüdischen Schüler, solange diese noch am Unterricht teilnehmen durften.144 Diese Lehrer hielten sich eng an nationalsozialistische Verhaltensformen: Zum Teil erschienen sie zum Unterricht in der braunen Parteiuniform, äußerten sich in bellendem, militärischem Kommandoton, hoben die Hand zum Hitlergruß und prahlten mit ihren nationalsozialistischen Ehrenämtern.145
Nicht zuletzt wegen der schleichenden Kooperation vieler dieser Lehrer konnte Schirach langsam, aber stetig seinen Feldzug gegen die Schulen gewinnen. Bis zum Kriegsausbruch erfüllten immer mehr Lehrer seine Forderung, sich als Rekrutierungsagenten für seine HJ-Formationen zu betätigen, und immer mehr jüngere Pädagogen trugen HJ-Uniform und symbolisierten so die zunehmende Abhängigkeit des Bildungs- und Erziehungssektors von nationalsozialistischer Indoktrination.146 Auf früheren Bemühungen aufbauend, gelang es Schirach im Februar 1938, die Institution des ‘Vertrauenslehrers’ zu schaffen – Pädagogen als reine Handlanger der Hitler-Jugend.147 Auch die Schüler selbst erschienen im Klassenzimmer gern in HJ-Kleidung, wie Manfred Rommel, der Sohn des Wehrmachtsgenerals Erwin Rommel und langjährige Oberbürgermeister von Stuttgart, aus eigener Erfahrung schildert: „Wir waren eher gegen als für die Schule eingestellt und fühlten uns in der HJ-Uniform erwachsen und in der Gruppe stark.“148
Spätestens 1937 wurde offensichtlich, dass die wachsende Politisierung der Lehrer und die – bei vielen Schülern immer stärker zu beobachtende – Vernachlässigung schulischer Angelegenheiten zugunsten des HJ-Dienstes zu einer Verwässerung herkömmlicher pädagogischer Standards führte; die Schüler lernten weniger. Anfang 1938 nutzte Schirach die Gunst der Stunde: Wieder einmal machte er sich über die Berufsgruppe der Lehrer lustig und beharrte darauf, dass die ideologische und charakterliche Bildung in der HJ der Aneignung formalen Wissens überlegen sei. Minister Rust gab sich geschlagen und verkürzte die Zeit der höheren Schulbildung um ein Jahr – mit der bitteren Folge, dass danach noch weniger junge Männer und Frauen als vorher bereit waren, den Lehrerberuf zu ergreifen. Dies geschah am Vorabend des Krieges, als die kollektive Stärke der Lehrerschaft bereits durch zahllose Einberufungen zur Wehrmacht geschwächt wurde.149
In den Kriegsjahren wurde – vor dem Hintergrund anhaltender elterlicher Ohnmacht – noch deutlicher, dass das konventionelle Schulsystem vor der HJ kapituliert hatte. Ungeachtet der Erfordernisse des ideologisch sanktionierten Weltkriegs beklagten Lehrer wie Eltern im Frühjahr 1940 und erneut im Herbst 1942, dass die Hitler-Jugend zu Schule und Familie ein gebrochenes Verhältnis habe.150 Die HJ-Führung zeigte sich davon ungerührt: Sie ließ zu, dass die Familie weiterhin ungestraft verächtlich gemacht wurde, und sah zu, wie Millionen ihrer vom Schulunterricht entwöhnten Schützlinge inzwischen Dienst in den Streitkräften oder Parteigliederungen leisteten.151 Es war leichter geworden, regimekritische Lehrer wegen angeblichen „Defaitismus“ zu denunzieren, und das ereignete sich inzwischen auch häufiger. Hinzu kam der für das Regime willkommene Umstand, dass hunderte von jüngeren und fanatischen Lehrern während ihres Heimaturlaubs von der Front in die Klassenzimmer zurückkehrten, um dort die bereits militarisierte Schülerschaft weiter aufzustacheln.152 Der schulische Lehrplan hatte an Substanz verloren, war gekürzt worden und litt zunehmend unter ideologischen und kriegsbezogenen Einflüssen auf die Unterrichtspraxis.153 Einzelne Schulleiter protestierten zwar dagegen, dass die Schüler durch die von Partei und Staat verlangten Dienste offenkundig der Schule entfremdet wurden, stießen damit aber auf taube Ohren, wie der besonders dringlich gehaltene Brief eines Direktors aus Goslar vom September 1942 beispielhaft zeigt.154 Nicht ohne Zynismus hält ein damals der HJ angehörender Schüler und Soldat später in seinen Memoiren fest, das Lernen sei „auf die Zeit nach dem Endsieg verschoben“ worden.155
Schon bald nach Kriegsbeginn erhielt die Hitler-Jugend zusätzlich Gelegenheit, ihre Macht auf Kosten von Eltern und Lehrern zu stärken. Am 27. September 1940 wurde Hitlers Beschluss verkündet, ein Schirach persönlich unterstelltes Projekt namens ‘Kinderlandverschickung’ (KLV) zu verwirklichen. Zweck dieses Vorhabens war es, Kinder ab dem Alter, in dem sie sich von ihren Eltern trennen ließen – also ab etwa vier Jahren –, durch vorübergehende Evakuierung aufs Land vor dem zunehmenden Bombenhagel in den Städten zu schützen. Die Kinder konnten für jeweils sechs Monate verschickt werden; die jüngeren kamen in Nazi-Familien, die 10- bis 14-Jährigen in dafür vorbereitete HJ-Einrichtungen. Sobald diese älteren Kinder, die meist selbst der HJ angehörten, außerhalb des Wirkungskreises ihrer Eltern in einer HJ-Unterkunft eingepfercht waren, wurden sie von etwas älteren HJ-Mitgliedern beaufsichtigt und dabei einer streng kontrollierten Disziplin unterworfen. Daneben schien das Elternhaus völlig zu verblassen.156
Diese Ausweitung der rechtlichen Zuständigkeit der HJ für die Jugend der Nation stellte Eltern und Lehrer vor neue Probleme. Hauptfrage für die Eltern war, ob sie ihre Kinder überhaupt wegfahren lassen sollten. Die Entscheidung lag zwar bei ihnen, doch hatten die meisten kaum eine Wahl: Schließlich war das Argument der Nazis, dass die Kinder vor den Bomben in Sicherheit gebracht werden müssten, vernünftig und außerdem wurde durch die klassenweise Verschickung der Schüler der Gruppendruck so groß, dass es einzelnen Kindern praktisch unmöglich war, allein zurückzubleiben.157
Mit Sonderzügen wurden die Jungen und Mädchen zu Sammelstellen auf dem Lande gebracht, wobei sich die Zielorte nicht nur in Deutschland befanden, sondern darüber hinaus – und hier kam unterschwellig der Imperialismus des NS-Regimes mit ins Spiel – in Achsenstaaten wie Rumänien, Ungarn, Bulgarien sowie der Slowakei und bezeichnenderweise auch in eroberten Gebieten wie Luxemburg, Dänemark, Westpolen und dem ‘Protektorat Böhmen und Mähren’. Wenn die Kinder und ihre Aufsichtspersonen Glück hatten, wurden sie z. B. in Tirol oder Luxemburg in luxuriösen Berg- und Seehotels oder sogar in Burgen und Schlössern untergebracht; hatten sie hingegen Pech, mussten sie mit schäbigsten Unterkünften vorlieb nehmen, etwa einem heruntergekommenen Schul- oder Krankenhausgebäude in irgendeiner ärmlichen Gegend Böhmens. In Polen waren die Lager fast immer äußerst dürftig, während sie in Süddeutschland eher aus feinen kleinen Pensionen in alpinen Urlaubsorten wie Garmisch-Partenkirchen und Berchtesgaden bestanden. Wenn man der Statistik glauben darf, beförderten bis zum offiziellen Ende der Aktion Anfang 1945 200 000 Sonderzüge rund fünf Millionen deutsche Kinder in bis zu 12 000 Lager.158
Die Eltern machten sich häufig große Sorgen, denn auch wenn sie dem KLV-Programm verstandesmäßig vertrauten, blieben sie gefühlsmäßig doch skeptisch – wenn sie nicht gerade eingefleischte Nazis waren. Das wusste die HJ und riet den Eltern von Besuchen in den KLV-Lagern möglichst ab, hatte damit aber nicht immer Erfolg.159 Den Kindern fiel es schwer, mit Mutter und Vater zu kommunizieren, weil ihre Briefe nach Hause der Zensur unterlagen; manchen wurde von Aufsicht führenden HJ-Mitgliedern sogar befohlen, trotz Heimweh oder Erkrankung zu schreiben, es gehe ihnen gut.160 Letztlich aber lag trotzdem die Entscheidung bei den Eltern: Wenn sie ihre Kinder bei sich zu Hause haben wollten, konnte niemand sie daran hindern.161 In der Regel genügte es, wenn Kinder die HJ oder ihre Eltern überzeugten, dass sie ziemlich krank seien und abgeholt werden müssten.162
Kaum war der HJ deutlich geworden, dass sie durch die KLV gegenüber den Eltern noch mehr Oberwasser erhielt, da erkannte sie auch, wie leicht es war, den Lehrern noch stärker zuzusetzen als bisher. Auf teuflische Art hatte das NS-Regime planmäßig für verschiedene parallele Zuständigkeiten gesorgt, sodass kein Amt wusste, wem die öffentliche Verwaltung letztlich unterstand; dadurch behielten Vertreter der – die nationalsozialistische Revolution symbolisierenden – Partei gegenüber der Beamtenschaft meist die Oberhand. Im Fall der Kinderlandverschickung sollten die Lehrer, die von der Schule ins HJ-Lager versetzt wurden, angeblich für die Fortführung des pädagogischen Prozesses und sogar für die Aufsicht verantwortlich sein; tatsächlich wurden die Lager von den weit jüngeren HJ-Führern geleitet, die auch die ganze Logistik unter sich hatten. Obwohl das Regime darauf achtete, dass die meisten der in die KLV-Lager geschickten Lehrer bewährte Mitglieder des ‘Nationalsozialistischen Lehrerbunds’ (NSLB) waren, wurde das ganze Arrangement zu einer echten Demütigung für die Pädagogen und zum Triumph für Baldur von Schirach und seinen Nachfolger Artur Axmann.163
Über die Zuständigkeiten kam es zwischen Lehrern und HJ-Lagerführern immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen, bis am Ende erstere theoretisch und letztere praktisch den Sieg davontrugen.164 Den Lagerführern kam der zusätzliche Vorteil zugute, leicht Zugang zu örtlichen Parteikräften, etwa einem HJ-Oberstammführer, zu haben oder sogar zu dem gnadenlosen Karl Hermann Frank, ab August 1943 ‘Reichsminister für Böhmen und Mähren’ in Prag.165 Stärker als früher im Reich wurden normale Schulabläufe zugunsten von HJ-Übungen und altbekanntem Drill reduziert, der oft unter dem Kommando zutiefst verdorbener junger Führer stattfand; das führte dazu, dass die evakuierten Schüler noch weniger schulische Texte lasen als zuvor.166 Seinen Gipfel erreichte der Affront für die Lehrerschaft, als nach einem Tiefpunkt des Krieges Anfang 1943 weit mehr jüngere Lehrer als zuvor zur Wehrmacht eingezogen wurden und die verbleibenden älteren Pädagogen sich mit immer jüngeren HJ-Führern konfrontiert sahen, weil die älteren an der Front standen.167
Unter völliger Missachtung der vorhandenen Lehrkräfte und wiederum mit berechnendem Blick auf die vormilitärische Ausbildung dehnte die HJ in den KLV-Lagern ihr zu Hause erprobtes Drillsystem aus. Die Kinder wurden schikaniert, vor allem wenn sie sich als Bettnässer erwiesen; das kam in den Lagern häufig vor und zeugte von dem Verlorenheitsgefühl, das den Kindern wohl allgemein zu schaffen machte.168 „Oft wurden sie einfach verprügelt“, erinnert sich Ralf Dahrendorf, der die Kinderlandverschickung als Junge miterlebte und inzwischen britischer Bürger und Mitglied des englischen Oberhauses ist.169 An manchen Orten bekamen Zehn- oder Zwölfjährige, die zu masturbieren anfingen, dicke Handschuhe über die Hände gezogen, bevor sie am Bettrahmen festgebunden wurden. In anderen Lagern gab es hingegen regelrechte Masturbationswettbewerbe, die dann zum festen Bestandteil der Schinderei wurden.170 Durch die üblichen Bekanntmachungen der HJ bei den Appellen erfuhren die KLV-Kinder auch, wenn ein naher Verwandter bei einem Luftangriff ums Leben gekommen war; diese grausame Vorgehensweise sollte ostentativ der charakterlichen Abhärtung dienen, führte aber dazu, dass der Geist der meist wie betäubt dastehenden Schützlinge gebrochen wurde.171 Unhygienische Verhältnisse und unzureichende Ernährung verursachten nicht selten Krankheiten, die nicht geheilt werden konnten, weil es an Arzneimitteln und medizinischem Fachpersonal fehlte, obwohl die HJ nicht davor zurückscheute, Medizinstudenten einzusetzen.172
Der dunkelste – und die rassistisch-imperialistischen Ziele des NS-Regimes manifestierende – Aspekt der ganzen Angelegenheit war, dass die Nazis ihren Nachwuchs in eine bekanntermaßen feindselige Umgebung brachten. Das verschaffte der HJ reichlich Gelegenheit, auf den Unterschied zwischen den zur ‘Herrenrasse’ zählenden deutschen Kindern und den für Sklavenarbeit vorgesehenen Besiegten hinzuweisen. Für die jungen Deutschen war so etwas allerdings nicht ungefährlich, denn insbesondere in den besetzten polnischen und tschechischen Gebieten schlug ihnen auf der Straße unverhohlene Feindseligkeit entgegen; ohne Begleitschutz durch ältere HJ-Mitglieder mit schussbereiter Waffe konnten sie sich in der Öffentlichkeit weder allein noch in kleinen Gruppen blicken lassen.173 So wurde den Kindern quasi im Feldversuch das Hassen beigebracht, das sie später gut gebrauchen konnten, als es an den ausgedehnten Frontlinien darum ging, den eigenen Status als Angehörige der deutschen Herrscherkaste zu verteidigen.