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Das Handeln ist der Feind des Denkens

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… heißt es bei Phillip Roth im „Der menschliche Makel.“ Wie treffend, dachte sich Peter, wie wahrscheinlich auch viele andere denkenden Menschen. Aber in Zeiten von weltumspannendem Irrsinn aller Art via Internet, in denen man nichts mehr zu wissen brauchte, weil Google ja alles wusste, in denen man nicht mehr selbst denken musste, weil irgendwo, irgendwer schon darüber nachgedacht hatte, und es nur darum ging, zu wissen, wie man mit möglichst wenig Klicks auf seinem Smartphone auch zu diesen Erkenntnissen kam: In dieser Welt gab es keine Werte mehr und keinen Glauben, weil alles jeden Preis von eins bis unendlich haben konnte. Egal ob ein Automobilkonzern für einen Dollar oder ein Fußballer für zweihundert Millionen, es konnte alles verkauft werden in einer Welt, in der nichts standhielt, wovon nicht auch das Gegenteil genauso wahr war. Ja, in so einer „schönen neuen Welt“ war es einfach nur wichtig zu handeln, und das entschlossen und reaktiv. Aber was ist das, entschlossen und reaktiv?

„Na schau doch: Gestern ließen uns die Politiker noch mit aller Kraft und so schnell wie möglich nach mehr Elektrofahrzeugen laufen. Für eine nachhaltige Umwelt, hahaha. Vorgestern gab es einen Wettlauf, um den Konflikt im Nahen Osten schnellstens zu lösen, weil uns sonst die ganze Region um die Ohren fliegt. Davor mussten wir mit aller Entschlossenheit sofort die freie Marktwirtschaft vor einer neuen Welle des Nationalismus und dessen Handelsbeschränkungen durch Zollschranken retten. Vorher musste aber Europa vor den Flüchtlingen aus Afrika und Syrien geschützt werden. Überhaupt musste die Welt vor dem Iran, und noch wichtiger, vor Nordkorea und deren zukünftigen atomaren Bedrohungen befreit werden. Und heute müssen wir gegen SARS-CoV-2 in den Krieg ziehen! Dafür müssen unsere ach-so-geschätzten Politiker einfach entschlossen reagieren und alle, aber auch wirklich alle Maßnahmen ergreifen, oder?“, hatte es Peter ironisch zusammengefasst.

„Die Maßnahmen, liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen, sind absolut unerlässlich für Ihre Sicherheit und die Ihrer Landsleute“, verlautbarten sie permanent auf allen Kanälen. Das Wort „alternativlos“ vermieden sie aufgrund schlechter Erfahrungen. Galt es nicht einmal sogar Unwort des Jahres? Mit staatstragenden Mienen sprangen die Politiker auf die Podien und verkündeten von früh bis spät neue Botschaften, Anweisungen, Richtlinien, Gesetzesvorhaben und Notfallerlässe. Im Minutentakt überschlugen sich die Nachrichten. Sie drängten sich an die Mikrofone und überboten sich im Wettstreit, wer als erster vor den anderen, welche neuen, einschneidenden und noch drastischeren Maßnahmen dem in panischer Angst um ihr Leben bangendem, nach Beschränkung lechzendem Volk mitteilen konnte.

Und wie sie es uns mitteilten! Man sah es ihnen an. Sie waren sich ihrer historischen Stunde und Bedeutung bewusst. OK, bei uns in Deutschland war unsere ''Mutti'', die Kanzlerin in diese, ihr zur Gewohnheit gewordenen Rolle, mehr oder weniger authentisch hineingewachsen. Aber die anderen! Der Spahn, der schon zuvor durch die Endlosbaustelle Pflege medial so hochgepusht war, dass er sich schon in Kanzlernachfolgehöhen emporgeschwungen hatte, war seitdem mindestens um 20 Zentimeter gewachsen, wenn er sich jetzt von morgens bis abends vor den unzähligen Kameras und Mikrofonen aufbaute. Der Gesundheitsminister eines Bundeslandes, den vorher wahrscheinlich nicht einmal die meisten Bürgerinnen und Bürger seines Bundeslands selbst gekannt hatten, wurde jetzt vom Aufstehen bis zum Schlafengehen, wie bei Big Brother, mit der Kamera dauerverfilmt. Damit das ganze Land huldvoll bestaunen konnte, wie der Mann unermüdlich für das nackte Überleben des Volkes telefonierte. Wie er heroisch, sich ganz offen, vor laufender Kamera, für alle sichtbar aufbauend, umringt von emsigen Krisenmanagern einem alt befreundeten Wirt und Dorfbürgermeister für den kommenden Freitag einfach schneidig sein Kommen absagte: Zu einem lange geplanten wichtigen Treffen eines Hasenzüchtervereins mit dem staatstragenden Rat diese Veranstaltung doch gänzlich abzublasen, auch wenn man mit hundertsiebzig Mann noch weit unter der seit fünf Stunden vorgeschriebenen Höchstgrenze für Versammlungen von mehr als fünfhundert Leuten lag.

„Ja, konnte man sich da noch dieser mit letzter Kraft vorgetragenen Erleuchtung dieses Übermenschen entziehen, wenn er ganz nüchtern feststellte, dass es eine epische Krise dieses Ausmaßes seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie gegeben hatte?“, fragte sich Peter, ironisch und ungläubig nickend, vor den sich permanent überschlagenden News der großen neuen Politikshow. – Und weiter: Vor allem, wenn man sich für Nachrichten im Allgemeinen und Zahlen auch nur oberflächlich interessierte – und hoffentlich über mehr, als dem Gedächtnis einer Eintagsfliege verfügte: Denn waren die ungefähr eine Million Menschen, die Anfang des Jahrzehnts in Ostafrika in der Hungerkatastrophe krepiert waren, oder die andere Million Tutsis, die in gerade mal einhundert Tagen in Burundi von den Hutus ermordet worden waren, weniger episch?

„Die lokalen Behörden und Institutionen vor Ort sind völlig überfordert und wissen nicht mehr, wo sie wie die Hunderten Toten täglich begraben oder entsorgen sollen“, schallte es in dramatischen Berichten aus allen Nachrichten. – „Ja, wie hatten es die Sudanesen und die Behörden und Institutionen in Burundi mit den Zehntausenden Toten täglich geschafft? Mit deren Mittel, die damals ganz sicher um Potenzen weniger waren, als die in Europa heute?“, fragte sich Peter.

„Ja, aber wir sprechen hier von über tausend Infizierten.“ – „Der Anstieg ist exponentiell.“ – „Wenn wir jetzt nicht eingreifen, werden wir …“ – Alle Fernseh- und Radiosender berichteten nur noch über das Virus und die damit verbundenen Konsequenzen. Und sie, die Herren und Damen Politiker, waren innerhalb von Tagen die neuen Stars am Medienhimmel geworden. Die Umfragewerte der regierenden und in den Medien vertretenen Politiker stiegen in nachkriegsähnliche Höhen. Die Opposition, insbesondere die rechtsradikale, verschwand ins Nirwana. Das Virus hatte keine Nationalität, außer für Trump. Es konnte nicht mit rechtsradikalen Parolen aus unserer deutschen Heimat als fremd vertrieben werden. „Wir schaffen das, meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger!“ lautete diesmal eine gute Losung.

Peter beobachtete das tägliche Schauspiel ungläubig staunend, das da jetzt seit Mitte März überall ablief. Er war gänzlich verblüfft von der wilden Entschlossenheit dieser, sich früher einmal meist so unverbindlich wie möglich, zurückhaltend und nichtssagend, diplomatisch ausdrückenden Kaste der Politiker. Wer hätte es gedacht, dass sich die ganze Welt, alles, was sich diese westlichen, ach so stolzen Demokratien über sieben Jahrzehnte nach dem letzten Weltkrieg erschaffen und aufgebaut hatten, von einem neuen, wohl stärkeren Grippevirus ausgelöst, in ein paar Wochen einfach kaputtmachen ließ? Weil sich, wegen weltweit circa zwanzigtausend an einem mutierten Grippevirus in rund sechs bis acht Wochen Verstorbenen, über drei Milliarden Menschen von ihren nationalen Politikern, all ihrer Rechte beraubt, zu Hause einsperren ließen? Um sich nach deren persönlichem Ermessen, täglich in pro Provinz ändernden Notstandsverordnungen wie Marionetten, ängstlich, um ihr nacktes Leben zitternd, manövrieren zu lassen? Und das, wo, wie man nachlesen konnte, allein in Deutschland zwei Winter davor, in der Grippesaison von Dezember bis März, fast 25.000 an Atemwegserkrankung beziehungsweise Grippe verstorben waren!

„Ja, aber dieses neue CoV-2-Virus ist viel schlimmer, als alles, was wir vorher erlebt haben. Solche Krankheitsbilder von großflächig infizierten Lungen haben wir noch nie gesehen. So schwere Krankheitsverläufe hat es zuvor noch nie gegeben“, riefen die eifrig vor die Mikrofone geladenen Mediziner aller Couleur mit erhobenen Händen mahnend an Volk und Politik.

„Ja, woran waren denn die siebzigtausend Grippetoten in Europa im Winter 2017/18 gestorben?“, fragte sich Peter. „Waren die friedlicher, besser versorgt oder glücklicher verstorben?“

Jedenfalls durfte man auf gar keinen Fall dieses Covid 19 irgendwie in Zusammenhang mit irgendwelchen Grippepandemien bringen, weil man sonst sofort als einer dieser bösen zahlreichen Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt wurde, die jetzt vereinzelt überall auftauchten. Weil dieses Cov-2-Virus sich so total anders verbreitete und auswirkte, so unglaublich viel tödlicher als irgendwelche Grippeviren war. Weil diese russische Grippe vor vierzig Jahren natürlich ganz was anderes und auch überhaupt nicht zu vergleichen war im Ausmaß an Epik, wo doch weltweit „Nur!“ irgendwas um die sechshunderttausend Menschen damals daran gestorben waren. Doch das war alles anders gewesen damals und das interessierte uns alle auch nicht, weil jetzt ging es das erste Mal bei uns, live, um Leben und Tod, und zwar in einem nie da gewesenen Massensterben? Dabei waren von diesen sechshunderttausend Toten in den Jahren 1977/78, bei zu dieser Zeit noch wesentlich weniger Menschen, es auch noch hauptsächlich die Kinder und Jugendlichen, die davon betroffen und gestorben waren. Wie, und ob die Lungen bis zum Versagen geschädigt waren, oder die Herzmuskeln, wie bei so vielen anderen Grippeerkrankten, wovon auch heute noch Hunderttausende mit schwersten Herzschäden als Spätfolgen davon herumliefen, wusste Peter natürlich auch nicht. Aber er meinte, dass ihnen das wie ihren Hinterbliebenen auch ziemlich egal gewesen sein dürfte. Auf jeden Fall waren sie medial und gesellschaftspolitisch wesentlich ruhiger und unrelevanter gestorben, denn damals hatte kein Hahn nach ihnen gekräht. Und offensichtlich hatte man vor vierzig genauso wie vor zwei Jahren auch noch genügend Särge für sie gehabt, während das heute anscheinend schier Unlösbares und Unmenschliches von allen abverlangte.

Jeden Tag wurden aus jedem Land die Horrorzahlen der am Virus Verstorbenen den in ihren Wohnungen, Slums, Wolkenkratzern und Einfamilienhäusern bibbernden Völkern präsentiert. In Deutschland war das Ende März die Wahnsinnsmenge von unter sechshundert! Und dafür wurden alle Geschäfte landesweit geschlossen, achtzig Millionen Menschen in Quarantäne gesperrt, Kinder und Studenten blockiert und Geschäftstreibende in ihrer Existenz zumindest bedroht. – Wegen sechshundert „Grippe- … äh, Coronatoten“ in sechs Wochen? Die Leute konnten von ihren Politikern gar nicht genug eingesperrt, gemaßregelt werden, damit sie sich ein bisschen sicherer fühlten.

„Wir müssen alles, was wir nicht unbedingt zum Leben brauchen, einstellen. Deshalb werden alle Geschäfte außer Lebensmittelläden, Apotheken und Drogeriemärkte geschlossen. Es gilt ab morgen eine strikte Ausgangsbeschränkung“, hatte der Söder noch vor allen anderen seiner Bayern verkündet. Denn es war nicht nur die Zeit der Präsidenten und Gesundheitsminister gekommen. Nein, jetzt wurde sich jeder seiner persönlichen politischen Wichtigkeit und Macht bewusst. Und je kleiner das Fürstentum, desto größer der Machthunger. Der Kurze im großen Österreich, auch einem vom Virus am schrecklichsten heimgesuchten Land, mit schon schier unglaublichen einhundert Toten Ende März (mal schauen in der Langzeitstatistik, ob 2020 nicht als eines der Jahre mit den wenigsten Todesfällen eingehen wird ...), hatte als erster die schärfsten Ausgangssperren in gewohnt erstklassiger staatstragender, medial bestwirkender Aufmachung verkündet. Immerhin, eine ganze Woche vor den Bayern! „Worauf wartet Deutschland noch? Wann werden sie es auch endlich begreifen?“, lauteten die Schlagzeilen der enorm intellektuellen, gekrönten österreichischen Landespresse. Deswegen konnte der Söder doch auch gar nicht damit warten oder sich sogar solidarisch mit den anderen Kanzlernachfolgekandidaten zurückhalten, bis die Mutti Merkel wieder den ganzen Medienruhm absahnen würde. Sie brauchte ihn ja eh nicht mehr, weil ihr eine mögliche Wiederwahl erspart blieb. Also, da musste er schon zusehen, dass er der erste Landesfürst war, der seinem Land den größtmöglichen Schutz durch das Auslösen des Katastrophenalarms bot.

Aber Moment mal. War das nicht derselbe Mann, der fünf Tage zuvor noch in ganz Bayern die Kommunal- und Gemeinderatswahlen mit immerhin einigen Millionen Wählern und Zehntausenden Wahlhelfern hatte durchziehen lassen? Na ja, bei diesem „Mini-Event“ konnte doch keiner infiziert werden, oder? Gerade eine Gemeinderatswahl? Wo klar war, dass ein paar Wochen später in den meisten größeren Städten und Landkreisen dann noch mal Stichwahlen notwendig werden würden? Und ausgerechnet solche Gemeinderatswahlen waren also dann so unbedingt lebensnotwendig? Weil es nicht vollkommen egal war, ob in München oder in Hinterstinkenbrunn der Bürgermeister noch ein paar Monate länger im Amt blieb?

„Die Maßnahmen, die wir am 13. getroffen haben, haben nicht zu der gewünschten Abschwächung des Anstiegs an Neuinfektionen geführt. Diese sind ganz im Gegenteil so massiv angestiegen, dass mir nichts anderes übrig bleibt als den Katastrophenalarm auszulösen und eine landesweite Ausgangsbeschränkung anzuordnen“, hatte der Söder dann am Sonntag, eine Woche nach den Kommunalwahlen, unter heftigem Blitzlichtgewitter verkündet. Und wie er es seinen Bayern verkündet hatte! Dieser Landesriese mit staatstragischer Miene, mit Ringen unter den Augen, noch mehr grauen Haaren, ja schlichtweg mit einem Gesicht, dem man ansah, dass dieser Mann für sein Volk eine Woche heroischen Kampfes ohne Schlaf hinter sich gebracht hatte. Weil er natürlich als erster Landesfürst seinem Image als Krisenmanager, als einer, der durchgreift, der Verantwortung zeigt, Stärke und alles, was man sich sonst noch von einem Anführer wünscht, einen weiteren wichtigen Schub in Richtung seiner goldenen Zukunft in Berlin verliehen hatte. Und die Leute klatschen Beifall, schrien ''Hurra'', sangen auf ihren Balkonen den Nachbarn Lieder des Mutes zu, und suhlten sich in der historischen Bedeutsamkeit ihres Opfers der sozialen Abschottung.

Peter kam aus dem Staunen nicht heraus. Wie gesagt, er war ja immer nur ein altmodischer, wenn auch guter Kopfrechner geblieben. Als solcher war er auf den Umgang mit einer begrenzten Menge relativ einfacher Zahlen beschränkt. Deshalb konnte er auch nicht begreifen, wie um alles in der Welt sich die Zunahme an gemeldeten Infizierten zwischen 15. und 20. – in fünf Tagen also – irgendwie hätte reduzieren können und sollen. Wenn erstens die Anzahl der Tests in diesem Zeitraum wesentlich erhöht wurde; zweitens vor fünf Tagen in Zehntausenden Lokalitäten in allen Städten und Gemeinden, Landkreis- und Gemeinderatswahlen für Millionen Bürger abgehalten wurden; und drittens am Wochenende zwischen dem 13. und 15. unter anderem Tausende Skiurlauber aus Österreich heimgekehrt waren, die aus Gebieten kamen, von denen man wusste, dass in den einschlägigen Ballermannberghütten von Ischgl zu Tausenden, auf gewünscht engstem Raum, zusammen mit seit Wochen infizierten Personen gesoffen, geschwitzt, gegrölt und was weiß ich noch alles wurde? Und all das bei einer mittleren Inkubationszeit bei Ansteckung mit Cov-2 von fünf Tagen! Also, so schwierig fand Peter diese Kopfrechnung nicht, dass sich daraus logischerweise ergab, dass wahrscheinlich vor allem in München und Umgebung die Zahl der Infizierten am 20. wesentlich höher sein musste als fünf Tage davor. Die Frage für Peter war eher, warum es nicht viel mehr Infizierte waren! Aber er dachte sich, dass die meisten Infizierten, da sie wahrscheinlich keinerlei ernst zu nehmende Symptome aufwiesen, gar nicht wussten, dass sie das Virus in sich trugen. Außerdem war es schier unmöglich, irgendwie irgendjemanden über eine der bekannten Hotlines zu erreichen, geschweige denn an einen Virustest zu kommen.

Die Stunde der Politiker

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