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Mit Taktik gewinnt man eine Schlacht – Mit Strategie einen Krieg

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„Die werden schon eine Strategie haben. Du glaubst doch nicht, dass die alle blöd sind, haben sie mich im Gemeinderat alle blöd niedergemacht“, hatte Theis wutschnaubend erzählt, als er damals am letzten Freitag im Januar spätabends von der Gemeinderatssitzung nach Hause gekommen war.

„Und du hast ihnen natürlich geantwortet: Ja genau das glaub ich“, hatte Elena direkt wie aus der Pistole geschossen geantwortet.

„Ja sicher, das ist doch meistens so. Entweder sie machen nix oder einen Blödsinn. So ist das schon in der Politik.“

„Und das musst du natürlich ausgerechnet den Politikern aufs Brot schmieren. Und dann erwartest du dir von ihnen, dass sie dir dafür danken, weil du ihnen gezeigt hast, wie blöd sie sind. Und deshalb werden sie dann alles genauso machen, wie du es ihnen sagst.“

„Nein, ganz so dumm bin ich natürlich nicht. Das ist mir auch klar, dass ich da schon diplomatisch vorgehen muss. Schließlich will ich ja was von ihnen. Also hab ich ihnen ein bisserl Honig ums Maul geschmiert, wie ihr hier so sagt. Ich hab ihnen halt erklärt, dass ich das schon verstehen würde, dass das ganz schwierig war für die da ganz oben. Weil es ja da so unendlich viel zu bedenken gibt, wenn man so viele Gesetze und Regeln beachten muss. Und weil man ja nicht einfach mir nix dir nix alle Grenzen schließen und die Leute alle einsperren konnte. Deshalb war es sicherlich auch für sie so schwierig, sich da jetzt auf so eine Virusepidemie vorzubereiten. Diese Vollidioten! Weil Krisen- oder Katastrophenplan gabs ja keinen mehr bei uns - so wie in Japan. Weißt, das ist, als ob du in einem hundert Meter hohen Hochhaus sitzt und keine Brandschutzordnung hast. Und damit eine Epidemie keine Pandemie wird, brauche ich eben, weil es nicht wie ein Erdbeben oder Brand ein plötzliches Ereignis ist, keinen Katastrophenplan, was ich mache, nachdem das Ereignis eingetroffen ist, sondern einen internationalen Plan, wie ich die Ausbreitung zur Pandemie und Katastrophe verhindern kann. Weil so ein Virus kennt keine Staatsgrenzen. Deshalb braucht’s eine Brandausbreitungsverhinderungsordnung. So wie du das auch bei jedem Brand machst, wo das erste Hauptaugenmerk nicht darauf liegt, das betroffene Gebäude zu retten, sondern erst mal zu verhindern, dass das Feuer sich auf die Nachbargebäude oder die umliegenden Waldgebiete ausbreiten kann. Dabei haben wir seit 2000 mit Vogel- und Schweinegrippe und dem SARS mindestens drei superähnliche Epidemien gehabt, die sich auch schon weltweit verbreitet hatten. Nur durch Glück, weil die Viren noch nicht gefährlich genug mutiert waren, ist damals eine katastrophale Pandemie wie die spanische Grippe nicht zustande gekommen. Ich bin mir sicher, da sind seitdem Millionen in allen möglichen Ländern ausgegeben worden für Studien, wie man sich als Nation da schützen und verhalten soll. Und was ist rausgekommen? Wo ist die Ausbreitungs-Brandschutzverordnung? Nix, nix, nix! Und jetzt sitzen sie da und beobachten die Entwicklung ganz genau, um sich aufs Beste vorzubereiten, um dann je nach Lage angemessen zu reagieren. – Dass ich nicht lache!“, hatte sich Theis förmlich in Rage geredet.

„Und so diplomatisch hast du das dem Hermann und dem ganzen Gemeinderat erklärt?“, fragte Elena lächelnd.

„Nein, natürlich nicht“, musste Theis lachend antworten.

Theis war nicht nur ein hervorragender Arzt, sondern vor allem einer, der seinen Beruf so vollumfänglich liebte und lebte, dass er sich der Medizin im Zusammenspiel mit der Natur und dem Menschen, als Individuum wie gesellschaftlich, immer gesamtheitlich annahm. Er versuchte, sich in allen damit verbundenen Wissensbereichen permanent weiterzubilden, um die verschiedensten Vorgänge besser zu verstehen. Er war eben kein Fachidiot, für den ein gebrochenes Bein nur ein isoliert gebrochenes Bein war. Wenn er einen Patienten mit einem gebrochenen Bein hatte, hinterfragte er von Alter, Geschlecht, Beschäftigung und Unfallhergang alles bis hin zu Ernährung, Stuhl, Blutbild und Bewegungsmuster. Das Operieren überließ er dann gerne dem Orthopäden. Der war fachlich und handwerklich weitaus besser dafür geeignet. Er wollte aber wissen, wer sich da wie und warum das Bein gebrochen hatte. Denn er würde den Patienten wiedersehen, nachdem das Bein operiert war. Und es passierte immer wieder, dass er mögliche Spätfolgen, auch wenn der Beinbruch nach Jahren längst vergessen war, richtig erkannte und deutete. Und manchmal konnte er das, durch weit vorausschauende Maßnahmen, auch verhindern.

So war es auch diesmal, dass er sich so gut es ging über das Virus informierte, nachdem er eben aus den Nachrichten in Erfahrung gebracht hatte, dass die ersten Infizierten und nicht nur Chinesen jetzt auch in Europa aufgetaucht waren. Er hatte im Internet recherchiert, und Gespräche mit ehemaligen holländischen Kollegen geführt, über die er direkt in Kontakt zu europäischen Ärzten in China gekommen war. Um herauszufinden, was es mit dem Virus auf sich hatte, und den Krankheitsverlauf, den es auslöste, wie alles Wissenswerte, was es da sonst drum herum gab.

„Die sagen nicht für über eine Milliarden Chinesen alles für Chinese New Year ab oder sperren die Fabriken landesweit für Wochen, und alle Schulen. Die können sich das gar nicht leisten, das ist nicht wie bei uns. Die Leute haben keine Kurzarbeit oder drei Monate Kündigungsfrist und auch keine Arbeitslosenversicherung. Die sind alle verschuldet bis über beide Ohren für ihre Wohnung und das Auto. Die können sich schon im Normalfall kaum leisten, mal mehr als eine Woche krank zu sein. So etwas wie Krankengeld gibt es dort für die meisten nicht. Da ist sicher viel mehr dran an der Sache. Da müssen wirklich viel mehr Menschen gestorben sein, als „offiziell genannt“, hatte auch Peter Theis beigepflichtet, als der ihn gefragt hatte, wie er darüber dachte, aus seinen Erfahrungen im täglichen Geschäftsumgang mit seinen chinesischen Kollegen.

Das war auch Theisens Überzeugung gewesen, nach dem, was er in dieser kurzen Zeit herausgefunden hatte, und die Rückschlüsse, die er daraus für sich und seine Umgebung zog. Deshalb war er an diesem 31. Januar ohne Ankündigung zur allwöchentlichen Gemeinderatssitzung im Rathaus von Kratstein erschienen, wo er aufgrund der Dringlichkeit gebeten hatte, mit ihnen dieses Thema besprechen zu dürfen. Da der Hermann, der Bürgermeister, ein wirklich sehr guter Freund von ihm war, der ihn als Arzt ganz besonders schätzte, war das keine Frage, und sie hatten sich fast bis Mitternacht über die Sachlage beraten.

Theis hatte ihnen kurz erklärt, dass dieses jetzige Corona Virus eine weitere Mutation des bekannten SARS- Virus war, von denen es mittlerweile wohl schon einige Arten gab, und dass die Ansteckungsrate sehr hoch war. Anscheinend weil sich erstens das Virus sehr lange im Körper, schätzungsweise hauptsächlich im Mund- beziehungsweise Rachenraum, halten konnte. Und zweitens, weil das Virus, wie eigentlich von den anderen Arten bekannt, dem Immunsystem nicht so gefährlich wurde wie zum Beispiel Ebola. Wodurch sich Krankheitssymptome wenn überhaupt, dann oft erst in bis zu zehn Tagen nach der Infektion zeigten. Dadurch rannten dann eben so viele Menschen mit dem Virus herum, ohne es zu wissen, und steckten extrem viele andere an. Warum es aber bei einer doch recht beachtlichen Anzahl von Infizierten zu einem derart schweren Krankheitsverlauf bis zum völligen Lungenversagen kam, das wusste auch er noch nicht so ganz. Klar war aber, dass es im Wesentlichen drei unterschiedliche Arten des Ablaufs nach der Infektion gab. Bei dem größten Teil der Infizierten, und dazu gehörten Gott sei Dank anscheinend auch Kinder und Jugendliche, kam es zu keinerlei Anzeichen einer Krankheit, oder nur sehr geringen Symptomen. Bei der zweiten Gruppe kam es zu einem grippeähnlichen Verlauf mit Husten und Fieber, teilweise sehr hoch, was den Erkrankten für einige Wochen wie bei einer echten Influenza, vor allem durch die infizierten Lungen, ganz schön zusetze. Bei der dritten, mit circa zehn Prozent glücklicherweise kleinsten Gruppe, befielen die Viren offensichtlich die Lunge so großflächig, dass die Patienten intensiv mit Sauerstoff und oder künstlicher Beatmung versorgt werden mussten. Dabei war leider doch mit einer hohen Sterbewahrscheinlichkeit bis zu zwanzig oder vielleicht sogar bis zu fünfzig Prozent zu rechnen.

Was Theis aber aus all dem klar erkannte, und deshalb hatte er eben den Gemeinderat aufgesucht, war, dass wie auch die spärlichen Zahlen und Statistiken zeigten, Menschen mit einem schwächeren Immunsystem wie bei jeder Virusinfektion für einen schwereren Krankheitsverlauf bis zum Tod besonders gefährdet waren. Doch ganz egal ob, wann, und wie heftig das mit der Infektion bis nach Kratstein kam: Man konnte erstens nicht genügend Schutzmaterial für die Einhaltung von Hygienemaßnahmen vorrätig haben. Wie Theis herausgefunden hatte, waren Schutzmasken und insbesondere die höherer Schutzklassen, da zum größten Teil aus Asien und vor allem aus China importiert, ohnehin schon total vergriffen. Und zweitens mussten sie in Kratstein einen Plan ausarbeiten, wie man die Bewohner und das Pflegepersonal des Altenheims vor jeglicher möglichen Infektionsquelle schützen konnte. Denn, wie Theis dem Gemeinderat doch ziemlich eindrücklich darstellte, wäre, wenn das Virus einmal ins Altenheim käme, ein Massensterben dort vorprogrammiert, sowie die weitere Ausbreitung über die Pflegehelfer im gesamten Gemeindegebiet nicht mehr zu verhindern. Weil ganz egal wie vertrauenswürdig die Zahlen aus China und aus anderen asiatischen Ländern waren, irgendwas um die achtzig Prozent aller Todesfälle betraf Menschen, die gut über siebzig Jahre alt waren. Zudem war es erwiesen, dass Menschen mit Vorerkrankungen wie Diabetes, Adipositas, Bluthochdruck und Herzlungenkrankheiten, weit überdurchschnittlich gefährdet waren, durch das Virus ernsthaft zu erkranken.

Das hatten dann doch alle verstanden, und weil sie Theis schon als Arzt sehr schätzen gelernt hatten, vertrauten sie ihm auch in dieser Sache. Es wurden fast vierzigtausend Euro für Mundschutz, Schutzkittel, Handschuhe und Desinfektionsmittel aller Art freigegeben. Theis bestellte noch am Samstag nach Absprache mit allen anderen Ärzten der Gemeinde und mit Elena alles bei einschlägig bekannten Firmen. Nicht ohne jedoch am Montag durch Gemeindebedienstete sicherzustellen, dass die Sachen auch wirklich, mit schriftlichen Zusagen für sofortige Lieferungen, so rasch wie möglich nach Kratstein geliefert wurden.

Das Zweite war natürlich schon etwas schwieriger, nämlich einen detaillierten Plan auszuarbeiten, wie man welche der älteren Menschen, und diejenigen durch die besagten Vorerkrankungen Gefährdeten, besser schützen könnte, und wie man das mit ihnen und allen anderen Betroffenen in der Gemeinde kommunizieren sollte. Zum Glück war das Altenheim, das auch die stationäre Pflege im gesamten Gemeindegebiet organisierte, im Besitz der Gemeinde. Außerdem war es natürlich von Vorteil, dass die Einrichtung, wie die Gemeinde selbst, finanziell gut aufgestellt war. Will heißen, man hatte nicht nur keine größeren Schulden, sondern verfügte über, wenn auch bescheidene, Rücklagen. Außerdem wurde die Altenpflege durch Elena und Dora seit Jahren bestens geleitet, wodurch das Pflegepersonal insgesamt eine gut eingespielte Mannschaft ohne große Fluktuation war. All das machte sich jetzt natürlich besonders bezahlt, als sie mit Theis und den anderen vier Ärzten der Gemeinde ihren Plan ausarbeiteten. Im wesentlichen bestand der darin, dass das Personal in zwei Hälften aufgeteilt wurde. Wovon die eine Hälfte nach Start des Projekts für zehn Wochen im vierundzwanzig Stunden Rhythmus im Heim arbeitete und auch dort übernachtete, also das Haus wie in Quarantäne nicht verließ. Während die andere Hälfte sich um deren Familien beziehungsweise Kinder kümmerten, wenn gewünscht und notwendig, weil keine Oma, Schwester oder andere Vertrauensperson dafür zur Verfügung stand. Dafür bekamen die, die zu Hause blieben, nur siebzig Prozent ihres Lohns. In begründeten Härtefällen konnte die Gemeinde Hilfe darüber hinaus gewähren. Die anderen, die vierundzwanzig Stunden im Heim blieben, erhielten hundertfünfzig Prozent ihres Gehalts. Theis hatte über Exkollegen in Holland und Deutschland bereits fünfhundert CoV-2-Testsets organisiert. So konnte die zweite Hälfte der Pflegemannschaft, die nach zehn Wochen zum Einsatz kommen sollte, vorher getestet und befundet werden. Zusätzlich wurden zwölf Freiwillige aus der Gemeinde als Aushilfen bestimmt und dafür entschädigt, dass sie sich als solche vier Wochen vor dem fälligen Wechsel testen ließen, um sich dann freiwillig auch in Quarantäne zu begeben. Mit dem Ziel, dass sie für diejenigen eingesetzt werden konnten, die aus der zweiten Mannschaft infiziert und ansteckend waren. Dr. Bungrat hatte mit einem befreundeten Virologen errechnet, dass das ausreichend sein sollte. Denn entweder es waren nur einige wenige infiziert und so noch nicht immun und ansteckend, oder aber die Infektion war in Kratstein bis dahin auch schon so weit verbreitet, dass dann in der Zwischenzeit genug Infizierte schon wieder gesund und immun wären. Sollte die Infektionswelle sich gerade zum Zeitpunkt des geplanten Wechsels im Hochlauf befinden, würde sich das Szenario um zwei Wochen verschieben, bis man Gewissheit hatte, dass genügend nicht ansteckendes Pflegepersonal für den Wechsel zur Verfügung stand. Versorgung und Essen für das Heim wurde von der Gemeinde bereitgestellt. Der Kirchenwirt und das Gasthaus Meinert unterstützten bei der Essensvorbereitung und Zustellung. Dr. Theis van Kieft übernahm die Schulung und Fürsorge für die Hygienemaßnahmen, auch zur Absicherung der bereitgestellten Lieferungen und Produkte bei der Übergabe beziehungsweise Übernahme an den Quarantäneschranken.

Schwieriger gestaltete sich natürlich die Absicherung der gefährdeten Menschen, die sich zu Hause aufhielten. Denen konnte man nur die freiwillige Quarantäne zu Hause anbieten sowie die Sicherstellung ihrer Versorgung durch entsprechende Helfer, die sich in der Gemeinde dafür zur Verfügung stellen wollten. Denn nur wer sich zu häuslicher Quarantäne verpflichtete, konnte auch vom ambulanten Pflegedienst, der sich ebenfalls entweder im Seniorenzentrum oder im abgeschlossenen Haushalt der zu Pflegenden aufhielt, versorgt werden.

Natürlich war den Gemeinderäten nicht wohl beim Beschluss des Maßnahmenpakets zwei Tage später, wofür immerhin vorsorglich ein Kredit für über hunderttausend Euro aufgenommen wurde. Nachdem ihnen alle fünf Ärzte aber in sonst total ungewohnter Einigkeit erklärten, dass das die einzig wirksame Strategie war, und das nur jetzt, solange eine Infektion in der Gemeinde ausgeschlossen werden konnte, stimmten sie letztlich einstimmig alle zu. So fand am Freitag, den 10. Februar, in der Kirche von Kratstein, wofür der Pfarrer, der bei der letzten Gemeinderatssitzung ebenfalls eingeladen worden war, seine Zustimmung gegeben hatte, die kurzfristig angekündigte Bürgerversammlung statt. Weil nur in der Kirche ausreichend Platz war für alle Interessenten der rund zehntausend Gemeindebewohner. Ganz modern hatte Alex, ein junger IT-Student und der Sohn eines alten Gemeinderatsmitglieds, auch eine Videokonferenz eingerichtet. Sodass alle, die nicht kommen konnten oder wollten, sich live oder unter der Internetadresse der Gemeinde auch später, diese Bürgerversammlung ansehen konnten. Er richtete dann auch eine entsprechende Hotline und eine Webseite für alle erfassten Gemeindebewohner ein. Natürlich gab es Tausende Fragen und Einwände, wie das immer der Fall war, wenn etwas anders als bisher gemacht wurde. Anderseits waren die Leute aber auch froh und dankbar, dass sich jemand Gedanken um sie und ihre Sicherheit gemacht hatte. Wichtig war nur, dass der Gemeinderat geschlossen hinter diesen Beschlüssen stand, weil deren Oberhaupt, Hermann Jost, als Hauptverantwortlicher, seit über einem Jahrzehnt, mit über siebzig Prozent Stimmenanteil als Bürgermeister sehr geschätzt war. Was bei Theis van Kieft nur für einen Teil der Bevölkerung zutraf, weil er ihnen zu fremd und zu forsch war, noch dazu mit seiner russischen, äußerst energetischen Frau. Aber auch hier half letztlich die einheitliche Geschlossenheit aller Ärzte im Gemeindegebiet, die alle Gemeindebewohner dann auch noch darüber aufklärten, wie sie sich die medizinische Betreuung im Infektionsnotfall aufteilen würden, um sicherzustellen, dass jeder versorgt wäre, ohne dass die Geschützten angesteckt werden konnten.

Von den unzähligen Einwänden betrafen die meisten die Diskriminierung der Alten und Kranken in der Gemeinde durch die Isolierung von den anderen Bewohnern Kratsteins. Aber Dr. Bungrat erklärte es eindringlich, dass das nichts mit einer Diskriminierung bezüglich des Alters zu tun hatte, sondern die einzige Möglichkeit wäre, gefährdete Personen zu schützen. Denn es war eben eine Frage der Funktionsfähigkeit des Immunsystems und nicht des Alters, ob einem das Virus gefährlich werden konnte. Andererseits offenbarte die Tatsache, dass im Altenheim jeder der Bewohner im Schnitt sieben, teils starke Medikamente, pro Tag zu sich nahm, den insgesamt äußerst gefährdeten Gesundheitszustand der meisten Bewohner dort. Gerne könnten sich diejenigen älteren Mitbewohner, die zu Hause wohnten, sich bei seinen Kollegen oder ihm beraten lassen, ob bei ihrem Gesundheitszustand eine freiwillige Quarantäne ratsam wäre. Oder ob ihr Immunsystem durch viele überstandene Grippeinfektionen oder -Impfungen nicht vielleicht besser als von so manch jungem Menschen war, wodurch sie getrost dem möglichen Angriff des Virus durch alltägliche Kontakte, wie bisher in der Grippezeit, entgegensehen könnten.

Natürlich passten die Beschlüsse nicht allen. Viele hielten sie für total überzogen, als sie noch in Fahrgemeinschaften am Samstag nach Zarg pilgerten, um endlich wieder den Beginn der Fußballsaison live im Stadion mitzuerleben. Zwei junge Pflegehelferinnen kündigten, weil sie die Maßnahmen nicht mittragen wollten. Sechs Familien nahmen ihre verwandten Bewohner aus dem Heim und dem ambulanten Pflegedienst, und brachten sie in den nächstgelegenen Einrichtungen anderswo unter. Elena und Dora hatten ihre Pfleger und die Bewohner sowie deren Angehörige für den Tag X vorbereitet. Sie hatten genügend Notbetten organisiert für all diejenigen, die dann im Heim schlafen mussten. Glücklicherweise hatten sie einen großen Garten, sodass die Bewohner genügend Platz hatten, sich im Freien bewegen zu können. Es wurde eine Stelle am Bach ausgewählt, der als sicherer Begegnungsort für die Zeit der Quarantäne eingerichtet werden sollte. Wo sich, durch den Bach getrennt, Bewohner und Personal im Freien, in sicherer Entfernung voneinander, mit ihren Angehörigen treffen und sehen konnten, um sich über den Bach hinweg miteinander zu unterhalten. Es wurden genügend Computer und Bildschirme für bevorstehende Skype Treffen organisiert und eingerichtet. Theis war rund um die Uhr mit Vorbereitungen aller Art und der Beobachtung der Situation im Internet und allen verfügbaren Quellen beschäftigt.

Am 27. Februar fuhr Peter nach Kratstein, um Dora, Herbert und die Kinder zu besuchen. Zwei Stunden, bevor er ankam, wurde von den Ärzten und dem Bürgermeister die Reißleine gezogen und der geplante Notfallplan für Covid 19 ins Leben gerufen. Peter verbrachte das Wochenende mit Herbert und den Kindern. Am Samstagabend trafen sie sich im Gasthof Meinert mit Hermann und dessen Frau Sigrid, die recht müde wirkten. Im Laufe des Abends taute die Stimmung aber auf. Alle prosteten sich, und gedanklich den nicht anwesenden Freunden und im Besonderen ihren Frauen, zu, denn sie waren sich alles sicher, etwas Gutes unternommen zu haben. Vor allem aber freuten sie sich, dass sie dabei einen so starken Zusammenhalt in der Gemeinde hatten. Peter traf Dora am Sonntag nur für zehn Minuten am Bach. Sie war müde, weil sie natürlich wenig geschlafen hatte. Sie hatte ihr Gästebett in ihrem Büro aufgeschlagen. Sie weinte, als sie sich von Herbert und den Kindern am Sonntagnachmittag verabschiedete. Herbert brachte dann die Mädchen zu Hedwig, einer der Pflegerinnen vom Heim, die zur zweiten Schicht gehörte. Dort bezogen sie für die nächsten paar Tage eines der Kinderzimmer, das ihnen Hedwigs Tochter überließ. Sie waren gar nicht traurig, weil das für sie ein Riesenabenteuer war. Herbert musste am Sonntag zur Spätschicht ran.

Peter ahnte noch nicht, dass dies das letzte Mal für sehr lange Zeit war, dass er sie alle sehen würde. Theis van Kieft betrank sich an diesem Sonntagabend ziemlich heftig mit seinem Freund, dem Bürgermeister Hermann List, in dessen wunderbarer Kellerbar. Hermann hatte natürlich schon Bedenken, ob sie später nicht mal von den Bewohnern für ihren ziemlich radikalen Alleingang mit Schimpf und Schande ausgepeitscht oder sogar verklagt würden, weil sich alles ganz anders entwickeln oder herausstellen würde. Aber Theis beruhigte ihn, dass das ganz sicher keine falsche oder schlechte Taktik war, sondern Teil einer Strategie, eine bevorstehende Epidemie bestmöglich zu überstehen.

„Und was machen wir mit den anderen, wenn das Virus uns in der Gemeinde befällt?“, fragte Hermann.

„Na, am besten gesund bleiben“, antwortete Theis nachdenklich.

„Und hast du dafür auch schon eine Taktik, wie wir das anstellen sollen, Herr Doktor?“

„Da lass ich mir schon noch ein paar taktische Maßnahmen einfallen, mach dir keine Sorgen. Aber die Strategie musst auf Dauer durchhalten können. – Und da hilft nur, so gesund wie möglich sein und bleiben. Weil die taktischen Spielchen, die die Politiker und die Leute da jetzt mit allen möglichen Maßnahmen treiben? Das ist immer nur die gleiche alte Geschichte: Duschen ohne Nasswerden. Und du weißt, davon halt ich nix“, antwortete Theis zum würdigen Abschluss, und dann betranken sie sich ordentlich.

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