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Die Babysitterin

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Das Reihenhaus im Ahornweg strahlte den Charme der 60er Jahre aus. Mit acht Metern wies es eine deutlich größere Fassadenbreite auf als die heutzutage gebauten Reihenhäuser, von denen manche mit viereinhalb auskommen müssen.

Britta verschaffte sich einen ersten Eindruck, ließ ihren Blick an der Fassade entlang gleiten. Im Erdgeschoss wich neben der Küche – sie war sich der Nutzung dieses Vorbaus wegen des Lüftungsgitters in der Wand sicher – die Garage zurück, wodurch sich am Ende der mit sandfarbenen Verbundsteinen gepflasterten Einfahrt eine Art Loggia ergab.

Sie würde hier gleich Zuflucht nehmen vor dem Nieselregen, aber vorher wollte sie ihre Erkundung abschließen.

Der Hauseingang in dieser Loggia war wie auch alle Fenster neu. Weißer Kunststoff, Isolierglas. Über die ganze Hausbreite spannte sich das Wohnzimmer, wie Britta mit einem Blick auf das Nachbarhaus feststellte. Bei ‚ihrem‘ Haus war davor der Balkon auf dem Küchendach zum Wintergarten ausgebaut.

Sie drehte sich um, schaute die Straße hinunter. Auf der Hauptstraße könnte sie in jede der beiden Richtungen schnell verschwinden, wenn sie nach Beendigung ihres Jobs das Haus verlassen würde. Der Blick war nicht atemberaubend, aber der sanft ansteigende Hang hinter der Talsohle vermittelte trotz des schmuddeligen Herbstwetters mit seinem noch anhaltenden Grün ein Gefühl der Geborgenheit.

»Keine Weite, in der man sich verloren vorkommt«, überlegte Britta, »sondern ein Horizont, der einem Orientierung gibt.«

Mit ihren vierzehn Jahren hatte sie sich noch nicht selbst gefunden, ihr Leben noch nicht geplant. Ihr Äußeres erweckte zwar den Anschein einer eher dunklen Zukunft, aber das war nicht endgültig. Sie experimentierte noch.

Britta gab sich einen Ruck und schob ihr Fahrrad die Einfahrt hinauf und lehnte es an die Außenwand der Küche. Sie klingelte.

Das Kleid sah gut an ihr aus. Das knöchellange Schwarz ließ die Hausfrau schlanker erscheinen, als sie wohl war. Der natürliche Graustich, der sich mit der Brauntönung ihres Haares mischte, stand ihr gut, verlieh ihr aber ein übertrieben strenges Aussehen.

»Guten Abend, du bist wohl Britta? Komm rein!«

Britta schenkte ihrer Arbeitgeberin für diesen Abend ein Lächeln und streckte ihr die Hand hin. Sie fühlte sich gleich darauf ins Haus gezogen.

Ihr mit gesenktem Kopf vorgebrachtes »Guten Abend, Frau Häusler« kam zögerlich, klang schüchtern. Doch war es das auch? Britta hatte sich angewöhnt, zurückhaltend zu wirken, wenn sie sich davon einen Vorteil versprach. Sie hatte sich auch jetzt nicht verrechnet, Frau Häusler schien verunsichert. Brittas Lächeln und ihre gespielte Kindlichkeit kontrastierten mit ihrer Aufmachung.

Ihr kurzes, schwarzes Haar war durchzogen von blutroten Strähnen, sie hatte einen Lippenstift im gleichen Rot aufgetragen. Das stahlmatte Augenbrauenpiercing gab ihrem schmalen Gesicht einen düsteren Anschein, der durch die nietenbesetzte Lederjacke über dem Top verstärkt wurde. Ihre Jeans mit den aufgeschnittenen Knien und ihre Segeltuchschuhe setzten das Schwarz bis zum Boden fort. Einzig ihre viereckige Umhängetasche in beiger Leinenoptik stand der Erwartung entgegen, Britta sei zu einer schwarzen Messe unterwegs.

Ein verhaltener Pfiff durch die Zähne ließ sie herumfahren. Der Hausherr war aus der Küche in die kleine Diele getreten, betrachtete das Mädchen von oben bis unten mit unverhohlener Neugierde. Erst, als seine Frau ihn mit zusammengekniffenen Brauen anfunkelte, sah er Britta in die Augen und reichte ihr die Hand.

Die restlichen Minuten bis zur Abfahrt der Häuslers waren angefüllt mit der Vorstellung der Zwillinge und des Zweijährigen. Frau Häusler hatte auf dem ersten Treppenabsatz die Tür zum Zimmer der beiden schlafenden Säuglinge einen Spaltbreit geöffnet, streckte über Britta ihren Kopf ins Zimmer. Thomas, der Zweijährige, begleitete seine Mutter und Britta die zweite Treppe des Splitlevelhauses hinauf ins Wohnzimmer. Nach zwei, drei Stufen strahlte er seine Babysitterin von unten herauf an, legte seine Hand in ihre und hielt sie fest. Britta schluckte, als sie seinen seltsamen Gang bemerkte. Brauchte er sie als Stütze, ihre Hand als Gehhilfe? Er tat ihr Leid.

Im Wohnzimmer stand ein Reisekinderbett.

»Thomas schläft nur ein, wenn jemand bei ihm ist und wenn Licht brennt. Er hat verstanden, dass du heute auf ihn aufpasst, er hat den ganzen Nachmittag neugierig gewartet. Wenn du ihm eine Geschichte vorliest, ist er eingeschlafen, bevor du ans Ende kommst.«

Sie drückte Britta ein Märchenbuch in die Hand. Der papierne Einband zeigte in Braun- und Grautönen orientalische Motive.

Na prima, Hauffs Märchen! Davor hatte ich mich noch als Zehnjährige gefürchtet. Dunkel erinnerte sie sich. Das hier musste der erste der drei Bände sein, der düsterste.

Laut sagte sie: »Da werden Kindheitserinnerungen wach. Ich hab´ das früher selbst gelesen. Da war ich aber schon älter.« Sie lachte Frau Häusler an.

»Wir müssen los«, tönte es von unten. Herrn Häuslers Stimme vibrierte vor Ungeduld.

»Bin schon unten!«

Frau Häusler war aus dem Wohnzimmer getreten, hatte sich über das Treppengeländer gebeugt. Gleich darauf stand sie wieder vor Britta.

»Also, wenn dir die Limonade hier nicht reicht …« Ihre Hand zeigte auf den Teewagen mit der Flasche und dem Glas neben der vollen Gebäckschale. »… dann geh runter in die Küche. Im Kühlschrank ist mehr. Die Fläschchen der Kleinen stehen neben den Flaschenwärmern auf der Arbeitsplatte vorm Fenster. Wenn du die Zwerge wickeln musst, findest du alles im Wickeltisch in den Kinderzimmern.«

Britta fand, ihr Blick läge etwas zu lange auf ihr. Stand hier Misstrauen Pate? Oder doch nur Sorge?

»Meinst du, du kommst zurecht?«

»Na klar, Frau Häusler. Es ist ja nicht das erste Mal.«

»Ach, fast hätte ich es vergessen. Unten im Haus wohnt mein Vater. Aber dem wirst du kaum begegnen.«

Kurz bevor die Haustür ins Schloss fiel, verstand Britta noch ein paar Brocken aus dem Gespräch der Häuslers. Der letzte Satz gab ihr zu denken.

»Ich hab´ so ein ungutes Gefühl.«

Thomas hörte die Geschichte von der abgehauenen Hand ohne Gefühlsregung. Stumm lauschte er Brittas lebhafter Stimme, die dem in Konstantinopel geborenen Zaleukos neues Leben einhauchte, indem sie zu den ihm angedichteten Episoden einschließlich des ihm aufgezwungenen Mordes und der als Strafe folgenden Amputation stets den angemessenen Tonfall fand. Wie von Frau Häusler vorhergesagt, schlief er ein, bevor die Erzählung endete.

Britta las den finsteren Schluss der vielschichtigen Geschichte um Liebe, Untreue und Rache leise für sich. Das dauerte lange, immer wieder fielen ihr die Augen zu, immer wieder nickte sie ein.

Britta beugte sich zur Seite, zog den MP3-Player aus ihrer Umhängetasche, wickelte das Kabel der Ohrhörer ab und stopfte sich die weißen Silikonpolster in die Ohren. Als sie ersten Takte der Puppe von Rammstein hörte, erhob sie sich zu ihrem Erkundungszug durchs Haus.

Sie begann mit dem Bücherregal, das eine Schmalseite des Wohnzimmers füllte. Bram Stokers »Drakula« und Mary Shelleys »Frankenstein or The Modern Prometheus«, letzterer wohl in der englischen Originalfassung, ließen sie kalt, aber die scheinbar komplette Sammlung der Werke Stephen Kings begeisterte sie. Sie griff nach dem »Friedhof der Kuscheltiere«, ihrem Lieblingsroman, las wahllos drei, vier Absätze und schob das Buch zurück. Auf dem Regalbrett darunter suchte sie, ob sie mit den zahlreichen Anatomiebänden etwas anfangen könnte. Eine morbide Faszination ging besonders von den detaillierten Zeichnungen aus.

Die beiden Kinderzimmer – Thomas hatte seines neben dem Wohnzimmer – untersuchte sie nur kurz. Der Überblick diente der Orientierung, falls sie von hier später wirklich etwas benötigen sollte.

Das Schlafzimmer war interessanter. Die Herrenbekleidung war für die Vierzehnjährige nicht wichtig. Aber der Schrank von Frau Häusler faszinierte sie, besonders die Spitzenwäsche hatte es ihr angetan.

Sie ging die Treppen ganz hinab, erreichte am Ende zwei Blechtüren, die zu Waschküche und Heizraum führten. Die Tür nach rechts war verschlossen. Um ihre Neugierde wenigstens im Ansatz zu befriedigen, klappte Britta den kleinen Wandspiegel daneben zur Seite, der zwei Fingerbreit von der Tapete abstand. Dahinter zeigte sich ihr eine Kunststoffklappe, an der sie aber kein weiteres Interesse fand. Sie kehrte um.

In der Küche entdeckte sie auf den ersten Blick die Fläschchen, aber die sollte sie den Zwillingen und Thomas ja nur geben, wenn sie aufwachten und Hunger hatten. Sie schaute in den Kühlschrank. Auf die Cola hatte sie mehr Appetit als auf die Zitronenlimonade, die oben auf dem Teewagen stand. Sie nahm die Flasche und ging wieder hoch.

Auf halber Höhe betrat sie nochmals das Schlafzimmer. Sie zog sich aus und legte ihre Kleidung auf das Ehebett. Aus Frau Häuslers Schrank griff sie mehrere von deren Spitzendessous, stellte sich vor die mittlere Spiegeltüre und hielt die Teile vor sich. Sie entschied sich für die schwarze Garnitur mit den Strapsen, nachdem ein weiterer Blick in den Schrank ihr auch die Strümpfe gezeigt hatte, die ihr bis über die Knie reichten. Derart in schwarze Spitze gekleidet, schlüpfte Britta in ihre Schuhe, drehte sich vor dem Spiegel und betrachtete sich zufrieden von allen Seiten.

Danach wollte sie wieder ins Wohnzimmer und auf ihrem Tablet-PC YouTube-Videos schauen. Besonders begeisterten sie die von Überwachungskameras, vor allem jene, in denen Angestellte oder Babysitter vorgeführt wurden, wie sie ihre Arbeitgeber beklauten oder Kleinkinder misshandelten. Sie wusste, dass sie dafür beinahe ewig Zeit hatte, bevor die Häuslers zurückkehrten, und möglichst lange so angezogen zu sein, erregte sie.

Sie beschleunigte ihren Schritt, als sie Thomas´ unruhiges Quengeln hörte. Auf der zweiten Stufe machte sie kehrt. Mit dem Fläschchen aus der Küche rannte sie die Treppen wieder hinauf. Ans Warmmachen hatte sie zwar gedacht, aber dann jammerte der Junge noch länger, und sie wollte das Balg doch schnellstmöglich beruhigt haben.

Britta fluchte. Verfluchte den Zweijährigen. Zwar konnte er nichts für das Ungemach, das auf Britta wartete, aber sie hatte es auszubaden und hatte wirklich keine Lust dazu. Schließlich war es nicht ihre Brut! Oder doch, für diesen einen Abend? Mit einem Fauchen betrat sie die Wohnstube ganz. Schon beim Öffnen der Türe hatte sie gerochen, dass Thomas nicht schrie, weil er Hunger hatte.

Britta hatte sich beruhigt. Mit festem Griff unter beide Achseln trug sie den Jungen aus dem Klappbettchen in sein Zimmer nebenan. Auch hier stand eine Wickelkommode. Sie legte ihn auf die abwaschbare Matratze, kramte hinter den beiden Türen darunter nach Einwegwindel, Puder und Babyöl und legte alles griffbereit neben den Schreihals.

Panisch warf sie die Strampelhose zur Seite. Sie hatte Thomas gewickelt, die alte Windel im Windeleimer entsorgt, ihn feucht abgewischt, eingeölt und gepudert. Seinen Strampler hatte sie ihm bis zu den Knien herabgezogen gehabt und erst beim Anziehen festgestellt, dass auch der gewechselt werden musste. Frische Kleidung hatte sie in der Wickelkommode genug gefunden. Nun stand sie vor dem Kleinkind und hyperventilierte. Ihr Herz schlug bis zum Hals, ihren Herzschlag spürte sie nicht, so raste ihr Puls. Sie biss sich fest auf die Lippe, konnte ihren Schrei auf die Weise gerade noch unterdrücken.

Thomas hatte keine Füße! Seine Beinchen endeten in zwei haarigen Auswüchsen, die sich ihrerseits in schwarze Hufe gabelten. Der Satyr prallte in ihr Gedächtnis, der Flöte spielende Waldgeist mit Bocksfüßen.

Irgendwann hatte sich Britta wieder gefasst, die Missbildung des Kleinen erregte ihr Mitleid. Sie stieß sich von der Wand ab, die ihr die Schrecksekunden lang Halt geboten hatte. Sie zog ihn fertig an, nahm ihn auf den Arm, streichelte ihn und trug ihn zum Kinderbettchen. Behutsam legte sie ihn hinein, reichte ihm seinen Schnuller, den er sofort in den Mund steckte. Er strahlte Britta an. Nach mehrmaligem Schmatzen war er eingeschlafen.

Britta wischte sich mit beiden Handrücken die Tränen ab. Es reichte nicht, erst ein Papiertaschentuch aus ihrer Tasche trocknete sie ganz. Während sie rieb, wuchs in ihr ein furchtbarer Verdacht. Waren die Zwillinge mit der gleichen Missbildung gezeichnet?

Sie pirschte die Treppe hinab, öffnete die Türe ein wenig. Das Licht aus dem Treppenhaus schien über sie hinweg, erhellte das Kinderzimmer gerade so, dass sie die beiden Säuglinge in ihren Bettchen liegen sah. Sie schlich hin, beugte sich nacheinander bei beiden über die seitlichen Gitter. Sie nahm allen Mut zusammen und tastete die Beinchen bis zu den Füßen ab. Sie redete sich ein, dass sie die Missgestaltung ja nicht sehen musste. Das Befühlen barg etwas Anonymisierendes, Beruhigendes. Und Britta war beruhigt, in den Strampelhöschen ertastete sie kleine, normal geformte Füßchen mit je einer großen und mehreren kleinen Zehen, deren Zahl sie nur vermuten konnte, aber ihr stellten sich die Härchen an den Armen und im Nacken auf, wenn sie daran dachte, die Vermutung überprüfen zu wollen.

Sie richtete sich ruckartig auf, als sie ihr auffielen. Warum trugen die Säuglinge Handschuhe? Gestrickt, farblich abgestimmt auf ihre Strampelanzüge. Deshalb hatte sie sie vorher nicht bemerkt. Britta beugte sich nochmals in das erste Bettchen, ergriff das kleine Händchen – und hätte beinahe aufgeschrien vor Schreck und Schmerz. Etwas Spitzes hatte sie durch den kleinen Strickhandschuh gestochen oder gekratzt. Unwillkürlich steckte sie den Finger in den Mund. Er schmeckte salzig und nach Eisen. Blut! Sie fasste nach, tastete vom Ellbogen zum Ende, hielt den Atem an, tastete weiter, fühlte, wie das Ärmchen dünner wurde – und wie ein Hühnerfuß in drei nach vorn gerichteten Krallen und einer rückwärts wachsenden auslief. Die anderen Händchen zu erforschen, fehlte ihr der Mut.

Britta setzte sich auf die Treppe, stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen, ließ ihren Tränen freien Lauf. Die armen kleinen, missgestalteten Geschöpfe! Die arme Familie! Womit hatten sie das verdient? Wofür hatte Gott sie so hart bestraft? Gab es ihn wirklich, wenn er so etwas zuließ?

Britta wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte. Sie hatte ein Klicken oder Knacken vernommen, aber dass das Geräusch mit einem Kurzschluss einhergegangen war, der auch im Treppenhaus das Licht gelöscht hatte, bemerkte sie erst nach einer Weile. Im Haus herrschte Dunkelheit. Sie stand auf, stolperte über die Stufe, an die sie nicht mehr gedacht hatte. Der Griff ans Treppengeländer verhinderte ihren Sturz. Als sie sich nach oben tastete, schlich ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Sie schüttelte sich, fröstelte. Ihr fiel wieder ein, dass sie so gut wie nichts anhatte. Aber Licht war wichtiger. Sie schlang die Arme um ihre Schultern, vertrieb die Kälte durch leichte Schläge.

Schemenhaft erkannte sie das Kinderbettchen, die Couchgarnitur an der Wand. Sie setzte sich. Aus ihrer Tasche fingerte sie ihr Smartphone, schaltete es an und startete die Taschenlampen-App. Licht!

Aber ein schwacher Akku. Anstatt nach dem Netzteil und dem Ladekabel zu kramen, zog sie es vor, für Licht im Haus zu sorgen. Im Kellergeschoss hatte sie ja die Klappe hinter dem Spiegel entdeckt. Dahinter verbarg sich wahrscheinlich der Sicherungskasten.

Die Tür neben dem Kasten stand einen Spalt breit offen. Als Britta die Hauptsicherung eingeschaltet hatte, war im Treppenhaus, gleichzeitig auch hinter der Türe, das Licht angegangen. Sie schaltete ihr Smartphone aus, sie brauchte dessen Licht nicht mehr, und linste durch den Spalt. Eine holzvertäfelte Wand, dunkelroter Teppichboden, eine rustikale Deckenlampe. Was Britta sehen konnte, erinnerte an ein Hauswirtschafts- oder Bügelzimmer. Es herrschte Stille.

Sie hätte selbst nicht sagen können, was sie bewegte, die Tür aufzudrücken und den Raum zu betreten. Sie fühlte sich magisch angezogen. So, wie jemand mit Höhenangst nicht vermeiden kann, sich über die Kante zu lehnen und in die Tiefe zu spähen.

Der Raum war unspektakulär eingerichtet. Ein Hobbyraum der 60ger Jahre. Ein Schrank, Stühle, ein Tisch, auf dem zwei Päckchen mit Spielkarten lagen. An einer Wand eine Fototapete, die einen Wald zeigte, aus dessen Rand die Mauern einer Burgruine wuchsen. Am Ende der Tapete war nur noch Mauer, und so dauerte es eine Weile, bis Britta es entdeckte – das Loch in der wirklichen Wand. Eher ein Durchgang. Mit glatten Seiten und oben einem gemauerten Rundbogen.

Sie fühlte sich wie Alice im Wunderland, als sie gebückt den Torbogen durchschritt und im Halbdunkel dem Gang folgte. Irgendwann versperrte ihr Körper dem Licht aus dem Hobbyraum den Weg nach vorn. Ganz dunkel wurde es dennoch nicht, ein schwacher Schein blinkte ihr entgegen, füllte den Gang stroboskopartig mit einem diffusen Hellgrau.

»Jetzt muss nur noch das Kaninchen kommen!«

Brittas stummer Scherz war ein Ausdruck von Galgenhumor. Sie kam sich gewiss nicht vor wie eine Figur in Disneys sympathisch animierten Zeichentrickfilm, sondern eher wie in dem düsteren Film aus 2010 von Tim Burton. Irgendetwas ließ sie entgegen ihrem eigenen Streben nicht umkehren, zog sie immer weiter vorwärts. Das Licht wurde nicht heller.

Unerwartet weitete sich der Tunnel zu einer kleinen Halle. In der Mitte hing von der Decke eine flackernde Neonröhre unter einem blinden Reflektor. Die Röhre selbst war von einer Dreckschicht umhüllt, der Schein erlaubte gerade einmal, Umrisse zu erkennen. Als Britta zu dem hohen, langen Tisch in der Mitte trat, stieß sie an einen kleineren, der zur Seite auswich. Sie fasste nach. Es war eine Art Servierwagen, nur größer und aus Blech oder Edelstahl. Etwas darauf hatte bei dem Stoß geschabt. Offenbar Werkzeug. Sie fasste hin, tastete. Und schrie auf. Sie hatte sich geschnitten.

Ihr fiel das Smartphone wieder ein. Sie schaltete es ein, verzichtete auf die Taschenlampenfunktion. Für den Raum reichte die normale Displaybeleuchtung, auch wenn sie einen Rotstich aufwies, ein Tribut an den blutigen Bildausschnitt der zeitgenössischen Darstellung einer Hinrichtung mit dem Fallbeil.

Britta zuckte zusammen. In ihrem Zeigefinger klaffte ein Schnitt über die gesamte Länge des vorderen Gliedes, hervorgerufen durch den Griff in ein Skalpell, wie sie nun erkannte. Es war Teil eines Operationsbestecks, das auf dem nackten Blech des Wagens ausgebreitet lag. Sie entdeckte noch zwei Wagen, einen davon mit weiterem Operationswerkzeug, angefangen mit Skalpellen, über Zangen, Klistiere bis hin zu Knochensägen. Der letzte Wagen trug Flaschen mit Betäubungsmitteln, wie sie aus den Wattebäuschen daneben schloss, steril verpacktes Verbands- und Nähzeug und ein Knäuel blauer Operationshandschuhe.

Ihr wurde richtig kalt. Sie trat von den Blechwagen zurück, fuhr zusammen, brach in Tränen aus. Etwas hatte sie von hinten berührt. Hart, kantig. Sie schaute über ihre Schulter und stieß erleichtert die angehaltene Luft aus, sie war an die Tischkante gestoßen. Nach einem zweiten Blick schlug sie die Hände vors Gesicht. Für die unregelmäßigen, im roten Licht schwarz erscheinenden Flecken auf der Tischplatte gab es in diesem Ambiente nur eine Erklärung: Blut. Sie stand in einem Operationssaal, in Frankensteins Schreckenskammer.

Sie schluckte trocken, nahm den Rest ihres Mutes zusammen und hob die Augen. An den Wänden gaben die Lücken zwischen den wahrscheinlich blechernen Medizinschränken, wie aus den runden Kanten und Ecken zu schließen war, den Blick frei auf fünf angrenzende Räume. Nur einer hatte eine Türe.

Britta pirschte sich an den nächstliegenden heran, schlich über die Schwelle, stets darauf bedacht, möglichst kein Geräusch zu verursachen. Das fiel schwer, der Boden war übersät mit Scherben, medizinischem Besteck, Spritzen und einigem mehr. Ihr stockte der Atem, als sie vor dem Durchgang auf einem Haufen Unrat einen Finger liegen sah. Sie beugte sich zur Seite, würgte.

Sie kam sich plötzlich winzig vor, bereute, Frau Häuslers Reizwäsche angezogen zu haben. Die machte sie verletzlich, klein. In ihrer Jeans und der Lederjacke wäre sie nicht so schutzlos gewesen! Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Als ob das helfen könnte! Es funktionierte auch nicht, das Smartphone leuchtete die Umgebung nicht mehr aus. In Brittas Schluchzen lag Verzweiflung.

Sie zwang sich weiter.

Sie hielt das Licht auf den Boden. Der sah aus wie in der Halle, Unrat auf ehemals weißen Fliesen. Ein Lichtreflex ließ sie aufblicken, in Augenhöhe. Sie hob das Smartphone, presste vor Schreck die freie Hand auf den Mund. Vor ihr stand eine fast unbekleidete junge Frau, die sie mit einem Licht blendete. Britta erstarrte und beruhigte sich erst, als auch ihr Gegenüber sich nicht bewegte. Aus den Augenwinkeln betrachtete sie die Frau und brach in ein befreiendes Lachen aus. Ihr Spiegelbild sah ihr aus einem halbblinden deckenhohen Wandspiegel entgegen.

Sie leuchtete den Raum ringsum ab, hielt angewidert inne. Sie hob den freien Arm, stützte sich an einer Wand ab und beugte sich vornüber. Sie erbrach sich auf die Fliesen, entdeckte erst jetzt den Kinderarm, der dort auf einem Haufen Kehricht lag, und hetzte orientierungslos aus dem Raum. Der Anblick eines metallenen Tisches mit abgetrennten menschlichen und tierischen Gliedmaßen war für sie zu viel gewesen.

Als sie die Augen aufschlug, fand sich Britta ein einem leeren, fahl und flackernd ausgeleuchteten Zimmer wieder. Sie kauerte auf dem Boden, fror. Die Kälte kam von innen. Langsam stieg die Erinnerung in ihr hoch. Sie rief sich die Stationen des Abends ins Gedächtnis. Babysitting, die missgebildeten Gliedmaßen der Häusler-Kinder, der Hobbyraum, der Gang, die Operationsbestecke, amputierte, teils skelettierte Gliedmaßen. Und das alles in und unter einem Reihenhaus von gerade mal acht Metern Breite! Absurd!

Reiß dich zusammen! Du träumst. Wenn du willst, kannst du jederzeit aufwachen.

Aber wollte sie das überhaupt? Dieser Traum hatte ihr jetzt schon so viel Horror beschert wie all die Filme zusammen, für die sie im vergangenen Monat ihr Taschengeld und ihr kleines Einkommen aus dem Babysitten in die Kinos und Videotheken getragen hatte. Manche Nacht hatte sie die Horrorfilme unmittelbar vor dem Einschlafen geschaut, um sie in ihren Träumen fortzusetzen oder, wenn ihr das Ende nicht gefallen hatte, mit einem anderen Ausgang zu versehen.

Das hier war das Nonplusultra!

Britta stand auf, ballte ihre Hände zu Fäusten und stieß sie forsch mit einem wenn auch gehauchten, so dennoch kampfesmutigen »Ja!« vor ihrem Körper nach vorn. Sollten die Zombies doch kommen!

Sie beugte sich zum Boden, hob ihr Smartphone auf und schickte sich zur Erkundung der restlichen Räume an. Zwei blieben noch.

Mutig beugte sie sich durch den Eingang in den ersten. Wieder metallene Tische, beladen mit menschlichen und tierischen Torsi und Gliedmaßen. Innereien auf dem Boden. All das und auch der Kopf eines Jugendlichen konnten sie nun nicht mehr aus der Fassung bringen. Sie richtete sich auf und schritt zum letzten Raum.

Sie stieß die Tür auf und trat ein, den Blick dem Lichtschein ihres Smartphones auf den Bodenfliesen folgend. Im Raum erst blieb sie stehen, hob Smartphone und Blick, verharrte stocksteif. Eine Gestalt, groß wie ein Kind, starrte sie von der gegenüberliegenden Wand an. Beide schrien in gegenseitigem Erschrecken auf, Britta fiel das Smartphone aus der Hand, es landete mit dem Display nach unten. Dunkelheit, Schreie von allen Seiten. Flucht! Aber wohin? Den Ausgang hinter sich konnte Britta nicht sehen, sie stand sich selbst im Licht.

Sie griff nach dem rot umrandeten Rechteck auf dem Boden, leuchtete rundum in den Raum, hielt den Schreien stand. Missgestaltete Körper, angekettet an die Wände, allesamt durch Körperteile anderer Spezies entstellt, angenäht, angesetzt wie Prothesen.

Todesangst griff nach Brittas Herzen, hielt es in ihren Klauen eng umklammert, presste es zusammen.

Britta rannte, rannte auf das helle Viereck vor ihr zu, den rettenden Ausgang, den Weg aus diesem Albtraum, diesem Horrormärchen, das sie nun doch nicht mehr durchstehen wollte.

Ein Mann trat in das Viereck, kaum, dass sie zwei Schritte getan hatte. Er hatte die Tür von einem Nachbarzimmer aus aufgestoßen und eilte auf Britta zu. In einer Hand hielt er einen faustgroßen Wattebausch, in der anderen eine braune Flasche, deren Glasstöpsel fehlte. Britta flog ein Hauch von Chloroform entgegen. Sie prallten zusammen, der Wattebausch schnellte auf ihr Gesicht zu, verdeckte Nase und Mund. Britta versank in einer wohltuenden Schwärze.

Der Morgen graute, als Häuslers heimkehrten. Ein schlechtes Gewissen brauchten sie nicht zu haben, ihre Babysitterin hatte gewusst, dass es sehr spät werden könnte, und sie war einverstanden gewesen. Die Couch war bequem, und Frau Häusler hatte ihr zwei Wolldecken und ein frisch bezogenes Kopfkissen hingelegt gehabt.

Britta erhob sich von der Treppenstufe, auf der sie gewartet hatte, bis sie die Diele betraten.

»Na«, grüßte Frau Häusler, »war etwas Besonderes?«

Britta konnte nicht antworten. Damit es besser anheilen konnte, war ihr Wolfsmaul noch zugenäht.

***


»Die Babysitterin« war 2019 mein Beitrag zur Ausschreibung »Schubladengeschichten« und schaffte es aus 123 Einsendungen unter die 13 in Band 1 abgedruckten Preisträger.


© Cover: Verlag Textgemeinschaft, 2019

»Die Babysitterin« in: Schubladengeschichten, Anthologie. Verlag Textgemeinschaft, 07.12.2019

Carola Käpernick (Hrsg.): »Dieses Buch entstand durch einen Schreibwettbewerb. Diese Beiträge haben sich … als die besten herauskristallisiert.«

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