Читать книгу Siebenreich - Die letzten Scherben - Michael Kothe, Rudolf Widmann Georg - Страница 7
Kapitel 2. Julia
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Auf der anderen Seite der Morgenberge schleppte sich Julia vorwärts. Das Gebirge und den Wald hatte sie vor zwei Tagen verlassen. Sie fühlte sich schmutzig, war hungrig, ausgelaugt. Einfach fertig. Dazu kam, was sie von dieser Welt mitbekommen hatte, war der reinste Horror. Surreal, chaotisch. Zuletzt an diesem Vormittag. Auch jetzt, als die Abenddämmerung sich beruhigend über das Land legte, hatte die Angst sie immer noch im Griff. Die letzten Tage hatten einfach ihr Vorstellungsvermögen überstiegen.
Noch hatte sie gar nicht wahrgenommen, dass sie das Brachland längst hinter sich gelassen hatte und sich nun zwischen Stoppelfeldern dahin mühte. Ein paar Grillen zirpten, als wollten sie dem Sommer ein Abschiedsständchen geben. Als sie den Kopf hob, sah sie das Dorf. Ein paar Häuser nur, eine Mauer außen herum, ein hölzerner Wachtturm am Tor, aber immerhin ein Dorf. Sie riss sich zusammen, verfiel in Trab und eilte erleichtert dem Tor entgegen. Unwillkürlich musste sie über sich selbst lachen, als ihr auffiel, wie sie sogar in ihrer jetzigen Situation brav einen Fuß vor den anderen setzte, die Fußspitzen unbewusst gerade nach vorn gerichtet. Als Kind hatte man ihr eingetrichtert, sie solle auf einen ordentlichen Gang achten. Wenn schon diese Welt nicht funktionierte, wie sie sollte, wollte sie wenigstens ihr eigenes bisschen Ordnung aufrechterhalten!
Die Kerle waren zu viert.
»Seht mal dort! Jetzt rennt sie auch noch. Hat wohl unser Dorf entdeckt.«
»Die Frau ist nicht von hier. Schon auf die große Entfernung sieht sie anders aus.«
»Du hast Recht. Ihr Gang ist unsicher, aber doch anmutiger. Sehr erschöpft scheint sie mir.«
»Und sie ist besser angezogen. Wie die edlen Frauen in den Städten. Feinerer Stoff. Schaut, wie ihr Kleid im Wind flattert!«
Der Größte wandte sein Gesicht dem letzten Sprecher zu.
»Was weißt du schon von den Städten? Du bist doch nie dort gewesen.«
Dann sah er wieder nach draußen, verfolgte die Frau mit seinen Blicken.
»Ja, sie scheint wirklich anders als die Mägde, die sich uns hingeben oder sich zumindest nicht widersetzen. Ich habe Lust auf etwas Frisches, etwas Besonderes. Los jetzt, dann erwischen wir sie noch bei den Büschen vor dem Tor!«
Eilig kletterten die vier die Leitern des Wachtturms hinab und rannten nach draußen. Vor der Mauer schwenkten sie nach links und huschten gebückt zwischen den Büschen der Frau entgegen.
Julia lief ihnen direkt in die Arme. Matt und in einem viel zu dünnen Sommerkleid, dessen Risse ihren Betrachtern nun aus der Nähe reichlich bleiche Haut zeigten, schien sie ihnen das geborene Opfer. Sie hatte ihre Lage noch nicht durchschaut, als sie sie schon an sich drückten, sie begrapschten und sie unvermittelt die Hand des ältesten, des Anführers, zwischen ihren Schenkeln spürte. Ihr Herz raste, sie spürte einen Kloß im Hals und bekam ihn einfach nicht hinunter. Schützend presste sie die Hände über ihren Schoß.
Ihr Peiniger befahl dem jüngsten, oben wieder seinen Posten zu beziehen. Mit dem Zeigefinger auf den Lippen gebot er ihm Schweigen. Andernfalls ..., er fuhr mit ausgestreckten Fingern unterm Kinn von einer Seite zur anderen. Der Junge trollte sich. Die übrigen wussten, was zu tun war. Es war nicht das erste Mal. Zwei standen Schmiere, der dritte machte sich über das Opfer her. Abwechselnd, nacheinander. Nie hatte eine Frau oder ein Mädchen auch nur einen Ton über die Schmach verloren.
Der Anführer war nun mit ihr allein, sah, wie ihr Körper bebte. Mit dem Handrücken streichelte er ihre Wange. Er nahm sich Zeit, ihr das Kleid von der Schulter zu streifen. Der feine Stoff gefiel ihm, wie alle hier trug er selbst nur grob gewirktes Zeug. Ihre Blicke trafen sich und blieben aneinander hängen. Die Furcht in ihren Augen erregte ihn noch mehr, sie gab ihm das köstliche Gefühl von Überlegenheit. Nur ein Augenblick jedoch blieb ihm, seine Vorfreude auszukosten. Flammender Schmerz durchfuhr ihn und presste ihm die Luft aus der Lunge. Er krümmte sich, fiel auf die Knie. Beide Hände fuhren instinktiv in den Schritt, um einen weiteren Angriff ihres Knies abzuwehren, und in der falschen Hoffnung, den Schmerz wegdrücken zu können. Mit offenem Mund sah er überrascht zu ihr auf. Sein Unterbewusstsein weigerte sich zuzugeben, dass sie ihn angegriffen hatte. Immer noch unfähig, Luft zu holen, sah er ihr nach, wie sie flüchtete, schon hundert Schritte von ihm entfernt das Tor durcheilte. Eben noch hatte sie so erschöpft ausgesehen! Sie musste wohl ihre letzten Kräfte eingesetzt haben.
Ihr Angriff hatte sie noch begehrlicher gemacht. Als er wieder atmen konnte, ignorierte er den Schmerz und hastete ihr hinterher. Eilig rief er seine Kumpane zu sich. Sie holten auf, je weiter sie ins Dorf rannten, und weideten sich an ihrer Angst. Die paar Knechte und Mägde, an denen sie vorbeiliefen, hoben die Köpfe und sahen ihnen stumm nach. Niemand wollte sich mit ihnen anlegen. Die drei warfen sich gegenseitig aufmunternde Blicke zu, ihres Erfolges waren sie sich sicher: Gerade war die Frau in eine Koppel gerannt. Eine Sackgasse.
»So ein …«, fluchte der Anführer. Jäh sahen sie sich ihres Vergnügens beraubt, als ein lauter Befehl über den Dorfplatz hallte. Keiner hatte mehr daran gedacht, dass der Bauer penibel auf das Ende der Wachschicht achtete. Wenn er schon seine Knechte zum Wachdienst abstellen musste, gab es Feierabend für sie nach der Wache erst, wenn er sie entlassen hatte. Wutschnaubend und mit geballten Fäusten kehrten die drei um und trotteten ihrem Herrn entgegen.
Julia achtete nicht darauf, dass sie sich schon mehrere Fingernägel abgebrochen hatte. Sie beeilte sich, das Brett in der Wand des Unterstandes am Ende der Koppel ganz lose zu rütteln und zwängte sich durch die geschaffene Lücke. Auf der anderen Seite umrundete sie das Haus und überwand hastig den offenen Platz dahinter. Zwar erblickte sie einige Dorfbewohner, wagte aber nicht, sich ihnen anzuvertrauen, sie wollte sich nur verstecken. Für einen Augenblick verlor sie die Orientierung, und nachdem sie den Überblick wiedergewonnen hatte, wandte sie sich zwischen zwei der Häuser. Den Menschen, die sie sah und hörte, ging sie aus dem Weg. Ohne es bemerkt zu haben, gelangte sie zurück in die Nähe des Tores. Daneben entdeckte sie nun ein mögliches Versteck. Sie sah sich nach allen Seiten um, erspähte niemanden und rannte hin. Verfolgte man sie, hatte man sie laufen sehen, ihre Richtung erkannt? Wo waren ihre Peiniger von eben?
Ihr Herz raste, und ihr Atem ging stoßweise. Gern hätte ihre Brust mehr Platz gehabt, sich zu heben und zu senken, aber Julia klemmte zwischen der Mauer und dem Trog fest. Sie saß auf der Erde, die Knie ans Kinn gequetscht, sie hatte sich in die Lücke hineinrutschen lassen. Ihre Schulter brannte. Sie hatte sie sich aufgeschrammt, aber das war jetzt nebensächlich. Ab und zu reckte sie den Hals zur Seite und äugte durch den Spalt, sorgsam war sie darauf bedacht, den Kopf nicht über die Kante zu heben, obwohl ihr Sichtfeld stark eingeschränkt war. Sie musste sich zusammenreißen, ihrem Drang nach mehr Übersicht nicht nachzugeben.
Wenigstens ließen die Tiere sie in Ruhe! Als sie über das niedrige Gatter geklettert war, hatte sie ein paar Ziegen, Schweine und Geflügel verscheucht, die wie sie selbst langsam wieder zu Atem kamen. Sie war froh, dass sich offenbar niemand die Mühe machte, der Unruhe auf den Grund zu gehen. Nun nahm sie sich Zeit, das Umfeld ihrer Zuflucht in Augenschein zu nehmen, soweit es ihre Sicht erlaubte.
2.
Das Fachwerkhaus duckte sich hinter die Mauer aus gebrannten Ziegeln. Scherben aus Glas und die scharfen Bruchstücke zahlreicher Tonkrüge waren in die Mauerkrone eingelassen und machten ein einfaches Überklettern unmöglich. Auch ein Ork hätte ohne Hilfsmittel die Oberkante nicht erreichen und sich hinüberziehen können. Zumal Orks gewöhnlich ihr Schwert in der Hand hielten und ihre restliche Habe in einem über die Schulter geworfenen Beutel trugen. Zudem fügte sich das Anwesen, selbst rundum von jener Mauer geschützt, in die Umfriedung des Wehrdorfes ein und bildete einen Teil des Schutzwalls. Früher waren die Dorfbewohner ohne Furcht ihrem Gewerke nachgegangen, auch wenn sie dafür das Dorf verlassen mussten. In diesem und im letzten Jahr jedoch hatten sie ihre Ernte zitternd eingefahren. Solche Wehrdörfer gab es zuhauf im Land zwischen den Morgenbergen und dem Lafer, dessen Quelle irgendwo nördlich der von Menschen bewohnten Lande lag.
Das Haus selbst war alt und L-förmig. Eine Längsseite nahm der Gastraum ein, das verbleibende Innere war die von dort einsehbare Küche mit gemauerten Kochstellen und einer Feuergrube. Über der hielt ein Küchenjunge einen Bratspieß in Bewegung. Der Platz neben dem Gebäude war zum Dorf hin durch ein Gatter aus roh behauenen Fichtenstämmen begrenzt, an den Hauswänden reihten sich Tröge mit Wasser, Gras und Essenresten aus dem Wirtsraum aneinander. Es roch nach Heu und Dung. Hier war das Kleinvieh untergebracht, das demnächst am Spieß oder in den großen Töpfen zubereitet werden sollte.
Eigentlich hieß das Gasthaus Zur gebratenen Wildsau. Jedermann, der regelmäßig hierher kam, hatte jedoch selten mehr Worte übrig als mitzuteilen, er ginge »zur Sau«. Die Sprache in diesem Land war derb, nicht selten zotig. Der Innenraum des Wirtshauses war zum Dachstuhl hin offen. An den vom Alter gekrümmten Balken und Sparren fanden sich vereinzelt Nester, vor allem Spatzen versuchten, mit ihrem Gezwitscher die Erzählungen und das Lachen unter sich zu übertönen. In Nischen standen große Tische. Die Bänke darum füllten sich nun zur Zeit der Abenddämmerung. Bauern und Handwerker hatten ihr Tagwerk verrichtet und gaben sich dem Wenigen an Vergnügen hin, das ihr Land und ihre Epoche ihnen ließen: dem säuerlichen Apfelwein, der nach einigen Krügen doch lustig machte, und ihren Gesprächen. Oder der Wiederholung von Erzählungen, die reisende Händler aus anderen Ecken des Reiches hierher gebracht hatten. Geraucht wurde nicht, Tabak war unbekannt. Das war gut, denn die Luft war ohnehin zum Schneiden dick.
In der Küche hatten die Mägde alle Hände voll zu tun. Beaufsichtigt und angewiesen wurden sie von der resoluten Frau des Wirts. Die hatte beide Fäuste in die breiten Hüften gestemmt und scheuchte ihr Personal mit lauter Stimme hin und her. In diesem Haus hatte sie die Hosen an. Am Ende des Gastraumes lehnte selbstgefällig der Wirt an einem Pfeiler, da, wo der Raum sich zur Küche hin öffnete. So konnte er beide gut überblicken und hatte auch noch ein Auge auf die Eingangstür. Zufrieden beobachtete er den Zustrom neuer Gäste, die sich ohne Zögern auf die Bänke verteilten oder in Gruppen stehenblieben. Die Mehrzahl waren Männer. Ihre laut erzählten Witze und Geschichten waren derb, die Gesänge schräg und einfältig. Musikinstrumente gab es nicht. Hierher, wo getrunken und geschwitzt wurde, fanden nur sehr wenige Frauen. Und die machten einen robusten, fast männlichen Eindruck. Sie passten hierher.
Der Fremde saß allein in der hintersten Nische, in der Nähe des Pfeilers, an dem der strahlende Wirt lehnte. Er saß am Kreuzungspunkt der Räume und war dort einem Potpourri aus Gerüchen ausgesetzt. Der Wind von der Tür her hatte unterwegs seine Frische verloren, er trug den Geruch der Zecher nach Erde, Schweiß und Alkohol. Von der anderen Seite drängte sich ihm die Küche auf mit ihrem Fett, aufgebrühten Kräutern und säuerlich gewordenen Abfällen.
Obwohl sich an allen Tischen die Gäste drängten, fragte keiner, ob er sich zu ihm setzen dürfe. Ihm war es recht, er gehörte nicht hierher. Er war anders, was sich auch in seiner Kleidung ausdrückte. Er trug nicht die derbe Tracht der Dorfbewohner. Auch nicht die Gewänder aus feinen Stoffen und in bunten Farben, in denen sich die Händler in der benachbarten Nische offenbar wohl fühlten. Die genossen es sichtlich, von den Dörflern bewundert und beneidet zu werden. Er trug Waldläuferkleidung. Seine Schuhe hatten keine Absätze, sondern eine durchgehende derbe Sohle und knöchelhohe Schäfte. Die Hose war aus Leder, die Hosenbeine vorn fester als hinten, am Gesäß ebenfalls. Bestens geeignet für ein Leben draußen, wo die Wildnis sich mühte zu schneiden, zu reißen und zu kratzen. Darüber eine lederne Weste mit aufgesetzten Taschen. Ursprünglich war das Material Wildleder gewesen, die samtige Oberfläche war mit der Zeit durch Fett, Wasser und Erde abgenutzt, glatt und glänzend geworden. Ihn störte das nicht. Im Gegenteil, er freute sich über die Gebrauchsspuren. Sie machten sein Aussehen robuster, weshalb er glaubte, weniger oft angepöbelt zu werden. Vielleicht lag der Grund dafür, dass kaum jemand mit ihm Streit suchte, aber auch darin, dass er die meisten Bewohner Siebenreichs um einen halben Kopf überragte. Unter der Weste trug er ein Hemd aus Leinen. Er hatte es mittags angezogen, als er nur noch eine halbe Meile vom Dorf entfernt war. Sein wärmeres Lederhemd, das er bis dahin getragen hatte, lag zusammengerollt zuoberst in seinem ledernen Tornister neben ihm. Auch durch seine Waffen unterschied er sich. Auf dem Rücken trug er über Kreuz zwei Schwerter in trichterförmigen Scheiden. Die Klingen mit den gebogenen Spitzen Orkschwertern gleich, die Griffe jedoch beinahe eine Elle lang. So waren sie perfekt ausbalanciert. Die Waffen wiesen einen hierzulande unbekannten Handschutz auf, einen einfachen, vom unteren Viertel des Griffs zur Klinge hin breiter werdenden Bügel, der in einer kurzen Parierstange auslief. War er unterwegs, steckten sie in Scheiden rechts und links am Tornister.
Der barg seine gesamte Habe, von der Beute abgesehen, die er vergraben hatte, als das Dorf ins Blickfeld rückte. Die Beute bestand aus Helmen, Brustpanzern und Orkschwertern. In der Stadt oder auch beim Dorfschmied würde er dafür einen guten Preis erzielen, aber er wollte das alles nicht mitschleppen, ohne sich vorher erkundigt zu haben. Eisen war knapp, und man hätte es ihm leicht abnehmen wollen.
»Mein Mann ist im Krieg, die Landsknechte des Königs haben ihn an den Nordwall verschleppt.«
Mit dieser Erklärung hatte die Frau des Schmieds ihm jäh die Aussicht auf ein einträgliches Geschäft genommen.
Mehr Beute hatte er nicht gemacht. Orks und Goblins trugen keine Schätze bei sich, außer gelegentlich die Schamanen ihre manchmal magischen Ringe und Amulette. Aber meist traf man eben auf gemeine Mannschaftsdienstgrade.
Er stocherte mehr in seinem Essen herum, als dass er aß. Er hatte bekommen, was alle aßen: ein Stück Braten, dunkles Brot und zwei fingerdicke Scheiben von dem kräftigen Käse, der nach Ziegenmilch schmeckte. Er war aufgestanden und hatte sich an der protestierenden Wirtin vorbei in die Küche gedrängt und mit einem Becher den Saft vom Spießbraten aufgefangen und über sein Essen gegossen. Sein Fleisch blieb trotzdem kalt. Wenigstens war das Brot nicht mehr so trocken. Er hatte sich den hier üblichen Apfelwein kommen lassen. Der dritte Krug stand vor ihm.
Am Nebentisch hatten sich offensichtlich zwei Händlergruppen kennengelernt.
»Habt ihr schon gehört? Die Schiffspassagen im Süden, in Seeland, werden knapper, und die Überfälle um die Hafenanlagen häufen sich. Alles, weil die reichen Kaufleute infolge des Krieges in ihre überseeischen Kontore fliehen.«
»Aber im Norden ist´s noch schlimmer! Orks und Goblins fallen in Horden durch Pässe aus dem Gebirge ein, nördlich der Morgenberge. Auf einem riesigen Schlachtfeld führen sie Krieg. Am Rande zur Tundra im Norden verteidigten die Zwerge ihre Heimat, durch den Schutzwall werfen die Menschen aus Siebenreich vom Süden her ihre Soldaten und Magier in die Schlacht«
»Ja, und neuerdings hört man auch hier im Landesinneren vereinzelt von Überfällen auf Gehöfte und sogar auf ganze Dörfer.«
Der Fremde hatte sich zur Seite geneigt, sein Ohr berührte beinah die dünne Trennwand. Er sog die Informationen förmlich auf, sie würden Einfluss haben auf seine Pläne für die nächsten Wochen. Am Ende der Erzählungen nickte er zustimmend, als gehöre er zu der Gruppe. Er fühlte sich über die Orklage im Bilde.
Er nahm einen langen Zug, bevor er wieder ins Grübeln verfiel. Wie so oft analysierte er auch jetzt seine eigene Situation und verband sie mit dem eben Gehörten. Sein beinahe stummes Selbstgespräch bekam niemand mit.
»Bist du deiner Aufgabe jetzt noch gewachsen? Sie wird von Tag zu Tag schwieriger, verlangt mehr Beweglichkeit und noch mehr Vorsicht. Aber froh kannst du sein, es überhaupt bis hierher geschafft zu haben. Du hast dich angepasst, eingelebt. Die ersten Erlebnisse in diesem Land waren ja nicht gerade geeignet, dich auf ein langes Leben hoffen zu lassen, mittlerweile ist deine Zuversicht aber sicherlich gerechtfertigt. Das Klima tut dir gut, ebenso die Bewegung in der freien Natur. Dazu kommt Magie als Naturgesetz. Dem ist wohl zu verdanken, dass du dein Alter nicht mehr spürst. Dein Gehör ist geschult, es ist, als wären die durch deinen Tinnitus unterdrückten Frequenzen wiedergekehrt. Und abgenommen hast du fernab deiner alten Zivilisation, bist beweglich und ausdauernd.« Er lachte kurz auf. »Kein Wunder, wenn du jeden Tag meilenweit läufst!« Seine Brauen zuckten. »Verdammt! Trotzdem will ich endlich einen festen Platz. Einen Rückzugsort, an dem ich meine Ruhe finde.« Er seufzte kurz, straffte die Schultern und setzte sich wieder gerade. »Wenn ich alles erledigt habe.«
Sein immer noch sonnengebräunter Teint kontrastierte gefällig mit dem hellen Haar. Er fand, mit seinem Haar, Oberlippen- und Kinnbart, alles weiß und zu lang, sah er aus wie Buffalo Bill Cody in seinen späten Jahren. Unwillkürlich schmunzelte er, als er sich klarmachte, dass mit diesem Vergleich hier niemand etwas hätte anfangen können. Während er fast der einzige Gast war, der sich so gut wie täglich rasierte, hatte er Schwierigkeiten, eine brauchbare Schere aufzutreiben. Dass seine Bräune an anderen Körperstellen nachließ, bedauerte er. Das Klima wie auch sein unruhiges Leben versagten ihm die ausgedehnten Sonnenbäder, die er früher so genossen hatte. Seine Eitelkeit musste er wohl ablegen.
»Du fühlst dich bedeutend jünger als Ende fünfzig. Im Grunde kannst du zufrieden sein. Mit der Welt und mit dir selbst.«
Er verschränkte die Hände hinter dem Nacken und lehnte sich entspannt zurück.
3.
Die Tür des Wirtshauses stand offen. In ihrer Nähe fand ein beschränkter Luftaustausch statt, weshalb die Gäste sich eng beieinander stehend mit Vorliebe dort aufhielten.
Aus Gewohnheit hatte der Fremde die Tür im Blick. Nun sah er, wie sich eine Frau von der Seite in den Türrahmen schob, scheu, unentschlossen. Sie machte keine Anstalten, den Gastraum zu betreten, sondern drückte sich halb drin, halb draußen unter dem Vordach herum. Er beobachtete sie ohne besonderes Interesse, zumal er gegen das helle Viereck und durch die Menschengruppen hindurch nur einen Teil ihrer Silhouette wahrnahm und weder ihr Alter noch sonstige Details ausmachen konnte. Die Dämmerung spendete draußen mehr Licht, als die schummrige Schankstube hergab.
Nach einer Weile gab sie sich einen Ruck und schob sich an einer keifenden Bauersfrau vorbei, die ihren schwankenden und lallenden Mann mit leichten Schlägen und Kopfnüssen ins Freie dirigierte.
Sie hatte den Gastraum betreten und stand jetzt im Licht einer der Lampen, die von eingedicktem Tierfett gespeist wurden und die mehr Qualm als Helligkeit abgaben. Um sie herum verstummten die Gespräche. Die Männer und die wenigen Frauen begafften sie ohne Zurückhaltung, einigen stand der Mund offen.
Aus ihrer starren Haltung schloss er, sie sei sich ihrer Situation bewusst und hoffe, nur angestarrt, aber nicht begrapscht zu werden. Er schätzte sie auf Anfang fünfzig und bewunderte ihre tadellose Figur.
»Aber wer hat die nur angezogen?« murmelte er überrascht. Dann setzte er sich gerade, als ob er sie so noch besser sehen könnte.
Das geblümte helle Sommerkleid aus einem locker fallenden Stoff war an mehreren Stellen eingerissen, am Saum fehlte ein Stück. Ihr Kleid war aus seiner alten Welt! Nun endlich schenkte er ihr die Aufmerksamkeit, die ihr Auftritt verdiente. Offensichtlich hatte sie schon bessere Zeiten erlebt. Aus ihrem ergrauten Haar wuchs die Tönung heraus, sie hatte es wohl nur mit den Fingern halbwegs geordnet. Sie trug keine Strümpfe, weshalb ihm ihre blutigen Beine auffielen. Seine Erfahrung sagte ihm, dass sie einen längeren Weg durch Wald und Flur hinter sich gebracht haben musste. Wäre sie jünger gewesen, hätte er sie hübsch genannt, so lief sie unter gut aussehend. Sie passte ebenso wenig hierher wie er selbst.
Sie atmete tief durch, richtete sich aus ihrer gebeugten Haltung auf und zog die Schultern zurück. Sie reckte den Hals und sah sich nach einem freien Sitzplatz um. Sekundenlang blieb ihr Blick am letzten Tisch hängen, dem einzigen, an dem sich die Zecher nicht drängten, dann schritt sie auf ihn zu, zwischen den Gruppen hindurch. Dem Tisch in der dritten Nische kam sie zu nah.
»Schätzchen, bleib hier!«
Der am Gang sitzende Kerl packte sie mit seiner Rechten. Seiner groben Kleidung nach zu urteilen, an der Erde und Rinde hafteten und die nach Holz und Rauch roch, schien er Holzfäller oder so etwas Ähnliches zu sein. Sich seinem Griff um ihre Taille zu entwinden, brachte sie nicht fertig. Er zog sich an ihr halb in die Höhe. Frauen galten bei diesen wilden Kerlen als Freiwild, besonders, wenn sie ohne Begleitung waren und hilflos wirkten. Die anderen auf seiner Bank johlten und ermunterten ihn durch zweideutige Zurufe. Sie wehrte sich, zappelte, und beide plumpsten auf die Bank, sie kam auf seinem Schoß zu sitzen. Er grinste zufrieden. Genau so hatte er sich das vorgestellt.
Im Beifall für den Kerl verhallte ihr Protest ungehört. Sie zitterte. In der kurzen Zeit, die sie in dieser Gegend verbracht hatte, hatte sie Schreckliches mitbekommen, zum Glück aber nicht selbst erlebt. Das stand ihr nun wohl bevor.
Der Fremde hatte die Entwicklung kommen sehen. Als die beiden auf die Bank fielen, stand er schon neben ihnen.
»Schluss jetzt! Lass die Frau los!«
»Was geht … dich das an? Kümmer´ dich … um dein´ eigenen Kram«, kam es unwirsch zurück. Der Alkohol ließ ihn stammeln.
Für seine versuchte Hilfeleistung erntete der Fremde rundum Gelächter. Schließlich hatte sich der Unhold vorhin nur halb aufgerichtet und schon dabei eine hünenhafte Statur gezeigt. Im Stehen würde er den Fremden gut und gern um Haupteslänge überragen. Außerdem hatte er Muskeln wie Seilstränge, und die Kerle am Tisch waren seine Kumpane. Doch der Fremde ließ sich nicht beirren. Ruckartig riss er die Frau aus seinen Armen und zog sie neben der Bank auf die Beine. Langsam überwand der Hüne seine Überraschung. Schwerfällig schob er sich aus der Bank, fand sich jedoch sofort an beiden Schultern unsanft zurückgedrückt. Sein zweiter Versuch scheiterte ebenso kläglich. Mit wildem Blick zog er nun unter dem Tisch ein schartiges Messer. Unübersehbar waren die Blutrinne und eine schwarze Kruste vom Heft bis zur Spitze. Sicherlich stammte sie nicht vom Verzehr des letzten Bratenstücks.
»Kerl, ich bring´ dich...« Den Satz brachte er nicht zu Ende. Der Mund stand ihm offen, sein eben dunkelrot angelaufenes Gesicht verlor alle Farbe. Vor Schrecken gelähmt starrte er auf sein Bein, sah es schon verloren. Orkschwerter mit ihrer Schärfe und ihrem Gewicht hatten einen schrecklichen Ruf. Einmal in Schwung, waren sie durch nichts aufzuhalten. Der Fremde hatte, anstatt sich aus der Reichweite des Messers zu retten, in einer einzigen flüssigen Bewegung eins der Schwerter gezogen und von der dicken Tischplatte die Ecke abgeschlagen. Die Klinge verharrte eine Handbreit über dem Bein.
Der Wirt hatte schon Ärger gewittert, als der Fremde sich erhoben hatte. Er hatte sich von seinem Aussichtspunkt abgestoßen und sich ihm nachgedrängt. Nun wippte er nervös von einem Fuß auf den anderen und traute sich nicht einzugreifen angesichts des fürchterlichen Schwerts. Noch schwerer wog der Umstand, dass ein Mensch diese zu schwere Waffe so virtuos beherrschte. Niemand hatte bemerkt, dass der Fremde sein Handgelenk auf dem Oberschenkel abgestützt und den Schwung gezielt aufgehalten hatte. Er seinerseits hatte den Wirt kommen gesehen, drehte sich zu ihm um und lachte ihn an. Dabei zeigte er ein Gebiss, das für hiesige Verhältnisse ungewöhnlich war. Zumindest für jemanden in seinem Alter, das ohnehin nur die wenigsten erreichten. Seine Zähne waren ordentlich ausgerichtet, fast weiß und so gut wie vollzählig, nicht die bräunlichen Stummel, die einem hier üblicherweise blieben. Deutlich waren nun im Licht auch die beiden Narben zu sehen, die sich von seiner Schläfe bis an das rechte Ende des Oberlippenbartes zogen. Sie gaben ihm das Aussehen eines kampferprobten Veteranen. Dass sie von einem Ast herrührten, den er in der Wildnis aus seinem Weg gebogen, dann aber zu früh hatte zurückschnellen lassen, erzählte er nie deshalb jemandem.
»War … das Zufall, oder kannst du wirklich mit dem Orkschwert umgehen?« Der Spießgeselle des Grobians konnte seine Neugierde nicht mehr zügeln.
»Ihr könnt es ja auf einen Versuch ankommen lassen.« Dann wandte sich der Fremde zu dem Holzfäller.
»Ich hoffe, das war eine Lehre für dich.«
Den beruhigte sein schelmisches Zwinkern keineswegs.
Der Fremde drehte sich nun zum Wirt um, der noch immer um seine Fassung rang.
»Meister Wirt, lasst den Tisch richten, ich komme für den Schaden auf. Und bringt jedem am Tisch einen Humpen Apfelwein auf den Schrecken, und diesem Kerl gleich zwei, damit er wieder ins Leben zurückfindet.«
Der drohende Aufstand der Holzfäller war im Keim erstickt.
Seit er sie von der Bank gezogen hatte, war die Frau zu keiner Bewegung fähig. Scheinbar teilnahmslos verfolgte sie die Szene. Nun sah sie ihren Retter dem Kerl auf die Schulter klopfen, fühlte sich dann von ihm unvermittelt am Oberarm gepackt und mitten durch die zurückweichende Meute zu seinem Tisch gezerrt. Unmittelbar darauf fand sie sich seinem Platz gegenüber auf die Bank gedrückt. Ihr Sträuben und ihr verängstigter Blick berührten ihn wohl keineswegs. Dass es nur zu ihrem Besten war, hatte sie nicht erfasst. Seine vorgetäuschten Besitzansprüche bewahrten sie vor weiteren Pöbeleien, denn nach dem Vorfall mit dem Holzfäller wollte sich keiner mit ihm anlegen. Sie jedoch hasste ihn instinktiv wegen der blauen Flecke, die seine Umklammerung hinterlassen würde. Genau da, wo der kurze Ärmel endete, wären sie über Tage sichtbar! Stumm rieb sie die schmerzende Stelle. Für einen Protest fehlte ihr die Kraft.
»Erzähl«, hörte sie ihn sagen, »was machst du in dem Aufzug in dieser Gegend? Bist du lebensmüde? Am ersten Haus oder Hof, wo du vorbei gekommen bist, hättest du dir was zum Anziehen besorgen sollen, das hierher passt. Du fällst auf wie der berühmte bunte Hund. Mit so was machen die hier kurzen Prozess.«
Sie mit einem korrekten Sie anzusprechen, kam ihm offensichtlich nicht in den Sinn. Diese Unhöflichkeit gab ihr den Rest, und ihre Verzweiflung nahm überhand. Sie verfiel in ein kaum hörbares, trockenes Schluchzen.
»Ich weiß nicht, wo ich bin und was ich hier soll. Vor vier Tagen fand ich mich in plötzlich im Wald wieder. Der war ganz anders als der Park, in dem ich spazieren gegangen war. Ich hab´ lange gebraucht, um den Wechsel zu realisieren. Dann fand ich nicht mehr zurück. Und an die Bauernhöfe traute ich mich nicht ´ran, die Leute sahen so wild aus. Außerdem bin ich an zweien vorbeigekommen, die brannten. Menschen haben geschrien, und große Kerle haben sie gejagt. Hier dachte ich, die Menge bietet mir Schutz.«
»Mmh. Vier Tage. Vermutlich der Langewald vor den Morgenbergen. Kenn´ ich. Hunger?« Auf ihre Beobachtungen der Überfälle ging er nicht ein.
Unvermittelt kam ihr die Entbehrung während dieser Zeitspanne ins Bewusstsein.
»Ich könnte ein Pferd verschlingen!«
Er schüttelte den Kopf.
»Braten muss reichen. Was anderes gibt´s hier sowieso nicht.«
Dann drehte er sich zum Wirt um.
Der hatte zwei Mägde mit Krügen zu dem Tisch der Holzfäller geschickt. Die beiden bedienten im Laufschritt, galt es doch, über ein Dutzend schwere Humpen zu servieren, und die Kerle waren ungeduldig. Der Wirt hatte die Geste des Fremden bemerkt. Zögernd trat er an den Tisch, an dem die Frau sich etwas beruhigt hatte und nun erschöpft mit Kopf und Schultern an der Wand zur Nische mit den Kaufleuten lehnte. Die hatten nur Auge und Ohr für den Fremden und seine neue Bekanntschaft. Man tuschelte, hütete sich aber, die Neugierde zu offensichtlich zu zeigen.
Der Wirt nahm seinen ganzen Mut zusammen und unterbreitete seine Rechnung.
»Die Zeche für fünfzehn Krüge Apfelwein beträgt fünfundsiebzig Kupferstücke. Da ist euer Verzehr noch nicht eingerechnet. Alles zusammen und der Preis für das versprochene Nachtlager belaufen sich nun auf über ein Silberstück. Auf eine Ausbesserung des Tisches verzichte ich, vielmehr will ich das abgeschlagene Stück Holz in der Nische an einen Balken nageln.« Er lachte kurz auf. »So hat man immer einen Anlass, bei einem guten Humpen den Vorfall in Erzählungen wieder aufleben zu lassen.«
Insgeheim fragte er sich, ob der Fremde über ausreichend Barschaft verfügte oder ob er einen Zechpreller vor sich hatte. Dann hätte er, wie schon öfter, seine stärksten Knechte rufen lassen, die den Kerl vom Hof geworfen hätten. Anschließend hätte er sich an seinem Gepäck schadlos gehalten.
Der wiederum bot ihm ein breites Lachen feil, griff in eine Westentasche und förderte Kupfermünzen und ein Silberstück zutage. »Das ist mehr, als ihr gefordert habt. Dafür verlange ich noch eine Mahlzeit für die Frau. Außerdem sagt mir, ob für sie noch ein Schlafplatz frei ist.«
Der Wirt, der ob der widerspruchslos dargebotenen Bezahlung seinen Mut wiedergefunden hatte, schüttelte den Kopf.
»Alles, was frei ist, ist die Ecke oben in der Scheune. Da, wo ihr schon zu nächtigen gedenkt. Ihr müsst eben zusammenrücken.« Dann fügte er mit einem anzüglichen Blick auf die Frau hinzu: »Aber haltet euch zurück!«
Gut gelaunt zahlte der Fremde die geforderte Summe. Die Frau würde seinen Schlafplatz mit ihm teilen.
Sie zuckte zusammen. Ob sie einverstanden war oder nicht, schien ihn nicht zu kümmern.
Vor Mattigkeit fand sie keine Widerworte. Sie fügte sich in ihre Lage, in der sie schon längst nicht mehr über sich selbst zu bestimmen hatte. Aber als ihr Essen gebracht wurde, wurde sie munter. Ein großes Stück Braten, frisch vom Spieß und heißer als seines vorhin, sowie Brot und der etwas streng riechende, würzige Käse. Sie rutschte vor zur Kante, beugte den Oberkörper über den Tisch und begann zu essen. Alles roch gut, das braune Brot war noch warm, die Rinde knusprig. Wie alle aß sie mit den Fingern. Besteck hatte die Magd nicht gebracht, und auch ihr Gegenüber machte keine Anstalten, ihr sein Messer zu reichen, das er selbst benutzt hatte. Er saß zurückgelehnt an die Wand, hielt seinen Humpen mit beiden Händen umfasst auf dem Schoß und beobachtete sie wortlos. Ab und zu trank er einen Schluck. Sie hatte ihr Fleisch schon fast gegessen, Zu schnell, wie sie selbst feststellte. Das gehörte sich nicht. Wie sonst wäre es zu erklären gewesen, dass ihr Bratensaft aus dem Mundwinkel lief. Sie wischte ihn sich mit dem Unterarm vom Kinn. Eine Magd knallte ihr einen Humpen Apfelwein auf den Tisch. Ohne zuvor daran zu riechen oder sonst irgendwie feststellen zu wollen, um welches Getränk es sich handelte, setzte die Frau den Krug an und leerte ihn zur Hälfte. Sie verschluckte sich, setzte ab und verzog ihr Gesicht zu einer säuerlichen Miene. Der Fremde grinste schadenfroh. Er prostete ihr zu und nahm selbst einen Schluck. Nun erkannte auch sie, wie komisch ihr Schlingen gewirkt hatte. Ihr anfangs verschämtes Lächeln steigerte sich unwillkürlich zu einem befreienden Lachen. Sie blickte ihrem Gegenüber geradewegs in die Augen. Trotz ihrer Erschöpfung und der daraus resultierenden Anspannung war das Eis gebrochen.
4.
Es war Abend geworden. Der Wirt hatte die Tür anlehnen lassen. Die meisten Dörfler waren in ihre Häuser oder Hütten zurückgekehrt. Geblieben waren vor allem Reisende, zumeist Männer. Frauen waren außer ihr und den Mägden nur noch zwei anwesend.
Sie hatte den zweiten Krug Apfelwein angetrunken. Sie war zu aufgekratzt, um sich jetzt auf ein wie auch immer geartetes Lager zu begeben. Zudem war ihr der Gedanke, mit wem sie sich den Schlafplatz teilen sollte, nicht gerade angenehm. Das ließ sich aber unter den gegebenen Umständen kaum vermeiden. Die vergangenen drei Nächte hatte sie auf dem Waldboden zugebracht oder in einem verrotteten Heuschober geschlafen. Das wäre Luxus gewesen, wäre das Heu nicht feucht und schimmlig gewesen. So war sie heute früh unausgeruht aufgestanden, und Stunden hatte es gedauert, den Modergeruch aus der Nase zu bekommen. Ihr Weg durch endloses Brachland mit blühenden Büschen und stark riechenden Wiesenblumen half ihr dabei. Trotzdem fühlte sie sich immer noch schmutzig. Bei dem Gedanken an ihren Zustand fiel sie wieder in sich zusammen.
Er hatte sich vorhin, während sie, mittlerweile mit Genuss, das letzte Stück Käse gegessen hatte, kurz mit »Ich bin Mike. Orkjäger.« vorgestellt. Ob Orkjäger sein Nachname war oder eine Beschäftigung, die ihm seinen Lebensunterhalt einbrachte, darüber war sie sich nicht im Klaren. Es interessierte sie auch nicht wirklich. Falls es sein Beruf war, hatte er ihr nichts dazu erklärt. Überhaupt gab er sich wortkarg, hatte offensichtlich keine Lust, etwas von sich preiszugeben. Sie wähnte sich immer noch in einem schlechten Traum. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als dass er endlich aufhörte.
Orkjäger? Nun erst, nach ihrer Mahlzeit, rief sie sich ins Gedächtnis, dass sie auf ihrem Weg zu diesem Tisch in anderen Nischen Kerle bemerkt hatte, die ähnlich wie ihr Gegenüber gekleidet waren. Verschwommen hatte sie Bogen und Köcher wahrgenommen, Schwerter und ein paar kleinere Rundschilde, für die sie mal den Namen Buckler gehört hatte. Sie hatte gelernt, hieraus habe sich das Sprichwort »Rutsch mir den Buckel ´runter!« abgeleitet. Jedenfalls hatten die Kerle nicht eingegriffen, sondern von Anfang bis zum Ende feixend das Schauspiel ihrer zweifachen Niederlage beobachtet. Anscheinend waren sie Zwistigkeiten zwischen einem der Ihren und der eher ungelenken Landbevölkerung gewohnt. Sie schienen gewusst zu haben, wie der Streit ausginge, sonst hätten sie gewiss für sie Partei ergriffen. Jünger und kräftiger als ihr Retter schienen sie allemal.
Plötzlich ergab alles einen Sinn. Das erzählte sie ihm auch, es sprudelte nur so aus ihr heraus.
»Die letzten Tage waren ein Albtraum. Nach der Arbeit war ich noch im Park spazieren gegangen, habe die letzte Sommersonne genossen. Und plötzlich … plötzlich, als ich eine Hecke durchquerte, war der Kiesweg verschwunden. Auch hinter mir. Buchstäblich stand ich im Wald. Der war nicht dicht, man konnte weit darin sehen, er schien kein Ende zu haben. Und nach oben schirmte er den Blick gegen das Sonnenlicht ab. Es war alles so fremd, so unglaublich.«
Sie sah ihn an, wartete auf eine Regung.
Er nickte ihr zu.
»Das hattest du schon erzählt. Aber red´ weiter, das wird dir gut tun.«
»Ohne Orientierung bin ich durch den Wald gehetzt, später über Wiesen. Regen hatte die Luft saubergewaschen, es duftete nach frischem Gras. Am dritten Tag erst, also gestern, kam ich in eine bewohnte Gegend. Das half mir aber nicht. Die Leute sahen so wild und ungepflegt aus. Ich hatte Angst vor ihnen. Nur einmal, einmal habe ich eine alte Frau angesprochen. Sie war allein unterwegs, trug ein Bündel auf dem Rücken. Ärmlich sah sie aus in ihrer fadenscheinigen Kleidung, aber wenigstens sauber.«
Ihre letzten Worte hatten rau geklungen, so, als habe sie einen trockenen Mund. Sie griff ohne hinzuschauen nach dem Humpen und wunderte sich, dass er ihn ihr entzog. Da erst merkte sie, dass sie aus seinem hatte trinken wollen. Er kippte ihn leicht, und sie bemerkte, dass er leer war. Sie griff nach ihrem, nahm ein paar Schlucke und hielt ihn ihrem Gegenüber hin.
»Willst du?«
Wie geistesabwesend schüttelte er den Kopf. Er hatte gerade einer Magd zugewinkt, dass sie ihm noch etwas bringen sollte.
»Ähm, nein danke.« Erst nach einer Weile antwortete er und nahm den Faden wieder auf.
»Bist du mit ihr mitgegangen? Was hat sie dir erzählt?«
Es war das erste Mal, dass er auf ihren Bericht einging.
»Erzählt? Ach so. Es war unglaublich! Sie sprach von Orks und Goblins, von einem Krieg weiter im Norden. Mittlerweile hätte sie aber auch von Überfällen in ihrer Umgebung gehört. Deshalb sei sie unterwegs nach Königstein, der königlichen Residenz. Dort sei die Welt noch in Ordnung. Noch, wie sie ein paarmal betonte. Denn da, wo sie herkäme, sei der Himmel dunkler geworden, und nicht einmal die Magier wüssten Rat. Ich war froh, als sie weiterzog.«
»Das mit dem dunklen Himmel war nur eine Metapher für die Angst der Leute. Die Furcht legt sich ihnen aufs Gemüt. Warum hast du dich der Alten nicht angeschlossen. Offensichtlich kannte sie sich doch aus und hätte die helfen können.«
»Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht. Wohl, weil mir alles so unwirklich vorkam. Außerdem hatte ich den Eindruck, sie fantasiere, und ihre Beschreibungen machten mir Angst. Als sie weg war, habe ich es bedauert.«
Diesmal griff sie nach dem richtigen Krug.
»Später entdeckte ich eine Gruppe Männer, die an einem Waldrand lagerten. Ich schlich mich so nah, dass ich Ihre Kleidung und Ausrüstung erkennen konnte. Der Wind trug ihre Gespräche zu mir herüber. Ich bekam solche Angst, dass ich mich fortschlich. Ich habe gebetet, dass sie mich nicht entdeckten. Fast kriechend bin ich durch die Büsche zurückgeschlichen. Dann bin ich gerannt, nur noch gerannt, bis ich vor Seitenstechen nicht mehr konnte.«
Sie bemerkte seine hochgezogenen Brauen. Als er schwieg, zuckte sie die Schultern und fuhr fort.
»Ob es ein Dutzend Männer waren oder nur ein halbes, weiß ich gar nicht mehr. Aber alle waren bewaffnet. Mit Schwertern, Morgensternen oder einem, einem … Kriegshammer. Auf so einen hat mich vor Jahren ein Bekannter aufmerksam gemacht, mit dem ich eine Ausstellung übers Mittelalter besucht hatte. Über Überfälle, Mord und Plünderung hatten die Kerle sich unterhalten. Vergewaltigungen waren auch dabei, gar nicht mal selten. Man wolle ja auch sein Vergnügen haben, hatten sie geprahlt. Für mich hörte sich das alles ernst gemeint an, nicht erfunden. Solche Art Fantasie kann nur einem kranken Hirn entspringen. Naja, einem gerade noch, aber gleich einem Dutzend? Was meinst du dazu? Kannst du dir vorstellen, wie froh ich war, unbemerkt entkommen zu sein?«
Obwohl ihre Fragen rhetorisch gemeint waren, öffnete er den Mund, um etwas zu erwidern. Mit einer wedelnden Handbewegung brachte sie ihn zum Schweigen, bevor er auch nur ein Wort hatte sagen können. Sie zuckte zusammen, als sie bemerkte, dass ihre Geste doch recht brüsk erschien.
»Entschuldige! Es war nicht böse gemeint. Mir ist nur aufgefallen, wie unhöflich ich war. Du hattest dich ja schon vorgestellt. Ich bin Julia. Von Juliane. Aus Freiburg.«
Sie reichte ihm die Hand. Scheinbar irritiert ergriff er sie und schüttelte sie kurz. Sie fühlte, dass das hier eine ungewohnte Geste sein musste.
»Juliane. Wie Juliane Werding. Am Tag, als Johnny Kramer starb«, schob er wie in Tagträumen versunken nach.
Sie sprang nicht darauf an, bemerkte nicht, dass er gerade erklärt hatte, auch aus ihrer Welt zu stammen. Sie war noch fest verwobener Teil ihrer Eindrücke und Einbildungen, die ihr intensiv eine neue, unbekannte und grausame Realität aufdrängten.
»Durch Freiburg bin ich zuletzt im August zwanzigsechzehn gefahren, das heißt, daran vorbei. Mit dem Auto von München nach Spanien. Atlantikküste, hinter Santiago de Compostela.«
Mit einiger Verspätung begriff sie, dass er ihrem Bewusstsein noch einen Rettungsring zugeworfen hatte. Dankbar nahm sie die Hilfe an und ordnete ihre Gedanken um das Gehörte herum neu. Ein paar Augenblicke brauchte sie, dann hatte sie ihre Schlussfolgerungen gezogen. Ihre Miene hellte sich auf, sie suchte den Blickkontakt mit ihm.
»Ihr seid eine Gruppe von Rollenspiel-Freaks, nicht wahr?« Sie sprach zu schnell und verhaspelte sich prompt. »Fan…, Fantasy oder so? Habt euch eure Welt gebastelt, eine Art Themenpark. Und verbringt hier eure Wochenenden oder Ferien mit dem Ausleben erfundener Geschichten.«
Der Gedanke war für sie befreiend. Endlich eine handfeste, verständliche Erklärung für ihre Situation, in die sie hineingestolpert war und die ihr surreal und grotesk erschien! Zumindest unerklärlich. Die zahlreichen Ungereimtheiten blendete sie unbewusst aus.
»Ich war mal bei der Landshuter Hochzeit und an einem Wochenende beim Kaltenberger Ritterturnier«, fügte sie hastig hinzu, als ob sie ihre Interpretation bestätigen und aus dieser Bestätigung Mut schöpfen wollte. »Dann bin ich hier ja goldrichtig. Ich bin ganz gut im Bogenschießen, bin immer noch Mitglied in der Freiburger Schützengesellschaft und war sogar einmal bei der Landesmeisterschaft dabei. Jetzt fehlt mir nur das passende Kostüm.« Ihre vermeintliche Erkenntnis vollendete sie mit einem Anflug von Galgenhumor, erleichtert, ihrer Verzweiflung die Schärfe nehmen zu können. »So etwas wie Robin Hood.«
»Fast hast du Recht. Nur, dass wir uns keine Welt zusammenreimen. Wir stellen auch keine Geschichten nach, sondern das hier ist das echte Leben. Du sagst ja selbst, du hast die Kerle belauscht. Es sieht aus wie Fantasy, und eine Rolle spielt hier auch jeder. Denen von hier ist sie angeboren, wir von drüben nehmen sie an oder schaffen sie uns. Die Realität ist Krieg, Unterdrückung und Kampf. Verwundungen heilen unter Umständen, aber Arm ab ist und bleibt Arm ab. Und wenn du tot bist, stehst du eben nicht in der nächsten Stadt oder am nächsten Lagerfeuer wieder auf. Tot ist tot. Und zurück nach Freiburg kommst du auch nicht mehr. Zumindest nicht so schnell. Das ist der Unterschied zum Rollenspiel.«
Julia lehnte sich entspannt zurück, atmete ohne Aufregung, obwohl seine Erklärungen weniger geeignet waren, sie zu beruhigen, sondern eher, sie in ihre Angst und geistige Lähmung zurückzuschicken. Endlich jemand, der ihre Situation und ihre Verunsicherung verstand! Jemand, der sie aus der Willkür eines Wilden gerettet hatte und der ihr nun die Lage erklärte. Mit wenigen klaren Worten. Und mit einem gewissen Spielraum, wie sie unterstellte. »Wir nehmen eine Rolle an oder schaffen sie uns«, hatte er gesagt. Das klang gut. Nach einem Ausweg, wenn man bloß suchte und sich entsprechend bemühte. Den Rest schien sie nicht gehört zu haben. Sie lächelte und nahm einen weiteren, diesmal langen Zug. Auf einmal schmeckte der Apfelwein gar nicht mehr so sauer.
5.
Irgendwann hatten sie ihre Krüge geleert, es war spät geworden. Sie standen auf. Julia torkelte. Im Gegensatz zu Mike hatte sie Mühe, sich aufrecht zu halten und ihren Weg nach draußen zu finden. Er hatte seinen Tornister an einem Riemen gegriffen, hievte ihn hoch und warf ihn sich über die Schulter. Ihren Arm schlang er um seinen Hals und fasste sie um die Taille. Sie fand es bequem, so gestützt zu werden. Nicht ohne Stolz merkte sie, dass sie kaum kleiner war als er. Zuerst empfand sie seine Berührung nur als fürsorglich und angenehm. Sie war einfach zufrieden, nicht ihr ganzes Körpergewicht ihren weichen Knien und den Füßen anvertrauen zu müssen, die ihr nicht mehr ganz gehorchen wollten. Dann fand sie den Kerl irgendwie sympathisch.
Den Weg zur Türe legten sie als Gespann zurück. Die Frische der Nachtluft draußen umfing sie überraschend. Sie machte sich von ihm los und war nach ein paar tiefen Atemzügen froh, wieder einigermaßen sicher auf eigenen Füßen zu stehen. Nach wenigen Schritten hatte sie ihr Gleichgewicht wiedergewonnen.
Ganz dunkel war es nicht. Ein bleicher Mond erlaubte es, einige Schritt weit Konturen zu erkennen. Nebel hatte aus der Ebene den Weg über die Mauern gefunden. Alles war schemenhaft, und die feuchtkalte Luft war gewürzt mit dem unverkennbaren Geruch nach Vieh, Heu und Unrat. In kurzem Abstand folgte sie Mike zwischen den Zäunen und Palisaden innerhalb des Gehöfts zu der Scheune, in deren Obergeschoss der Wirt ihnen die Schlafplätze zugewiesen hatte.
Die Gestalt nahm sie erst wahr, als sie schon fast zusammengestoßen waren. Ein Mann, nicht groß, aber Angst einflößend. Er war zerlumpt gekleidet, von drahtigem Körperbau und mit Narben im Gesicht und an den Armen. Ihre Form deutete auf Schnittwunden hin. Nun erkannte sie auch den Zweck seiner pendelnden Bewegung! Sein Messer wechselte er ständig von der einen in die andere Hand, die Spitze mal nach oben, mal nach unten gerichtet. Er stand leicht nach vorn gebeugt, sein ganzer Körper wiegte sich von einem Bein aufs andere.
Das Verhalten eines geübten Messerstechers! Julia kannte es aus Filmen. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn in der Gaststube gesehen zu haben. Vielleicht hatte er sich in der Dämmerung eingeschlichen, um zu später Stunde einzelne Zecher auf ihrem Weg zum Schlafplatz abzupassen. Dies barg für ihn wenig Gefahr, die Opfer wären wohl müde und nicht mehr ganz die Herren ihrer Sinne. Und bis jemand auf ihre Hilferufe aufmerksam geworden wäre und zwischen den Nebengebäuden des Gasthofes den Tatort ausgemacht hätte, wäre er längst über alle Berge. Aber es war ohnehin unwahrscheinlich, dass jemand zu Hilfe käme. Zu groß wäre die Angst, selbst Opfer zu werden. Wer würde ihnen helfen?
So stand er ihnen gegenüber, Hohn und Überlegenheit sprachen aus seinem gehässigen Grinsen. Sein schlechtes und lückenhaftes Gebiss fand Julia abstoßend. Seine Handbewegung war klar, er hatte es auf ihre Habe abgesehen. Der Tornister versprach reiche Beute.
Sie sah zu Mike hoch. Gib ihm endlich den verdammten Rucksack, forderte sie ihn in Gedanken auf. Zu sprechen traute sie sich nicht. Alles andere als sicher war sie sich allerdings, ob der Schlitzer sie dann gehen ließe. Zumal sie nun eine weitere Gestalt aus dem Nebel auftauchen sah.
Der Neue war kräftig gebaut, ohne dick zu sein. Eher zäh und ausdauernd. Er drückte sich zwischen seinem Kumpan und dem Bretterzaun hindurch. Auf diese Weise würde er sich Mike und Julia in den Rücken schieben. Sein Messer ließ er im Gürtel stecken. Stattdessen schwang er eine Keule in Richtung seiner Opfer.
Julia zitterte, kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Die Situation war eindeutig, die Halsabschneider brauchten keine Worte. Sie hatte sich flach an den Zaun gedrückt. Verzweiflung packte sie, als sie feststellen musste, dass es unmöglich war, sich durch die zu schmalen Lücken zu zwängen. Instinktiv ging sie in die Hocke. Dass auch das keine Rettung versprach, war ihr klar. Es gab ihr höchsten ein paar Augenblicke mehr zu leben. Genau die Zeit, die die Galgenvögel brauchten, sie auf die Beine zu ziehen, nachdem sie Mike erstochen oder erschlagen hatten! Er stand so, dass er keines seiner Schwerter hätte ziehen und sich verteidigen können. Ihr Schicksal war besiegelt.
Zwischenzeitlich hatten die Räuber ihre Opfer eingekeilt. Julia musste sich beinahe übergeben vor Angst und Ekel. So nah standen ihr die beiden, dass ihr der Geruch nach Schweiß und Alkohol Übelkeit bereitete. Anscheinend genossen sie ihre Position der Stärke, sonst hätten sie schon längst angegriffen. Aus der Nähe sah Julia nun die Nägel, die der Größere in seine Keule getrieben hatte. Lang. Spitz. Tödlich.
Von Mike durfte sie dieses Mal keine Hilfe erwarten. Sie fand ihn unbewegt, angespannt. Er blickte den Wegelagerern in die Augen, als versuchte er, durch ein erhaschtes Blinzeln den Augenblick des Angriffs zu erkennen.
Leises Scharren erweckte Julia aus ihrer Starre. Unvermittelt sackte der Messerstecher in sich zusammen, ohne dass sie vorher eine Regung der drei Männer hatte erkennen können. Auch der Schläger blickte verständnislos auf seinen Spießgesellen. Als er den Kopf wieder seinem vermeintlichen Opfer zuwandte, war dies die letzte Bewegung, die er in seinem Leben vollführte.
Mike untersuchte die Toten schnell und oberflächlich. Er streifte ihre Jackenärmel zurück, Julia konnte flüchtig bei beiden eine Art Brandmal oder Tätowierung an der Innenseite eines Unterarmes erkennen. Mike nickte, murmelte etwas, das Julia nicht genau verstand. Es hatte geklungen wie »Hatte ich erwartet«.
Als er mit seiner Untersuchung fertig war, beugte sich zu Julia herab und zog sie am Handgelenk auf die Beine. Seinen Tornister wechselte er auf die andere Schulter, griff ihn fester und legte den Zeigefinger auf die Lippen.
»Das war´s dann wohl. Aber kein Wort darüber!«
Dann schob er sie vor sich her in Richtung Scheune.
Sie beherrschte sich, unterdrückte ihre Panik, blieb stumm, genau wie während der eben überstandenen Szene. Nicht ein Wort war gefallen zwischen den Galgenvögeln und ihren Opfern, die letztendlich lebend und, ohne Beute geworden zu sein, ihrem Schlafplatz zustrebten. Julia fügte sich in die Eile, zu der er sie antrieb. Sie war froh, dem Schauplatz des Überfalls zu entkommen, und wollte nichts sehnlicher als weit weg, möglichst schnell. Es war schlimm genug zu wissen, dass sie im Lauf des kommenden Morgens wieder hier vorbeimusste. Der Gasthof bot keinen anderen Ausgang.
Für den unerwartet glimpflichen Ausgang ihres Abenteuers hatte Julia keine Erklärung. Dennoch wagte sie nicht zu fragen, was die Halsabschneider zu Boden geschickt und ihnen das Leben geraubt hatte. Vor der Antwort hatte sie Angst. Einen brutalen Trick vermutete sie. Ausgeführt von dem Mann, der sie vorher und jetzt wieder aus einer Gefahr gerettet hatte, deren Folgen sie sich nicht ausmalen wollte. Er wurde ihr unheimlich.
6.
Nach wenigen Augenblicken, die Julia als Ewigkeiten empfand, erreichten sie die Scheune. Die Holztreppe zum Heuboden über dem Stall war steil und ließ ein Geländer vermissen. Das Schnarchen, Röcheln und die anderen Geräusche, die zweifelsfrei von zahlreichen Schläfern stammten, übertönten das Knarren der Stufen. Hier sollte sie nun den Rest der Nacht verbringen? Preisgegeben jedem, der an ihr vorbeikam und sie begaffen wollte. Oder mehr!.
Oben angekommen war sie erleichtert, dass Mike sie auf eine kleine Plattform neben der Treppe dirigierte, weg von der Masse der Schlafenden, die sich auf der anderen Seite aneinanderreihten. Sie schliefen auf Stroh, das die sie unter sich aufgehäuft hatten. Der Boden zwischen diesen Schlafinseln war nacktes Holz. Für Decken musste jeder selbst sorgen, viele hatten sich nicht zugedeckt. Ihre Habe hatten sie am Kopfende abgelegt, jederzeit erreichbar, falls sich jemand daran zu schaffen machte. Sofern der den Schläfer noch wach werden ließ.
Mike ließ sie neben der Treppe stehen und ordnete das Stroh auf dem Boden. Am Ende hatte er eine gleichmäßige handspannendicke Schicht zusammengescharrt. Seinen Tornister hatte er abgestellt und öffnete ihn nun. Nach einigem Kramen förderte er eine dünne Decke aus einem Gewebe zutage, das Julia nicht kannte, und warf sie geschickt über das Stroh aus. Auf dem Schlafplatz kniend, schob er den Tornister von der Treppe fort an den Rand der Plattform und lehnte ihn dort an die Wand. So konnte sich niemand an dem Rucksack zu schaffen machen.
Julia sah nun, dass ihr Platzangebot war größer als das jeden anderen Schläfers.
Er bemerkte ihr Erstaunen darüber.
»Für diese Bequemlichkeit musste ich auch einen höheren Preis bezahlen. Aber das war es mir wert.«
Sie war ihm dankbar dafür.
Zusammen mit der Decke über dem Stroh hatte er noch zwei kleinere aus dem Tornister gezogen, eine reichte er ihr als Zudecke. Voneinander abgewandt entkleideten sie sich bis auf die Leibwäsche. Julia schlüpfte unter ihre Decke und wickelte sich darin ein, bevor Mike sich ausgezogen hatte. Die Decke kratzte. Sie rollte mit den Augen und fragte sich, ob sie darunter überhaupt Schlaf finden konnte. Er legte sich neben sie und blickte sie an. Sie schaute über ihn hinweg, als ob sie ihn nicht wahrnähme, und beobachtete die anderen Schläfer. Der Anblick derer, die keine Decke hatten, brachte ihr die Überzeugung, dass sie die einzigen waren, die Leibwäsche überhaupt kannten. Alle anderen schliefen in ihren Kleidern. Nun kannte sie mit Gewissheit den Ursprung des strengen Geruchs in der Gaststube und anderswo, wo sich Menschen versammelt hatten. So fiel ihr der Vorfall mit den vier Kerlen bei ihrem Eintreffen im Dorf wieder ein, und sie spürte Panik in sich aufsteigen.
Ohne sich dessen bewusst sein zu können, weckte Mike sie aus ihren trüben Gedanken. Er wünschte ihr eine gute Nacht und fragte sie halblaut, ob sie noch das Bedürfnis hätte zu reden und ob sie ihm ihre Fragen jetzt oder erst morgen stellen wollte.
Es dauerte lang, bis sie sich entschieden hatte. Sie drehte sich auf den Rücken und betrachtete den hölzernen Dachstuhl, dessen Balken sich an einigen Stellen durchbogen. Lücken hatten sich in das Dach gefressen, die Schindeln waren wohl vom Wind abgetragen worden. Erkennen konnte sie nichts. Keinen Mond, keine Sterne. Als ob der Nebel die Scheune auch von oben eingehüllt hätte. Ihr Schlafplatz hatte dank des darunter ruhenden Viehs eine für die Nacht recht annehmbare Temperatur. An den Geruch hatte sie sich nach kurzer Zeit gewöhnt.
»Wo bin ich? Wie komme ich wieder heim?« waren ihre am meisten drängenden Fragen.
»Das Land heißt Siebenreich. Den Namen sollen ihm vor Menschengedenken die sieben Stammesführer gegeben haben, die sich im Krieg gegen ihre Feinde zusammenschlossen und dazu ihre Stammesgebiete zusammenlegten.«
Er setzte sich auf, winkelte die Beine an und schlag die Arme um seine Knie.
»Soweit ich gehört habe, ist genau dieser Jahrhunderte lang vergessene Krieg jetzt wieder aufgeflammt.«
Es folgte eine Pause, bevor er im Flüsterton fortfuhr.
»Siebenreich ist ein Königreich. Frag mich nicht, wie der König heißt! Die einen sagen, er sei verschollen oder vor dem Krieg geflohen, und der Statthalter von Königstein würde regieren. Andere erzählen, er befehlige die Truppen im Norden, denn nur er sei in der Lage, die konkurrierenden Soldaten und Magier zum gemeinsamen Vorgehen zu bewegen. Auf jeden Fall ist langsam auch hier die Wirkung des Krieges zu spüren. Keine Hungersnot, aber marodierende Orks und Goblins. Das macht auch diese Gegend unsicher. Und der Abzug der Landsknechte nach Norden begünstigt Raub und Wegelagerei durch Räuberbanden. Alles in allem finsteres Mittelalter.«
Er schaute sie an. Sie hatte sich auf die Seite gerollt, blickte ihn fest an. Seine Worte sog sie auf wie ein Schwamm. Immerhin beschrieb er gerade, was das Schicksal ihr zugedacht hatte.
»Orks und Goblins? Gibt es die wirklich? Ich dachte, das wären Erfindungen von Märchen-Autoren, um ihre Bücher zu füllen.«
Bei seinem Lachen erkannte sie die Reihe weißer Zähne, die sich vom Halbdunkel abhoben.
»Abgesehen davon, dass es sie gibt, sind sie eine echte Plage. Ich rede jetzt nicht vom Krieg. Der ist für hiesige Verhältnisse weit weg – noch. Ich rede davon, dass sie von den Morgenbergen her einsickern. Bis jetzt überfallen sie nur einzelne Höfe und kleine Dörfer, die sich überraschen lassen. Ihre militärische Struktur ist einfach, mit Masse triffst du auf einfältige Schläger. Sie sind aber geschickt mit ihren krummen Schwertern, sie sind stark und brutal. Alle. Ihre Grausamkeit habe ich erst mit der Zeit erkannt. Seitdem versuche ich, sie zu erlegen, wo immer sie in meiner Nähe auftauchen.« Ein kurzes Seufzen unterbrach seine Erzählung. »Deswegen will ich auch nach Süden. Im Norden kann ich wenig ausrichten, da sind schon die Soldaten und Magier. Sie und die Zwerge aus der nördlichen Tundra nehmen die Orks in die Zange. Ich hoffe, sie halten sie noch lange auf. Weiter im Süden sind es nur einzelne Trupps. Bis jetzt bin ich mit ihnen fertig geworden. Aber ich brauche eine Basis.«
»Militärische Struktur?« Sie schaute ungläubig. »In den Filmen sind das doch hirnlose Horden, die ohne erkennbares Ziel einfach das Land überschwemmen.«
»Mitnichten.« Er lachte heiser, wusste er es doch aus Erfahrung besser. Nun glaubte er, sie mit dieser Erwiderung zufriedengestellt zu haben. Eigentlich kein Thema, für das sich eine Frau interessiert, wunderte er sich, als sie doch nachhakte. Das irritierte ihn. Kopfschüttelnd gab er nach. Ihm leuchtete ein, dass sie so viel wie möglich über ihre neue Umgebung wissen wollte, auch wenn sie sicherlich nicht alles behalten würde.
»Fünf Kämpfer, Orks und die beweglicheren Goblins zusammen, bilden einen Trupp. Wenn ich also von Orks rede, sind fast immer Goblins dabei. Drei Trupps bilden einen Zug. Mit dem Zugführer, seinem Schamanen und den Meldern um die zwanzig Krieger. Vier Züge sind eine Kompanie. Dazu kommen Kompanieführer, eigene Schamanen und der Tross, also über hundert Mann. Von einer größeren Truppe habe ich noch nichts gehört.«
Er holte Luft.
»Ich bin bisher nur auf Trupps gestoßen und einmal auf einen Zug, der im Begriff war, einen Bauernhof zu überfallen. Die Trupps hatten sich getrennt, um den Hof von zwei Seiten anzugreifen. Ein Fehler.« Was er damit meinte, ließ er offen.
»Das reicht jetzt über Orks«, beendete er das Thema. »Kommen wir nun zu deiner großen Frage!«
Sie wusste nicht, ob er nur eine Kunstpause machte oder ob er sich seine Gedanken zurecht legen musste. Sie rollte sich auf den Bauch, stützte sich auf die Ellenbogen. Ihr Kinn lag auf ihren gefalteten Händen. Sie sah ihn direkt an. Er hatte sich gerade auf den Rücken gelegt.
»Also«, begann er, »du gehst spazieren und stehst auf einmal im Wald. Ist mir genauso gegangen. Vor rund zwei Jahren. Du bist durch ein magisches Tor marschiert. Das merkst du aber erst, wenn du durch bist, dich umdrehst und nicht mehr zurück findest. Du läufst hin und her auf dem Weg, den du glaubst gekommen zu sein. Läufst ein paarmal um die Bäume, von denen du meinst, dass sie das Tor bilden. Schüttelst den Kopf über deine blöden Fantasien und weißt nicht weiter. Das passiert dir, egal, ob du allein bist oder mit anderen zusammen. Nicht alle aus deiner Gruppe müssen mit durch das Tor gegangen sein. Von meiner Gruppe fehlten die meisten.«
Die Erinnerung daran, wie er selbst hierhergekommen war, ließ seine Stimme zittern.
Julia konnte seine Anspannung förmlich spüren.
Er richtete den Oberkörper halb auf und ließ sich auf die Ellbogen zurücksinken.
»Irgendwann hältst du es nicht mehr aus, und du fängst an zu rennen. Egal, wohin, schließlich weißt du ja gar nicht, wo du bist und wo du hinkannst. Wenn du länger hier bist, triffst du Leute, die schon von diesen magischen Toren gehört haben. Weil immer wieder jemand in seltsamen Kleidern – so wie du jetzt und früher ich – hier aufschlägt, sich nicht zurechtfindet und lauter komische Fragen stellt. Was ist das hier? Wieso ist alles anders? Wie komme ich zurück? Ganz selten triffst du jemanden von drüben. Die meisten, die hier gelandet sind, fühlen sich gestrandet, sind depressiv und weigern sich, dies hier als Realität anzuerkennen. Naja, das Leben hier macht es einem ja auch nicht gerade leicht. Krieg, Orks, Magie. Da stehen die Leute dann neben sich. Die wenigsten sind noch vernünftig. Deswegen habe ich dich vorhin auch zu mir rübergezogen. Allein kommst du hier nicht zurecht. So, und nun zum Rückweg! Richte dich mal auf einen längeren Aufenthalt ein. Der kann ein Leben lang dauern. Auch hier soll es magische Tore geben. Mir hat man nur den Standort von einem einzigen beschrieben. Und das auch nur ganz vage. Es liegt mitten im Orkland, in einer steinigen Wüste weit ostwärts der Berge, durch die die Orks auf das Schlachtfeld strömen. Das heißt, solange Krieg herrscht, gibt es kein Durchkommen. Außerdem …« Er zögerte, als fürchte er sich davor weiterzusprechen. »Außerdem, wer weiß schon, was auf der anderen Seite liegt? Landest du wieder in Freiburg, oder führt dich das Tor in ein urzeitliches Land mit Sauriern? Oder triffst du auf Mad Max und Aunt Entity mit ihrer Donnerkuppel? Ich mag gar nicht dran denken. Sogar ich hab´ Angst davor. Hier leben wir wenigstens!«
Er versank für eine Weile stumm in Grübeleien. Er hatte ihr alles erzählt.
»Tut mir Leid, dass ich so wenig Trost für dich habe. Aber je eher du dich mit dem Gedanken anfreundest, erst mal hier bleiben zu müssen, umso schneller gewöhnst du dich daran und verzweifelst nicht.«
Sie starrte ihn an. Sein Bericht war unglaublich. Unerhört. Dennoch hatte sie nicht den Eindruck, er habe ihr Hirngespinste aufgetischt. Aber sie brauchte Zeit, seine Erzählung zu verdauen.
Sie wickelte sich in ihre Decke, schlang die Arme rund um sich, drehte ihm den Rücken zu und flüsterte.
»Halt mich fest! Ich brauch´ das jetzt.«
Er drehte sich zu ihr auf die Seite und legte seinen freien Arm um den Kokon, in den sie sich eingesponnen hatte. Die Berührung erweckte ein Gefühl der Begehrlichkeit. Er unterdrückte die Regung, obwohl Julia ihm gefiel. Die Mission, der er sich insgeheim zur Rettung Siebenreichs verpflichtet hatte, war zu gefährlich, als dass er ein Verhältnis hätte eingehen dürfen. Obwohl er spürte, dass sie trotz ihrer Erschöpfung noch lange wach liegen würde, schlief er bald ein. Er kannte das ja mittlerweile alles und hatte seinen Frieden mit dieser Welt geschlossen. Aber wie würde sie mit alldem umgehen? Sie brauchte Schutz. Wie konnte er ihr helfen? Wollte er das überhaupt?
7.
Es musste kurz nach drei sein. Das sagte ihr zumindest ihr Gefühl, als sie aus ihrem unruhigen Schlaf tauchte und durch die kaum geöffneten Lider in das Halbdunkel schaute. Sie drehte sich um und wollte ihren Radiowecker befragen, aber keine roten Ziffern leuchteten ihr entgegen. Stattdessen schirmte ein Schatten sie in dieser Richtung ab. Nach Betasten und Nachdenken erkannte sie ihren Tischgenossen vom Vorabend. Zuerst fragte sie sich, wie viel sie getrunken hatte, denn es war wohl das erste Mal seit zu langer Zeit, dass sie jemanden über Nacht zu sich nach Hause mitgenommen hatte. Die Erinnerung an ihre neue Realität traf sie wie ein Schlag vor den Kopf. Erschrocken fuhr sie hoch. Der Verlust der alten Welt und der alten Gewohnheiten schockierte sie, aber in dieser Nacht konnte sie nichts daran ändern. Sie legte sich wieder auf die Seite, schlang die Arme um ihre Knie und wartete mit leisem Schluchzen auf den Schlaf. War das alles wirklich wahr? Und wie oft würde sie sich noch in ihre alte Umgebung zurückwünschen?
Als sie wieder aufwachte, fand sie sich allein auf ihrem Lager. Ihr Herz raste vor Panik, er habe sie allein zurück gelassen. Nicht nur, weil sie ihn inzwischen sympathisch fand. Sie war nach seinem Bericht in der Nacht zu dem Schluss gekommen, dass sie ihn brauchte. Wenn sie überleben wollte, wozu sie sich nun fest entschlossen hatte. Und zurück nach Freiburg! Sie war überzeugt, er könne ihr helfen, auch, wenn er es selbst noch nicht glauben wollte. Sie würde es ihm schon beibringen.
Als sie die Decken um und unter sich fühlte und den Tornister neben sich stehen sah, beruhigte sie sich wieder. Durch die Lücken im Dach lugte ein blauer Himmel, der Heuboden war in Zwielicht getaucht, in dem sie nun Einzelheiten erkennen konnte. Unendlich viele kleinste Teilchen von Stroh schwirrten schwerelos durch die Luft und glitzerten, wenn sie in einen der Sonnenstrahlen gerieten, die durch die Ritzen zwischen den Schindeln herein fanden. Der Anblick verursachte bei Julia einen Niesreiz, allergisch war sie keineswegs. Sie lag allein auf der ganzen Fläche, die übrigen Schläfer hatten ihre Habseligkeiten zusammengeklaubt und waren verschwunden. Die ihr gegenüber liegende Seite des Heubodens war nach außen offen. Von dort glaubte sie den Geruch von frischem Brot wahrzunehmen. Das machte ihr klar, dass sie lange geschlafen haben musste.
Sie fuhr zusammen. In diesem Moment steckte Mike den Kopf in ihren Schlafplatz. Er stand weiter unten auf der Treppe, seine nassen Haare klebten ihm am Kopf. Er war angezogen. Er stieg vollends die Treppe hoch, wünschte ihr einen guten Morgen und beugte sich über sie, um seinen Tornister über sie und das Schlaflager hinweg zu sich zu ziehen. Er zog eine lederne Hose und sein zusammengerolltes Lederhemd heraus und reichte ihr beides.
»Das steht dir besser als das dünne Fähnchen von gestern. Ist zwar ein paar Nummern zu groß, aber da achtet niemand drauf.«
Jetzt erst gewahrte sie, dass ihr Kleid nicht mehr über dem Geländer hing. Stattdessen erkannte sie einen Zipfel des Stoffes in einer Tasche des Tornisters.
»Vorher will ich mich waschen. Eine Dusche wäre noch besser«, gab sie zurück, während sie ihm Hemd und Hose aus der Hand nahm.
»Gibt´s unten im Hof«, erklärte er ihr mit schelmischem Lachen, »zwei Waschtröge für zwanzig Mann, gemischter Freilicht-Waschraum.«
»Waaas?« Sie war entsetzt. Das fehlte noch, dass alle ihr bei der tagelang vermissten Körperpflege zuschauen konnten! Sie richtete sich auf und stieg in die Hose. Dann schnüffelte sie an dem Hemd, zog die Nase kraus und zog es trotzdem an. Sorgsam achtete sie darauf, alle Knebel zu schließen. Sie drehte ihm den Rücken zu.
»Komm frühstücken!« Er grinste immer noch.
»Was gibt es? Und einen Kaffee brauch´ ich!«
»Das gleiche wie gestern Abend. Oder statt Fleisch etwas Honig. Die haben hier auch eine Biene«, flachste er. »Kaffee kannst du dir abschminken, den kennt man in dieser Welt nicht. Zu trinken gibt es etwas, das an Pfefferminztee erinnert. Ich war schon unten und hab´ eine Wegzehrung in Auftrag gegeben. Wir sollten bis Mittag aufgebrochen sein, um unser Tagesziel zu erreichen. Es sei denn, du willst hierbleiben.«
»Wohin gehen wir?«
»Königstein. Du triffst vielleicht die Alte wieder, von der du gestern erzählst hast. Außerdem kann man da vernünftig einkaufen, und es ist sicherer. Du bleibst dann dort. Ich will weiter nach Süden, und in Königstein werden gerade von den Bürgermeistern aus dem ganzen Land Orkjäger angeheuert. Vielleicht schaff´ ich´s ja, mich an die Südgrenze verpflichten zu lassen.«
Inzwischen hatte er die Decken ausgeschüttelt und in seinem Tornister verstaut und war schon auf dem Weg die Treppe hinab.
Sie folgte ihm auf den Fersen, ging aber vor der Scheune auf Abstand. Sie erinnerte sich, dass sie am Schauplatz des nächtlichen Überfalls vorbei mussten und scheute sich davor. Schließlich gab sie sich einen Ruck und schloss zu ihm auf. Am Tatort angekommen, gewahrte sie Reisende wie Gesinde um die beiden Toten herum stehen. Die hatte man inzwischen aus ihrer Körperhaltung gelöst, in der sie zusammengesunken waren. Die Totenstarre war vorüber. Sie lagen nun hintereinander längs des Zaunes ausgestreckt. Die Umstehenden waren ratlos darüber, wie zwei Leichen, die keinerlei Verletzungen aufwiesen, unbemerkt im Gehöft abgelegt worden sein konnten. Dass sie hier gestorben sein mochten, daran dachte man nicht. Schließlich waren sie hier unbekannt. Man reimte sich die ersten Gerüchte zusammen.
Sie drängten sich an den Neugierigen vorbei und betraten die Gaststube. Unterwegs hatte er ihr den Platz zum Waschen gezeigt. Nackte oder halbnackte Männer und Frauen zankten sich um einen freien Platz an den hölzernen Trögen. Solche Tröge hatte sie in Alpentälern gesehen, sie standen dort als Tränken auf Viehweiden. Sie war froh, sich das erspart zu haben. Doch der Anblick machte ihr Bedürfnis nach Erleichterung und Hygiene nur stärker.
Er hatte ihre Unruhe bemerkt.
»Nach dem Frühstück machen wir uns auf. In der Nähe gibt es ein Waldstück mit einem kleinen Gewässer. Dort ist alles da für unsere Morgentoilette.«
Das Frühstück bestand aus frisch gebackenem, noch heißem Brot, dem gleichen Käse wie gestern, der kalte Braten war in dünne Scheiben geschnitten. Etwas Butter gab es auch, sie aßen sie aber nicht, denn sie sah ranzig aus. Das kalte Getränk erinnerte wirklich an Pfefferminztee, war aber auch mit anderen Kräutern gebrüht worden.
Nachdem sie gegessen und getrunken hatten, ging er in die Küche und holte die Wegzehrung ab, von der er ihr erzählt hatte. Brot, Braten und Käse, alles einzeln in Lappen eingewickelt, die er der Küchenmagd vorher gegeben hatte. Der Proviant war reichlich, geeignet, einen zweitägigen Marsch gut zu überstehen. Die Magd hatte es gut gemeint. In zwei lederne Schläuche ließ er sich Getränke einfüllen, in den einen den Kräuteraufguss, in den größeren Apfelwein. Der Magd hatte er ein für hiesige Verhältnisse üppiges Trinkgeld zugesteckt.
Zurück im Schankraum nickte er Julia zu. Sie stand auf und gesellte sich zu ihm. Sie war sich nicht im Klaren, wie sie damit umgehen sollte, dass er über ihren Kopf hinweg entschieden hatte, sie nach Königstein mitzunehmen und dort zu lassen. Einerseits verfluchte sie ihn für seine Arroganz, die ihr einen freien Willen abgesprochen hatte, andererseits wusste sie, dass sie keinesfalls hierbleiben konnte. Sie hatte kein Geld in der hiesigen Währung, keine Kleidung zum Wechseln, das von ihm angesprochene Gewässer zum Waschen oder Baden war sicher meilenweit weg in einer ihr unbekannten Richtung – und sie hatte Angst. Angst vor den Menschen hier. Und Angst vor dem Verlorensein in dieser seltsamen Welt.
»Außerdem muss er mich nach Freiburg bringen«, wiederholte sie in Gedanken ihr Credo.
»Übrigens danke«, ließ sie sich vernehmen.
»Wofür?«
»Dass du heut´ Nacht nicht über mich hergefallen bist.«
Die Antwort schluckte er hinunter. Sein spitzbübisches Schmunzeln sagte genug.