Читать книгу Siebenreich - Die letzten Scherben - Michael Kothe, Rudolf Widmann Georg - Страница 9
Kapitel 3. Nach Königstein
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Die Temperatur war herbstlich lau. Schwacher Wind trug von irgendwoher den Duft nach Heu. Sie folgten dem Weg nach Nordosten. Es war ein besserer Trampelpfad, ausgetreten von Bauern und Händlern zog sich eine Spur verdichteter Erde durch bräunlich-grünes Steppengras. Wenige Schritte vor dem Tor hatte er sich dreigeteilt, die beiden anderen Wege führten links und rechts die Mauer entlang und verloren sich grob in Richtung Nordwesten und Südosten. Julia wunderte sich über die eingeschlagene Richtung, hatte Mike doch behauptet, er wolle nach Süden. Sie sagte aber nichts. Den letzten Menschen waren sie auf halber Sichtweite zum Dorf begegnet.
»Was zwinkerst du mir eigentlich dauernd zu?« versuchte sie, ein Gespräch zu beginnen. Das Schweigen war ihr unangenehm, und endlich hatte sie einen Ansatzpunkt gefunden.
»Ich zwinkere nicht. Aber wenn ich die Augen zukneife, kann ich schärfer sehen. Bei einer meiner ersten Rangeleien mit einem Goblin habe ich meine Brille eingebüßt.«
Als sie ihn mit offenem Mund ansah, lachte er.
»Den Verlust habe ich verschmerzt. Es gibt hier wenig zu lesen. Außerdem ist meine Sehfähigkeit hier besser geworden. Das muss an der Magie liegen.«
»Magie? Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Gewiss nicht! Die Natur ist voll davon. Man muss sie nur erkennen und zu nutzen verstehen. Aber nun lass mal, wir sind da.«
Seit einiger Zeit hielt er den Blick gesenkt, hatte fast nur noch in das Gelände unmittelbar rechts des Pfades geschaut. Sie lief in ihn hinein, so abrupt blieb er nun stehen.
»Am Wasser? Ich seh´s nicht.«
Er schüttelte den Kopf und deutete auf eine kleine Pyramide aus vier oder fünf flachen, runden Steinen. Ohne ihn hätte sie sie übersehen. Er trat wenige Schritte neben den Weg, dann zog er den Tornister vom Rücken, kniete sich hin und begann mit den Händen in der losen Erde zu scharren.
»Werkzeug lohnt nicht«, erklärte er, als er ihren fragenden Blick bemerkte, sagte aber nicht, was er ausgraben wollte.
Das war ohnehin nur von einer dünnen Schicht bedeckt, und nicht einmal vollständig, wie sie nun bemerkte. Es sah aus wie eine hölzerne Trage, nur dass sie dreieckig war, gefertigt aus Birkenstämmen und Leder. Über die Last spannte sich grauer Stoff.
»Mein Schlitten. Für dich ist er leider nicht stabil genug. Ich hoffe, du bist gut zu Fuß.«
Er richtete sich auf, ging bis zum Weg zurück und verwischte mit einem herumliegenden toten Zweig die Spuren bis zu ihrem Standort. Die Steine hatte er in verschiedene Richtungen zwischen die Büsche geschleudert. Er legte den Tornister auf die Trage, wickelte sich den Riemen ums Handgelenk und richtete sich auf.
»Da lang.«,
Er zeigte mit der freien Hand querfeldein in grob südliche Richtung, in der sie Wald ausmachte.
»Ich hatte dir ja einen Platz zum Waschen versprochen. Den musst du dir jetzt erarbeiten.«
Damit zerstreute er endgültig ihre Befürchtung, diesen und vielleicht auch die nächsten Tage verschwitzt und mit juckender Haut zubringen zu müssen. Von einem Bach hatte er gesprochen, sie freute sich darauf, und die eine Meile würde sie noch aushalten.
»Gibt es denn hier keinen Weg zum nächsten Dorf? Bei unserem Aufbruch habe ich mindestens zwei gesehen. Einer ging nach Süden, wo du hinwillst.«
»Klar gibt es Wege, aber die meisten Dörfer in Richtung Königstein sind von Räuberbanden besetzt, und ich habe keine Lust, mich in jedem Weiler mit fünfzehn bis zwanzig dieser Galgenvögel anzulegen. Das ist manchmal gefährlicher als ein Kampf mit Orks. Vor allem bringt ein Angriff fast immer die Dorfbewohner in Gefahr. Die werden sozusagen in Geiselhaft gehalten, aber bis auf Diebstahl und Vergewaltigung passiert ihnen recht wenig.«
»Raub und Vergewaltigung sind für dich wenig?« Julia wurde heftig. »Denkst du gar nicht an die Opfer, an ihre Schmach und die Peinlichkeit?«
»Erstens habe ich es so nicht gesagt, und zweitens würde ich es nicht peinlich nennen«, verteidigte er seine Rede, »wenn eine Frau vergewaltigt wird. Es ist aber immer noch besser, als erschlagen zu werden, nur, weil einen einzelner tapferer Retter erpressbar ist. Wir bringen jede Stunde einen Dorfbewohner um, wenn du dich nicht stellst. oder Für jeden von uns sterben drei von denen. So läuft das.«
»Und die Soldaten des Königs? Reguläre Truppen, Stadtwachen?«
Sie redete immer hastiger, lauter. Schließlich blieb sie stehen.
Er zog an ihr vorbei und zwang sie so weiterzugehen.
»Die Soldaten sind am Nordwall gebunden, und Stadtwachen – aber es gibt bis Königstein ohnehin keine Städte – trauen sich nicht aus ihren Mauern heraus. Zumindest nicht, solange sie nicht selbst angegriffen werden.« Mike zupfte nachdenklich an seinem Kinnbart. »Und sollte irgendwann einmal der Krieg vorüber sein, dann werden die Dörfer durch die heimkehrenden Truppen von diesem Gesindel gesäubert. Bis dahin müssen wir uns in dieser Gegend querfeldein durchschlagen.« Er zuckte die Schultern, und als Julia nichts erwiderte, fasste er die Leine seines Schlittens ein Stück kürzer,
»Erzähl mal«, knüpfte sie ein paar hundert Meter weiter an das Gespräch vom Vorabend an, »wie bist du hierhergekommen?«
»Eine längere Geschichte«, entgegnete er, »es war ein Betriebsausflug. Von Sonthofen aus.«
Auffordernd nickte sie ihm zu. Die wellige Landschaft bot wenig Sehenswertes, und so hatten sie Unterhaltung für die nächste Viertelstunde.
»Zum Ausflug war ich mit Kollegen und Ehemaligen aufgebrochen. Eine Wanderung im Allgäu, kein Klettern, kein Kraxeln. Nach einem Frühstück auf einer Alm, die Verpflegung hatten wir in unseren Rucksäcken dabei, hatte sich die Gruppe auseinandergezogen. Ich hatte mich mit ein paar Kollegen und ihren Ehefrauen an die Spitze gesetzt. Obwohl vorher schon die nächste Wiese durchgeschimmert hatte, erwies sich ein Wäldchen plötzlich als unendlich. Da erst entdeckten wir den natürlich gewachsenen Torbogen, durch den wir gerade marschiert waren: Zwei mächtige Bäume mit ineinander verschränkten Kronen. Eben noch hatten wir uns mit der Gruppe hinter uns unterhalten, und nun waren wir schlagartig allein! Alles Suchen und Rufen fruchtete nichts, unsere Mobiltelefone brachten keine Verbindung zustande. Übernachten mussten wir auf dem Waldboden. Am zweiten Morgen wurden wir immer noch im Wald wach. Besser gesagt: Wir wurden geweckt. Von einer Überzahl grobschlächtiger Gestalten.«
»Holzfäller? Räuber? Die musst du mir genauer beschreiben!«
»Klar«, gern ging er auf ihren Wunsch ein. »Alle waren mehr als mannsgroß. Schultern und Hüften breit, Brustkorb voluminös, die Beine stämmig, die Arme kräftig, und Hände wie Schraubstöcke. Alle trugen derbe Kleidung aus grobem Stoff mit Leder- oder Fellbesatz, dazu die meisten eiserne Harnische und flache Helme. Die Füße steckten in gebundenen Stiefeln aus Fell oder grobem Leder. Ihre Gesichter waren rundlich mit einem Teint zwischen hellbraun und gelblich-oliv. Unter der fliehenden Stirn schauten kleine Augen neben einer breiten Nase über runde Wangen. Der Mund war breit, und alle hatten sie einen ausgeprägten Unterbiss. Nicht nur deshalb verstand ich ihre gutturale Sprache nicht, ich hatte sie noch nie gehört gehabt. Starke Körper- und Gesichtsbehaarung hatten alle. Dem Körpergeruch nach Schweiß und Urin war nicht auszuweichen. Jeder trug ein Schwert mit gezahnter Klinge, die unterhalb der hakenförmigen Spitze um drei Fingerbreit nach hinten versprang.«
Er schluckte.
»Ich hatte schon genug über sie gelesen, sodass ich sie ganz gut kannte. Nie jedoch hatte ich geglaubt, dass es sie wirklich gibt.«
Er holte tief Luft.
Erwartungsvoll blickte sie ihn von der Seite an.
»Orks.«
»Mein Gott! Und was ist dann passiert?«
„Keiner von uns hat sich gewehrt. Sie haben uns die Hände gefesselt und uns vor sich hergetrieben. Es war ein beschwerlicher Marsch. Sie hatten weitere Gefangene dabei. Zwar durften wir nicht miteinander sprechen, aber die erzählten uns, wir würden auf einem Sklavenmarkt im Süden verkauft. Deshalb haben die Orks auch keinem von uns etwas angetan. Schließlich waren wir gutes Geld wert.«
»Sklaverei? Heute noch? Wie bist du daraus freigekommen?«
»Sie hatten mich gar nicht bis zum Sklavenmarkt gebracht. Ich hab’ die erste Gelegenheit zur Flucht genutzt, hab’ Glück gehabt.«
»Und deine Kollegen? Was ist mit denen geschehen?«
Mit einem schnellen Schritt stellte sie sich direkt vor ihn und vertrat ihm den Weg. Sie platzte vor Neugierde.
Er musste abrupt stehen bleiben, prallte dennoch fast gegen sie. Sein Schlitten stieß ihm in die Kniekehle. Er bückte sich, rieb die schmerzende Stelle. Als er sich aufrichtete, zuckte er mit den Schultern.
»Ich habe keine Ahnung, habe nichts mehr von ihnen gehört. Ich hatte mich verkrochen, bin ihnen nicht gefolgt. Vor den Orks hatte ich Angst, wollte mich nicht nochmal erwischen lassen. Ein schlechtes Gewissen hab’ ich immer noch, weil ich nicht versucht habe zu helfen. Aber darüber möchte ich nicht reden. Außerdem sind wir fast am Ziel, und ich will mich vorher noch umsehen. Lass uns weitergehen!«
Er ging so knapp um sie herum, dass sein Schlitten ihre Beine streifte, als er ihn mit einem Ruck anzog. Eine kleine Rache für ihr Abblocken eben.
2.
Während des Marsches war ihr aufgefallen, dass die Büsche weniger dicht wuchsen, je näher sie dem Wald kamen. Einzelne Birken durchsetzten eine sandige Heidelandschaft. Den Waldrand hatten sie beinahe erreicht, als er ihr ein Zeichen gab anzuhalten. Dankbar setzte sie sich auf eine etwas höhere Grasinsel und massierte ihre Waden. Die fast zwei Meilen strammen Schrittes hatten sie nicht überfordert, aber sie hatte sich anstrengen müssen, mit ihm Schritt zu halten. Er wickelte den Riemen des Schlittens ab, ließ ihn fallen und rieb sich das Handgelenk. Tief eingeschnitten hatte der Riemen nicht, aber doch rötliche Streifen auf seiner leicht gebräunten Haut hinterlassen.
Helle Spuren, die vom Tragen einer Armbanduhr in sonnigen Zeiten hätten zeugen können, entdeckte sie nicht. Also musste es stimmen, dass er schon länger hier lebte. Dafür bemerkte sie erst jetzt seinen Ehering. Sie schüttelte den Kopf über die späte Entdeckung. Bei attraktiven Männern hatte sie immer als erstes auf so etwas geachtet, das war normal gewesen. Heute aber war der fünfte Tag, an dem eben nichts mehr normal war. Die Zeitspanne kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Sie riss sich von ihren Gedanken los und sah zu ihm auf.
»... alleine zum Waldrand«, hörte sie noch. Den ersten halben Satz hatte sie verträumt. »Das ist immer eine kritische Situation«, verstand sie, da sie sich nun auf ihn konzentrierte, »du wartest hier. Ich bin in einer Viertelstunde zurück, es sei denn, dort ist etwas. Dann komm bloß nicht nach, sondern renn’ zum Dorf zurück. Und lass dich unterwegs nicht erwischen!«
Hastig nickte sie zur Bestätigung. Eine unbestimmte Furcht mischte sich in ihre Enttäuschung darüber, dass er sie nicht gleich zu dem klaren, frischen Waldbach mitnahm, nach dem sie sich so sehnte. Unwillkürlich duckte sie sich.
Er reckte sich und schritt langsam auf eine markante, einsam vor dem Wald stehende Eiche zu. Zwei magere, nicht einmal schulterhoch gewachsene Sträucher drückte er auseinander und zwängte sich hindurch. Und war plötzlich verschwunden!
Ungläubig rieb sie sich die Augen, sie hatte ihm doch nachgeschaut. Sie arbeitete sich hoch und rannte ihm bis zu den Sträuchern nach. Von der Stelle seines Verschwindens an war die Ebene so gut wie unbewachsen und leicht zu überschauen. Deutlich erkannte sie am Waldrand die licht stehenden Laubbäume. Vereinzeltes Gesträuch dazwischen, kein Unterholz. Der Weg zum Bach war offenbar gut begehbar. Und ihr Orkjäger? Weg! Sie schüttelte den Kopf und war sich sicher, einer optischen Täuschung zu unterliegen: In Richtung der Eiche vermeinte sie, kleine Staubfontänen zu erkennen, jeweils eine gute Schrittweite von der vorigen entfernt. Zum Wald hin entstanden neue, während die älteren verflogen.
Verwirrt kehrte sie zu ihrem Platz zurück und setzte sich wieder.
Irgendwann versuchte sie, von da aus die Last auf dem Schlitten zu erkennen. Die graue Decke darüber gab die Konturen nur schemenhaft preis, also stand sie auf und ging hinüber. Die Decke war mit locker gespannten Lederriemen gegen Herunterrutschen gesichert. Sie schob eine Hand darunter und tastete. Harte, runde Formen und … Ein plötzlicher Schmerz fuhr ihr in die Fingerspitze. … und scharfe Gegenstände! Sie schrie kurz auf, hastig zog sie ihre Hand zurück. Instinktiv steckte sie den Finger in den Mund, sog an dem Schnitt und betrachtete dann ihre Fingerkuppe. Sie blutete nicht, der Schnitt war nur oberflächlich. Nun war ihre Neugierde so groß, dass sie sich gar nicht mehr zu beherrschen versuchte. Sie machte sich keine Gedanken darüber, ob es richtig wäre, seine Habe bloßzulegen. Auf einer Seite band sie die Decke los und schlug sie zurück. Was sie sah, machte ihr wieder deutlich, in welch verrückte Welt sie eingetaucht war: eiserne Waffen und Rüstungen. Die Helme waren flach, und vereinzelt gewahrte sie an ihnen dicke, störrische Haarsträhnen innen und an den Riemen. Dass sich Haare auch in den Brustpanzern fanden, konnte sie sich zuerst nicht erklären. Ja, doch, sie schienen ausgerissen, als habe sich jemand nicht die Mühe gemacht, die Schnallen ganz zu öffnen. Dass einige Riemen abgerissen waren, gab ihr wohl recht. Alle Rüstungsteile wie auch die schweren, am Ende gebogenen Schwerter mit gezahnter Schneide wiesen Rost auf. Einige dazu dunkle Verkrustungen, an den Waffen flächig, an den Rüstungen Spritzer. Blut, schoss es ihr durch den Kopf. Wer die früheren Träger dieses Eisenwarenlagers waren, hatte er ihr ja angedeutet. Die großen Größen waren von Orks gewesen, die kleineren hatten Goblins gehört. Nun wollte sie unbedingt mehr über ihn erfahren. Und darüber, wie er lebte.
»Verdammt«, murmelte sie halblaut, »wenn ich ihm doch nicht jedes Wort über sich aus dem Nase ziehen müsste!«
Am Abend hatte sie angefangen, ihn auszufragen über sein altes Leben zu Hause, wie sie sich ausgedrückt hatte. Aber kaum hatte sie den Mund aufgemacht, hatte er ihr mit einem knappen »Darüber möchte ich nicht sprechen.« eine Abfuhr erteilt.
»Naja, das kommt wohl vom einsamen Leben in der Wildnis. Aber wie bist du Orkjäger geworden? Und wie gefährlich ist das?« fragte sie sich nun. Menschen als Orkjäger, noch dazu Einzelgänger, das war etwas, was nicht zusammenpasste. Hatte er ihr doch vorhin die Orks als über mannsgroß, grobschlächtig, bärenstark und grausam beschrieben. Und immer traten sie in Gruppen auf.
Und noch etwas fragte sie sich:
»Willst du wirklich nur wissen, was einem das Leben in diesem Siebenreich beschert, oder fängst du an, dich für den Kerl zu interessieren?«
Sie spürte einen Hauch, sah aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Sie fuhr zusammen. Die Gefahr fiel ihr ein, von der er gesprochen hatte. Zitternd drehte sie sich um. Erleichtert atmete sie auf, als sie ihn erkannte. So vertieft war sie in ihren Fund gewesen, dass sie ihn nicht hatte kommen sehen. Der sandige Grund hatte zudem die Geräusche seiner Schritte verschluckt.
Nun erwartete sie eine Gardinenpredigt.
»Zu Recht«, meldete sich ihr Gewissen. Aber ihre Neugier obsiegte, und sie kam ihm zuvor.
»Erzähl«, sprudelte es aus ihr heraus, »was sind das für Sachen? Ja, Rüstungen und Waffen, das sehe ich. Aber wie bist du darangekommen? Orks sind doch stärker als du. Wie viele wart ihr, als ihr mit ihnen gekämpft habt?«
Die Waffen und Rüstungsteile mussten Teil der Beute sein, die er nach einem Kampf an sich genommen und mit seinen Kampfgefährten geteilt hatte. Aber wo waren die anderen Orkjäger? Und wo die übrigen Sachen? Kleidung, Gürtel, Schuhe? Schmuck, Geld?
Er schloss den Mund wieder. Seinem Zorn hatte er Luft machen wollen, sie zur Rede stellen, weil sie in seinen Sachen herumgeschnüffelt hatte. Als sie nun mit schief gelegtem Kopf vor ihm stand, schluckte er seinen Ärger hinunter. Im Gegenteil, ihre Neugier trieb im ein breites Grinsen ins Gesicht.
»Das erzähl ich dir alles nachher beim Essen. Die Luft ist rein. Wir machen uns jetzt erst mal frisch. Danach haben wir genug Zeit für deine Fragen.«
Verwundert schüttelte er den Kopf darüber, dass ihr Entsetzen über diese raue Welt sich schon nach so kurzer Zeit mit Wissbegierde mischte und fast schon verdrängt wurde. Sie würde sich bald hier zurecht finden.
3.
Der Waldrand war nicht weit. Während Mike sich vorhin zwischen dem Buschwerk vorsichtig bewegt und vermieden hatte, aus dem Sichtschutz herauszutreten, gab er sich nun ungezwungen. Er ging aufrecht, und auch die Schleifspuren seines Schlittens kümmerten ihn nicht.
Innerhalb des Laubwäldchens, von dem sie beim Betreten fast das gegenüberliegende Ende sehen konnte, schwenkte er gleich nach links.
Während der ersten Schritte fröstelte Julia, im Wald war es kühler. Ihr Zittern verging, nachdem sie die Arme fest vor ihrer Brust verschränkt und zweimal die Schultern angespannt und wieder gelockert hatte. Die Steigung war gering. Ein Gurgeln und Sprudeln klang von dort herab. Sie beschleunigte ihren Schritt, überholte Mike sogar. Wenn sie ihm nicht gerade zuhörte, hatte sie sich immer hinter ihm gehalten, nur wenige Male zu ihm aufgeschlossen, um eine Frage zu stellen oder ihm eine Entdeckung mitzuteilen.
Kaum hatte sie sich vor ihn gesetzt, hörte die Steigung auf. Sie betrat eine kleine Lichtung, dahinter ging es wieder bergauf. Es roch nach frischem Wasser. Von oben kam ihr ein Rinnsal entgegen, seicht und so schmal, dass sie hätte darüber steigen können. Das Plätschern rührte von Wirbeln her, verursacht von Wurzeln, die in die leichte Strömung hineinwuchsen. Neugierig lief sie schneller. Nach wenigen Schritten stand sie am Rand eines Teichs, der mit einem Durchmesser von vierzig, fünfzig Metern und mit seinem kristallklaren Wasser regelrecht zum Baden einlud. Vorerst ließ sie sich aber nur auf die Knie fallen und schöpfte mit beiden Händen Wasser.
Nachdem sie ihren Durst gestillt hatte und zusah, wie Mike den Tornister vom Schlitten schnallte und ihre Mahlzeit daraus hervorzog, kam ihr wieder zum Bewusstsein, dass sie vor dem Mittagessen noch etwas zu erledigen hatte: Körperpflege, soweit das in der Natur möglich war. Auch ihre Verdauung meldete sich wieder. Das Drängen hatte sie bis jetzt unterdrückt, nun aber wurde es unbequem. Sie druckste herum. Schweißperlen warteten unter ihrer Haut darauf hervorzubrechen.
Er deutete ihren Zustand richtig.
»Geh halt hinter die Büsche. Ich guck auch nicht. Papier gibt es keins, aber die Blätter hier sind zäh und faserig. Sie wachsen fast überall.«
Er hielt ihr ein Bündel rötlich-grüner handgroßer Blätter hin. Nachdem sie sie ihm zögernd abgenommen hatte, pflückte er den Busch fast kahl. Die Blätter steckte er in eine Seitentasche seines Tornisters, dahin, wo er eben Brot, Fleisch und Käse entnommen hatte, nur tiefer.
»Benutz´ die Oberseite, die mit den kleinen Borsten«, hörte sie noch. Sie vertraute darauf, dass er hielt, was er versprochen hatte, und ihr nicht folgte.
Das nächste Hindernis stand bevor. Wie sollte sie ihm klar machen, dass sie allein sein wollte, wenn sie sich wusch? Die Erinnerung an die beiden Waschtröge in der Herberge war für sie der blanke Horror.
Ihre Gefühle kümmerten ihn wohl überhaupt nicht! Er hatte sich entkleidet und stand bis über die Knie im Wasser, als sie aus den Ginsterbüschen hervor wieder an den Teich trat. Er drehte ihr den Rücken zu. Sie fand, er sei ganz gut gebaut für sein Alter. Offensichtlich führte sein Leben in der Wildnis dazu, dass er mehr Muskeln als Fett ansetzte. Da fiel ihr ein, dass sie ja überhaupt nicht wusste, wie alt er war, nur von seiner Haarfarbe hatte sie darauf geschlossen. Auf einmal interessierte es sie, sie würde ihn trotz seiner Abfuhr letzte Nacht fragen. Unwillkürlich griff sie sich ins Haar, kämmte es mit den Fingern und strich sich eine Strähne aus der Stirn.
Am Morgen hatte sie beobachtet, dass Schamhaftigkeit bei der hiesigen Bevölkerung nicht gerade großgeschrieben wurde. Als er dann auch noch über die Schulter zurückschaute, als wolle er fragen, worauf sie denn noch warte, überwand sie ihre Scham und entkleidete sich bis auf ihre Leibwäsche. Aber die musste sie auch noch waschen. Als sie seine Unterhose entdeckte, die über einem Strauch hing, aus Leinen mit groben Stichen genäht und schon im Wasser durchgewalkt, zog sie sich ganz aus. Ihm den Rücken zugewandt, wusch sie ihre Wäsche und breitete sie über einem anderen Strauch in den reichlich durchs Blätterdach dringenden Sonnenstrahlen aus.
Mittlerweile war er in brusttiefes Wasser vorgedrungen, hatte sich umgedreht und beobachtete sie.
»Du siehst gut aus. Kannst so bleiben«, lachte er und winkte ihr zu, sie solle ins Wasser kommen.
Als sie sich umdrehte und sich mit kleinen Schritten ins tiefere Wasser tastete, hielt sie trotz seines Kompliments die Arme über ihre Brüste und ihre Scham gepresst.
Das Wasser war kalt. Ihm schien das nichts auszumachen, er hatte in kreisförmigen Bahnen zu schwimmen begonnen. Nun war es zu spät, sie hatte ihn nackt gesehen, er sie auch, also ging sie so weit zur Mitte des Teiches, bis ihr das Wasser bis über die Brust reichte. Die kurzen Zeitspannen, die er nicht zu ihr herüber sah, nutzte sie, um sich unter Wasser mit beiden Händen von Kopf bis Fuß abzuschrubben.
Als sie sich sauber fühlte, suchte sie ihn. Wild schüttelte sie den Kopf, zog mit beiden Händen ihr triefend nasses Haar aus dem Gesicht, bis es über ihren Schultern lag.
Kaum hatte sie ihre Frisur gerichtet, da kam es zu einer Begegnung halb über, halb unter Wasser. Er war tauchend zu ihr geschwommen und unmittelbar vor ihr aus dem Wasser geschnellt. Ihr Schrecken dauerte nur einen Lidschlag lang. Mit der flachen Hand hieb sie auf die kleinen Wellen und spritzte ihm das Wasser in die Augen. Sofort war eine neckische Wasserschlacht im Gang, und irgendwann berührten sich ihre Körper. Spontan umarmten sie sich und gingen Hand in Hand ans Ufer.
Abrupt ließ sie ihn los und schlang die Arme um ihren Körper.
Als er ihre Gänsehaut bemerkte, öffnete er den Tornister und kam mit den Decken wieder, die in der Nacht ihr Lager gebildet hatten. Eine schlang er um ihren zitternden Leib, die andere reichte er ihr. Mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis ließ sie zu, dass er sofort anfing, sie trockenzureiben. Sie wickelte sich das zweite Tuch um den Kopf und wrang sich damit das Wasser aus dem Haar. Dann genoss sie die wohlige Wärme, die sein Frottieren verursachte. Sie blickte an sich herab auf ihre gerötete Haut, nahm ihm die Decke aus der Hand und begann ihrerseits, ihn damit zu massieren. Dass seine Haut schon trocken war, wollte sie nicht bemerken.
Als sie von ihm abließ, breitete er die große Decke auf dem Moos aus. Sie legten sich hin, und er nahm sie in den Arm.
»Gelegenheit macht Liebe«, heißt es in Abwandlung eines alten Sprichwortes.
4.
Später saßen sie nebeneinander am Ufer und genossen ihre Mahlzeit. Ihnen kam die ewig gleiche Zusammenstellung aus Brot, Braten und Käse keineswegs eintönig vor. Abwechslung war hier ein Luxus, der nicht jedem zugänglich war. Ihre Leibwäsche trocknete noch, ihre ledernen Anzüge hatten sie zum Lüften unweit davon an festere Äste gehängt. Alles brauchte noch Zeit, bis es wieder angezogen werden konnte. Nachdem sie mit essen fertig waren, hatte sie nachgeschaut.
Sie stutze, als ihr bewusst wurde, dass sie ihn unwillkürlich näher betrachtete. Trotz seines angenommenen Alters, das sie immer noch viel zu niedrig schätzte, machte er eine gute Figur. Aufrecht, straffe Schultern. Kein Sixpack, aber auch im Sitzen blieb sein Bauch flach, ohne dass er ihn eingezogen hätte. Feste Oberschenkel, stramme Waden. Alles geprägt durch ständige Bewegung in freier Natur. Dass er ausdauernd war, hatte sie nicht nur beim Laufen mitbekommen.
Sie verspürte wieder Lust auf ihn.
»Du wolltest wissen, …«
»Äh, wie bitte?«
Seine Worte beendeten ihre beginnende Erregung. Da sie merkte, dass er auf ihre unterwegs gestellten Fragen einging, ließ sich ablenken und hörte ihm zu.
Vielleicht danach?
Sie errötete leicht, was ihm aber nicht aufzufallen schien. Zumindest machte er keine diesbezügliche Bemerkung, sodass ihre Verlegenheit sich gleich wieder legte.
»Also«, fing er an, »du wolltest wissen, was das für Sachen sind, und wo sie herkommen. Einfach erklärt, bin ich vor drei, vier Tagen am Nachmittag fast über einen Trupp Orks gestolpert. Zwei Goblins waren auch dabei. Sieben Mann insgesamt. Sie hatten einen unpraktischen Ort zum Lagern ausgesucht, von allen Seiten einsehbar. Gerade waren sie dabei, ihr Abendessen aus ihren Bündeln zu packen. Sie steckten rohes Fleisch in ellenlangen Fetzen auf angespitzte Stöcke und legten es griffbereit neben die Feuerstelle. Naja, einen kegelförmig aufgeschichteten Haufen trockener Äste, die sie auf Unterarmlänge gebrochen hatten. Ordentlich, die dünnen Zweige innen, nach außen wurde das Brennholz dicker, und ganz innen Stroh. So, wie man´s eben macht. Auf das Ausheben einer Feuergrube, die den Feuerschein verborgen hätte, hatten sie verzichtet. Sie fühlten sich halt sicher.«
Nun hing sie begierig an seinen Lippen, wollte an seinem Wissen über das Leben hier draußen teilzuhaben.
»Die zwei, die sich mit den Feuersteinen herumplagten, waren nicht besonders erfolgreich. Der ganze Trupp wohl Rotärsche.«
»Rot…was?« Sie zog die Stirn in Falten.
»Neulinge. Anfänger.«
»Ach so, verstanden!« Sie nickte.
»Schließlich widmeten sich alle sieben dem Feuermachen. Zwei oder drei wetteiferten miteinander mit trockenem Holzmehl aus faulen Baumstämmen oder mit trockenen Gräsern. Die übrigen gaben gut gemeinte Ratschläge. Einer pustete jeden aufglimmenden Funken wieder aus, anstatt zu warten, bis eine kleine Flamme das trockene Zeug wenigsten stellenweise entzündet und sich Glut gebildet hätte. Alles in allem stümperhaft, und an ihre Sicherung hatten sie überhaupt nicht gedacht. Normalerweise hätte einer oder hätten zwei Wache halten müssen und sich so lange gar nicht am Lagerleben beteiligen dürfen.«
»Du warst allein?«
»Natürlich, wie gewöhnlich. Bin halt Einzelgänger. Orks zu jagen ist kein schönes Geschäft, und die anderen Orkjäger sind selten nach meinem Geschmack. Im Gasthof zusammen einen trinken, ja. Gespräche schön und gut. Jeder prahlt dabei, ich auch. Aber noch lieber höre ich zu, ich kann jede Menge Neuigkeiten dabei aufschnappen.«
Er nahm einen Schluck Apfelwein aus dem Lederschlauch.
»Also habe ich meinen Kampfzauber ausgepackt und die ersten drei ins Jenseits geschickt. Das war für sie schnell und schmerzlos. Ich habe erst lernen müssen, dass so etwas auch den Orks gegenüber nur fair ist. Sie sind eben so, wie sie sind. Sie kennen es nicht anders. Deswegen muss ich sie nicht zu Tode quälen. Dann habe ich an meinem Ring gedreht, meine Schwerter gezogen und bin zu ihnen gerannt. Es war einfach, sie bewegten sich nicht einmal. Sie hatten sich über das Zusammensacken ihrer Gefährten genauso gewundert wie du gestern Abend bei den beiden Räubern.«
Er bemerkte ihre gefurchte Stirn.
»Mein Kampfzauber. Und sehen konnten sie mich nicht. Das mit dem unsichtbar machenden Ring hast du ja wohl vorhin erkannt. Der Waldboden war weich. Moos, keine Zweige, keine trockenen Blätter. Also war ich lautlos über ihnen, solange sie noch über ihre Kumpane gebeugt standen. Ein Dutzend schneller Hiebe. Keine Gegenwehr. Die Überraschung war zu groß, außerdem standen sie sich gegenseitig im Weg und hätten ihre Waffen gar nicht ziehen können. Alles hat keine halbe Minute gedauert. An Beute nimmst du dann nur mit, was du verkaufen kannst. Dazu gehört eigentlich alles, was aus Eisen ist, obwohl es am meisten wiegt. Der Rest ist grobes, brüchiges Leder, aber das kauft dir kein Mensch ab. Und sonst haben sie nichts, was auch nur einen gewissen Wert hätte.«
Er zuckte die Schultern, überzeugt, alles Wissenswerte weitergegeben zu haben.
»Aber«, warf sie zaghaft ein, »das waren doch offenbar noch halbe Kinder, wenn sie sich so verhalten. So unvorsichtig, meine ich. Und hatten sicher Familie.«
Sie konnte sich die Verhältnisse einfach nicht vorstellen.
Er schüttelte den Kopf und tischte ihr die landläufige Meinung auf.
»Alle Orks hält man für stark. Und grundsätzlich für grausam, sogar sadistisch. Es gibt nur Krieger, Männer. Keine Frauen, erst recht keine Orkkinder. Keine kleinen Orks, die Ball spielten, Abzählverse singen oder mit Holzschwertern kämpfen üben. Jedenfalls hat man diesseits der Grenze zu den Orklanden die noch nie gesehen, Krieger aber zuhauf.«
Die Sache mit dem Kampfzauber und dem Ring war in ihrem Entsetzen über den Tod der orkschen Kindersoldaten gar nicht bis in ihr Bewusstsein vorgedrungen. Sonst hätte sie ihn ausgefragt, was es mit der Magie auf sich habe. Er hatte sie gestern Abend und heute kurz nach ihrem Aufbruch nur als Teil der Naturgesetze angerissen, aber nicht weiter beschrieben.
Die Lust auf ihn war ihr nach seiner Schilderung, wie er die wehrlosen, jungen Orks überfallen und abgeschlachtet hatte, vergangen. Sie schauderte. Sie fragte sich, wie sein im Grunde umgängliches Verhalten und seine Kaltblütigkeit zusammenpassten.
5.
Irgendwann waren sie zu dem Schluss gekommen, aufbrechen zu müssen.
»Bis zum Abend schaffen wir es zu einem Wald, dessen Bäume uns guten Schutz vor wilden Tieren, Räubern und vielleicht Orks bieten. Man kann ziemlich leicht hinaufklettern, und das Laub verhindert, dass man von unten gesehen wird. In den Astgabeln haben wir gute Schlafplätze. Lass dich überraschen! Solche Bäume hast du noch nie gesehen.«
»Ich bin noch nie auf einen Baum geklettert. Und du sprichst sicher nicht von Astgabeln in Schulterhöhe, sondern wohl ganz oben!«
Gut gelaunt nickte er ein paar Mal.
»Vertrau mir! Es wird einfacher, als du denkst.«
Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich darauf zu verlassen, dass er nichts von ihr verlangte, das sie nicht schaffte. Oder er würde ihr helfen.
Der Nachmittag verlief ohne nennenswerte Ereignisse. Er hatte seinen Schritt ihrer Geschwindigkeit angepasst. Sie war weder so ausdauernd wie er noch konnte sie seine entspannte Körperhaltung nachahmen. Mehrmals mussten sie anhalten, weil ihr Seitenstechen unerträglich war. Ihr Gespräch war einsilbig. Sie war darauf konzentriert, Schritt zu halten, er gab sich in sich gekehrt. Ab und zu hatte sie ihm eine Beobachtung mitgeteilt, und er hatte sie kommentiert. Das Beobachtete war auch ihm nicht entgangen, er lebte schließlich hier. Regelmäßig handelte es sich um irgendwelche Pflanzen, die sie nicht kannte, und um Tiere, die sie weiter entfernt ausgemacht oder deren Spuren sie entdeckt hatte.
Einmal hatte er angehalten, sich zu ihr umgedreht und sie in die Hocke gedrückt. Er bewegte sich gebückt schräg nach links von ihrer Marschrichtung, von Busch zu Busch huschend. Die Zeit, die er aus ihrem Blickfeld verschwunden war, nutzte sie für eine Verschnaufpause.
»Ein Rudel Hochwild war zwischen zwei Baumgruppen gewechselt«, erklärte er zur Entwarnung. Eine Staubwolke hatte ihn zur Erkundung veranlasst.
Das Gelände eignete sich hervorragend für den Marsch. Eine weitläufige Hügellandschaft mit wenigen Waldstücken weit von ihnen entfernt. Am östlichen Horizont konnten sie die bei klarem Wetter allgegenwärtigen Morgenberge ausmachen. Dunst verwischte die Zinnen der Berge mit dem Himmel. Im Westen sahen sie gegen die tief stehende Herbstsonne hingegen nur die Konturen der nächstgelegenen Hügel. Der Bewuchs war spärlich, Gras und Büsche waren dürr. Der Jahreszeit angemessen hatten sich in Hellbraun gekleidet. Es roch nach Herbst.
6.
Als sich Julia während ihrer nächsten Rast erholte und nach einigen Schlucken Kräutertee wieder aufnahmefähig war, nutzte Mike die Pause, um ihr Siebenreich zu beschreiben.
»Nachher im Wald sind wir zu beschäftigt mit der Suche nach einer Schlafgelegenheit. Außerdem habe ich dort keine Tafel zum Malen.«
Er lachte und räumte loses Gras und kleine Steine beiseite, bis er eine freie Fläche von etwa einem Schritt Durchmesser geschaffen hatte. Er hatte einen geraden Zweig gefunden und brach ein ellenlanges Stück davon ab. Nun begann er, auf der trockenen Erde zu zeichnen. Den gesamten Teil des Kontinents stellte er ihr vor, den die Menschen kannten. Ab und zu unterstrich er seine Beschreibung mit erklärenden Gesten in die jeweilige Richtung.
»In der Mitte liegt Siebenreich. Es erstreckt sich zweihundert Meilen weit von Norden nach Süden. In der Mitte beträgt die Breite siebzig bis achtzig.«
Die bauchigen Konturen des Landes hatte sie besonders gut behalten.
»Wie die runden Klammern auf der Schreibmaschine«, hatte er verglichen.
»Im Osten erheben sich über die gesamte Länge die Morgenberge mit dem Langewald davor. Der hat eine Tiefe von zwanzig Meilen, man kann sich also schon darin verlaufen. Zu den Gefahren, die er birgt, gehören nicht nur die Wölfe, Braunbären und Wildschweine. Neuerdings sickern auch die Orks ein. Und seit langem sind die Elben dort gefährlich. Die leben in einer Enklave, in die keinem Menschen einzudringen erlaubt ist. Selten genug verirrt sich auch einer dorthin. Und erst recht hat noch keiner von dort berichtet.«
Er holte Luft, schaute zu ihr, ob sie Fragen hätte. Sie schüttelte den Kopf, er setzte seine Ausführungen fort.
»Elben leben eigentlich westlich der Abendberge hinter Siebenreichs Westgrenze, dem Lafer. Abendberge heißen sie, weil die Abendsonne sich darauf zur Ruhe begibt. Der alte Aberglaube ist, sie habe auf den zerklüfteten Gipfeln einen Horst, genau wie die Adler, die dort kreisen. Im Gegensatz dazu sind die Morgenberge angesichts ihrer Nähe zum Orkland dahinter wohl ohne jedes Leben.
Der Lafer entspringt irgendwo im Norden und zieht fließt gemächlich bis nach Seeland, dem südlichen Nachbarland, und dort ins Meer. Dabei schmiegt er sich im Norden streckenweise unmittelbar an die steilen Hänge der Abendberge, von deren Gebirgsbächen er sich nährt. Manche stürzen als Wasserfälle senkrecht in sein Bett. Oft genug stößt er sich jedoch wieder von den Abendbergen ab und erlaubt auf einem grünen Streifen ein paar Fichten und Latschenkiefern ungestörtes Wachstum. Auf halber Höhe Siebenreichs treten die Berge zurück und der Lafer weitet seine Kurven. In einer davon liegt Königstein, die Hauptstadt. Ab hier ist der Lafer schiffbar. Die Lastkähne haben einen bauchigen Rumpf, ihr Kiel besteht nur aus dem behauenen Stamm, der aus den Planken hervortritt und ihnen die wiegenartige Form gibt. Flussaufwärts werden sie getreidelt. Der Lafer hat seinen Namen wohl von Läufer abgeleitet, entweder in Bezug auf das Treideln oder, weil er am Gebirge entlang läuft. Aber genau weiß das heute niemand mehr.«
Er schaute von seiner Zeichnung auf und schmunzelte. So vertieft fand er Julia in die Linien, die der Stock in die Erde geritzt hatte.
»Nördlich von Siebenreich leben die Zwerge. Ein robustes Volk, tapfere Krieger, zufrieden in den kalten, uns unwirtlich scheinenden Ebenen, die geprägt sind von kargen Weideflächen und Geröll. Seit Lebensspannen hat kein Mensch mehr die Berge dahinter betreten. Im Allgemeinen vertragen sich Menschen und Zwerge. Vor langer Zeit aber haben sie sich so weit auseinandergelebt, dass nicht einmal mehr Handelsbeziehungen gepflegt werden. Quer zwischen dem Zwergenland und Siebenreich liegt eine steinige Hochebene in der Form eines langen Dreiecks. Die Menschen sichern davor ihre Nordgrenze mit dem Nordwall ab, der die gesamte Breite zwischen den Morgen- und den Abendbergen einnimmt. Der Wall besteht aus zahlreichen Befestigungsanlagen wie steinernen Wehrtürmen, Lagern oder Beobachtungspunkten mit Holzpalisaden und Mauern dazwischen. Lücken gibt es überall, sie wurden durch Patrouillen teilweise wettgemacht. Hier tobt seit Jahren der Krieg, und immer mehr Orks und Goblins fallen durch die nördlichen Ausläufer der Morgenberge ein. Früher waren die wenigen dort stationierten Schwadronen des Königs immer überlegen gewesen, aber heute bindet die Nordgrenze nahezu jeden wehrfähigen Mann aus Siebenreich.«
Julia hörte gebannt zu. Dass sie von Mikes Wissen über das Land und seine Nachbarn beeindruckt war, stand ihr ins Gesicht geschrieben. Durch Nicken forderte sie ihn auf weiter zu beschreiben.
»Im Süden liegt Seeland. Die Grenze ist markant: Die fruchtbare Ebene fällt auf der ganzen Breite um ein paarhundert Höhenmeter steil ab und setzt sich danach in Seeland fort. Der Abhang ist bergab wie bergan zu Fuß oder mit Reit- und Packtieren unbequem, ist aber zu bewältigen. Für die Fuhrwerke der fahrenden Händler gibt es nutzbare Passagen, hier windet sich der Weg in Serpentinen auf sanfteren Ausläufern der Hochebene.
Das Königreich Seeland selbst ist breit und zieht sich im Westen am Lafer hoch, etwas weiter als bis gegenüber von Königstein, wo die Abendberge zurücktreten. Die Morgenberge auf der anderen Seite reichen über Siebenreich hinaus bis zum Meer selbst. Das Meer setzt sich von ganz Seeland mit hohen, nahezu senkrechten Klippen ab, nur unterbrochen durch wenige Naturhäfen und die Anlagen der zwei Hafenstädte Konigshaven und Wasserstad. Gelegentlich sind die Städte den Angriffen von Piraten ausgesetzt, die sie bisher aber immer abwehren konnten. Am Südzipfel, wo die Morgenberge ins Meer fallen, soll es einen Durchgang nach Osten geben. An dieser Passage haben Piraten ihre Städte und ihre Verstecke.«
Unwillkürlich versteifte er sich. Die folgenden Worte sprach er nachdenklich und mit gedämpfter Stimme.
»Hier muss ich durch und hinein ins Orkland.«
Sie spürte, dass er das gar nicht hatte sagen wollen. Aber es war eine Andeutung über seine Absicht, vielleicht sogar über sein Schicksal. Jetzt musste er ihr alles offenbaren! Während sie bisher mit angewinkelten Beinen dagesessen und die Arme um ihre Knie geschlungen hatte, zog sie nun die Beine unter ihren Körper. Sie setzte sich auf ihre Fersen und beugte sich nach vorn. Ihre Neugier machte ihr weis, ihn so noch besser verstehen zu können. Endlich fühlte sie sich seinem Geheimnis auf der Spur!
»Was willst du dort? Du erzählst doch immer, wie gefährlich das ist!«
»Es ist besser, wenn du nichts darüber weißt. Für uns beide«, wiegelte er ab.
»Noch ein Thema, über das er nicht reden will«, murmelte sie unhörbar, »was für Heimlichkeiten hat er denn noch?«
Doch bevor sie weiterfragen konnte, hatte er seine Beschreibung fortgesetzt. Sie schwieg, um nichts zu verpassen.
»Wie viele Menschen in Siebenreich leben, vermag niemand auch nur annähernd zu sagen. Neben Königstein gibt es einige weitere Städte, kleiner, aber ebenso mit Leben erfüllt und mit einem begrenzten Luxus. Wenn nicht dort, leben die Menschen in Wehrdörfern oder einzelnen Bauernhöfen.«
Nach einem kurzen Atemholen beendete er seinen Bericht.
»Das war´s. Nun kennst du Siebenreich.«
Als er geendet hatte, nickte er, lud sie damit ein, ihm Fragen zu stellen. Dennoch blockte er auch ihr neuerliches Nachhaken nach seinem Weg ins Orkland ab.
Sie schwieg, wollte das Ganze in einem Stück verinnerlichen und brauchte Zeit. Für den Moment hatte er ihr genug erzählt.
Er ließ sie in ihrem Grübeln und erlaubte ihr einen letzten langen Blick auf die skizzierte Landkarte, in die er noch an ihrem ungefähren Aufenthaltsort einen Kiesel gelegt hatte. Als sie den Blick hob und nickte, verwischte er die Karte, raffte ihre Siebensachen zusammen und setzte sich in Bewegung. Sie folgte ihm, den Blick wenige Schritt vor sich an den Boden geheftet. Langsam fand sie sich zurecht.
7.
Die Sonne bewegte sich auf die Gipfel der Abendberge zu, um sich zur Ruhe zu begeben, als Mike und Julia den Wald erreichten.
Julia rief sich die Astgabel für den Schlafplatz ins Gedächtnis. In Erwartung des Abenteuers rieb sie sich zuversichtlich die Hände. Nun überflügelte doch die Neugier ihre Angst. Zu ihrer gelösten Stimmung trug im Wesentlichen die Harmonie des Waldes bei. Irgendwo hämmerte ein Specht sein Abendessen aus der Rinde, das Farbenspiel des Herbstlaubes widersetzte sich der Dämmerung und hielt die anstürmenden Grautöne auf Distanz, der Waldboden war samtig weich und federte ihre Schritte ab. Wenn sie die Lider schloss, stellte sie sich einen Augenblick lang vor, sie ginge daheim über den hochflorigen Teppich in ihrem Wohnzimmer. Unerbittlich jedoch holte jeder Augenaufschlag sie nach Siebenreich zurück.
»Nie direkt am Waldrand! Viele Waldläufer machen den Fehler, sich einen Schlafbaum direkt am Waldrand zu suchen. Von da aus haben sie natürlich den besten Blick«, gab er zu. »Der Fehler besteht darin, dass auch Feinde die Bäume dort als erstes untersuchen und die Waldläufer mit großer Wahrscheinlichkeit aufstöbern. Besser sind Bäume in der zweiten oder dritten Reihe. Meistens sind die nicht so markant, und man wird nicht so schnell darauf aufmerksam. Aber auch von da aus ist das Gelände gut zu überschauen.«
Er deutete auf einen Baum ein paar Schritte entfernt.
»Der ist gut.«
»Wieso gerade der? Der steht doch ganz schräg.«
»Alle Bäume dieser Art wachsen so. Und so kommen wir auch leichter hinauf.«
»Solche Bäume habe ich noch nie gesehen«, staunte Julia und schickte ihren Blick von den mannstarken Wurzeln den gut sechs bis sieben Meter dicken Stamm hinauf in die Krone. Wie weit sie aufragte, konnte Julia nicht einmal erahnen, das Gewirr der Äste schien unendlich weit zu reichen.
»So hoch wird er mich hoffentlich nicht jagen«, schoss es ihr durch den Kopf. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie begann ja schon zu zittern, wenn sie sich über ein Treppengeländer beugte und zwei Stockwerke nach unten schaute.
Die meterdicken Äste standen versetzt zueinander beinah waagrecht vom Stamm ab. Der Wuchs erinnerte eher an eine Blattpflanze als an einen Baum, denn die verdickten Astansätze am Stamm ähnelten Blattstielen, auf ihrer Unterseite gebogen und oben glatt oder gar nach innen gewölbt, wie Julia an weiter talwärts stehenden Bäumen erkennen konnte. Sie würden, so hatte Mike ihr erklärt, ihnen Lager und Deckung bieten. Die Früchte auf dem Boden ringsum glichen übergroßen Kastanien, nur standen die Stacheln dichter, etwa wie bei Maronen oder Esskastanien. Neugierig hob sie mit festem Griff eine auf. Als die harten Härchen ihre Haut durchdrangen, zuckte sie zusammen. Sie zitterte. Was, wenn sie ein Nesselgift injizierten wie Seeigel? Der Schmerz blieb aus, es war nur der Schreck gewesen. Unwillkürlich wischte sie sich mit dem Unterarm über die Stirn, obwohl da nichts war. Schüchtern blickte sie zu ihrem Gefährten und stellte erleichtert fest, dass er von ihrer Unachtsamkeit nichts mitbekommen hatte.
»Da willst du aber nicht wirklich rauf?«
»Nicht ich, wir!«
»Ohne mich!«
Julia trat einen Schritt zurück, um ihren Entschluss glaubhafter zu machen.
»Oh, bist du tapfer! Keine Angst vor Wölfen?«
»Die gibt´s doch hier gar nicht!«
»Willst du´s ausprobieren?«
Die Antwort wartete er gar nicht mehr ab. Er beschäftigte sich schon mit den Vorbereitungen.
Er nahm den Tornister vom Schlitten ab und schob mit dem Fuß den Schlitten so weit unter ein Gebüsch, dass er nicht mehr zu sehen war. Aus dem Rucksack zog er eine fingerdicke Leine, die fast über ihre gesamte Länge in regelmäßigen Abständen Knoten aufwies. Beide Seilenden warf er nacheinander über den untersten Ast, der aus der Oberseite des schrägen Stammes herauswuchs, sie lagen noch ein gutes Stück auf dem Laubboden auf. Er zog sie durch die herunterhängende Schlaufe und sicherte so das Seil gegen Durchrutschen. Ein Ende knotete er um die Trageriemen des Tornisters. Als er fertig war, erklomm er mit kleinen Schritten die Oberseite des schrägen Stammes. Beide Seilhälften fasste er mit den Händen zusammen und hangelte sich von Knoten zu Knoten. Die schartige Rinde verhinderte ein Abrutschen, und der Zug seiner Arme brachte ihn zügig nach oben. Er schwang sich auf den Ast, zog den Tornister hoch und verkeilte ihn in einer Astgabel. Dann kletterte er wieder dem Waldboden entgegen.
»Wir gehen gleich hoch «, erklärte er der verdutzten Julia. »So hinterlassen wir hier unten weniger Spuren. Und unsere Witterung verbreiten wir von dort auch schwächer. Essen können wir dann oben.« Er lachte sie an. »Ich verspreche dir ein Galadinner mit unübertroffener Aussicht.«
Julia nickte nur. Sie war wenig überzeugt.
Weniger Spuren? Nun sah sie ihn genau das Gegenteil von dem tun, was er ihr noch vor einem Atemzug gepredigt hatte. Entgegen seiner eigenen Aufforderung, Spuren zu vermeiden, war er an einen Baum in vorderster Reihe am Waldrand getreten und leerte seine Blase.
»Hattest du nicht eben gesagt, dass, äh, Witterung …«
»Solltest du auch. Es ist nicht nur wegen der Bequemlichkeit. Vom Baum runter pinkeln ist nicht gut. Erstens hast du keinen sicheren Stand, und zweitens verrät der Geruch deinen Schlafbaum. Zumindest den Bären und Wölfen. Oder den Orks, wenn sie Hunde dabei haben. Urin an einem anderen Baum lenkt von deinem ab, und dein Versteck bleibt unerkannt. Vielleicht ziehen die Orks auch weiter, weil sie ja nicht wissen, wann du an den Baum gemacht hast.«
Das schien ihr sehr weit hergeholt, doch verzichtete sie auf eine Erwiderung. In Anbetracht der bevorstehenden Nacht in schwindelnder Höhe machte sie es ihm nach. Sie suchte sich einen Baum weiter im Wald, hinter dem er sie nicht sehen konnte.
Wieder zurück, sah sie ihn fragend an. Allein käme sie nie nach oben. Und falls sie mit seiner Hilfe hinaufkäme, so würde sie unvermeidlich abstürzen. Das wusste sie. Nach ihrer anfänglichen Neugier hoffte sie nun inbrünstig auf eine andere Lösung. Er schüttelte den Kopf. Kein Problem. In einer weiten Schlaufe zog er die Leine unter ihren Achseln hindurch und verknotete sie vor ihrer Brust. Nun gab es kein Zurück. Ihr Herzschlag wurde schneller, ihr war schwindlig. Sie würgte, gleich musste sie sich übergeben. Gerade hatte sie sich zur Seite gedreht und wollte sich am Baum abstützen, als sie seine Hände auf ihren Schultern fühlte. Einen Moment später ließ er auf einer Seite los, drückte ihr Kinn hoch und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.
»Du kriegst das hin. Du läufst auf dem Stamm. Denk einfach dran, dass ich dich von oben ziehe. Du kannst nicht fallen. Du bist angebunden.«
»Und wenn ich oben bin?«
»Bist du immer noch angebunden. Die ganze Zeit. Fertig?«
Trotz ihrer Überzeugung eines bevorstehenden Unglücks war sie zu keiner Abwehr fähig. Ihre Panik wollte sie ihm keinesfalls eingestehen. So nickte sie zaghaft. Es sah nicht aus, als sei sie überzeugt. Es war ja auch eine Lüge.
Sie fühlte sich unbequem, obwohl die Leine nicht einschnitt. Er erklomm den Baum in gewohnter Weise und zog sie Hand über Hand in die Höhe. Ihre Schultern verkrampften sich. Wirklicher Schmerz oder Einbildung? Sie hätte es nicht sagen können. Mit angewinkelten Unterarmen und mit steifen Fingern hielt sie das Seil vor ihrer Brust auf Abstand und versuchte, die Schlaufe, in der sie hing, möglichst weit offenzuhalten.
Sie bebte, als sie kurz darauf in der Mulde der Astgabel kniete. Sie schaute über den Rand nach unten, kam nicht dagegen an, genau das zu tun, wovor alle warnten. Die Strafe folgte auf dem Fuße, die Tiefe zog sie magisch an. Er legte ihr gerade noch von hinten den Arm um Brust und Schulter, als sie schon das Gleichgewicht verloren hatte. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, ihr Puls raste. Er drückte sie auf die Knie zurück und hielt sie unten, bis sie sich beruhigt hatte und wieder ruhig atmen konnte.
Er hatte das Seil gelöst und heraufgezogen. Nun machte er sich daran, die Prozedur zu wiederholen. Nach der dritten Wiederholung standen sie, jeder in einer Astgabel, so hoch, dass Julia allein der Gedanke daran schwindeln ließ. Sie versuchte vergeblich, sich an den viel zu dicken Stamm zu klammern. Mike hatte ihr aus kürzeren Leinen ein Geschirr geknotet, ähnlich dem Sicherungsgeschirr der Bauarbeiter, die in großer Höhe arbeiten mussten. Das lose Ende hatte er über ihr an einem Seitenast festgebunden, der ihr Gewicht mit Leichtigkeit auffangen könnte, sollte sie stürzen.
Nach ein paar Versuchen, bei denen sie auf allen Vieren vom Stamm fort und wieder zurück gekrabbelt war, fühlte sie sich sicherer. Sie zog sich am Stamm hoch, begann, einen Fuß vor den anderen zu setzen und balancierte mit ausgestreckten Armen. Nach einer Weile traute sie sich, auf der Stelle zu hüpfen, vor und zurück zu laufen, die lange Astmulde in drei oder gar nur zwei Sprüngen zu überwinden. Sie strahlte. Ihre Selbstsicherheit wuchs, Euphorie stieg in ihr auf. Sie rief ihm zu, er solle sehen, was sie alles könne.
Auch ohne ihre Aufforderung hatte er sie schon die ganze Zeit beobachtet. Ihre geschmeidigen Bewegungen fügten ihren körperlichen Reizen eine gehörige Portion Anmut hinzu. Trotz des ungeeigneten Ortes fühlte er, wie er sie begehrte und rief sich ihr Liebesspiel am Teich in Erinnerung.
Beide sollten sich getäuscht haben! Julia traute sich zu viel zu, und Mike verließ sich zu sehr auf ihre Geschicklichkeit. Gerade hüpfte sie zum Stamm zurück und setzte dabei den linken Fuß zu nah am Rand auf. Mit der Behändigkeit, die sie inzwischen erlangt hatte, sollte dieser Fehltritt allein kein Problem gewesen sein. Den nächsten Schritt einfach weiter rechts getan, und sie hätte ihr Gleichgewicht wiedergefunden. Hier aber wurden ihr die glatte Rinde und das Moos zum Verhängnis. Geistesgegenwärtig warf sie sich zur Astmitte und verhinderte, dass sie abkippte.
Obwohl ihr langsames Abrutschen und der Aufprall auf dem Hosenboden nicht einer gewissen Komik entbehrten, blieb Mike das Lachen im Halse stecken. Er wusste, von seinem Platz auf dem nächsten Ast konnte er nicht schnell genug bei ihr sein, um sie aufzufangen. Aber ihr hochhelfen und sie festhalten konnte er. Wenigstens stand er! Hätte er gesessen, wäre alles zu spät, wäre wirklich jeder Versuch zwecklos gewesen. So aber sprang er bereits in ihre Astmulde, als sie noch nicht ganz saß. Hastig griff er zu. Zu schnell jedoch rutschte sie zur Seite, weder ihre Hand noch ihre Kleidung konnte er greifen.
Auf der Suche nach Halt hatte sie sich zum Ast gedreht, tastete im Rutschen nach Kerben oder Auswüchsen in der Rinde. Unweigerlich zog sie ihr Körpergewicht über den Rand in die Tiefe. Endlich fand sie eine Furche in der Rinde, sie krallte ihre Fingerspitzen hinein, und ihr Rutschen wurde langsamer. Ihre Fingerkuppen brannten. Es gab aber keinen Ast oder Zweig, der ihr zum sicheren Festhalten gedient hätte. Sie schaute am Baum nach unten, verzweifelt hoffend, etwas zu entdecken, das ihren Sturz aufhielte oder an dem sie sich festhalten könnte. Aber die Abstände waren einfach zu groß. Dann sah sie den Aststummel! Direkt neben ihrer Fallrichtung, aber sie müsste sich herumdrehen, die Rettung lag in ihrem Rücken. Fieberhaft überlegte sie, wie sie sich zu bewegen hatte. Sie musste präzise sein, um nicht mit dem Gesicht auf die gesplitterte Bruchstelle zu fallen oder sich ganz aufzuspießen. Panisch spürte sie, wie ihre Finger zu früh den Halt verloren. Die Kerbe war einfach nicht tief genug! Sie ruderte mit den Armen, als ob sie dadurch Auftrieb erhalten könnte. Schon vermeinte sie zu fühlen, wie sie auf dem Waldboden aufschlug und mit verdrehten Gliedmaßen ihr Leben aushauchte. Die dicken, harten Wurzelstränge würden ihr die Wirbelsäule brechen. Einen letzten Blick warf sie ihrem Gefährten zu. Der Glanz, den ihr die Freude über ihr Zutrauen in die Augen getrieben hatte, war längst dem Entsetzen gewichen, sich geirrt zu haben. Mit vor Angst und Verzweiflung aufgerissenen Augen stürzte Julia der Erde entgegen.
Mike hatte sich quer auf den Ast geworfen und die Fußspitzen in die Mulde gestemmt. Tatsächlich ertastete er eine Kante, die ihm Halt gab. Er streckte ihr seinen Arm nach ihr aus und griff zu. Den Bruchteil einer Sekunde zu spät!
Julia glaubte, ihr Rückgrat brechen zu spüren. Der Ruck war schmerzhaft und drohte, sie zu zerreißen. So plötzlich schnitt ihr Haltegurt ein. An die Sicherungsleine hatte sie nicht mehr gedacht! Nun hing sie fest. Fest und sicher. In ihrem Innersten jubelte sie. Sie war gerettet! Sie zwang sich, ruhig durchzuatmen, aber ihre Lungen füllten sich nicht. Ihre Brust hob und senkte sich vor Aufregung viel zu schnell. Luft bekam sie trotzdem nicht. Panik erfasste sie, weil sie den Widerspruch in ihrer Situation nicht verstand. Das Begreifen danach machte ihr die Hoffnungslosigkeit umso deutlicher und raubte ihr fast die Sinne. Im Sturz hatte sie die Kletterleine gestreift, ihr rutschender Körper hatte ihren Hals in die Leine hineingedreht. Hätte das Ende an ihrer Seite lose heruntergehangen, wäre nichts passiert. Noch aber war der Tornister ans andere Ende gebunden. Eine Schlaufe legte sich um Julias Hals, das Seil zog ihr den Rucksack so weit nach, bis er sich irgendwo über ihr verklemmte. Hatte sie Glück gehabt, von ihrer Sicherungsleine zuerst aufgefangen worden zu sein? Andernfalls hätte die Schlinge ihr wohl das Genick gebrochen, doch nun drohte sie qualvoll zu ersticken.
Nachdem Mike ins Leere gegriffen hatte, hatte ihn der Rucksack gestreift. Die Gefahr erkannte er dadurch einen Lidschlag eher. Er warf sich seitlich herum, wollte den eingeklemmten Tornister lösen, um Julias Hals freizuwickeln. Eine ausreichende Hebelkraft konnte er aber in seiner Körperlage nicht bewirken. Auch ihr Zappeln erschwerte seine Bemühung. Endlich hatte er eine stabile Lage eingenommen. Sich selbst sicherte er mit einer Leine, die er an irgendeinem Stummel festknotete, der aus dem Stamm herauswuchs. Sein Fuß ertastete eine Furche, die es ihm erlaubte, sich fast senkrecht nach unten zu recken.
Julia hatte mit sich selbst genug zu tun, hatte ihn aus ihren Gedanken und aus ihrem Blick verloren. Seine rettende Hand hätte sie mit Leichtigkeit ergreifen können, hätte sie sie nur bemerkt!
»Julia!«
Er rief sie, schrie sie an, bis sie endlich reagierte. Anstatt weiterhin zu versuchen, ihre Finger zwischen Hals und Schlaufe zu zwängen und sich Luft zu verschaffen, reckte sie in einer letzten Anstrengung ihre Hand nach oben. Dann schwanden ihre Sinne.
Er hatte ihr schlaffes Handgelenk fest im Griff. Er zog sie so weit zu sich, dass er die Schlinge um ihren Hals lockern konnte. Instinktiv nahm ihr regloser Körper die Atmung wieder auf.
Unwillkürlich versteifte sich Mike. Er fühlte die Rinde abblättern und seinen Fuß aus der Kerbe rutschen. Ein letztes Ziehen, eine letzte Drehung, und er hatte Julias Hals endgültig befreit. Er senkte sie so weit hinab, wie er greifen konnte, dann ließ er los. Mit einem kurzen Ruck endete ihr Fall, sie kippte in eine Schräglage und pendelte anderthalb Armlängen außerhalb seiner Reichweite. Er warf sich auf die Knie, war jetzt selbst außer Gefahr. Sein Atem ging schwer. Die Anstrengung hatte ihren Tribut gefordert, und sie war noch nicht vorbei. Er atmete tief durch, dann rappelte er sich halb auf und kroch so weit vor, bis er genau vor Julias straff gespanntem Sicherungsseil hockte. Er griff das Seil, prüfte das Gewicht und stand auf. Vornüber gebeugt, den rechten Fuß nach vorn gestemmt, zog er Hand über Hand die Sicherungsleine ein. Als er endlich den Widerstand von Julias schlaffem Körper an der Unterseite des Astes spürte, kniete er sich wieder hin. Er bemühte sich, sie so um die Rundung zu ziehen, dass ihr Gesicht nicht am Holz schabte.
Nach Ewigkeiten lag sie in der Astkuhle. Er vergewisserte sich, dass ihr Puls und ihre Atmung wieder kräftiger wurden, dann ging er zu seinem Tornister und band den Schlauch mit dem Apfelwein ab. Er stellte die Füße schulterbreit auseinander, lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm und setzte den Schlauch an den Mund. Er gönnte sich einen tiefen Zug. Sein Zittern erstarb. Beruhigt sah er zu Julia hinunter.
Entsetzt schlug sie die Augen auf. Ihren Schrei unterdrückte sie gerade noch. Tröstlich wurde ihr bewusst, dass Sturz und Erstickungstod der Geschichte angehörten. Vorsichtig stemmte sie ihren Oberkörper hoch, bis er auf ihren aufgestützten Ellbogen ruhte. Mit Tränen in den Augen sah sie Mike lange an.
Er hatte sich in die Astkuhle gesetzt, den Rücken an den Stamm gelehnt. Julia saß ausgestreckt zwischen seinen Beinen, Kopf und Rücken fest an seine Brust gedrückt. Sein Streicheln fing an, sie zu entspannen. Sie hatten die Blicke auf die Ebene vor dem Wald gerichtet, nahmen ihre Umgebung aber gar nicht wahr. Beide mussten das Erlebnis verarbeiten. Eine Ewigkeit lang sprachen sie kein Wort.
Was passiert mir noch alles mit ihm? Schon wieder hat er mich gerettet. Ohne ihn wäre ich zu Tode gestürzt oder hätte mich erhängt. Aber ohne ihn wäre ich nie auf den Baum geklettert.
Julia schüttelte sich, das Unglück zog noch einmal vor ihrem geistigen Auge vorüber. Dann sprangen ihre Gedanken weiter zurück.
Was habe ich von ihm? Bringt er mich wirklich zum magischen Tor, meinem einzigen Weg nach Hause? Und was will er von mir? Er ist fürsorglich, aber er fordert viel. Der Mittag am Teich war prickelnd, viel zu lange hatte ich keinen Mann mehr gehabt. Er sieht gut aus, er war feinfühlig, behutsam und schließlich impulsiv. Trotzdem will er mich loswerden. Ich verstehe, dass Sex kein Grund für eine Bindung auf Gedeih und Verderb ist. Und sein Geheimnis! Warum hat er so wenig Vertrauen zu mir? Wie kann ich mich dann auf ihn verlassen? So schön es auch mit ihm sein mag, heimzukommen ist mir noch wichtiger.
Trotz ihrer Zweifel zog sie seinen Arm fester um ihre Brust.
Seine Schulter schmerzte. Mike drehte sich ein wenig, um den Druck auf die andere Seite zu verlagern. Julia schaute schräg zu ihm auf. In ihrem Blick lagen Fragen, die er nicht deuten konnte. Er schüttelte den Kopf.
Ist wirklich alles gutgegangen? Wie würdest du dich fühlen, wenn sie umgekommen wäre? Wäre es bloß ein verpfuschter Auftrag wie vor vier Wochen, als du nicht ahnen konntest, dass der Mörder deines Auftraggebers in seinem eigenen Gefolge lauerte, oder ginge es dir nahe? Schließlich hat sie ein hübsches Gesicht und einen perfekten Körper. Das Vorspiel hätte länger dauern können, aber uns beiden hat das Abenteuer Spaß gemacht. Mir viel mehr als die Spielereien mit den Mägden und auch den Bürgersfrauen aus der Stadt! Julia ist feiner, sauber, sie achtet auf sich. Sie hat einfach Stil.
Ein seltsames Gefühl durchzuckte ihn. Da war er wieder, der innere Konflikt! Dieses Hin- und Hergerissensein zwischen der Sehnsucht nach einem Heim, nach Ruhe und Geborgenheit auf der einen und der selbstgewählten Aufgabe auf der anderen Seite. Einer Mission, von der er nicht wusste, ob er sie erfüllen konnte und ob er sie überleben würde. Beim Gedanken an Julia schmunzelte er unwillkürlich.
Seltsam, wie der Umgang mit ihr meine Art zu sprechen und zu denken ändert. Tatsächlich bin ich in meine alte Sprache zurückgefallen. Keine der hier üblichen Formulierungen mehr! Julia verbindet mich sehr mit unserer alten Welt. Auch vom Alter her passen wir zusammen.
Er seufzte, als er sich ein harmonisches Zusammensein vorstellte, das nicht sein durfte.
Werde ich sie wiedersehen, wenn ich sie in Königstein absetze und irgendwann zurückkommen sollte? Wird sie auf mich warten oder ist sie auf und davon?
Sicher war er sich nicht, ob er auf diese Frage überhaupt eine Antwort wollte.
Viel später lag das Essen zu ihren Füßen ausgebreitet. Das Brot wurde langsam trocken, das Kauen dauerte länger als am Mittag. Braten und Käse hatten sie noch reichlich, vom Apfelwein war noch genug übrig. Sie schafften es, ihre Erinnerung an den Sturz zu verdrängen und ihre Mahlzeit zu genießen. Das Abendessen mutete wie ein Picknick an. Von ihrer Höhe aus war der Blick auf den Sonnenuntergang atemberaubend. Die Zinnen der Abendberge zogen sich am Horizont gegen das Licht hin wie die Mauer am Wehrgang einer Ritterburg.
Sie unterhielten sich gedämpft, obwohl sie von ihrem Hochsitz aus jede Annäherung schon von weitem bemerken würden und obwohl Mike behauptete, er könne Böses schon auf achtzig Schritt sehen. Das war eine Entfernung, auf die man sie nicht entdecken konnte. Hier oben fühlten sie sich sicher.
Morgen würden sie Königstein erreichen. Dort würde sich einiges für sie ändern, meinte er. Er fände einen Weg weiter nach Süden, sie würde in der Stadt bleiben, für sie die beste Lösung. Julia behielt ihre Meinung für sich.
Ihre Vorsichtsmaßnahmen bescherten ihnen einen nur kurz währenden ruhigen Schlaf. Sie hatten es sich in den Mulden ihrer Äste bequem gemacht. Julia war angebunden geblieben, Mike hatte auf eine Sicherung verzichtet. Er war diese Form der Übernachtung gewohnt, er wäre nie aus einer Kuhle wie dieser heraus gerollt.
Etwas Hartes bohrte sich in Julias Rücken, als sie sich ein Stück weit auf die Seite rollte. Im Nu saß sie senkrecht, war hellwach. Sie wollte sich umdrehen, wollte den Angreifer erkennen, aber sie wurde festgehalten. Sie schluckte, drehte verzweifelt den Kopf soweit zur Seite, dass sie hinter sich schauen konnte. Da war niemand. Erst langsam verstand sie ihre Situation. Im halbfinsteren Wald musste sich anstrengen, überhaupt etwas zu erkennen.
»Puh!« Erleichtert atmete sie auf. Sie sah niemanden, der sie überfallen wollte, und hatte inzwischen auch die Kastanie ertastet, die bei ihrem Aufprall auf dem Ast aus der Schale gesprungen und unter ihren Rücken gerollt war. Ein neuer Schreck durchfuhr sie, als sie sich ihre Lage wieder ins Gedächtnis rief. Sie schüttelte den Kopf. Nicht mehr, um einen unangenehmen Traum abzuwerfen, sondern vor Verwunderung. Verwunderung darüber, dass sie Dinge und Zustände nur nacheinander zu erkennen schien. Denn erst als sie sich im Klaren darüber war, auf einem Ast in einer Angst einflößenden Höhe über dem Waldboden geschlafen zu haben, und dass der Angreifer, der sie erst aufgescheucht und dann festgehalten hatte, sich als eine Kastanie und ihr Sicherungsgeschirr entpuppt hatte, nahm sie etwas anderes wahr. Etwas, das ihre Furcht nährte und sie bis in die frühen Morgenstunden wach halten sollte.
Mike hatte Recht gehabt, als seine Warnung ihr die nächtlichen Gefahren des Waldes nahegebracht hatte. Alle Sekunde drehte sie sich um, wollte feststellen, woher das Knurren, Heulen und Bellen kam, das sich zahlreichen heiseren Kehlen entwand. Aber weder konnte sie die Richtung ausmachen, in der die Bestien lauerten, noch konnte sie feststellen, ob das Rudel ihrem Baum näher kam.
Wenn sie die Augen schloss, sah sie sich von riesigen Wölfen umzingelt, die Schritt für Schritt mit gefletschten Zähnen den Kreis um sie enger zogen. Stocksteif und ohne einen Laut von sich zu geben lag sie für Stunden wach. Bei jedem neuen Geräusch rollte sie die Augen, bis sich endlich der Schlaf ihrer erbarmte. Über dem Blätterdach stieg der Morgennebel schon den ersten schüchternen Sonnenstrahlen entgegen.
8.
Nach dem Aufwachen sah sich Mike als erstes um und horchte in den Wald. Verdächtiges bemerkte er nicht. Es gab auch keine Spuren unter ihrem Schlafbaum.
In der Nacht waren ihre Kleidung und ihre Ausrüstung klamm geworden. Julia war überrascht, als er ihr zeigte, dass die Feuchtigkeit auch Vorteile hatte. Tau war m Stamm hinunter und in den Mulden zusammengelaufen. Es reichte für mehr als einen Becher frisches Wasser zu ihrem Frühstück. Nachdem sie sich satt gegessen hatten, sammelten sie genügend Wasser für eine Katzenwäsche. Keiner hatte mehr Scham vor dem anderen.
Kaum standen sie wieder auf festem Boden, schlich Julia in gebückter Haltung um den Stamm. Ihren Blick hatte sie auf den Waldboden geheftet und erweiterte ständig den Radius ihrer Kreise. Mike hatte inzwischen ihre Siebensachen vom Baum abgeseilt und auf dem Schlitten verzurrt.
»Hast du etwas verloren, ist dir etwas heruntergefallen?«
»Ich habe die halbe Nacht nicht geschlafen, da muss ein Rudel riesiger Wölfe den Baum stundenlang umkreist haben. Das Heulen hat mir sogar oben im Baum Angst gemacht.«
»Also war mein Vorschlag mit dem Schlafplatz da oben doch nicht so verkehrt.«
Er zuckte die Schultern, als wäre das die normalste Sache der Welt. Konnte er sie so beruhigen?
»Mich haben sie auch geweckt, aber weil du so mucksmäuschenstill gelegen hast, dachte ich, du schläfst. Erschöpft genug warst du ja. Es waren übrigens sieben, und sie sind ein bisschen größer als die, die du aus dem Zoo kennst, ungefähr um so viel mehr.«
Er hob die Hände, sie fuhren auseinander. Julia schluckte trocken, als sie mit mehr als einer Elle Abstand voneinander in der Luft verharrten.
»Im Übrigen …« Er nahm ihre Hand, führte sie zu einem anderen Baum und zeigte dort auf den Boden. »…haben sie ihre Runden um genau den Baum gedreht, an den ich gestern Abend, naja, du weißt schon.«
Nun konnte auch Julia die Spuren nicht mehr übersehen. Der Boden um den Baum war von Laub freigescharrt, die Erde aufgewühlt, und am Stamm entdeckte sie Kratzspuren bis über ihre Augenhöhe.
»Aber komm wieder zu dir, tagsüber verkriechen sie sich im Unterholz. Ich verspreche dir, dass wir keine mehr zu Gesicht bekommen, bis wir wieder auf einem Baum oder in einer Herberge unser Lager aufschlagen.«
Nervös blickte sich Julia um. Dass sie nicht einen einzigen Wolf entdeckte, nahm ihr nicht die Angst. Sie drückte sich an ihren Gefährten.
»Und bei Tageslicht tun sie uns wirklich nichts? Und wenn doch?«
»Dann helfe ich dir auf den nächsten Baum, und mit sieben Wölfen sollte ich wohl fertig werden«, kam die selbstbewusst klingende Antwort. Mike lachte sie an.
Julia schielte zu seinen Schwertern. Sie wusste, dass er damit umgehen konnte. Trotzdem fand sie, er hätte den Mund ziemlich voll genommen. Ihre Stirn blieb in Sorgenfalten. Nicht zuletzt, weil sie gerade aus dem schützenden Waldrand hervortraten und sie sah, dass sich auf Meilen vor ihnen hügeliges Gelände hinzog. Für den Bewuchs fand sie die Beschreibung »dürftig« am ehesten zutreffend. Alle paar Schritte bemühten sich kniehohe Sträucher und Gräser, die gleichhohen Steine zu überragen. Wo waren die rettenden Bäume, auf denen er ihr für den Fall der Fälle Rettung versprochen hatte? Sie sah sich ängstlich ein letztes Mal zum Waldrand um. Ihr Schlafbaum schien ihr mit seinen höchsten Ästen zum Abschied zuzuwinken. Sie riss ihren Blick von ihm los und beschleunigte ihren Schritt, bis sie zu Mike aufgeschlossen hatte. Sie drängte ihn, schneller zu gehen.
Ihr Weg führte durch eine Landschaft mit buckligen Erhebungen. Sie waren in niedrigere Gefilde gekommen. Die Vegetation wurde üppiger. Vor Freude über das ständige Gezwitscher einiger Singvögel sah sich Julia intensiv um, entdeckte aber nur einzelne in den Baumkronen und Büschen. Den Grund für das rege Leben konnte sie fast körperlich spüren. Wasser war in der Nähe.
»Der Lafer«, erklärte ihr Mike. »Wir müssten eine viertel Wegstunde weg sein. Der Fluss macht hier eine Biegung ins Land hinein, bevor er nach einem letzten Kontakt mit den Abendbergen dann einige Meilen nördlich von Königstein wieder nach Süden driftet. Die Abendberge hören dort auf. Bald kommen wir in bewohnte Gegenden. Bauernhöfe, Gasthöfe, Wehrdörfer. Jedenfalls ergibt sich für dich eine Gelegenheit, deine ungeeigneten Sandalen loszuwerden. Jedes Dorf unterhält einen Schuster oder Sattler. Beide können mit Leder umgehen und bringen für dich Schuhe zustande. Vielleicht haben sie sogar passende auf Vorrat. Oder wir finden einen Händler mit dem feineren und gleichzeitig robusten Schuhwerk aus dem Süden.«
»Das wäre eine Wohltat!« Julia humpelte schon seit Längerem, ihr Tritt war wacklig geworden. »Mit der gebrochenen Schnalle und dem losen Riemen halte ich uns ohnehin nur auf.«
Barfuß zu laufen wäre bei dem harten, mit Disteln durchsetzten Steppengras keine gute Alternative gewesen.
9.
Ihr Lager hatten die drei gut gewählt. Es lag auf dem höchsten Punkt des Weges und bot ihnen freien Blick in alle Richtungen. In der Senke hinter der Wegeböschung schützte es sie wiederum vor einer möglichen Entdeckung. Gerade hatten die beiden Älteren den Jüngeren als Beobachter eingeteilt. Seinen Posten hatte er noch nicht ganz bezogen, als er schon zurückgerannt kam und die Annäherung zweier Wanderer meldete. Nur ein Mann und eine Frau. Leichte Beute. Die drei machten sich fertig für ihr Gewerk. Viel gehörte nicht dazu. Die Messer in den Gürtel und die Stricke zum Fesseln in die Taschen. Fertig. In der Vorfreude auf die Früchte ihres Überfalls rieben sie sich die Hände. Sie verließen ihr Räuberlager und marschierten den Wanderern entgegen.
»Seid gegrüßt«, eröffneten sie das Gespräch, in dem sie die Ankömmlinge auszuhorchen gedachten. Dann wüssten sie, wie ihre Opfer am leichtesten zu überwältigen waren und wo sie ihre Beute zu suchen hatten. Beim Anblick des Tornisters auf dem Schlitten war der letzte Punkt ohnehin klar.
»Bauern und Handwerker aus Lohfelden sind wir, zwei Wegstunden von hier. Wenn ihr es kennt, dann wisst ihr vielleicht, dass der Name sich auf die Feuersbrunst bezieht, die das alte Dorf vor ein paar Jahren eingeäschert hat. Wir sind Nachbarn, auf dem Weg nach Norden, um seine Verwandten zu besuchen.« Er zeigte auf den Jüngsten, der daraufhin ein dümmlich anmutendes Grinsen aufsetzte. »Heilkräuter wollen wir ihnen bringen, die dort nicht wachsen.«
Er unterbrach sich. Mit der Fußspitze scharrte er auf dem Boden. Mit seinem gesenkten Haupt schien er die Verlegenheit in Person.
»Habt ihr vielleicht etwas zu essen für uns? Wir haben unsere Wegzehrung unterwegs ein paar Bettlern gegeben, die nach Süden gezogen sind.«
Ihre Namen nannten sie nicht.
Mike und Julia sahen sich an, sie nickte ihm zu. Eine Marschpause konnte sie mit ihrem kaputten Schuhwerk gut gebrauchen, und ein zweites Frühstück wäre auch nicht verkehrt. Außerdem war sie neugierig, was die drei Wanderer zu erzählen hätten. Über das Leben in diesem Land wollte sie möglichst viel aus erster Hand erfahren.
Mike zuckte mit den Schultern.
»Warum nicht? Meine Gefährtin humpelt schon eine Weile, und ich habe auch nichts gegen eine kurze Rast und eine kleine Stärkung.«
Mit einer im Halbkreis zeigenden Geste lud er sie ein, sich zu setzen. Er holte den restlichen Proviant vom Schlitten und teilte ihn in fünf Portionen. Im nächsten Gasthof würden sie sich wieder versorgen. So gab es für jeden ausreichend zu essen. Satt zu werden, war dennoch etwas anderes.
Im Schneidersitz ließen sie sich auf dem steinigen Boden nieder.
Unauffällig betrachtete Julia ihre Gäste. Sie sahen sich sehr ähnlich. Die beiden Älteren, wohl Mitte vierzig, könnten sogar Brüder sein. Gleich groß, leicht gebeugt. Alle drei hatten dunkelblondes Haar mit rötlichem Schimmer. Der laue Herbst erlaubte ihnen das Aufrollen ihrer Hemdärmel, so dass ihr die kräftige, ebenfalls rötliche Behaarung der Unterarme ins Auge stach. Der Jüngste, so um die zwanzig, war einem der anderen wie aus dem Gesicht geschnitten. Außerdem hatte sie beobachtet, dass sie den gleichen Gang hatten und die gleiche Gestik. Sie schüttelte sich. Gänsehaut kroch ihr Rückgrat hinauf. Sie war überzeugt: Bloß Nachbarn waren die drei nie und nimmer! Was aber dann? Ihr Argwohn wurde auch dadurch genährt, dass sie ihre Messer griffbereit trugen, ohne Scheide einfach in die Gürtel gesteckt. Allesamt waren es kleine Kunstwerke. Das eine Heft war aus Hirschhorn und wies geschnitzte Jagdszenen auf, das andere hatte einen schillernden Perlmuttgriff, und das dritte war gar mit Silber belegt. Die Klingen glänzten wie poliert, in alle waren Ornamente eingestanzt.
Die fünf saßen im Kreis, Mike hatte mit den Bauern und Handwerkern ein lebhaftes Gespräch begonnen.
»Ihr seid auf dem Weg nach Königstein, nicht wahr? Unbedingt müsst ihr dort einen Boten beauftragen, euren Familien die Nachricht von eurem gesunden Eintreffen zu übermitteln. Ihr habt doch Familie, oder? Die werden sich Sorgen machen. So lange Reisen wie eure, und dann noch zu Fuß, sind heutzutage nicht ungefährlich.«
Eine Frage nach der anderen stellten die drei, besonders interessierten sie sich für den Tornister.
»Solch ein Gepäckstück haben wir noch nie gesehen. Wozu sind die Riemen und Schnallen?«
»Ein Tornister, ein Rucksack. Normalerweise trage ich ihn auf dem Rücken, dafür die Riemen. Ich habe ihn von einem Schuster fertigen lassen, hab’ ihm gesagt, wie er es machen muss. Er ist aus einem Stück Leder geschnitten, die Kanten doppelt genäht. Mit Seide, einem teuren, sehr festen Faden. Und über die Kanten noch ein Lederstreifen, der macht sie wasserdicht.«
»Und was hast du eingepackt? So ein teurer Beutel muss doch kleine Reichtümer enthalten!«
»Tja, das wäre schön, aber leider sind´s nur Kleidung, Decken und Dinge, die man unterwegs so braucht.«
Die drei Rothaarigen tauschten vielsagende Blicke aus. Sie glaubten ihm kein Wort.
Unruhig rutschte Julia hin und her. Mal mit der linken, dann wieder mit der rechten Hand stützte sie sich auf dem Boden auf. Die drei fragten sie richtiggehend aus, und Mike schien nichts zu argwöhnen. Auch auf ihre schüchternen Zeichen reagierte er nicht. Er hatte den Rest Apfelwein getrunken, da ihn sonst keiner wollte, und wurde immer redseliger. Bereitwillig gab er Auskunft.
»Wir kommen aus dem Norden, aus einem kleinen Nest.« Er nannte einen Ortsnamen, von dem Julia nur »Dorf« verstand. »Dort vermisst uns gewiss niemand. In Königstein wollen wir das Eisen dort unter der Decke verkaufen.« Er zeigte auf seinen Schlitten. »In den letzten Dörfern gab es keinen Schmied und auch sonst keinen ordentlichen Käufer. Und die Ladung bringt in der Hauptstadt bestimmt einen besseren Preis ein.« Wie in Erwartung eines vorzüglichen Geschäfts rieb er sich nun die Hände. »Gute Waffen, gute Rüstungen.«
Das Gesicht eines der Älteren erhellte sich. Er hatte einen Gedanken, wie er seinem Opfer weitere Informationen über seinen Besitz entlocken konnte Um ihn zum Weiterreden zu animieren, erzählte er im Gegenzug selbst eine Geschichte über einen einträglichen Fund. Obwohl ihm die beiden anderen erschrocken finstere Blicke zuwarfen und ihm durch Gestern zu verstehen gaben, er solle den Mund halten, redete er weiter.
Mike tat, als habe er die Warnungen nicht bemerkt, und konzentrierte sich mit sichtbarer Anstrengung auf den Bericht.
»Auf halbem Weg hierher hat uns ein Räuber überfallen. Und das, wo wir selbst nichts haben! Ha, aber wir haben den Spieß umgedreht! Ich stellte ihm ein Bein, als er mit dem Schwert auf uns einschlagen wollte. So haben wir unser Leben behalten. Wir haben ihn überwältigt und als Entschädigung für unseren Schrecken seine Sachen geplündert. Dabei ist uns ein Spiegel in die Hände gefallen, so groß.« Sein rechter Zeigefinger fuhr im Kreis um den Handteller seiner Linken. »Mit sechzehn Ecken. Das Glas ist uralt und fleckig. Wir haben ihn aus seinem Tuch gewickelt, und er hat zu glühen angefangen. Genauer gesagt rot zu leuchten, denn er ist kalt geblieben. Vor Schreck haben wir ihn fallen gelassen. Obwohl er auf einen Stein geprallt ist, blieb er unversehrt.«
Mike wurde hellhörig.
»Ein Glas, das leuchtet und das nicht zerbricht, wenn ihr es fallen lasst? Das muss etwas Besonderes sein. Wisst ihr, wo es herkommt? Habt ihr den Räuber gefragt?«
»Natürlich, aber der Kerl hat uns sicherlich angelogen. Einem toten Wanderer habe er es abgenommen, den er am Wegrand gefunden hätte. Sicherlich hat er selbst den armen Wicht erschlagen! Diesen Schatz wollen wir nun verkaufen, wenn wir dann im Norden sind.« Er machte eine übertrieben lange Pause und strahlte Mike an. »Da kann ich mir gut vorstellen, dass ihr ihn vielleicht haben wollt. Ein Kleinod für eure hübsche Frau. Zwar seid ihr nicht so fein gekleidet wie die edlen Bürger aus der Stadt, aber auch eure Kleidung sieht nicht billig aus. Und wer solch wertvolle Waffen trägt …«
Er rutschte näher an Mike heran, streckte ihm die Hand hin.
»Zeigt mal euren Beutel, vielleicht reicht euer Geld ja für den Handel.«
Verwundert beobachtete Julia, dass ihr Gefährte neugierig wurde. Ein Kleinod für seine hübsche Frau? Welchen Grund hätte er, ihr ein Geschenk zu machen? Schließlich wollte er sie ja loswerden, sobald sie Königstein erreicht hätten. Woher kam aber dann sein offensichtliches Interesse an dem Spiegel? Hatte er etwas mit seiner Vergangenheit zu tun, die er ihr zu verheimlichen trachtete?
Mike sah dem Alten ins Gesicht und schüttelte den Kopf.
»Das muss ich mir noch überlegen. Zeigt mir erst den Spiegel!«
»Einen solchen Schatz tragen wir natürlich nicht mit uns rum. Wir haben ihn an einem sicheren Ort vergraben.«
»Und warum gebt ihr dann vor, mit mir darüber Handel treiben zu wollen? Wir werden doch nicht stundenlang mit euch wandern und dann feststellen, dass er uns vielleicht nicht gefällt. Euer Ansinnen kommt mir doch recht seltsam vor.«
Dem Jüngeren dämmerte, dass der Fremde wohl Lunte roch. Dem Gespräch wollte er eine Wendung geben, um doch noch herauszubekommen, wo er seine Barschaft versteckt hielt.
»Auf eurer Wanderschaft braucht ihr doch sicherlich allerlei nützliche Dinge. Schnüre und Seile etwa, wenn ihr etwas festzubinden habt oder ein Hindernis überwinden wollt. Oder falls ihr in eine dieser Höhlen stürzt, wenn ihr einmal den Weg verlassen solltet.«
Mike hakte nach.
»Wie kommt ihr auf solche Gedanken?«
»Ich bin Seilmacher«, gab der Rotschopf zur Antwort. »Vielleicht wollt ihr mir ja welche abkaufen. Und das könnt ihr ja erst, wenn ihr überhaupt wisst, dass ich welche feilbiete.«
Nun wollte Mike alles über seine Seile wissen.
Julia folgte dem Gespräch mit zunehmendem Interesse. Die Lethargie war von Mike abgefallen. Seine vorher weinselig klingende Stimme war schon bei der Unterhaltung über den seltsamen Spiegel wieder klar geworden. Und nun war er es plötzlich, der die Fragen stellte. Noch rätselhafter war ihr, dass dies außer ihr niemandem aufzufallen schien.
Der Seilmacher lächelte gezwungen und musste nun wegen seines Angebots, auch wenn er es nur zögerlich tat, Auskunft erteilen. Plötzlich richtete er sich auf, seine Augen leuchteten. Er habe ein paar Beispiele seiner Handwerkskunst dabei, erklärte er mit übertrieben vorgetragenem Stolz und bemühte ein paar Stricke aus den Taschen seiner Beinkleider. Der Junge und einer der Älteren nahmen jeder einen in die Hand, standen auf und traten rechts und links neben Mike. Aus der Nähe könne er sie besser begutachten.
Julia zitterte. Sie wollte Mike eine Warnung zurufen, brachte aber keinen Ton heraus. Sie war schweißgebadet. Ihr Gehirn arbeitete mit rasender Geschwindigkeit, alles vernahm sie wie in Zeitlupe. Einzelheiten drängten sich ihr auf, auf die sie sonst nie geachtet hätte. Unwillkürlich schloss sie vor der aufkommenden Gefahr die Augen. In ihrer Vorahnung sah sie den Älteren hinter ihrem Gefährten stehen. Sie sah ihn Mike den Strick um den Hals legen und mit einer schadenfrohen Grimasse die Schlinge zuziehen. Als Julia erschrocken die Augen aufriss, stand der Alte immer noch neben Mike, hatte beide Seilenden einfach in seinen Fäusten liegen. Er hatte sie nicht einmal um seine Hände gewickelt, um die Kraft fester auf das Seil übertragen zu können. Außerdem war es zu kurz, hätte nie um Mikes Hals gepasst, so konnte der Räuber ihn gar nicht erdrosseln. Sie kniff die Augen zu, schwenkte den Kopf ein paar Mal schnell hin und her, um ihre Verwirrung abschütteln.
Ihre Furcht und Verwirrung kippten in blankes Entsetzen um, als der andere Alte aufstand und mit boshaftem Grinsen sein Messer zog. Breitbeinig baute er sich vor Mike auf, wobei er sie aus dem Augenwinkel im Blick behielt. Dessen war sich Julia sicher.
Mike hatte während des Essens den Anschein eines redseligen Trinkers gegeben. Im Gegensatz dazu schien er nun hellwach. Wie ein Breakdancer ließ er sich in eine fast liegende Körperhaltung fallen und stützte sich nur auf der linken Ferse und der linken Hand auf. Blitzschnell drehte er seinen Körper im Kreis und schlug mit dem ausgestreckten rechten Bein dem Alten mit dem Seil beide Füße unter dem Körper weg. Der prallte der Länge nach mit seiner Flanke auf den Boden. Sein Ellbogen krachte auf den harten Untergrund. Julia hörte ein Knacken, unwillkürlich stellte sie sich vor, wie kleine Knochensplitter sich ins Fleisch drückten. Der Alte schrie auf vor Schreck und vor Schmerz. Er war außer Gefecht gesetzt.
Mike sprang auf, sah dem Kerl mit dem Messer direkt in die Augen und fixierte dessen Blick. Abrupt drehte er sich um und zog gleichzeitig das rechte Bein an. Als er mit dem Rücken zu dem Galgenvogel stand, streckte er sich ruckartig und trat ihm so kräftig gegen sein Standbein, dass er ihm die Kniescheibe brach. Der Verletzte schrie auf und ließ sich auf den Rücken fallen. Er rollte sich hin und her und hielt das Knie zwischen beiden Händen.
Zwischenzeitlich hatte Mike seine Schwerter gezogen und sich umgesehen. Der Seiler war als einziger noch auf den Beinen. Beim Gegenangriff auf seine Kumpane hatte er Fersengeld geben wollen, hatte sich aber im Riemen des Schlittens verfangen. Nun lag er der Länge nach im Gebüsch. Mike steckte die Waffen zurück und hob die Stricke auf. Er war stärker als der Spitzbube und zog ihn aus dem Gestrüpp zum Lagerplatz. Dort drückte er ihn zu Boden und band ihm die die Hände auf den Rücken, dann die Beine an den Knien und an den Knöcheln aneinander. Die jammernden Verletzten ließ er ungefesselt liegen, wo sie waren. Nachdem er ihnen die Messer abgenommen hatte, waren sie nicht mehr gefährlich.
Mikes Verhör des vorgeblichen Seilers war intensiv. Er befragte ihn nicht nur nach seiner Herkunft und der seiner Kumpane. Es bestätigte sich, was Julia vermutet hatte: Die drei waren Sohn, Vater und Onkel, aber nicht von hier. Er wollte mehr wissen über die Gegend, über Ortschaften und ihre Bewohner. Waren Orks gesichtet worden, gab es außer dem Jungen und seinen Verwandten weitere Wegelagerer? In welchen Dörfern hielten sich Räuberbanden auf, welche waren frei davon? Welche Händler und Wirte in Königstein und auf dem Weg dorthin waren ehrlich, welche Schlitzohren? Sobald der Mann schwieg oder offensichtlich die Unwahrheit sagte, griff er ihm an die Gurgel und schüttelte ihn. Drei- oder viermal war das nötig, dann erzählte der Gepeinigte von sich aus, als wisse er die Fragen im Voraus. Seine Spießgesellen mischten sich nicht ein. Sie waren mit ihrem Schmerz beschäftigt und froh, momentan unbeachtet zu sein.
Besonders schien Mike die Geschichte mit dem Spiegel zu interessieren.
»Erzähl noch mal, wie euch dieser Räuber überfallen hat. Wo genau war das? Wie sah der Kerl aus, war an ihm etwas Besonderes?« Vor Überraschung stieß er einen Pfiff aus, als der Seiler von einem Mal am Handgelenk berichtete. »Ein Drachenkopf?«
»So sah es aus.«
»Erzähl mir mehr! Woher war der Strauchdieb? Hat er davon gesprochen, was er vorhatte, wo er hinwollte?«
Er drängte mehrmals, gab aber auf, als der Gauner immer neue Versionen auftischte und sich in Widersprüche verwickelte. Stattdessen fragte er letztendlich das Räubertrio nach seinem Lagerplatz. Die hastig hervorgestoßene Antwort erhielt er von dem Alten mit dem verletzten Ellbogen, kaum als er sich vor ihn hinhockte und mit geöffneter Hand in Richtung seines Armgelenks griff.
Mike stand auf, trat an die Wegelagerer heran und tastete jeden gründlich ab. Dabei nahm er Rücksicht auf ihre Verwundungen. Da er vorhin schon ihre Messer eingesammelt hatte, ließ er ihnen alles, was sie in ihren Taschen mit sich trugen, mit Ausnahme eines weiteren Messers mit kurzer Klinge. Einer der drei hatte es unsichtbar in einer Scheide unter seinem Hosenbein getragen.
Mike prüfte vor ihrem Aufbruch die Fesseln des Seilers nochmals und flocht die losen Enden in die Büsche. Ein einfaches Wegziehen war nicht möglich. Die Verletzten hatte er so gelagert und lose gebunden, dass sie keine weiteren Schmerzen erlitten.
Während Julia einfach froh war, den Überfall nur mit einem Schrecken überstanden zu haben, schien er Mike nicht zu belasten. Kaum, dass sie außer Hörweite waren, resümierte er in lockerem Ton.
»Einen halben Tag werden sie sicherlich brauchen, um sich loszumachen und unseren Rastplatz zu verlassen. Das können sie nur gemeinsam vollbringen, was schwerfallen dürfte. Sie sind ja noch in unserem Beisein in Streit geraten und werfen sich nun gegenseitig die Schuld am Missraten des Überfalls vor.«
10.
Sie erreichten den höchsten Punkt des Weges. Mike bog in die Steppe ab und zog den Schlitten die Böschung hinauf. Auf ihrer Rückseite fand er, wie von dem Räuber beschrieben, die Senke mit dem Lagerplatz. Unter einem Gebüsch am Rand entdeckte er einige anscheinend hastig versteckte Stoff- und Lederbeutel und zusammengerollte Decken. Er zog alles hervor. Größere Bündel wurden anscheinend auf dem Rücken getragen, die kleineren eher an den Gürtel gehängt.
Er durchsuchte sie gründlich. In zwei apfelgroßen Ledersäckchen fand er eine Handvoll Kupfermünzen und ein paar Silbertaler. Der Rest war Kram, den man nun mal so brauchte. Auch Proviant fand er. Das Brot war jedoch hart, das Fleisch nicht mehr frisch und das Wasser abgestanden. Er legte die Ledersäckchen mit dem Geld auf einen flachen Stein am Eingang zur Senke, alles andere steckte er wieder in die großen Beutel zurück.
Endlich förderte er ein flaches Päckchen zutage. Als er den Stoff für einen Moment zurückschlug, so vorsichtig, als erwarte er, dass ihn etwas anspringe, sah Julia auf seinem Gesicht den schwachen Widerschein eines rötlichen Lichts. Zufrieden stopfte er seine Beute in eine Seitentasche des Tornisters. Ihrer Frage begegnete er mit einem resoluten Kopfschütteln.
Auf dem steinigen Boden häufte er kleine verdorrte Sträucher an, die sich leicht aus dem Boden hatten ziehen lassen. Darauf stapelte er die Beutel und schob er dürre Zweige und trockenes Gras dazwischen. Das Ganze deckte er auch damit zu. Nun brachte er aus einer Westentasche ein Feuerzeug zum Vorschein. Ein schlankes Glasröhrchen, zum Schutz eingebettet in eine dünne Kupferhülse. Als er den Stopfen abzog, schlug eine grüne Flamme, heraus.
Julia riss die Augen auf.
»Ist das Magie?«
»Diesmal nicht. Nur normale Chemie. Wenn der Inhalt des Röhrchens mit dem Luftsauerstoff in Berührung kommt, entzündet er sich. Das kennst du vielleicht noch vom Chemieunterricht, wenn euer Chemielehrer eine kleine Menge Phosphor aus seinem Behälter geholt und auf dem gefliesten Labortisch aufgehäuft hat.«
Sie nickte.
Mike hielt die grüne Flamme weit unten an das dürre Material und verkorkte das Fläschchen, sobald die ersten Flammen an dem Stapel züngelten. Als er es wieder in seiner Tasche verstaut und den Knebel geschlossen hatte, leckte das Feuer bereits an zwei Seiten. Ohne zu beobachten, wie weit sich die Flammen ins Gepäck fraßen, machte er kehrt und zog seinen Schlitten aus der Senke wieder auf den Weg.
Julia sah ihn entgeistert an. Ihr Gesichtsausdruck war ein einziger Schrei der Entrüstung.
»Was soll das?«
»Das ist die Strafe für den Überfall«, rechtfertigte er sich, »außerdem erfährt so keiner, dass ich etwas mitgenommen habe.« Gerade steckte er auch die Ledersäckchen mit den Münzen ein. Er zuckte die Schultern.
Ihre Augen blitzten zornig.
»Was hast du? Das ist meine Beute, von so etwas lebe ich.«
»Und ich?« Sie biss sich auf die Lippe, es war ihr herausgerutscht. Das hatte sie gewiss nicht sagen wollen. Worüber hatte sie sich eigentlich so aufgeregt? Wegen der Säckchen bestimmt nicht. Weil er Sachen verbrannt hatte, die vielleicht noch zu gebrauchen waren? Wegen der Räuber? Sie hätte es selbst nicht mehr sagen können.
»Ach so! Hier, fang!« Er holte aus und warf ihr einen der Beutel zu.
Instinktiv war Julia in ihrem Ärger einen Schritt zurückgewichen. Es wäre ihr aber töricht vorgekommen, das Säckchen fallenzulassen. Außerdem wollte sie ihm keineswegs den Triumph gönnen, sie für ungeschickt zu halten. Also beugte sie sie vor und streckte beide Hände aus. Den Beutel erhaschte sie gerade noch, geriet aber ins Straucheln. Ihren Sturz verhinderte sie mit Müh und Not durch einen Ausfallschritt.
Er bemerkte es nicht. Er hatte sich schon umgedreht und folgte dem Weg ins Tal. Sie hatte das Säckchen geöffnet und ließ die Münzen durch die Finger gleiten. Reichlich Kupfer, ein wenig Silber. Sie zog die Schnur wieder fest und folgte ihm. Sie musste eine kurze Strecke rennen, um ihn einzuholen. Dass er die Galgenvögel hatte laufen lassen und sich mit einer Handvoll Münzen und einem handtellergroßen Spiegel zufriedengab, widerstrebte ihr. Sie wusste aber, er sah sich im Recht. Ihre Vorwürfe würden an ihm abperlen.
»Wie viel ist das?« fragte sie stattdessen.
»Gut zwei Wochen Gasthof mit drei Mahlzeiten täglich und abends einem Schoppen Apfelwein. In der Stadt. Auf dem Land langt es ungefähr doppelt so lange. Für einen Kleinwagen reicht es nicht gerade.«
Sie schmollte, hatte sie doch seinen Sarkasmus nicht verdient.
Nachdem der Lagerplatz außer Sichtweite war, besserte sich seine Laune. Sie ergriff die Gelegenheit, ihn endlich in Ruhe auf sein Verhalten gegenüber den Räubern anzusprechen.
»Vom ersten Moment an waren auch mir die drei nicht geheuer«, erzählte er zufrieden. »Bauern und Handwerker sind nicht so sauber. Und jeder mit regelrechten Schätzen an der Tracht? Ein bestickter Ledergürtel, die Kappe mit einem silbernen Knopf, lederne Armbänder mit bunten Stickereien, ohnehin unpraktisch für die Feldarbeit. Und jeder hat ein Messer, für das ein Landsknecht morden würde. All das passte nicht zu ihrer einfachen Kleidung. Andersrum wird ein Schuh draus! Erst die Klamotte, dann die Accessoires.«
Er hatte sich in Schwung geredet.
»Es war deutlich, dass sie uns ausfragten, während sie wirklich nichts von sich preisgaben. Ihre Beschreibungen waren falsch. Wir sind eine Stunde vom nächsten Dorf weg. Liegt etwa Lohfelden ostwärts von Königstein? Warum erzählen sie uns von Begebenheiten wie von dem Feuer vor ein paar Jahren? Und nach Norden gehen, um den Schatz zu verkaufen? In Königstein wäre der Erlös dreimal so hoch. Und hier gäbe es Heilkräuter, die im Norden nicht wachsen? Kein einziges! Dann der Seiler, der so wenig über seinen Beruf wusste, dass er höchstens mal mit einem Galgenstrick Bekanntschaft machen dürfte! Daher meine Redseligkeit. Ich wollte, dass wir als leichte Beute erscheinen, und sie damit aus der Reserve locken.«
»Das hast du ja geschafft«, stimmte sie zu, »aber was war das für eine Geschichte mit dem Spiegel? Du bist ja voll drauf abgefahren!«
»Eigentlich besser, du weißt nichts davon«, zog er sich wieder in sich zurück.
Sie sah, dass es ihm ernst war, ihre Neugier auch diesmal nicht zu befriedigen. Sie beschloss, auf eine spätere Gelegenheit zu warten. Er war jetzt schon nicht mehr so abweisend wie vorhin, als er den Spiegel an sich genommen hatte.
»Warum hast du diese Halsabschneider so glimpflich davonkommen lassen? Die gehören vor ein Gericht«, unterbrach Julia die aufkommende Stille. »Sie gehören eingesperrt, damit sie nicht nochmal jemanden überfallen. Und als Strafe für ihre früheren Missetaten.«
»Prinzipiell hast du Recht«, pflichtete er ihr bei, »aber Gerichte gibt es nicht in jedem Dorf. Außerdem, denke ich, sind sie gestraft genug. Die Älteren sind verletzt und werden keine Überfälle mehr durchführen. Jeder halbwüchsige Bäckerbursche würde sie so vertrimmen, dass sie nicht mehr wüssten, ob sie Männlein oder Weiblein wären. Auch der Junge hat noch lang genug daran zu knabbern. Die Alten sind Vater und Onkel, er wird sich also um sie kümmern müssen. Das Wichtigste ist aber, dass ich glaube, sie sind Räuber, keine Mörder. Sie wollten uns binden und ausrauben. Sie hätten uns lebend liegengelassen. Gefesselt, während sie sich aus dem Staub gemacht hätten. Hätten sie uns wirklich umbringen wollen, hätten sie mehrmals die Gelegenheit dazu gehabt. Meinen Kampfzauber mal außer Acht gelassen, aber von dem wussten sie ja nichts.«
Das mit dem Kampfzauber war für Julia immer noch ein Märchen, aber dem Rest seiner Bewertung pflichtete sie bei.
Fast schweigend legten sie bis zum frühen Nachmittag noch ein paar Meilen zurück. Seit dem versuchten Überfall wanderten sie Feldwege entlang, nicht mehr nur Furchen durch Steppengras. Sie marschierten zwischen Getreidefeldern, die von häufig genutzten Fahrspuren durchschnitten waren. Sie waren in Richtung auf verschiedene Ziele mit Absicht angelegt worden. Am besten ausgebaut und erhalten war der letzte, der breiteste Weg. Er führte nach Südwesten und schien in der Ferne am Fuße eines bebauten Hügels zu enden: Königstein.
11.
Das Dorf überraschte sie. Hinter einer nicht einsehbaren Waldecke versteckte sich eine Wegekreuzung, der Wegweiser zeigte sich als Bretter, die an einen Baum genagelt waren. Kaum hatten sie die Ortsnamen auf den verwitterten Brettern entziffert und waren um die Ecke gebogen, standen sie schon vor den Palisaden. Das Tor stand offen. Die zwei Kerle, die Wache standen, musterten sie argwöhnisch. Fragen stellten sie aber keine. In ihren Augen wurde Mikes wildes Aussehen anscheinend durch die Begleitung einer Frau ausgeglichen.
Mike wiederum fand an ihnen keine Anzeichen dafür, dass sich die Siedlung in den Händen von Räubern befände. Offenbar hatte der vorgebliche Seiler bei seinem Verhör die Wahrheit gesagt.
Das Dorf beherbergte eine Wirtschaft. Zum Truthahn. Die Mittagszeit war längst vorüber, und die wenigen verbliebenen Gäste sprachen nur noch dem Apfelwein zu oder genossen den nahe der Hauptstadt und weiter im Süden angebauten Wein. Trotzdem bekamen Mike und Julia noch eine reichhaltige Mahlzeit. Die freundliche Wirtin meinte es gut mit ihnen. Sie wies ihnen einen Platz draußen in der Herbstsonne zu an einem kleinen Tisch mit zwei leeren Bänken. Ein roter Ahorn stand seitlich davon, sein Laub nahm ihnen aber nicht die Sonne.
Die Wirtin hatte zwei Mägde beauftragt zu bedienen. Die eine brachte zwei tönerne Schalen, etwas flacher als Halbkugeln, eine gute Handspanne im Durchmesser, dazu zwei Löffel und zwei Becher aus Zinn. Sie verschwand und kehrte kurz darauf mit einem Krug Rotwein und einem Teller voll fingerdicker Scheiben eines hellen Brotes zurück. Während sie alles vor Mike und Julia aufbaute, erschien die zweite Magd mit einem dampfenden Topf, aus dem der Stiel einer Kelle ragte. Sie stellte den Topf zwischen sie und füllte die Schalen bis knapp unter den Rand.
Die Wirtin blieb neben dem Tisch stehen und beaufsichtigte alles.
Erschrocken zuckten Mike und Julia zusammen. Auch die Magd wusste nicht, wie ihr geschah.
»Schamloses Gör!« Die Schelte der Wirtin kam aus heiterem Himmel. »Wie bedienst du meine Gäste? Du bist eine Schande für den Truthahn. Lauf sofort ins Haus und nimm dir ein frisches Fürtuch!«
»Aber Herrin, das Huhn hat noch so geblutet, als ich es ausgenommen …«
Ihre Verteidigung konnte die Magd nur im Ansatz vorbringen. Schon hatte die Wirtin sie am Ohr gepackt und zog sie in gebückter Haltung ins Gasthaus.
»Sofort, hatte ich gesagt!«
Mike kicherte verhalten.
Julia hingegen hatte die Szene sprachlos verfolgt.
»Ein frisches Fürtuch?« Sie war baff.
Er lachte.
»Du solltest Althochdeutsch lernen, zumindest Mittelhochdeutsch. Das Fürtuch, auch Vortuch genannt, ist eine Schürze.«
Nun stimmte sie in das Lachen ein. Ein Vortuch. Logisch!
Es war ein schmackhafter Gemüseeintopf. Karotten, in fingerdicke Stifte geschnittene Rüben, Zwiebeln und reichlich Lauch in breiten Ringen, etwas Grünzeug. Der großzügige Einsatz von Kräutern aus dem ans Haus angrenzenden Garten gab eine kräftige Würze. Die daumengroßen Fleischstücke waren erfreulich zahlreich. So viele Fettaugen teilten sich die Oberfläche, dass sie aneinanderstießen.
»Ich hätte Kartoffeln mitgekocht. Und die Gewürze sind auch seltsam«, kommentierte Julia.
»Tja, da hast du Pech«, war die schelmische Antwort, »Kartoffeln gibt´s nicht. Amerika wurde noch nicht entdeckt.« Er wurde wieder ernst. »Und Gewürze - naja, nicht die, die wir von zu Hause her kennen. Salz vielleicht, aber man würzt mit Kräutern. Das macht das Essen herzhaft und gesund.«
Er sah ihr direkt in die Augen. Sie hob den Blick, als sie es bemerkte.
»Siebenreich ist eben anders als Freiburg. Du hast schon gemerkt, dass hier niemand raucht. Tabak ist ebenso unbekannt wie Kaffee, Kartoffeln, Tomaten und vieles andere. Ich könnte dir stundenlang aufzählen, was es hier nicht gibt. Aber, wer will, weiß sich zu helfen. Es gibt für fast alles eine Alternative. Und was der Bauer nicht hat, isst er nicht. Oder so ähnlich.« Seine Erklärung begleitete er mit einem verhaltenen Lachen. »Je näher man an die Städte kommt, desto besser wird das Essen. Es wird eben mit Küchenkräutern, Beeren und Wurzeln verfeinert.«
Die Suppe war heiß, dennoch mussten sie sich mit dem Essen beeilen. Anderenfalls hätte sich der Talg als dicke Schicht am Rand ihrer Schalen, an den Löffeln und am Gaumen abgesetzt.
Nachdem sie aus der Küche zurückgekehrt war, setzte sich die Wirtin zu den beiden auf die Bank und wollte wissen, wen sie vor sich hatte. Sie war nicht aufdringlich und gab ihrerseits bereitwillig Auskunft auf alle ihr gestellten Fragen. Nach Königstein, dem Weg dorthin, Herbergen dort, und nach dem Dorf, in dem sie sich gerade befanden.
»Ihr seid hier in Kornthal. Im Tal hier wird ein besonderes Getreide angebaut, aus dem ein helleres Mehl gemahlen wird als irgendwo sonst im Lande. Und, da ihr gefragt habt, ja, eine Schmiede gibt es natürlich. Sie ist leicht zu finden. Ihr riecht das Feuer bis hierher, sie ist im übernächsten Haus. Und der Schuster hat seine Werkstatt am Ende des Dorfes, keine achtzig Schritt von hier.«
Nach dem Essen stand Mike auf. Julia ließ er mit einem bezahlten Krug Apfelwein zurück und machte sich mit dem Schlitten auf den kurzen Weg zur Schmiede.
12.
Der Schmied war ein wahrer Hüne, ein fröhlicher und freundlicher Kerl. Singend bediente er abwechselnd Blasebalg und Schmiedehammer. Was er zu seinem Amboss trug, bearbeitete er dort mit schnellen, kräftigen Schlägen.
»Ich wünsche euch einen guten Tag, Meister Schmied. Wenn ihr wollt, habe ich etwas anzubieten, das euch von Nutzen sein dürfte.«
Der Riese unterbrach seine Arbeit.
»Es kommt selten jemand mit vernünftiger Ware hier vorbei. Und jetzt in Kriegszeiten noch weniger. Was wollt ihr denn bei mir loswerden? Und Geld wollt ihr womöglich auch noch dafür, oder?«
Mike schlug das Tuch auf dem Schlitten zurück.
»Mmh, Waffen und Rüstungen. Wohl von Orks, oder? Das ist gutes Eisen, wirklich. Habt ihr das selbst gesammelt? Naja, geht mich eigentlich auch gar nichts an. Aber schleppt ihr das vom Nordwall bis hierher?«
»Von so weit kommt es nicht. Ich habe es vor dem Langewald erbeutet. Was bietet ihr mir dafür?« Mike machte eine Pause, wollte den Preis ein wenig nach oben treiben. »Bevor mir jemand anderes ein besseres Angebot macht.«
»Erbeutet? Mmh, wenn ich euch so betrachte in eurem Waldläuferanzug und mit den seltsamen Schwertern, traue ich euch das zu. Ein Angebot? Mmh …«
Mit drei Fingern massierte er sein bärtiges Kinn. Dann bot er Mike einen annehmbaren Preis.
Nachdem der Handel mit Handschlag besiegelt war, sah Mike dem Schmied direkt in die Augen.
»Nun benötige ich noch etwas von euch. Für eure Arbeit will ich euch gut bezahlen. Ich brauche ein ganz dünnes Blech von möglichst wenig Gewicht. Ungefähr so groß.« Er führte die Hände des Schmiedes flach nebeneinander und fuhr mit dem Zeigefinger um dessen riesige Handflächen.
Der Schmied grinste über die seltsame Beschreibung, hatte aber verstanden.
»Mmh!« Brummend wandte er sich in eine finstere Ecke seiner Schmiede. Es schepperte einige Male, bevor er zurückkehrte. Seinem Kunden hielt er ein Blech hin, das in Form und Maßen dessen Wunsch entsprach.
Mike schüttelte den Kopf.
»Höchstens halb so dick! Es muss dünner sein als der Zierharnisch der Paradeuniform eines königlichen Gardisten.«
»Mmh. Ihr habt ziemlich hohe Ansprüche.«
»Heißt das, es wäre nicht zu machen?«
Der Riese quittierte den Kommentar mit einem Stirnrunzeln. Anstatt anderes Material zu holen, hielt er das Blech mit seiner Zange in die Glut und bearbeitete das heiße Stück auf seinem Amboss. Nach ungezählten Wiederholungen tauchte er es zuletzt längere Zeit in den Bottich voll Wasser und hielt es dann, immer noch in die Zange gepresst, Mike zur Begutachtung hin.
»Ihr versteht euer Handwerk, Meister Schmied. Eine sehr gute Arbeit, ein glattes, dünnes Stück Blech von der Größe zweier Männerhände. Aus der Mitte heraus getrieben zum schmalen Rand. Der ist dicker, das stört aber nicht, ich werde ihn sowieso abtrennen. Die dünne Fläche ist mir ausreichend.«
Offenbar bekam der Schmied selten ein Kompliment zu hören. Wenn auch sein dichter Bart das Lächeln verbarg, hatten sich seine Mundwinkel darunter doch breit auseinander gezogen.
Mike befeuchtete seinen linken Daumen im Mund und drückte ihn einen Augenblick lang an den Rand des Blechs, um die Temperatur zu prüfen. Dann nahm er dem Schmied das Werkstück ab und trug es mit einem »Ich darf doch wohl, oder?« zu einer Werkbank, die er im Halbdunkel an der Rückseite der Schmiede ausgemacht hatte. Aus seinem Tornister zog er das Bündel, das von den Räubern stammte, und legte es neben das Blech.
Neugierig stellte sich der Schmied an seine Seite. Natürlich wollte er wissen, was ein Kunde in seiner Werkstatt so trieb. Die riesige Gestalt versperrte die Sicht zum Eingang. So nahm Mike Julia erst wahr, als er das eingewickelte Spiegelstück zum Vermessen auf das Blech gelegt und den Umriss grob mit einem Hufnagel nachgezeichnet hatte. Den hatte er nach einem kurzen Umschauen in einer Bodenritze gefunden.
Der Schmied wollte sich nicht aufdrängen, Julia hingegen platzte vor Neugier. Beide waren begierig zuzuschauen, und es wäre Mike schwer gefallen, sie davon abzuhalten. Also fügte er sich und ließ sie zusehen, gab aber keinerlei Erklärung. Er zog eine Axt von ihrem Nagel an einem Holzbalken und prüfte ihre Schärfe. Anschließend trug er das Blech zu einem Hackklotz, hielt die Schneide der Axt auf seine Markierungen und trieb sie daran entlang durch Hammerschläge auf den Axtkopf durch das dünne Eisen. Ein Blech von etwas mehr als der doppelten Fläche des Spiegels blieb übrig. Zur Probe legte er ihn nochmals auf, kippte ihn auf die andere Seite und nickte zufrieden. Das Blech hielt er nun mit einer Hälfte über die harte Kante des Tisches und bog es mit Hammerschlägen so weit um, dass die beiden Hälften fast deckungsgleich aufeinanderlagen, bei der oberen stand ein schmaler Rand über.
Er schob Julia und den Schmied so eng zusammen, dass das Tageslicht nahezu ausgesperrt war. Im Halbdunkel rollte er die Spiegelscherbe aus der Stoffhülle und schob sie bis zum Anschlag zwischen die beiden Hälften des gefalteten Bleches. Die spiegelnde Seite zeigte nach unten zum Tisch hin. Ein rötlicher Schimmer glomm auf und wollte sich entfalten. Mike gab ihm keine Gelegenheit. Sofort begann er, mit dem Hammer an der Tischkante den Rand des oberen Bleches rundum so weit umzubiegen, dass kein Licht mehr auf den Spiegel fallen konnte, egal, wie man ihn hielt. Letztendlich hämmerte er auf dem Amboss die umgelegten Blechränder fast bündig in die Fläche. Das Werkstück war handtellergroß, fast rund und flach.
Mike atmete tief durch. Er war mit seiner Arbeit fertig und begutachtete sein Werk. Ein flaches Stück Eisen, so schien es bei oberflächlicher Betrachtung. Der Rand war beinahe umlaufend umgebördelt, die letzte Seite war einfach umgeklappt. Was sich darin verbarg, war nicht zu erkennen. Er nickte zufrieden und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Dann wickelte er sein Meisterwerk in den Lappen und versenkte das Päckchen in seinem Tornister.
Sogar der Schmied machte ihm ein Kompliment.
»Mmh, das habt ihr gut hinbekommen, so, als hättet ihr das nicht zum ersten Mal gemacht.«
»Ach, Meister Schmied, wenn ihr wüsstet! Auch Waffen habe ich …« Unvermittelt brach Mike ab, als habe er schon zu viel gesagt. »Sagt mir nun, was ihr für das Blech und eure Arbeit verlangt!«
Nachdem er vom Schmied sein Eisen bezahlt bekommen und ihm seinerseits den Preis entrichtet hatte, verließen Mike und Julia den freundlichen Riesen mit einem herzlichen Gruß und kehrten auf einem Umweg zum Schuster in den Truthahn zurück.
13.
»So, ich habe alles mit angesehen. Was ist das mit dem Spiegel? Erzähl schon«, forderte Julia und strahlte Mike über den Rand ihres Bechers an.
Langsam gewöhnte sie sich an die seltsamen Abenteuer in dieser Welt, besonders, wenn der Apfelwein gute Laune machte. Auf einmal waren ihr Herkunft und Schicksal des Spiegels wichtiger als die Galgenvögel, von denen sie ihn erbeutet hatten.
»Eine alte Überlieferung, eine Sage. Aber nochmal …« Vom ersten Wort an wusste er, dass er nicht aufhören durfte zu erzählen, bevor sie die Geschichte zu Ende gehört hatte. »Du solltest besser nichts darüber wissen. Dann kannst du nichts verraten, gerätst deswegen nicht in Gefahr und kannst mich nicht behindern. Der Spiegel ist der Grund, warum ich nach Süden will. Und noch weiter.«
»Doch, erzähl! Ich will´s wissen.«
»Na gut.«
Julia stemmte die Ellbogen auf den Tisch und stützte das Kinn auf die gefalteten Finger.
»Na endlich! Ich hatte schon Angst, du erzählst mir nie etwas darüber.«
»Du weißt, dass Krieg herrscht, angezettelt durch den so genannten Dunklen Herrscher. Eigentlich heißt er Drogan´t´Har, Sohn des Drachen. Er soll von einer menschlichen Mutter geboren sein, aber von einem Drachen gezeugt. Falls das mit dem Drachen stimmt, dächte ich eher an eine menschliche Amme oder Ziehmutter. Jedenfalls hat er einen menschenähnlichen Körper mit Echsenkopf, er ist hünenhaft und richtig böse. Sagt man. Der Sage nach hat er sich vor Hunderten von Jahren an die Spitze der Reiche hinter den Morgenbergen gesetzt und die Ork- und Goblinstämme untereinander geeint. Ihre alten Zwistigkeiten hat er beendet, indem er ihnen die Reichtümer der Zwerge und die aus Siebenreich versprochen hat. Außerdem dürfen sich die Orks an den Elben im Westen austoben, wenn sie hier mit den Menschen fertig wären. Elben konnten sie noch nie leiden.«
Er nahm einen Schluck.
»Vor mehreren hundert Jahren hat er das Land schon einmal mit Krieg überzogen. In der Überlieferung wird das der Große Krieg oder der Krieg der sechs Geschlechter genannt. Menschen, Zwerge und Elben auf der einen, Drachen, Orks und Goblins auf der anderen Seite. Als Drogan´t´Har besiegt und geflohen war, wollte man wissen, wo er sich aufhielt. So glaubte man, gewappnet zu sein, falls er sich wieder erheben würde. Also wurde eine Art magisches Fernglas geschaffen, mit dem man seinen Aufenthalt bestimmen konnte. Auch in unseren Märchen und Sagen gibt es Kristallkugeln und Spiegel, in denen man in die Vergangenheit, in die Zukunft oder einfach an andere Orte sehen kann. Der Spiegel hier ist aber real. Gegossen haben ihn die Zwerge in den Hochöfen ihrer Erzminen zusammen mit den Menschen und den Elben. Die Menschen haben eine Schuppe von Drogan´t´Har beigetragen, die sie ihm abgeschlagen hatten. Sie liegt im Mittelstück und stellt die magische Verbindung zu ihm her. Die Elben haben die Außenteile mit Magie belegt, jedes Stück mit einer anderen, sie ergänzen sich und steigern ihre Macht gegenseitig.«
Er sah sie an, vermochte aber nicht zu deuten, ob sie die Stirn vor Skepsis oder vor Verwirrung gerunzelt hatte. Also bot er ihr einen Vergleich.
»Du bist gut im Bogenschießen und bist damit für deine Gegner gefährlich. Noch gefährlicher wirst du, wenn du reiten lernst. Du bist schneller und kannst aus der Bewegung schießen. Und es wäre für sie das Ende, wenn du in die Zukunft sehen könntest und wüsstest, wo du ihnen aufzulauern hättest. Genauso unterstützt eine Scherbe die andere mit ihrer jeweiligen Fähigkeit.«
Julia schüttelte den Kopf.
»Kein Märchen?«
»Glaub´ ich mittlerweile nicht mehr. Aber der Reihe nach! Auf jeden Fall wurde der Spiegel regelmäßig alle paar Jahrzehnte zwischen Zwergen, Menschen und Elben reihum weitergegeben. So war jede Art eine Zeitlang Bewahrer des Friedens. Es war ein fruchtbares Zeitalter. Irgendwann zerbrach ein Naturereignis den Spiegel entlang der Ränder in seine ursprünglichen Einzelteile. Drogan´t´Har hat ein paar Scherben erbeutet und versucht, sie zu nutzen, weshalb man sich heute bemüht, die restlichen seinem Zugriff zu entziehen. Sie sind unzerstörbar, es sei denn, man wirft sie in den Silbersee. Dort sollen sie sich auflösen. Übrigens: Drachen hat man seit dem Großen Krieg nie wieder gesehen.«
Er machte eine Pause. Unvermittelt offenbarte er ihr dann sein Schicksal und seine Mission.
»Das Mittelstück hat uns heute der Zufall in die Hände gespielt, die Drachenschuppe hab ich aber nicht erkennen können. Das Glas ist angelaufen und trübe geworden. Die Scherben wurden vom Schicksal über den ganzen Kontinent verstreut. Zwei hatte ich schon. Eine hat mir jemand heimlich zugesteckt, der einen Tag darauf erdolcht wurde. Die andere habe ich einem Schamanen abgenommen.«
»Einem Schamanen?«
»Einem Priester, einem Zauberer, einem Medizinmann der Orks.«
Julia nickte, so gut es mit dem aufgestützten Kinn eben ging.
»Beide Male wurde mir das Leben ziemlich schwer gemacht. Drogan´t´Har lässt die Scherben suchen und ihre Besitzer umbringen. Die von heute muss schon auf dem Weg zu ihm gewesen sein, denn der Räuber trug sein Zeichen.«
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Sage zu erzählen bedrückte ihn. Er war zu tief darin verwickelt.
»Bei der Verzauberung ist etwas schiefgelaufen, denn die Scherben zeigen nicht nur Drogan´t´Hars Aufenthaltsort, sondern verstärken neben ihren eigenen auch seine magischen Fähigkeiten. Besonders, wenn sie in ihrer ursprünglichen Lage aneinandergefügt werden. Wenn er den Spiegel komplett zusammenbauen könnte, wäre das das Ende nicht nur von Siebenreich. Wo immer ein Bruchstück das Tageslicht erblickt, kann er dorthin sehen und es orten. Also leben in Siebenreich, bei den Elben und bei den Zwergen eine Handvoll unerkannter Helden. Sie versuchen, ihre Stücke heimlich zum Silbersee zu bringen, in dessen Fluten zu werfen und dem Zugriff des Drachensohnes ein für alle Mal zu entziehen. Mich hat das Schicksal zu einem der Ihren gemacht. Meine Scherben sind so ziemlich die letzten, die nicht zerstört oder von Drogan´t´Har erbeutet worden sind. Nicht ganz ungefährlich, wie du an dem Überfall im Gasthof gesehen hast. Die Häscher hatten die Brandmale am Unterarm.«
»Ja, die Drachenköpfe«, Julia nickte. »Und wo liegt dieser Silbersee?« Sie saß über den Tisch ganz nah zu Mike herübergebeugt und hing mit schief gelegtem Kopf förmlich an seinen Lippen.
»Mitten im Orkland hinter den Morgenbergen. Kaum hinzukommen. Und mit Sicherheit bewacht. Ach so …« Er stockte, musste sich scheinbar überwinden, um weiterzusprechen. Sich daran zu erinnern, war ihm wohl unangenehm. »Übrigens nur einige Tagesreisen südlich des Ortes, an dem der Sage nach das magische Tor vermutet wird.«
14.
Versunken in Gedanken an all das, was sie heute erlebt, gesehen und gehört hatte, trottete Julia hinter Mike her. Der hatte seinen Schlitten zerlegt, Fell und Riemen auf seinen Tornister gebunden und sich den auf den Rücken geworfen. Das Birkenholz hatte er beim Schmied an dessen Brennholzstapel gelehnt.
Julias neue Schuhe waren bequem. Etwas zu groß, aber weich, mit einer anschmiegsamen Sohle, durch die sie Unebenheiten oder Steine und Stöcke gerade eben erahnen konnte, ohne, dass sie schmerzten. Es waren lederne Schnürschuhe ohne Absatz und mit einem knöchelhohen Schaft.
Der Schuster war von ihren Sandalen begeistert gewesen. Eine so feine Arbeit hätte er noch nie gesehen. Julia hatte sie ihm gern überlassen, waren sie doch nutzlos geworden. Der Schuster wollte die Sandalen untersuchen und nachmachen. In der nahen Hauptstadt würde man sie ihm aus den Händen reißen, endlich wäre seine Arbeit nicht mehr eintönig und trüge auch noch Früchte. Die Landbevölkerung wolle nur derbes Schuhwerk und zahle wenig.
Die Erinnerung an diese kurze Begebenheit begleitete Julia länger, als das ganze Geschäft gedauert hatte. Über ihre neuen Schuhe freute sie sich.
Sie nahm kaum wahr, dass sie in der Dämmerung Königstein erreichten. Die Stadtwache hatte sie eingehend befragt nach ihrer Herkunft, dem Zweck ihres Kommens und der Dauer ihres Aufenthaltes. Mike hatte geantwortet, auch in ihrem Namen. Sie hatte sich stumm gegeben, ab und zu die Schultern gezuckt oder als Antwort genickt oder den Kopf geschüttelt. Ihre Gedanken versuchten zu intensiv, das in Siebenreich Erlebte und Mikes Erzählungen mit ihrem bisherigen Weltbild in Übereinklang zu bringen. So konnte sie sich neuen Eindrücken oder dem Woher und Wohin in den Fragen des Torwächters nicht hinreichend widmen.
Ein Gedanke hatte sie dennoch zum Schmunzeln gebracht. Als sie die Silhouette von Königstein aus der Entfernung studieren konnte, schien sich das ihr bekannte Freising mit dem Domhügel vor ihr aufzubauen. Bis ihr einfiel, dass sie seit ihrer Ankunft in diesem seltsamen Land nicht eine einzige Kirche entdeckt hatte.
Unterwegs hatte Mike es ihr erklärt.
»Die Leute sind zu sehr in ihrem Aberglauben verhaftet, als dass sie eine Religion mit einem Gott oder mit Göttern begründen könnten. Es gibt wohl übers Land verstreut einige Schreine, Säulen oder Altäre, an denen wenige Leute den alten, meist vergessenen lokalen Gottheiten ihrer Altvorderen huldigen. Zwerge und auch Orks, letztere mit ihren Schamanen, sind wesentlich beflissener, eine Religion auszuüben. Meist ist es eine Naturreligion. Die ist häufig auf Häuptlinge zurückzuführen, die sich als Religionsgründer hervorgetan haben, um ihr Volk leichter in Zaum zu halten.«
Später machte sie den vermeintlichen Domhügel mit dem Bischofssitz als die königliche Burg aus.
Königstein war mit seinen mehreren tausend Einwohnern eine großartige Stadt, die größte im Land. Doch Julia nahm nichts von der relativen Großzügigkeit und Schönheit auf. Sie hielt den Blick auf den Boden gesenkt und folgte Mike in ein Gasthaus nahe dem Stadttor. Nur zwei Gassen dahinter, etwas den Hügel hinauf Richtung Burg. Ihr Abendessen genoss sie nicht. Es verkam zur mechanisch ausgeführten Nahrungsaufnahme, obwohl es herzhaft war und nicht schlecht schmeckte. Wie in Trance ging sie später vor Mike her, als er sie die Treppe hoch in den Schlafsaal über der Gaststube schob. In einer Ecke des Raumes fanden sie einen Schlafplatz groß genug für sie beide. Er breitete seine Decken aus, sie kroch unter die eine kleine, ohne sich entkleidet zu haben. Was er machte, beachtete sie gar nicht.
Noch lange grübelte sie.
Was hat er mir heute wieder alles erzählt? Magische Spiegel. Zwerge und Elben. Drogan´t´Har, Sohn des Drachen. Helden unterschiedlicher Rassen, getrennt in ihrer Geschichte, aber gemeinsam in ihren Zielen. Mike einer von ihnen. Einbildung! Märchen!
Mal war sie sich sicher. Dann wieder nicht.
15.
Auch Mike fand lange keinen Schlaf. Er lag auf dem Rücken, hatte die Hände unter seinem Kopf gefaltet und starrte die Decke an.
Nun habe ich Julia mein Geheimnis offenbart, ihr von meiner Mission erzählt. Das erste Mal überhaupt habe ich es jemandem gegenüber erwähnt, und das ausgerechnet einer Frau, die ich kaum kenne! Geht es mir schon so wie dem Waldläufer, der mir die erste Scherbe zusteckte? Der wohl so unter seelischen Druck stand, dass er sich unbedingt mitteilen musste. Habe ich wenigstens meine Anspannung vermindert, fühle ich mich erleichtert? Wenn ich ehrlich bin, nein.
Da waren sie wieder, die alten Zweifel!
Was passiert, wenn ich einfach alles hinschmeiße, die Scherben irgendwo vergrabe und versuche heimzukommen? Es ist doch nicht mein Krieg! Ich will nach Süden, ja. Aber was genau will ich da? Will ich wirklich durch Seeland um die Morgenberge herum zum Silbersee? Oder ist mir der egal, und ich suche im Grunde doch das magische Tor?
In beiden Fällen will ich mich im Süden längere Zeit an einem Ort aufhalten, um die nötigen Informationen zu sammeln. Im Norden ist die Bevölkerung so auf den Krieg fixiert, dass ich nichts, aber auch gar nichts erfahren kann. Anders als in Friedenszeiten, in denen man solche Geschichten liebt, haben die Leute heutzutage für Sagen über ein magisches Tor oder einen silbernen See einfach nichts übrig.
Er hörte ein Rascheln neben sich und drehte den Kopf. Julia hatte sich mit einer Bewegung wieder in sein Gedächtnis gebracht.
Und sie? Was mache ich mit ihr, was ist für sie das Beste?
Magische Tore machten ihm Angst, denn er war sich nicht sicher, wo sie hinführten. Besonders, wenn sie im Land der Monster standen. Anders als sein Tor, das ihn hierher zwar in ein mittelalterliches Ambiente entführt hatte, aber eben doch in eine Kultur, die es in der Geschichte seines Landes auch gegeben hatte. Wenn man von der Magie und von den Nachbarvölkern einmal absah.
Dann bleibt sie eben hier. Das ist das Sicherste. Und du weißt ja selbst nicht einmal, ob du dich durch das Tor traust. Wenn du es überhaupt findest.
Sein Entschluss war gefasst, er würde Julia in Königstein lassen und allein weiterziehen.