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1.

WAHL IST NICHT GLEICH WAHL

In den frühen 1970er Jahren – dem vorläufig letzten Höhepunkt autoritärer Herrschaft weltweit – war die Zahl demokratisch gewählter Parlamente und Regierungen überschaubar. Sie beschränkte sich auf westliche Industriestaaten sowie auf einige Länder des „globalen Südens“ wie etwa Costa Rica, Venezuela, Mauritius, Indien und kleinere Inselstaaten der Karibik und des Südpazifiks. Ein wesentliches Merkmal der demokratisch regierten Staaten bestand darin, dass diese regelmäßig kompetitive Mehrparteienwahlen durchführten. Autokratien2 hingegen ließen nicht wählen oder sie hielten Wahlen ab, bei denen keine Parteien oder nur eine Partei antrat(en). Nur wenige autoritäre Regime ließen seinerzeit Mehrparteienwahlen zu, ohne freilich dadurch ihren Herrschaftsanspruch infrage zu stellen und echte Wahlfreiheit zu gewähren.3

Im Zuge der „Demokratisierungswelle(n)“, die Mitte der 1970er Jahre zunächst Südeuropa, später dann Lateinamerika und in den 1990er Jahren schließlich – unter sehr verschiedenen Bedingungen – auch Osteuropa und andere Weltregionen erfassten, waren Mehrparteienwahlen aus Sicht der Politik das Gebot der Stunde. Vielerorts kam es zu sogenannten „Gründungswahlen“ (Founding Elections), die am Anfang einer noch unsicheren demokratischen Entwicklung standen.4 Kompetitive Wahlen dienten dabei als wichtiger (wenn auch nicht alleiniger) Ausweis für eine erfolgreiche Transition zur Demokratie.5 Ein oder zwei friedliche Regierungswechsel per Wahlen wiederum galten mitunter vorschnell als Beleg für eine Konsolidierung der Demokratie. Zugleich waren Wahlen fester und zunächst vorrangiger Bestandteil externer Demokratieförderung, die geradezu aufblühte. Zahlreiche nationale und internationale Organisationen führten vor allem ab den 1990er Jahren Wahlberatung und Wahlbeobachtung durch, um die jeweiligen Staaten bei der Organisation und Durchführung von Wahlen zu unterstützen. In der Folge kam es in vielen Ländern zu Wahlrechtsreformen und zu einer Professionalisierung der Wahlorganisation.

Nicht überall, wo in den vergangenen Jahrzehnten Mehrparteienwahlen stattfanden, genügten die Wahlen jedoch demokratischen Standards und konnten autoritäre Strukturen überwunden werden. Etlichen Staaten, die im ausgehenden 20. Jahrhundert politische Öffnungs- oder Demokratisierungsprozesse durchlaufen hatten, fiel es anfänglich oder dauerhaft schwer, ihre autoritäre Erblast abzuschütteln und die Funktionsprobleme zu meistern, welche die Bedeutung demokratischer Institutionen und Verfahren einschränkten. Während sich in den meisten (re-)demokratisierten Staaten Lateinamerikas und später auch in Ost(mittel)europa Wahlen erneut oder erstmals zu einer „demokratischen Routine“6 entwickelten, kam es in Afrika zwar flächendeckend zu einer Institutionalisierung von Mehrparteienwahlen, aber nur in einem Teil der Länder entstanden dort, schon gar stabile, Demokratien.7 Ähnliches gilt für Süd-, Südost- und Ostasien.8 Oft konnte die Macht der Amtsinhaber nicht einer wirksamen demokratischen und rechtsstaatlichen Kontrolle unterworfen werden. Auch geriet der Demokratisierungstrend in den 2000er Jahren weltweit ins Stocken. Vielerorts hatten autoritäre Regime Bestand, oder sie reetablierten sich nach einer Zeit des vorübergehenden Aufbruchs. Das Wesen und die Strategien autoritärer Herrschaft hatten sich jedoch geändert.

Vermehrt hatten sich „Wahlautokratien“ herausgebildet, die demokratische Prozesse imitierten. Ihr Kennzeichen besteht darin, dass das allgemeine Wahlrecht gewährt und ein begrenzter politischer Wahlwettbewerb zugelassen wird. Doch sind die Wahlen nicht demokratisch. Der politische Wettbewerb ist zugunsten der Amtsinhaber mehr oder minder stark verzerrt, und autokratische Herrschaftsweisen schlagen auf den Wahlprozess durch. Selbst wenn populäre Autokraten bei Wahlen beachtliche Unterstützung mobilisieren und es nicht zu groß angelegtem Betrug am Wahltag kommt, lässt eine Gesamtschau der Wahlprozesse und des übergeordneten Wahlkontexts es meist nicht zu, die Wahlen als demokratisch zu bezeichnen. Mit diesem Manko musste etwa der inzwischen verstorbene Präsident Venezuelas Hugo Chávez leben, der nach seiner dritten Wiederwahl im Jahr 2012 fragte, wie Kommentatoren in Europa immer noch von einer Diktatur in seinem Land sprechen könnten. Tatsächlich hatten der linkspopulistische Autokrat und die ihn unterstützenden Wahlbewegungen zwischen 1998 und 2012 rund ein Dutzend Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sowie Volksabstimmungen gewonnen. Doch waren der willkürliche, autoritäre Herrschaftsstil und die gesellschaftspolitische Polarisierung einem demokratischen Wahlprozess abträglich.

Gewiss: Je stärker Wahlen in „elektoralen Autokratien“ einen Wettbewerb zulassen und auf offenen Wahlbetrug verzichten, umso schwieriger ist es, demokratische und nicht demokratische Wahlen zu unterscheiden. Der Lackmustest ist, inwieweit die Machthaber bereit sind, einen fairen Wahlprozess und einen freien Wahlgang zuzulassen, und willens, ihnen nicht genehme Wahlergebnisse oder gar eine Wahlniederlage anzuerkennen. Ermöglichen die Wahlen in der Türkei beispielsweise einen demokratischen Wahlwettbewerb? Oder sind sie eher Ausdruck der Machterhaltungsstrategie eines Autokraten? Für Ersteres spricht vorderhand der Wahlsieg der Opposition bei den Kommunalwahlen des Jahrs 2019 in Istanbul, den die Regierung aber erst nach einer Wahlwiederholung und angesichts eines überdeutlichen Wahlsiegs der Opposition nolens volens anerkannte. Für Letzteres stehen die erfolgreichen Versuche des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die nationalen Wahlprozesse der vergangenen Jahre zu seinen Gunsten auch mit undemokratischen Mitteln zu beeinflussen.

In weniger kompetitiven Autokratien, in denen trotz Mehrparteienwahlen die Opposition kaum existent ist, ist die Einordnung der Wahlen hingegen recht leicht. Als Beispiele können Belarus und Aserbaidschan gelten oder die zentralasiatischen Autokratien, bei denen allenfalls in Ansätzen ein politischer Wettbewerb inszeniert wird. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Ausrufung unabhängiger Republiken gewannen die Langzeitpräsidenten von Kasachstan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan ihre Wahlen nicht selten mit Mehrheiten über 90 % der Stimmen. Konkurrierende Bewerber um das Präsidentenamt sind dort bis heute reine „Zählkandidaten“, und die wenigen Oppositionsparteien im Parlament imitieren mehr parlamentarischen Pluralismus, als dass sie Oppositionsarbeit betreiben. Ähnliches gilt für etliche Autokratien anderer Weltregionen. Nehmen wir als Beispiel das kleine, wenig beachtete Äquatorialguinea: Trotz der Zulassung von Mehrparteienwahlen im Jahr 1991 regierte der dortige autokratische Präsident Teodoro Obiang Nguema Mbasogo seit 1979 mit uneingeschränkter Regierungsmehrheit im Parlament und ist damit der weltweit am längsten amtierende Staats- und Regierungschef. Wahlen gewinnen er und seine Partei ebenfalls stets mit über 90 % der Stimmen.

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