Читать книгу Blicke in den Spiegel - Michael Kress - Страница 7
Der Gitarrenspieler
ОглавлениеDer Mann drängte durch die dicht beieinanderstehenden Körper. Gleich einem Raubtier auf der Jagd, suchten seine Augen die Flohmarktstände links und rechts ab. Ihn trieben weder Hunger noch Durst, aber aus Erfahrung wusste er, dass manchmal ein Schnäppchen zu machen war. Wie der dicke Wollmantel, der zehn Euro gekostet und ihm im Winter treue Dienste erwiesen hatte. Heute betrug sein Vermögen sechs Euro. Und anstelle des Wollmantels, der ihm im Hochsommer lästig wäre, trug er eine verblichene Jeansjacke. Die hatte er aus einem Altkleidersack genommen. Ohne Reue, denn seiner Meinung nach hatte er der Kleiderspende einen Umweg durch die Instanzen erspart.
Wo gestresste Mütter Kinderwagen durch die Menge bugsierten, gab es Stau. Dennoch kam er am besten von allen vorwärts. Dank seiner fransigen Haare, seinem speckigen Vollbart und seiner löchrigen Leinenhose waren alle bemüht, ihm nicht zu nahe zu kommen. An manchen Stellen bildeten sie einen Korridor. Er erreichte den großen Brunnen, wo es mehr Platz gab. Manche Passanten ruhten sich auf den steinernen Umrahmungen des Brunnens aus, andere standen zusammen und sprachen miteinander, dankbar dafür, nicht ständig angerempelt zu werden.
Horst Bohrmann blieb stehen. Leicht gebückt mit eingezogenen Schultern, immer auf der Hut. Wer ihn dastehen sah, erkannte in ihm sofort den Tippelbruder, auch wenn die obligatorische Plastiktüte fehlte. Und wenn man die Passanten fragen würde, wie alt er sei, würde ihn niemand unter sechzig schätzen. Dabei war er vierzig. Die zurückliegenden drei Jahre auf der Straße zählten eben vielfach.
Ein Mann und ein kleines Mädchen mit lockigen Haaren kamen dicht an ihm vorbei.
»Eine Gitarre! Eine Gitarre!«, rief das Kind. »Schau Papa, eine richtige Gitarre!«
Horst Bohrmann folgte den Blicken des Kindes und richtig, gleich am nächsten Stand sah er sie. Inmitten alter, rostiger Türklinken und allerlei anderem, unnützen Tand lag eine Akustikgitarre. Er ging hin.
Lange blickte er das Instrument an. Erinnerungen überkamen ihn, und die Welt, die ihn umgab, trat in den Hintergrund. Da war nur noch die Gitarre. Alle Saiten waren aufgezogen, und außer abgegriffenen Stellen am Gehäuse sah sie passabel aus. Hinter dem Tapeziertisch stand ein junger Mann. Die Nebel verschwanden und er sah den argwöhnischen Blick des Händlers.
»Was soll die kosten?«, fragte Bohrmann.
»Kannst dir eh nicht leisten«, gab der junge Mann mürrisch zur Antwort.
Inzwischen hatte er die Gitarre umgehängt und ein paar Akkorde angeschlagen.
»Fuffzig«, sagte nun der junge Mann. »Verstehen Sie was von Gitarren?«
»Gut in Schuss«, lobte Bohrmann und legte die Gitarre sorgfältig zurück an ihren Platz. Dann kramte er einige Zeit in seinen Taschen. Zunächst legte er drei Zwei-Euro-Stücke auf den Tisch, dazu ein verbeultes Taschenmesser, immerhin ein Schweizer Taschenmesser, und einen verbogenen Schlüsselanhänger. Am Ende stülpte er seine Taschen nach außen und lächelte verlegen.
»Mehr habe ich nicht.«
Der junge Mann schüttelte belustigt den Kopf.
»Hier ist kein Tauschmarkt«, sagte er und wiederholte den Preis: »Fuffzig.«
Er zuckte resigniert mit den Schultern und packte seine Habseligkeiten ein. Dann griff er nach der Gitarre, schaute in die Runde.
»Ist nicht«, sagte der junge Mann warnend und legte seine Hand schützend auf die Gitarre.
Bohrmann sah ihn an. »Bis dort«, sagte er ernst und zeigte zum Brunnen. »Eine halbe Stunde.«
Der Mann verstand nicht, zog irritiert seine Hand zurück und starrte ihm nach, wie er erneut die Gitarre aufnahm und zum Brunnen ging. Zunächst zupfte er planlos an den Saiten. Ein paar Griffe gingen daneben, bis mit einem Male eine richtige Melodie erklang.
Der Händler fuhr zusammen, als eine Frau ihn von hinten überraschte und ihre Hände um seine Schultern legte. Wohl seine Freundin, dachte Bohrmann. Sie trug einen großen, schwarzen Filzhut. Die beiden sprachen miteinander. Er konnte sie nicht verstehen, sah nur, wie der Händler mit den Schultern zuckte und den Kopf schüttelte.
Inzwischen waren einige Passanten stehen geblieben und sahen zu. Er spielte nochmals die gleiche Melodie, und zunächst unsicher, mit kehliger Stimme, begann er zu singen: Country roads, take me home …
»Mensch Klasse!«, rief die junge Frau beim Händler. Sie klatschte in ihre Hände, riss ihren Hut herunter und lief zu den Passanten. Die ersten Münzen landeten im Hut. Bohrmann spielte unbeeindruckt weiter. Einen Klassiker nach dem anderen. Auf Hearts Of Gold folgte While My Guitar Gently Weeps, weitere Lieder von Cat Stevens und den Beatles. Einige klatschten begeistert im Rhythmus der Melodien mit.
Bohrmann traten Tränen in die Augen. Das Singen fiel ihm schwerer und schwerer. Mit größter Anstrengung brachte er Streets of London hin, bevor er beim nächsten Lied abrupt abbrach. Er verbeugte sich, als stünde er auf einer Theaterbühne, und nahm den Applaus entgegen. Langsam ging er zu dem Händler. Ihm dicht auf den Fersen folgte die Frau, die immer noch Münzen einsammelte.
Am Stand zählte sie das Geld.
»Fast hundert Euro«, verkündigte sie freudestrahlend.
Bohrmann stand erschöpft daneben und nahm das Geld entgegen.
»Die gehören ihm«, sagte sie an den Händler gewandt.
»Ich schenke ihm die Gitarre«, sagte der.
Bohrmann schüttelte unmerklich seinen Kopf.
»Danke. Das Geld nehme ich. Die Gitarre …« Er hielt inne. »Wohin sollte einer wie ich damit?«
»Mit Ihrem Talent«, klagte die Frau.
Horst Bohrmann hörte dies nicht mehr, war wieder mit der Masse eins geworden. Er trottete ein paar Meter entfernt durch die Gassen. Er spürte das Gewicht des Geldes und es machte ihn nicht froh. Vorhin, beim Spielen und Singen, da war er fast glücklich gewesen. Einen Moment lang.