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Die Insel war lang gezogen und sie hatte die Form eines Stiefels. Von den äußeren Rändern stieg das Gelände sanft an, manchmal so sanft, dass die Steigung kaum auszumachen war. In der Mitte aber, an der gegenüberliegenden Seite des großen Strandes, wo die Lagune lag und das Wasser ganz besonders seicht war, erhob sich ein mächtiger Felsen, nur wenige hundert Meter vom Ufer entfernt.

Eines frühen Morgens hatte er diesen Berg wieder einmal erklommen, um Ausschau zu halten. Es war windstill gewesen, das Meer lag ruhig da und kein Laut war zu hören. Als die Tiere noch schliefen hatte er das Plateau schon erreicht, von wo er hinabblickte auf die riesige, schwarze Fläche. Hier suchte er den Ozean ab. Zweihundert Kilometer weit oder weiter konnte er sehen bei guten Bedingungen und nichts sollte ihm entgehen in jenen Morgenstunden, sobald die Strahlen der Sonne den Horizont erleuchteten. Zu seinen Füßen lag noch still und dunkel die Insel. In der Ferne, weit draußen, war bald der erste Schimmer zu sehen, er schob sich langsam hervor und spülte Licht an die schwarzen Silhouetten der Palmen unten am Strand, tauchte sie in Orange-Töne, dass sich ihre Konturen deutlich abzeichneten, wie auf einer großen, farbigen Leinwand. Das Orange ging über in dunkleres Orange und schließlich, hoch oben am Firmament, brannte es bald in glühendem Rot, dass er meinte der Himmel stünde in Flammen. Rot wechselte in dunkleres Rot und dorthin, wo der Nachthimmel sich immer weiter zurückzog, wuchs ein lila Streifen in breitem Bogen. Die letzten Sterne waren in den schwarzen Weltraum gemalt und verschwanden allmählich. Das Lila wurde zu Blau. Er konnte Wolken erkennen darin. Schwarze Wolken. Manchmal überlegte er, wie es sein konnte, dass Wolken am Nachthimmel erschienen, da sie doch weiß waren und aus Wasserdampf bestünden. Und dann glaubte er, dass es gar keine Wolken waren, denn gleich verschwanden auch sie wieder. Die ganze Landschaft, die vorher noch unsichtbar war, tat sich jetzt innerhalb weniger Minuten vor ihm auf, als hätte jemand den Vorhang zur Seite gezogen. Zu seiner Linken fiel der Fels steil ab bis in eine Senke mit einem kleinen See, wo er schon gebadete hatte, und von dort liefen Hügel und Täler weiter bis zur Küste. Rechts von ihm war das Gelände anders beschaffen. Nicht gar so steil und versehen mit allerlei Gewächs, führte ein gangbarer Weg den Abhang hinab. Im Laufe der Zeit war es ein Weg geworden, denn da, wo vorher kein Weg war, hatte er mit der Machete Lianen entzweigeschnitten oder herabhängende Äste.

Je weiter er in den Urwald vorgedrungen war, umso schwieriger kam er voran, umso mühseliger war die Arbeit mit dem Messer wegen der Farne und Sträucher oder der Bananenstauden, deren frische Triebe viel Platz einnahmen und die er oftmals nicht wegschlagen wollte, weil sie ihm zu wertvoll erschienen.

Dann und wann traf er auf riesenhafte Orchi­deen mit gewaltigen, gelben Blütenkelchen, die einen entsetzlichen Gestank ausströmten. Er scheute sich ihren Stiel abzuhacken, denn es waren viel eher Tiere als Pflanzen. Einmal hatte er es dennoch getan und es graute ihm danach, denn die Blüte war durch die Wucht des Stoßes abgefallen und sie lag neben ihm, wie der Kopf eines großen toten Paradiesvogels. Und als bewegte der Vogel seinen Schnabel im Todeskampf, schlossen sich die großen hellen Blätter zum letzten Mal und verbargen ihr schmerzvolles Gesicht vor ihm, wie wenn sie klagen wollten: "Du hast mich getötet!"

Als dann, wie es immer so war, die Sonne höher stieg und es schnell heißer wurde, suchte er sich ein schattiges Plätzchen, am besten in der Nähe der grünen Halme, aus denen er trinken konnte so viel er wollte und die noch dazu in großer Menge zu finden waren. An den Stamm eines alten Baumes gelehnt schlummerte er nicht selten ein, die schwüle Mittagshitze drückte ihm die Lider zu und er begann von früher zu träumen. Er träumte von seinen nächtlichen Streifzügen mit alten Freunden und von seinem Mädchen, das groß und schlank war, mit pechschwarzem Haar, das in wilder Krause in alle Richtungen weg stand. Ihr Haar war so wie das Haar vieler Südländerinnen und die Farbe ihrer Haut war wie die des Cafés, den er damals noch trank. An einem jener Abende trug sie ein trägerloses, gelbes Top und dazu enge Jeans, außerdem war sie barfuß. Ihre Augen funkelten schwarz. Er war zu einer Party eingeladen worden, irgendwo in der Stadt seiner Jugend, in eines der vielen hundert Häuser mit ihren tausenden Wohnungen. Als sich die Räume mehr und mehr füllten, da erklang Musik und sie begannen zu tanzen. Auf einmal gesellte sich ein Mann zu ihnen. Es war einer seine besten Freunde von damals. Sein Name war Georg. Das Mädchen wandte sich sogleich ab und drehte ihnen den Rücken zu. Aus Hast ließ sie die brennende Zigarette fallen. Sie bückte sich. Die engen Jeans spannten sich, das Top rutschte hoch, die Wirbelsäule zeichnete sich am Rücken ab, der schlanke Körper bog sich elastisch und die Beine mit ihren straffen Schenkeln und den schlanken Fesseln in schwarzen Pumps balancierten geschickt das Gleichgewicht aus. Georg verschlang sie mit seinen Blicken und als ob er nicht fassen konnte, was er gerade gesehen hatte, schüttelte er ein paar Mal ungläubig den Kopf. In seinem feisten Nacken bewegten sich vom Schweiß verklebte Strähnen. Er roch ein wenig nach Schweiß, fand Robin.

Das Mädchen schrieb ihm Briefe. Es waren liebliche Briefe, voll von kindlicher Vergötterung, es waren ehrliche Briefe mit Zeichnungen und Pfeilen und kleinen lieben Tieren. Einmal, an einem anderen Tag, gingen sie zusammen in ihre Wohnung, über die schmalen Treppen hinauf, vorbei an dem alten Mann, der im Stiegenhaus seine Bleibe hatte, mitsamt seinem Hab und Gut. Robin konnte sich noch genau an ihn erinnern. Er hatte sich dort in einem staubigen Winkel ein altes, klappriges Bettgestell zusammen gerichtet und als er ihn das erste Mal sah, traute er seinen Augen kaum, weil er so verwahrlost war. In jener Nacht, als er zur Toilette auf den Gang musste, schlich er an dem Alten vorbei. Er wagte es nicht das Licht einzuschalten, aus Angst ihn zu wecken. Er war auf Zehenspitzen unterwegs, nur mit einer Unterhose bekleidet. Aber der Alte hörte ihn. Er hob den Kopf und Robin erkannte ganz deutlich das abgemagerte Gesicht mit dem langen Bart und die schwarzen Knopfaugen, wie sie traurig in das bleiche Mondlicht sahen. Eilig rannte er zurück ins Zimmer. Sie wartete schon auf ihn. Sie war nackt im Bett. Er schloss vorsichtig die Tür zweimal ab, aus Angst vor dem Alten. Dann kroch er unter die Decke und konnte nicht aufhören und sie konnte nicht aufhören und so ging es die ganze Nacht.

Von solchen Träumen bewegt, durchschlief er manch heiße Mittagsstunde und wenn er dann erwachte, fuhr er zusammen in größter Panik, drehte sich hastig nach allen Seiten, rieb seine Augen, erblickte grün, überall grün und nochmals grün, ehe die Erinnerung einsetzte und sich alles langsam wieder zusammenfügte.

Dann schrie es: "Verdammt, verdammt noch mal!" aus ihm heraus und er griff mit laut schlagendem Herzen zu seinem Säbel, der neben ihm lag und den er wie die vielen anderen Sachen mit sich gebracht hatte, auf dem Weg in ein neues Leben. Mit ganzer Kraft hieb er ein Stück von den Halmen ab, hielt das eine Ende an den Mund und übergoss sich mit Wasser.

Dann dachte er: "Es ist gut so. Es ist gut so. Ich kann nicht zurück. Es ist gut so." Erst allmählich konnte er sich wieder beruhigen, während die Sonne nicht aufhörte zu brennen.

Eines anderen Tages, ebenso zur Mittagszeit, war er wieder eingeschlummert mitten im Wald, und diesmal wurde er von wildem Geschrei geweckt. Es surrte und knackte ringsum. Irgendjemand schoss mit Pfeilen. Die Pfeile pfiffen durch das Blattwerk und schlugen in die Stämme ein. Hastige Schritte wechselten sich ab mit lautem Rufen, das immer näherkam. Er verstand nichts, denn es war weder seine, noch irgendeine andere Sprache, die er kannte.

"Wilde, irgendwelche Wilde!" dachte er und kauerte sich hinter einen mächtigen Stamm. Die Schritte kamen näher und er konnte die Richtung erahnen. Jemand keuchte und schrie, als ob er gleich sterben müsse. Jeden Moment würde er herausbrechen aus dem Unterholz und ihn entdecken. Auf einmal Stille. Dann wieder Schreie, lautes Gebrüll ganz dicht neben ihm. Ein Ast knackte und dann sah er ein Bein. Wie im Zeitraffer tauchten zuerst das dunkle Bein und dann der Körper, mit einem Lendenschurz aus braunem Stoff, zwischen den Stauden hindurch. Er blickte in die aufgerissenen Augen eines Wilden mit Kriegsbemalung. Das Blut gefror ihm in den Adern, als der Wilde losbrüllte, die Arme in die Höhe riss und schreiend auf ihn losstürzte. Da drückte er den Abzug. Er hatte das Gewehr die ganze Zeit im Anschlag gehabt. Ein Schuss löste sich und es krachte so heftig, dass er selbst erschrak. Doch noch mehr als er erschrak der wilde Kerl und fiel der Länge nach vor ihm auf den Boden und blieb da liegen, regungslos, wie tot.

Robin kam hervor aus seinem Versteck, er zitterte am ganzen Leib, trat an ihn heran, presste den Lauf seiner Flinte auf den nackten, braunen Oberkörper und schrie mit furchterregender Stimme: "Keine Bewegung!" Dann stieg er in den Nacken des Mannes und überlegte kurze Zeit, ob er ihm den Stutzen über den Schädel ziehen sollte. Doch stattdessen schrie er, diesmal leiser wie zuvor und mit weniger Angst: "Umdrehen sofort!" Mit seinem Fuß grub er sich unter den linken Oberarm des Kerls, hob ihn ein wenig an und brachte ihn dazu, sich auf den Rücken zu drehen. Der Wilde lag jetzt vor ihm, die Augen geschlossen, mit bemalten Wangen, hastig durch den geöffneten Mund nach Luft schnappend. Robin sah, dass er völlig wehrlos war und stieß ihn leicht mit dem Gewehrkolben an.

"Was ist hier los? Sag was!" Aufgeregt zuckten seine Lippen, er versuchte zu reden und zischte etwas, wandte den Kopf in die Richtung aus der er gekommen war, verdrehte kurz die Augen und fiel dann in Ohnmacht.

Seine Oberarme waren mit mehreren nach unten zeigenden, keilartigen Symbolen in dicker, weißer Farbe bemalt, ebenso das Gesicht oberhalb der kräftigen Kieferknochen. Auf dem Brustkorb verliefen zwei halbkreisförmige Linien spiegel­verkehrt an der Innenseite der Brustwarzen herum. In der Mitte, da wo das Herz schlug, berührten sie sich fast.

"Er lebt", flüsterte Robin, betastete die Farbe und strich über die harte, muskulöse Bauchdecke weiter zum etwas hervorstehenden Nabel, der von symmetrischen Dreiecken eingerahmt wurde. Er besah sich die Zeichnungen genau. Die beiden Dreiecke bildeten ein auf dem Kopf stehendes Quadrat, eine Art Raute, deren Spitze in die Leistengegend wies, da wo der Oberkörper in das Becken überging. Es war wohl eine Kriegsbemalung, dachte Robin und ließ von ihm ab. Er lauschte angestrengt. Es war jetzt nichts mehr zu hören. Seine Gefährten hatten offenbar das Weite gesucht, als der Schuss fiel.

Er hieß Nuii, der schöne junge Mann, wie er später erfuhr. Sein Gesicht war so ebenmäßig gezeichnet und es sah gar nicht aus, wie das eines Farbigen. Es war feiner, mit einer hübschen Nase und hatte den Teint einer reifen Kokosnuss. Die Augen waren so tief und schwarz wie der Ozean in der dunkelsten Nacht. Nuii konnte die Sprache der Weißen sprechen. Er hatte sie bei ihnen gelernt.

Robin nahm ihn mit in das alte Haus. Auf einem seiner ersten Streifzüge über die Insel hatte er es entdeckt, und obgleich es völlig verfallen war, war er sehr froh, es sein Zuhause nennen zu dürfen. Es bot ihm Schutz vor den wilden Tieren.

„Du warst schon hier?“ fragte er ihn, als sie gemeinsam auf der hölzernen Veranda standen. Nuii nickte.

Robin war erstaunt. „Ich lebe nämlich schon einige Zeit hier“, sagte er, „zwei Jahre, zwei Monate

und elf Tage.“

„Ja?“

„Ja“, sagte Robin und betrachtete ihn skeptisch.

„Hast du das Haus jemals betreten?“

Nuii schüttelte den Kopf, so dass seine Halskette mit dem Haifischzahn, den Muscheln, den Korallen und den kleinen weißen Perlen rasselte. Robin war sich nicht sicher, ob er ihm glauben sollte.

„Ich wohne woanders“, sagte Nuii, „ich wohne

dort, wo die Weißen nicht sind.“

„Wo wohnst du?“ fragte Robin und sah ihn an.

„Ich wohne in der Nähe!“ antwortete Nuii. Seine weißen Zähne standen in einer Reihe dicht beieinander, ohne jeden Makel. Sie glänzten wie Kokosnussfleisch.

„In der Nähe, was heißt in der Nähe?“

„In der Nähe“, wiederholte Nuii. Und als wäre

es ganz selbstverständlich, sagte er: „Ich sehe dich, aber du siehst mich nicht!“ Robin nahm einen tiefen Zug aus der Pfeife und paffte ein Rauchwölkchen nach dem anderen in die Luft, so wie er es immer machte, wenn er angestrengt nachdachte. „Seit zwei Jahren beobachtest du mich also?“

„Ja“, erwiderte Nuii, ohne aufzusehen.

„Und, gibt es da noch mehr von euch?“ Robin zog die Stirn in Falten. Der Pfeifenqualm stand in der feuchten, schwülen Luft, wie eine dicke, schwarze Gewitterwolke, die den Himmel verfinsterte. Nuii sagte nichts. Sein leerer Blick war auf den Boden gerichtet.

„Wo sind die anderen?“ fragte ihn Robin nervös. „Sag schon! Sie werden doch nicht kommen, oder?“ Nuii setzte sich auf die Stufen, die zur dahinterliegenden Haustüre führten. Er fächelte den Qualm zur Seite und schüttelte mit trauriger Miene den Kopf. „Nein, ich bin nicht mehr ihr Freund.“

Robin verstand nicht, was er meinte. Er lehnte sich an einen der Holzpfähle unter dem Balkon. Sie umrahmten links und rechts neben der Treppe den Eingangsbereich. Zusammen mit einer Reihe weiterer Holzpfosten, denen das Wetter im Laufe der Zeit bereits stark zugesetzt hatte, trugen sie das obere Stockwerk. Er bemerkte wie Nuiis Kopf zwischen seinen Händen immer tiefer sank. Es drängte ihn, mehr zu erfahren. „Wenn du nicht mehr ihr Freund bist“, fragte er, „was bist du dann?“

Nuii sah zu ihm hinauf. „Ich bin ein Verräter, ein Feigling. Ich habe meine Frau betrogen!“

„Du hast deine Frau betrogen?“

„Ja, ich war verheiratet und hatte die Frau eines anderen“, sagte Nuii. „Darauf steht die Todesstrafe.“

Robin hielt kurz inne, nahm zwei tiefe Züge und überlegte. Dann wurde ihm klar, was er meinte.

„So ist das also“, murmelte er. Langsam verstand er, was sich vorher im Wald zugetragen hatte.

„Sie jagten ihn aus ihrem Stamm, weil er ein Ehebrecher war“, dachte er. „Er hatte sich mit einer ihrer Frauen getroffen und sie wollten sich an ihm rächen. Er hatte ihn, wie es schien, vor dem sicheren Tod bewahrt.“

Er warf ihm, wie er so zusammengekauert auf der Treppe saß, einen unschlüssigen Blick zu. Es kam ihm alles sehr sonderbar vor. Er war jetzt länger als zwei Jahre alleine auf dieser Insel, und hatte mit keinem Menschen ein Wort gewechselt. Dann, wie aus heiterem Himmel, fiel ihm dieser Bursche in die Hände. Und er erzählte ihm nicht irgendetwas. Nein, er erzählte ihm von etwas, das ihn seltsamerweise an sich selbst erinnerte. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er Nuii nicht zufällig getroffen hatte. Es war ihm, als hätte ihn das Schicksal zu ihm geführt.

„Du kennst dieses Haus?“, fragte er ihn vorsichtig, „Dann weißt du bestimmt auch, warum es leer steht, oder?“

Nuii nickte. „Ja! Das Haus gehörte dem König von Samoa!“

„Dem König von Samoa? Aber hier ist nicht Samoa!“

„Nein, hier ist nicht Samoa“, wiederholte Nuii mit schwacher Stimme.

Robin sah ihn irritiert an, und als wäre er ihm eine Antwort schuldig, fügte Nuii fast beiläufig hinzu: „Hier ist Nuau Nalua.“

Robin hörte diesen Namen zum ersten Mal. Er klang wie Musik in seinen Ohren. Die Betonung der Wörter lag auf den letzten Silben und Nuii hatte sie beinahe gesungen.

„Wie schön, den Namen der Insel aus seinem Mund zu hören“, dachte Robin und betrachtete erneut Nuiis Gesicht. Es sah sehr müde aus und er befand, dass es Zeit war, ihn ins Haus zu bitten. Er hoffte, er könnte noch mehr mit ihm reden, wenn er sich einmal sicher fühlte.

„Weißt du!“ sagte er zu ihm und wandte sich zur Türe. „Einmal waren zwei Männer hier. Sie meinten, das Haus und der Grund und überhaupt alles auf der Insel, sei Eigentum der Regierung. Sie wollten, dass ich von hier verschwinde. Einer von ihnen sagte sogar, er werde wiederkommen.“

Nuii sah kurz auf, das Unbehagen in Robins Stimme war ihm nicht entgangen.

„Natürlich“, sagte er dann, „sie werden wiederkommen“, und machte eine ernste Miene.

„Meinst du?“ fragte Robin beunruhigt.

„Ja, ganz sicher“, seufzte er.

„Früher, bevor ich geboren wurde, waren hier noch mehr von ihnen. Weiße, viele Weiße, sie waren überall. Sie nahmen die Menschen mit, machten sie zu Sklaven und brachten sie auf die großen Schiffe.“

„Was machten sie mit ihnen?“ fragte Robin.

„Ich habe keine Ahnung. Soviel ich weiß, sind sie nicht zurückgekommen. Sie holten Kokos, viel Kokos. Sie brachten es über den Ozean bis nach Australien, oder nach Europa und verkauften dann das Kokosnussöl.“

„Ja, das kann schon stimmen“, pflichtete ihm Robin bei. Er erinnerte sich, er hatte schon einmal von den Kokosnüssen und den Plantagen gelesen, mit denen die Seefahrer sehr viel Geld verdienten.

Er paffte ein kleines Rauchwölkchen in die feuchtschwüle Luft und ließ den Blick über das Holzgeländer der Veranda schweifen, welches aus Sprossen bestand, die allesamt, bis auf ein paar Ausnahmen, kaputt waren. Dann blickte er prüfend auf die gewölbten Querträger über ihm, welche die Holzpfeiler des Vorbaus miteinander verbanden. Sie machten einen wenig vertrauenerweckenden Eindruck.

„Schon lange war ich nicht mehr da oben“, sagte er und deutete zum oberen Stockwerk hinauf.

„Ich habe Angst, dass es zusammenbricht.“

Nuiis Augen folgten Robins Handbewegung. Er stand dicht neben ihm und schaute nach oben. Über die schöne, braune Haut seiner Wangen rannen Schweißtropfen. Robin roch das Kokosnussfett in seinen schwarzgelockten Haaren.

„Wie alt er wohl ist“, dachte er kurz.

„Vielleicht sechsundzwanzig, höchstens acht-undzwanzig.“ Er nahm einen tiefen Zug aus der Pfeife und trat ins Haus ein. Nuii folgte ihm nach.

In einer Ecke gleich neben dem Eingang war ein Tisch und darauf stand eine große, mit Ornamenten reich verzierte Schüssel. Sie war kunstvoll gefertigt und es befand sich Sand darin. Nuii, der sich noch kaum im Hause umgesehen hatte, wandte sich ihr sofort zu. Er deutete auf eine männliche Figur, die darauf abgebildet war.

„Das ist der König von Samoa!“ sagte er beinahe andächtig und fuhr mit dem Finger die Konturen nach. Neben der Figur war ein Schiff mit wenigen schwarzen Strichen gezeichnet. Es war ein Dreimaster mit riesigen Segeln und zwei Schornsteinen in der Mitte. Es sah aus, wie eine Mischung aus Segelschiff und Ozeandampfer.

„Das ist der König von Samoa?“ fragte Robin.

Er hatte ihn sich nicht so vorgestellt. Als er die Gravuren genauer anschaute, fiel ihm auf, dass der Mann einen Schnurrbart trug und dass er ein Gewehr geschultert hatte. Außerdem trug er einen Hut. Den linken Arm hielt er selbstbewusst in die Hüfte gestützt.

„Eigentlich hatte er auch eine Pfeife“, sagte Nuii plötzlich.

Robin sah ihn fragend an. „Eine Pfeife? So wie ich etwa?“

Ja, genau wie du!“ sagte Nuii und musste lächeln. Zum ersten Mal, seit seiner wilden Verfolgungsjagd im Wald, war er wieder fröhlich. Robin war erfreut darüber, ihn so zu sehen, Auch er konnte ein Schmunzeln nicht verbergen. Er griff in das Innere der Schüssel, die mit weißgelbem Sand gefüllt war, und nahm eine Muschel heraus. Es war eine seiner Lieblingsmuscheln. Sie war flach, hatte die Form eines Fächers und sie war strahlend gelb. Nuii sah fasziniert auf die Muschel. Noch niemals hatte er so eine gesehen.

„Sie sieht aus wie der Kopfschmuck von Palobi!“ sagte er zu Robin. „Gibst du sie mir?“

„Wer ist Palobi?“ fragte Robin und zögerte eine kurze Weile.

„Palobi ist der Häuptling von meinem Stamm.“

„Von deinem Stamm?“

Nuii nickte heftig, dass die Kette an seinem Hals rasselte. „Ja, von meinem Stamm! Palobi trägt einen großen Federschmuck. Er sieht aus wie diese Muschel!“

Robin gab ihm die Muschel. Sie passte genau in seine Handfläche. Nuii hielt sie wie ein Medaillon, wie etwas Wertvolles, während er sie betrachtete. Ihre symmetrischen Rillen verliefen, an der Wirbelstelle entspringend, wie Sonnenstrahlen auseinander und man konnte sich tatsächlich den Kopfschmuck eines Kriegers vorstellen, vorausgesetzt man dachte sich den Kopf dazu und das bemalte Gesicht.

Robin nahm noch eine Muschel aus dem Gefäß. Sie war ganz anders, aber um nichts weniger schön. Ihre Oberfläche war glatt, weiß und ockerfarben gefleckt wie ein Leopardenfell. Sie drehte sich zuerst in breiten Abständen und dann immer enger werdend, wie eine Schnecke bis zu ihrer Spitze, wo sie ganz dunkel war. „Was sagst du zu dieser hier?“ fragte er ihn und hielt sie ihm hin.

Nuii legte die gelbe Muschel in den Sand zurück. Er ergriff die andere mit Zeigefinger und Daumen, streckte sie vor sich hin und sagte mit gedämpfter Stimme: „Diese hier ist wie Layla!“ Mit einem Mal verdunkelte sich sein Gesicht wieder. Seine Augen wurden stumpf und traurig, so wie zuvor auf der Veranda. Er ging ein paar Schritte zurück und ließ sich müde auf dem Stuhl nieder, der hinter ihm stand.

„Wer ist Layla?“ fragte ihn Robin neugierig. „Kannst du mir von ihr erzählen?“ Doch Nuii hatte keine Lust zu reden. Missmutig blickte er die Muschel an, die er noch immer in der Hand hielt. Robin betrachtete ihn ein wenig mitleidig, dann ging er zur anderen Seite des Raumes, wo ein offener Kamin war, den er als Kochstelle benutzte. „Willst du Tee?“ fragte er ihn freundlich. Nuii nickte ihm zu.

Robin begann mit dem Feuermachen. Es brannte schnell, wegen des trockenen Grases, welches schon bereitlag und dank der Zündhölzer, von denen ihm noch ein paar wenige übriggeblieben waren. Er stellte das Wasser auf und bereitete die Teeblätter vor, die er in mühevoller Arbeit zerkleinert und getrocknet hatte. Ab und zu warf er einen Blick auf Nuii, der ihm, im Stuhl sitzend, bei seiner Arbeit zusah. Nach einer Weile bemerkte er, dass sich seine Miene wieder aufgehellt hatte. Er wirkte deutlich besser als zuvor. Das Feuer knisterte bereits, das Wasser kochte langsam vor sich hin, da sagte Nuii auf einmal: „Vielleicht sollte ich dir doch von ihr erzählen.“

„Ja, mach das unbedingt!“ ermunterte ihn Robin. Es packte ihn eine Leidenschaft, eine große Vorfreude auf seine Geschichte.

Die Worte kamen Nuii anfangs nur zögerlich über die Lippen, doch schon bald wurde seine Erzählung immer lebhafter. Robin lauschte aufmerksam. Je länger Nuii redete, umso begeisterter war er und alles prägte sich so fest in seinem Gedächtnis ein, dass er die Geschichte noch am selben Abend, beinahe Wort für Wort in sein Tagebuch übertrug. Selbst die kleinsten Einzelheiten vergaß er nicht:

Layla hatte nie Schminke aufgetragen. Ihr Haar war zurückgekämmt und einzelne schwarze Strähnen fielen in die Stirn. Ein wenig wild sah es aus, so wie ihre braunen Augen und das schmale Kinn mit dem markanten Grübchen, das ihrer Erscheinung das Eigentümliche gab, besonders wenn man sie von der Seite betrachtete. Sie war keine klassische Schönheit, aber ihr Blick zog ihn magisch an. Er hatte etwas Tiefes, so etwas wie Charakter oder Entschlossenheit. Er kannte sie schon länger und als sie das erste Mal nebeneinandersaßen, wandte sie sich ab, etwas scheu, als wollte sie nicht mit ihm sprechen. Sie drehte den Kopf so, dass er ihr Profil sah, ihre schönen Augen, ihre Augenbrauen, ihre Ohren, ihre Haut, die olivbraun war - anders als die Haut von Mischlingen - also nicht wie die Haut der Konbay oder der Ulahin. Ihr Ton war keine Mischung. Was ihre Gesichtszüge betraf, so waren diese eindeutig die einer Kowori Bantu - einer Wilden (selbst unter den Wilden gab es Wildere und weniger Wilde) - wenngleich einer sehr un-typischen Kowori Bantu, denn bislang kannte er Bantu - Frauen nur mit gelblich brauner Haut, einer Farbe, die heller war, als die der Frauen seines Stammes.

Sie saßen in der hintersten Ecke einer großen, bescheidenen Hütte auf einem kleinen, altmodischen Diwan, den er irgendwann hierhergeschafft hatte, gleich neben der Feuerstelle. Der Tisch war zu hoch, selbst für ihn. Sie streckte den Rücken durch, hatte die Beine über Kreuz, sodass eine kleine Lücke in ihrem Rock zum Vorschein kam. Sie war zweifellos attraktiv. Ihre braune Haut, die Hände, ja vor allem die Hände und die Unterarme, die sie sich rasiert hatte, sodass feine schwarze Härchen hervorstanden, was aber nicht im Geringsten störte. "Woher kommst du ursprünglich?" fragte er sie.

"Aus Weyal", antwortet sie. Abermals sah er ihr Profil von der Seite und jetzt, wo sie ganz nahe zusammengerückt waren, konnte er die eine und andere Unreinheit auf der Stirn und in dem kleinen Kinngrübchen feststellen. Ihre Hände waren ganz nahe an seinem Oberschenkel, wo sie ihn beinahe berührte, in einer Art Gebetshaltung zusammengefaltet. Es machte den Eindruck, als ob sie betteln würde. Ihr Blick, der seinen Oberkörper streifte bis zum Lendenschurz abwärts und wieder zurück hinauf, suchte Halt zu bekommen in seinen Augen, die unablässig wanderten, von ihrem Hals über die silbernen Ohrringe zu den kleinen weichen, wohlgeformten Ohren.

"Ich brauche deine Hilfe!" flehte sie ihn an, gerade laut genug, dass er es verstehen konnte.

"Du bist eine schöne Frau, du kannst alles von mir haben“, flüsterte er ihr ins Ohr, ganz nah zu ihr geneigt, mit seinem Mund knapp über dem Hals, sodass sie den Hauch seines warmen Atems spürte.

Sie griff an sein rechtes Knie. "Du machst mich heiß", flüsterte sie.

Er legte den Arm an ihre Taille, umfasste sie ganz, glitt unter das Kleid und streichelte ihre nackte, feste Haut. Ein wenig Babyspeck war da, gerade so viel, dass die Beckenknochen sich noch angenehm abhoben.

*

Der Tee war bereits fertig, als Nuii aufgehört hatte zu erzählen. Robin hatte ihn in einem alten Kessel gekocht. Er eignete sich hervorragend zum Kochen, fand er, denn er war groß, breit und passte ganz genau auf die Stellfläche aus zwei quadratischen Steinen. Die Tür stand noch immer offen. Die Sonne senkte sich bereits und der Tag neigte sich seinem Ende zu. Die Hitze wurde erträglich und es entstand ein angenehmer Luftzug, der von der Tür zu dem Fenster auf der anderen Seite wehte. Ab und zu konnte man sogar das Salz in der Nase und auf dem Gaumen spüren, das die an der Küste sich brechenden Wellen dem Wind auf seinen Weg mitgaben. Der Strand war von hier nur wenige hundert Meter entfernt. Robin saß auf dem alten Stuhl, der neben dem Kamin stand. Nuii hatte an seiner Seite Platz genommen, den Blick nach draußen gerichtet, auf die freie Fläche vor dem Haus, zu den gebogenen Stämmen der dahinter-liegenden Palmen und dem kleinen Waldstück. Robin sah ihn ungeduldig an. Es brannte ihm eine Frage auf den Lippen, die er ihm nur zu gern gestellt hätte: Warum hatte Layla seine Hilfe gebraucht?

Nuii nippte vorsichtig den Tee aus einer silbernen Blechtasse. Er schien ihm zu schmecken. Zufrieden schlürfte er in kleinen Schlucken. Da fiel sein Blick auf den großen Kessel, der jetzt am Boden neben der Feuerstelle stand. Er war noch halb voll und eine Menge grünbrauner Teeblätter befanden sich darin.

„Woher hast du diesen Topf?“ fragte er Robin.

„Diesen Topf?“ fragte Robin überrascht, „ich habe ihn aus meinem Boot.“

„Aus deinem Boot?“ fragte Nuii. „Wo ist dein Boot?“

„Mein Boot liegt in der Bucht, in der Nähe der Lagune.“

„Du bist mit deinem Boot gekommen“, sagte Nuii. „Woher?“

„Ich bin aus Europa gekommen.“

„Europa? Ich habe gedacht, du kommst von Australien.“ Er pfiff durch die Zähne und schüttelte den Kopf, dass die Kette klimperte.

„Australien? Ja, da war ich eine Zeit lang. Doch eigentlich bin ich aus Europa“, sagte er und wollte schon erzählen von seiner Heimat, da hielt er auf einmal inne. Es beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Es war das gleiche wie vorhin, als sie auf der Veranda gestanden waren. Es kamen Gedanken an seine Vergangenheit, Erinnerungen an zu Hause, an Dinge, die er schon vergessen zu haben glaubte. Er sah Nuii an und bemerkte seinen neugierigen Blick. „Als ob durch ihn alles wieder zurückkommt“, dachte er. „Wie seltsam das ist.“ Er nahm eines der Teeblätter aus dem Kessel und begann daran herum zu kauen. Er überlegte, zögerte kurz und sagte dann: „Willst du das Haus sehen?“ Obgleich er Angst hatte, dachte er, dass ihn das vielleicht etwas ablenken könnte. Er schlug ihm vor, nach oben zu gehen, über die Treppe in das obere Geschoss, wo er schon lange nicht mehr war.

Nuii schien erfreut von dem Gedanken. Er war geradezu begeistert, sprang auf und schob dabei unachtsam den Stuhl zur Seite, worauf der Teekessel umkippte und die braune Flüssigkeit mitsamt ihrem Inhalt den Boden übergoss.

„Ich mache das gleich sauber“, sagte Robin schnell. Er nahm den Topf und trug ihn durch die rückwärtige Tür in seine Vorratskammer. Sie lag am Ende des Flurs neben dem Schlafzimmer.

Als er wieder zurückkam, bemerkte er, dass es dunkel geworden war.

„Du kannst ein paar Holzstücke in das Feuer werfen“, sagte er zu Nuii. Sie liegen auf der Veranda neben dem Eingang. Nuii ging nach draußen. Die Stämme der Palmen waren nur mehr schemenhaft zu sehen und die Treppe gleich neben dem Eingang, die gerade hinauf, vorbei an den drei großen Fenstern führte und von dort weiter in das Obergeschoss, lag beinahe schon völlig im Dunkel. Nur durch die rückwärtigen Fenster, von Westen her, kam noch Licht herein. Es beleuchtete Nuii schwach, als er mit den Scheiten in der Hand zurückkehrte und sie in den Kamin warf. Die auf seiner dunklen Haut aufgemalten Zeichen reflektierten den Schein des auflodernden Feuers. Sein Gesicht glänzte rot. Robin ging zum Tisch und nahm ein langes Stück Holz, das da lag. „Hier habe ich eine Fackel“, sagte er und entzündete das obere Ende mit einem kleinen Span. Sofort erhellte sich der Raum. Nuii blickte in die Richtung der alten Treppe, die jetzt wieder sichtbar wurde.

„Hier können wir hinauf“, sagte er.

„Ja“, antwortete Robin, „wir hoffen, dass sie nicht einstürzt.“ Er wies mit der Hand zu dem geraden Abschnitt hinauf, der entlang der Fenster über der Haustüre verlief und von dort weiter in rechtem Winkel steil nach oben führte.

„Siehst du da?“ sagte er zu ihm, „dort am Geländer sind noch Kerzenhalter angebracht.“ Nuii sah die Reihe der gewundenen Säulen, von denen zwei bereits abgebrochen waren. Robin gab ihm die Fackel. „Nimm sie in die rechte Hand“, sagte er zu ihm. „Du gehst voraus!“

Nuii schritt voran. Die Planken knarrten unter jedem seiner Schritte. Er vermied es, sich am wackeligen Geländer zu stützen und hielt die Fackel hoch in der rechten Hand. Robin folgte ihm. Er betrachtete aufmerksam den Boden unter seinen Füßen, um nur ja nirgendwo durchzubrechen. Im Schein des Feuers flackerten die alten Verstrebungen in den Fenstern auf. Sie waren teilweise komplett vermodert und zerfressen vom salzigen Meereswind. Knapp unterhalb der Decke war eine Stelle, wo sie ganz fehlten und wo auch das Glas beschädigt war.

Die schmale Mondsichel stand blass am Himmel und es umfing die beiden ein Gefühl von prickelnder Spannung. Aus irgendeinem Grund hatte Robin nun keine Angst mehr, die Treppe würde nicht halten. Er folgte Nuii nach, mit einem etwas mulmigen Gefühl. Oben am Treppenabsatz führte ein Gang in beide Richtungen und an der dem Aufgang gegenüberliegenden Seite war eine verschlossene Tür. Ohne zu fragen, ging Nuii nach links in einen längeren Korridor, wo sich Eingang an Eingang reihte, bis zu einer Tür am Ende des Flurs, die offenstand und durch die der blasse Mondschein fiel.

Robin kannte den Weg. Er hatte sämtliche Räume betreten. Er kannte sie alle, eingeschlossen die des riesigen Dachbodens, wohin man über die Treppe auf der anderen Seite des Ganges gelangte, von wo sie gerade links abgebogen waren.

Sie traten ein in einen hohen Raum, an dessen Wand ein stark gebauter, mit vielerlei hölzernen Segmenten verzierter Schrank stand, der zu beiden Seiten mit zwei schwarzen, eindrucksvoll gewundenen Säulen versehen war, die sich von der oberen Kante bis zum Boden schlängelten. Nuii steuerte daran vorbei, dorthin wo sich der Ausgang zum Balkon befand, der direkt über der Veranda lag. Die Tür ließ sich leicht öffnen, sie quietschte ein wenig und scharrte am Holzboden. Er trat hinaus, ein wenig zögerlich setzte er zunächst einen Fuß vor den anderen. Er prüfte, ob die Vorrichtung hielt und stand schließlich draußen im Freien, ohne das Geländer zu berühren.

Als Robin das sah, wurde ihm ein wenig schwindelig, wusste er doch um die Beschaffenheit der Holzpfeiler und der Träger. „Komm zurück!“ rief er ihm zu, doch Nuii ging weiter. Er beschwichtigte ihn: „Hier ist alles okay, kein Problem. Komm heraus. Nur keine Angst.“

Als der Feuerschein schon ein Stück weit weg war, trat auch Robin auf den Balkon. Er wollte nicht alleine im Dunkeln bleiben. Mit wild schlagendem Herzen tastete er sich vorsichtig voran, bis er ihn wieder erreichte. Er war jetzt da, wo der Balkon in flachem Winkel schräg nach hinten zur Rückseite verlief. Er konnte es an den Streben erkennen, die hier in zweifacher Ausführung vorhanden waren. „Hier ist ein sicherer Ort zum Stehen“, dachte er.

Aber Nuii zwängte die Fackel in den Spalt der Pfeiler und ging weiter den Balkon entlang in die Dunkelheit. Es kam noch eine weitere Biegung des Geländers. Robin war sich gewiss.

„Würde er so weit gehen? Was hatte er vor?“

„Ich bleibe hier“, rief er ihm zu. Da erreichte ihn seine Stimme wie zuvor:

„Komm weiter. Ich bin da!“ Robin griff an den Rahmen des Fensters von einem der dahinterliegenden Räume mit den verschlossenen Türen. Er hielt sich vorsichtig daran fest, als wäre ein Abgrund vor ihm, als stünde er auf einem ausgesetzten Gipfelgrad. Mit dem Rücken zur Hauswand schob er sich entlang, solange bis er Nuii an seiner Seite fühlte und sie Schulter an Schulter nebeneinanderstanden.

„Was machst du da?“ flüsterte er mit zitternder Stimme.

„Da schau!“

Robin schaute. „Ja, was? Es ist finster.“

„Du musst genau schauen!“ sagte Nuii ruhig.

Robin strengte sich an, aber er war noch immer aufgeregt und es fiel ihm deshalb schwer. Doch plötzlich sah er etwas draußen auf der großen, schwarzen Fläche. „Ein Licht ist dort! Meinst du das Licht?“

Nuii schwieg. Eine friedliche Stille ging von ihm aus und seine Worte klangen fast feierlich: „Dort, wo das Feuer ist, ist mein Stamm. Dort bin ich geboren.“

Robin kannte die große Insel, die der ihrigen vorgelagert mitten im offenen Meer lag, doch noch niemals hatte er irgendwelche Anzeichen von Menschen darauf entdeckt, auch nicht als er sie vom Berg aus betrachtete. „Wahrscheinlich ist der Berg zu weit davon entfernt“, dachte er. „Oder vielleicht hätte er es sogar sehen können, ganz schwach vielleicht.“

„Schön“, flüsterte Robin. „Kannst du nicht mehr zurück?“ fragte er ihn mit leiser Stimme.

„Nein“, sagte Nuii. „Ich bin hier wegen Layla.“

„Wegen ihr wollten sie dich töten?“ fragte Robin. Er sah weiter auf den winzigen Lichtschein in der Ferne.

„Layla war mit einem einflussreichen Mann verheiratet. Er ist ein großer Krieger. Ein grausamer Mann. Layla wollte ihn nicht.“ antwortete Nuii.

„Sie wollte zu mir!“

„Liebst du sie sosehr?“ fragte Robin weiter.

„Ja“, sagte er. „Ich habe meine Frau verlassen, nur um mit ihr zusammen zu sein.“

Robins Gefühl kam wieder zurück. Es kam ihm bekannt vor, was Nuii ihm erzählte. Nach einer Weile sagte er leise: „Ich habe auch meine Frau verlassen. Wir haben ein Kind gemeinsam.“

„Aber warum kommst du hierher, so weit weg?“

„Ich habe sie betrogen mit einer anderen“, sagte er fast lautlos. „Irgendwann hat sie es erfahren.“

„Aber warum bist du weggegangen? Konntest du nicht dortbleiben?“

„Sie wollte mich nicht mehr sehen, aber ich konnte nicht mehr ohne sie leben. Ich hielt es einfach nicht aus.“

„Das Kind“, sagte er, „das Kind konnte ich auch nicht sehen. Also fuhr ich.“

„Du bist so weit gefahren? Von Europa hierher? Du bist ein großer Seemann!“

Robin musste lachen. Aber sein Lachen klang seltsam. Es verhallte in der Stille der Nacht.

„Nein“, sagte er dann, „ich bin gar kein Seemann, ich kenne mich aus mit dem Segeln. Ich war zuerst in Australien. Da habe ich ein Boot gechartert.“ Er wusste nicht, wie er ihm das alles erklären sollte.

„Gechartert?“ fragte Nuii.

„Ja, gemietet, ausgeborgt!“ Robin wollte nicht zugeben, dass er das Boot gestohlen hatte.

„Ich habe das Boot aufgehoben. Ich werde es wieder zurückgeben, wenn ich wegfahre von hier“, sagte er.

Nuii pfiff durch die Zähne und schüttelte den Kopf, dass die Haifischkette schepperte.

„Du hast ein Boot gestohlen?“

Robin war nicht mehr wohl. Er setzte sich auf den Boden des Balkons. Nuii blieb stehen und sah zu seinem, von der Dunkelheit verborgenen Gesicht hinab. Dann hörte er, wie er ganz leise sagte:

„Ich liebe sie noch immer.“

„Wen liebst du? Deine Frau oder deine Freundin?“ fragte Nuii.

„Meine Frau“, antwortete Robin mit schwacher Stimme.

„Ich liebe meine Frau nicht mehr“, erwiderte Nuii trotzig.

„Vielleicht ist es besser so“, meinte Robin. Er stand auf und hatte Lust zu gehen. Es war ihm kalt geworden. Mit zittriger Stimme schlug er ihm vor: „Gehen wir zurück?“

„Ich gehe nicht mit“, sagte Nuii. „Warum bleiben wir nicht hier? Hier bei dem Feuer von meinem Stamm?“

„Du willst hier schlafen, hier auf dem Balkon?“

„Ja, ich schlafe hier!“ sagte Nuii und freundlich fügte er hinzu: „Nimm die Fackel und geh alleine. Wir sehen uns morgen.“

„Dann wünsche ich dir eine gute Nacht“, sagte Robin. Er fand es ein wenig sonderbar, dass Nuii den Wunsch hatte alleine auf dem Balkon zu übernachten Aber er konnte ihn nicht umstimmen mitzukommen. Er drehte sich um, ging zurück, geradewegs mitten über den Balkon bis zur Fackel, die schon fast ausgegangen war, durch das Zimmer, den Gang, die Stiegen hinab, hinein in den Raum, wo das Bett stand.

In dieser Nacht quälten ihn die Gedanken. Ständig dachte er an Nuii. Am liebsten wäre er zu ihm hinaufgegangen und hätte ihn gefragt, ob er wüsste, wo Layla jetzt war und ob man ihr irgendwie helfen konnte. Dann wieder war er aufs Höchste besorgt, denn er stellte sich vor, wie Nuii sich jetzt fühlen musste in seiner Situation, die so aussichtslos war. Da waren die Männer, die ihn töten wollten, da war sein Stamm zu dem er nicht zurückkonnte und dann gab es noch Layla, in die er sich verliebt hatte und die seine Hilfe brauchte. Wohin sollte er gehen? Was konnte er tun ohne irgendeinen Schutz? Er beschloss gleich am nächsten Morgen zu ihm zu gehen.

Nuii hockte indessen am Balkon und ahnte nichts davon, wie sehr sich Robin um ihn sorgte. Er war nicht mit ihm mitgekommen, weil in seinem Inneren schwarze Gewitterwolken aufgezogen waren. Der Grund dafür waren die Männer, die ihm heute nachgestellt hatten und die ihm, wäre Robin nicht gewesen, das Leben genommen hätten. Von Minute zu Minute wuchs in ihm der Hass gegen diese Männer, die ihm wohlbekannt waren und die er, wie ihm jetzt immer klarer wurde, töten wollte, um jeden Preis. Er überlegte scharf, wie er das am besten anstellen konnte und welches der richtige Weg wäre, es zu tun. „Es war der einzige Weg für ihn und wohl auch der einzige für Layla, sie ein für alle Mal aus ihren Fängen zu befreien“, war er sich sicher.

Er dachte angestrengt nach und bald kam er auf eine Idee. Noch wollte er Robin nichts davon sagen. Er musste erst Vorkehrungen treffen, Vorkehrungen, um die Männer in die Falle zu locken. Wenn er diese Männer tötete und Layla die Freiheit zurückgab, dann wäre seine Aufgabe erledigt, wusste er. Er liebte Layla und es gab nur diese eine Chance. Mit diesen Gedanken schwang er sich auf, ergriff in Windeseile den Holzpfosten, schlang seine Arme darum, kletterte daran hinunter und verschwand in der Dunkelheit.

Der Fluch

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