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ОглавлениеAls Robin eingeschlafen war, begann er gleich darauf zu träumen. Er träumte vom Haus. Es war Abend und er ging darauf zu. Schon von der Ferne sah er das Blitzen der Fenster. Er blickte zum Balkon hinauf. Sattgrüne Sprossen rankten sich an der Brüstung entlang, umwickelten sie. Sie trugen Blüten in dunkelgelb und rosa und in blassem Rot. Schwer hingen die Köpfe über den Vorbau, ihr Stiel wand sich in enger Drehung an den Stützen hinauf, dick, wie die ovalen Blätter, mit zartgrünen Enden, inmitten rot schimmernder Blumen. An jedem der Pfeiler, auch in den Verstrebungen unter dem Dach, baumelten bündelweise Knäuel von bunten Blättern. Er träumte, er spazierte darunter hindurch, dem Eingang entgegen, öffnete die Türe und trat ein. Hohe Bilder, schwach beleuchtet vom Abendlicht, das durch die Fenster fiel, schmückten die Wände. Seine Augen streiften darüber. Männer mit strengen Ausdrücken, gekleidet in Gehröcke und Beinkleider, schauten ernst zu ihm herab. Dazwischen, in den Zwischenräumen der Rahmen, prangten goldene Leuchter, reich bestückt mit spitzen weißen Kerzen. Auf einmal hörte er Stimmen. Sie kamen von oben. Er wandte sich um, hin zu der großen Treppe und betrat das hölzerne Podest. Es knarrte und quietschte unter seinem Gewicht.
Er blieb einen Augenblick stehen, an eine der kunstvoll geschwungenen Säulen des Geländers gelehnt und horchte. Aus einem Zimmer im oberen Stockwerk kamen Geräusche von klirrendem Besteck, Gabeln oder Löffel, die an Porzellanteller stießen. Abwechselnd sprachen ein Mann und eine Frau in aufgeregter Unterhaltung miteinander. Ihre Worte konnte er nicht verstehen. Er stieg hinauf bis zum Treppenabsatz im ersten Stock. Aus einer Tür, die einen Spalt breit offenstand, fiel der schmale Lichtstrahl der Abendsonne und erhellte spärlich den langen Korridor. Durch den fahlen Schein und die darin tanzenden Staubteilchen hindurch in das dahinterliegende Zimmer blickend, erkannte er einen weißen, mit kleinen Figürchen und Muscheln besetzten Kachelofen. Dahinter ragte die massive Platte eines Tisches aus Mahagoniholz hervor. Stimmen drangen heraus.
„Fräulein Dietrich, dieses Stück hier! Das finde ich ja geradezu grandios. Lassen Sie mich doch mal sehen!“
Darauf die Stimme der Frau: „Aber natürlich Johan! Beachten Sie nur den unübertrefflich geschwungenen Saugrüssel!“
Es folgte lautes Scheppern von Tassen, dann wurde irgendetwas geredet, das er nicht verstand, daraufhin war eine weitere Männerstimme zu hören.
„Wie bemerkenswert, ein wunderschönes Exemplar. Und diese Augen! Sind das Augen?“
„Augen, aber ich bitte Sie. Das ist eine der Lippen! Und sehen Sie nur, daran anschließend das gehörnte Kopfschild.“
Dann verstummte das Gespräch. Er stand auf, ging zur Tür und lugte mit klopfendem Herzen in das Innere des Raumes. Er war riesig, hell weiß gekalkt und an der Decke hing ein Kronleuchter mit geschliffenen, blauen Glassteinen. In der Mitte der monströsen Tafel, die sich über die gesamte Länge des Raumes erstreckte, bis an die gegenüberliegende Fensterfront, die zur Veranda führte, saß ein Mann mit Schnurrbart, flankiert von zwei weiteren, etwas jüngeren Herren, gegenüber einer Dame mit grauem, zu einem Zopf zusammengebundenem Haar. Sie umfasste einen Gegenstand aus Holz mit beiden Händen und hielt ihn den Männern vorgestreckt zur Ansicht hin. Sie beugten interessiert die Köpfe darüber und murmelten einander zu.
Er schob sich leise in den Raum. Der Fußboden knarrte. Die am Tisch Sitzenden blickten kurz zu ihm auf und führten, von seiner Anwesenheit völlig ungerührt, das Gespräch weiter, selbst als er bereits hinter ihnen stand und über ihre Schultern auf ein dunkles Holzkästchen blickte. Darin lagen, von einer Glaswand geschützt, auf mehrere Behälter verteilt, kleinere und größere Insekten, Schmetterlinge in den verschiedensten Farben und noch etwas, das aussah wie eine Larve.
„Ich glaube“, sagte Johan in lautem Ton, „ich glaube, wir sollten unserem Gast einen Platz anbieten.“ Als er aufstand, und ihm breit grinsend sein Gesicht zuwandte, wich Robin erschrocken zurück.
Unter seiner Oberlippe kroch ein schwarzer, schmaler Käfer hervor, streckte tastend seine beweglichen Fühler über die gelblichen Schneidezähne, krabbelte darüber hinweg, kopfüber in seinen Mund hinein, worauf Johan, nachdem er sich blitzschnell die lange Weste aus gelbgrüner Seide aufgeknöpft, in die Taschen seiner mit Hosenträgern hoch gehaltenen, hellen Hose gegriffen, ein weißes Stofftuch herausgefischt, es umständlich zum Mund gehalten, das Tier herauf gewürgt, hinein gespien, darin eingewickelt und wieder in die Tasche zurück gesteckt hatte, freundlich sagte: „Wollen sie sich nicht setzen!“
Robin nahm Platz auf einem der Stühle. Er hatte sich noch nicht einmal hingesetzt, als die Dame von gegenüber aufstand, wortlos ihr Kästchen nahm und zur Türe hinausging. Er folgte ihr mit seinem Blick, da schnippte Johan mit dem Finger und aus dem Schatten in der Ecke des elfenbeinfarbigen Salonofens trat ein Mann, gekleidet im tadellosen, zweireihig geknöpften Frack mit heller Hose und einem Gesicht, so schwarz wie Ebenholz. Er trug ein silbernes Tablett, beladen mit allerlei exotischen Früchten und eilte geschäftig herbei.
„Bringt diesem Herrn etwas zu trinken. Rasch!“ befahl Johan mit ernster Miene. Er hatte seine Worte gar nicht fertig gesprochen, da zog einer der neben ihm sitzenden jungen Herren eine zusammengefaltete, weiße Landschaftskarte aus einer schwarzen Aktentasche und breitete sie vor ihm aus.
„Sehr schön Grässe, hervorragende Arbeit!“ lobte ihn Johan, fuhr mit dem Zeigefinger eine der eingezeichneten Linien entlang und tippte schließlich auf einen Punkt, worunter der Name „Moutua“ geschrieben stand.
„Hier“, intonierte er in gewichtigem Ton zu Robin gewandt, „hier liegt unser zukünftiger Handelshafen, nicht wahr, mein lieber Soloman?“
„Jawohl verehrter Herr!“ Der Angesprochene nickte kurz und die Bartstoppeln auf seinem Kinn kratzten mit jeder Bewegung des Kopfes an seinem mit Fischbeinstäbchen versteiften Hemdkragen, unter dem ein schwarzes, aufgeplustertes Satinhalstuch steckte. Gleich danach stand er wie auf ein geheimes Signal hin auf, schlug wie ein Soldat die Hacken zusammen und verließ geräuschlos den Raum. Der andere Herr mit kurzem, legerem Hemd und abgegriffener Kapitänsmütze, nahm auf einen scharfen Blick des Alten hin die Aktentasche zur Hand und fegte ihm geschmeidigen Schrittes hinterher.
Robin saß nunmehr mit ihm alleine am Tisch. Der Diener ließ sich nicht wieder blicken und im selben Augenblick der geräuschvoll ins Schloss fallenden Türe, schlug Johan die Karte zusammen, erhob sich und lotste ihn mit fächelnder Handbewegung auf den Balkon hinaus. Die orangerote Sonne versank soeben am Horizont, und tauchte die in der Ferne liegende Bucht in ein samtweiches Abendrot, als er mit der linken Hand, dicht an Robins Nase vorbei, auf ein, neben dem weit draußen gelegenen Strand, deutlich sichtbares, schmales Waldstück zeigte. „Dort, mein verehrter Herr, liegt Moutua, genießen Sie die letzten Augenblicke!“ Mit diesen Worten ließ er ihn stehen und verschwand im Inneren des Zimmers.
Robin blickte ihm verdutzt hinterher. Im gleichen Moment kam von rechts eine dicke, pechschwarze Dienstbotin über den Balkon in seine Richtung geschlurft. In der rechten Hand hielt sie eine geöffnete Gartenschere und in der linken einen bis zur Hälfte mit Blüten gefüllten Kübel. Um ihre Hüften flatterte eine knöchellange, mit Spitzen verzierte Schürze, die zwei Bindebänder um den voluminösen Leib schnürten. Auf dem Kopf trug sie eine weiße, flache Bäckermütze.
„Guten Abend!“ grüßte sie ihn freundlich, schnitt mit der Schere die Stängel der seitlich an den Blattstielen herabhängenden, abgestorbenen Blüten entzwei und ließ sie, eine um die andere, in den Plastikübel fallen. Eine besondere, ungewöhnlich große, rote Blüte war darunter, deren Form Robin an den Kopf des großen Vogels erinnerte.
„Warum diese auch?“ fragte er sie verständnislos und betrachtete sie mitleidig, wie sie ihm, am Kübelrand liegend, die riesenhaften Staubblätter aus dem weit geöffneten Blütenkelch entgegenstreckte.
„Weil sie stinkt!“ erwiderte sie in harschem Ton, klappte die Schere zusammen und trat vom Balkon. Kurz glaubte er einen Verwesungsgeruch bemerkt zu haben, als sich die Frau schnaubend an ihm vorüber schob. Er warf noch einen schnellen Blick auf den in der Dunkelheit verschwindenden Ozean und folgte ihr dann nach drinnen, wo es bereits dämmrig war. Der weiße Schürzenzipfel verschwand gerade hinter dem Türstock und er hörte sie noch die Holztreppe hinab trampeln. Dann war alles still.
Als er nach draußen in den Korridor kam, sah er, dass unter einer der Türen hindurch einen Spalt breit Licht fiel. Er ging daran vorbei, zum Geländer hin. Irgendjemand hatte die Kerzen angezündet. Ihr flackernder Schein warf riesenhafte Schatten an die getäfelten Holzwände. Langsam stieg er die knarrende Treppe hinab, schlich an den grimmigen Blicken der Männer auf den Bildern vorbei, zurück zum Durchgang, der in das Schlafzimmer führte. Der Vorratsraum war hell erleuchtet. Er trat darauf zu. Entsetzlicher Gestank stieg in seine Nase. Über den Regalen brannten zwei Wandfackeln und darunter stand, neben all den Kokosnüssen und dem gedörrten Fleisch, der schwarze Plastikkübel der Dienstbotin. Die große, rote Blüte hing über den Rand hinunter. Mit zugehaltener Nase besah er die borstigen schwarzen Härchen, die den dicken, gebogenen Stiel überzogen, die dunkelgrünen Blätter, die daraus entwuchsen und trompetenförmig weiterliefen bis zum Rand, wo sie dunkelrot gefleckt waren. Er ging in die Knie, und warf von unten einen Blick hinein in die Öffnung. Es schimmerte violett daraus hervor und an den Seiten verliefen drei wulstige Leisten bis zum Boden der Kanne, wo sich kleine Fangarme sternförmig rund um eine weiße Rosette rankten. Er senkte den schwer gewordenen Kopf, hob ihn abermals, da öffnete sich lautlos der helle Fleck, gab ein dahinterliegendes schwarzes Loch frei und schloss sich wieder.
Erschrocken torkelte er zurück, sprang auf und drückte gegen die Türe. Sie gab nicht nach. Jemand stemmte sich von außen dagegen. Ein schwarzer Unterarm tauchte kurz auf, und er schrie und drückte, aber seine Kraft reichte nicht aus. Die Türe fiel ins Schloss und der eiserne Riegel schob sich geräuschvoll in die Verankerung. Er ließ sich zitternd zu Boden sinken, blickte nach oben und sah die Umrisse des Blütenkopfes größer werdend langsam auf ihn zukommen. Grauenhafter Gestank hüllte ihn ein, vernebelte seine Sinne. Schwindel befiel ihn. Dunkelrote Flecken verschwammen vor seinen Augen, alles wurde schwarz, der noppige Schlauch kratzte an beiden Wangen und stülpte sich schabend über ihn. Eine bittere, klebrige Flüssigkeit rann aus den Poren, füllte seine Nase und den Mund. Die Arme und Beine wurden steif und es sog ihn wie ein betäubtes Insekt in den Trichter hinein, bis der Kopf stecken blieb und die Luft immer weniger wurde. Er atmete nur noch ruckartig, das Herz flog kraftlos und er spürte einen dumpfen Schlag in der Brust.
Da erwachte er schreiend, den offenen Mund auf den Unterarm gedrückt. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn.
*
Der nächste Morgen brach an und Robin weckte das Vogelgeschrei, so wie jeden Tag. Er hatte ein eigentümliches Gefühl und alles, was geschehen war, machte ihm den Anschein, als wäre es ganz unwirklich. Mit Schaudern erinnerte er sich an den Traum, aber sofort fiel ihm Nuii ein. Müde schleppte er sich die Treppe hoch, den Gang entlang und trat auf den Balkon. Ein paar Meter weiter war er gesessen.
„Vielleicht ist er gar nicht mehr da“, dämmerte es ihm. „Er konnte doch nicht hier geschlafen haben.“
Er rief ihn, aber es kam keine Antwort und auch da, wo die Fackel eingezwängt war, zwischen den zwei Holzstreben am Balkon, war nichts von ihm zu sehen, nicht die geringste Spur.
„Womöglich ist er ja draußen“, sagte er zu sich selbst. Er ging die paar Stufen hinunter auf den großen Platz, bis zurück zu den Palmen. Aber auch dort war er nicht. Robin war beunruhigt. Er fragte sich, wo er geblieben sein konnte. War er etwa davongelaufen ohne ihm ein Wort davon zu sagen? Er wollte es nicht glauben. Er hielt es einfach nicht für möglich. „Er hatte ihm schließlich das Leben gerettet“, dachte er. Er hatte ihn bei sich aufgenommen. So etwas tut man nicht, war er sich sicher.
Er ergriff einen Stock, der am Boden lag, und schleuderte ihn missmutig ins Gebüsch, dass ein paar Vögel aufgeschreckt wegflogen. Dann marschierte er zum Haus, wartete eine Zeit lang und kam wieder zurück. Ein paar Mal lief er die Strecke bis zu den Palmen hin und her, ging um das Haus herum, suchte alles ab, schaute in jedem Winkel, doch er konnte ihn nicht finden. Schließlich gab er auf. Er war niedergeschlagen und mutlos und bald darauf wurde er wütend. „Wenn er gar glaubte, er könnte hier wieder hereinspazieren, dann hatte er sich getäuscht“, schwor er sich.
Insgeheim aber hoffte er, er käme gleich irgendwo aus dem Wald spaziert. Doch nichts dergleichen geschah. Weder an diesem Tag, noch am nächsten. Robin war wieder alleine. In der darauffolgenden Nacht brach ein schreckliches Unwetter über die Insel herein. Ein solches, wie er es nur selten erlebt hatte.
Sosehr er sich an das Alleinsein gewöhnt hatte, sosehr war er nach so langer Zeit wieder froh gewesen, mit jemandem sprechen zu können. Er hatte sich schon darauf eingestellt, in Nuii einen Gesprächspartner zu finden. Er war nicht im Geringsten so, wie er sich einen Wilden vorgestellt hatte, sondern ganz anders, mit menschlichen Zügen, wie er fand. Am nächsten Morgen, dem dritten Tag nach seinem Verschwinden, an dem die Sonne so freundlich vom Himmel schien und die Vögel zwitscherten wie eh und je, wollte er den Strand aufsuchen.
Er ging zu der alten Dattelpalme, die sich sanft zum Wasser neigte. Es war die einzige Palme auf der ganzen Insel, die er kannte, die auf eine solche Weise gewachsen war. Er staunte jedes Mal wieder, dass der Stamm geradezu dafür geschaffen schien, darauf Platz zu nehmen. Er kam aus der Erde, dick und fest und wandte sich sogleich, wie man es kaum für möglich hielte, dem Boden in engem Bogen zu, wuchs ein gutes Stück in horizontaler Linie Richtung Meer hinaus, krümmte sich dann allmählich dem Himmel entgegen, ehe er sich weiter oben, wo die jüngeren Triebe waren, beinahe senkrecht aufrichtete. Von den grünen Palmblättern, die sich wie ein riesiger Schirm auffächerten, fiel ein Schatten auf das türkisblaue, sanft plätschernde Meerwasser, das in leichten Wellen an das Ufer schlug. Robin baumelte mit den Beinen und sah hinab zum dunklen, nassen Sand und den feinen Bläschen, die gleich wieder verschwanden nach jedem Wellengang und dachte, dass sie wohl vom Salz stammen mussten und davon, dass das Salz das Wasser, bevor es versickerte, kurz aufschäumen ließ. Wie oft war er hier schon gesessen! Wie oft hatte er den Zikaden gelauscht, während ihm der Wind leicht über den Rücken strich! Viele einsame Stunden hatte er hier verbracht.
Er sinnierte darüber nach, wie es wäre, wenn er das Haus verlassen würde, wie es wäre, würde er alles zurücklassen und zurückkehren in die alte Welt, das alte Leben. Er vermisste sein Boot, das auf der anderen Seite der Insel lag, im Ufergestrüpp verborgen, sodass man es nicht sehen konnte. Weder vom Wasser, noch vom Land war es sichtbar, denn die Stelle, wo er es versteckt hatte, war völlig unzugänglich. Es sei denn, man marschierte einen Kilometer weit im seichten Wasser der Lagune, schwamm dann noch eine Weile in eine bestimmte Richtung bis es tiefer wurde, dorthin, wo die großen Steine das Ufer säumten.
Die Sonne stand jetzt höher am Himmel, es wurde wärmer und er erinnerte sich an Australien und wie er auf der Suche war.
Ein Verkäufer fragte ihn damals, wozu er ein so großes Boot brauchte und ob es ein kleineres nicht täte. Robin meinte, es wäre eine alte Sehnsucht von ihm, er wollte schon immer einen Segeltörn machen, alleine, von allem befreit, zwei Wochen lang auf hoher See. Und er wollte Papua ansteuern.
„Was wollen sie dort tun?“ fragte der Mann.
„Ich besuche einen Freund. Er lebt dort. Ein Aussteiger.“
„Kennen sie das Meer?“ fragte der Verkäufer weiter.
„Ja, ich kenne Spanien und die Küste, ich kenne das Mittelmeer.“
Der Mann ließ nicht locker. Als wollte er ihn von seiner Idee abbringen, drang er auf ihn ein. „Und den Pazifik?“
„Den Pazifik? Nein, den Pazifik kenne ich nicht.“
„Sie müssen wissen“, sagte der Mann, „der Pazifik ist etwas anderes als das Mittelmeer. Es gibt hier höhere Wellen und Stürme.“
„Ich weiß es“, sagte er, als müsste er ihn überzeugen. „Ich bin schon mitgefahren.“
Doch der Mann merkte seine Unsicherheit. „Sie brauchen eine zweite Person. Jemanden, der mit ihnen mitfährt. Es ist zu gefährlich alleine! Was ist, wenn sie krank werden, wenn ihnen etwas passiert?“
Robin seufzte, es hatte keinen Zweck hier noch etwas zu versuchen. Aber er wollte es weiter probieren.
Beim nächsten Mal war er vorbereitet. Am Vortag hatte er eine Frau getroffen und sie blieb bei ihm während der Nacht. Sie war hübsch und an einem Auge war sie verletzt. Eine alte Verletzung von einem Autounfall, wie sie sagte.
„Willst du mit dem Schiff fahren“, fragte er sie. Ihre Augen leuchteten und es erschien ihm wie ein guter Einfall. Er würde sie zwei Tage mitnehmen und dann wieder absetzen. Ja, das konnte er sich gut vorstellen.
Diesmal waren es zwei Männer und sie fragten ihn nach den Dokumenten, dem Reisepass, den Segelscheinen und seiner Bankverbindung. Er gab ihnen alles in Kopie, wie er es vorbereitet hatte.
„Wohin fahren sie?“ wollten die Männer wissen. Das Mädchen drückte seine Hand.
„Nach Papua!“ sagte er. „Zuerst der Küste entlang.“
„Was machen sie in Papua?“
„Wir haben da einen Freund. Einen Aussteiger. Wir besuchen ihn!“
„Na schön“, sagte einer der beiden.
„Das Land ist wild“, sagte der andere, „das wissen sie wohl?“
Robin parierte seinen forschenden Blick. Er spürte, diesmal würde es klappen.
Das Mädchen lachte vergnügt. Man zeigte ihnen das Boot. Es war kleiner, mit Mahagoniholz in der Kabine und an Deck. Ein Einmaster mit Dieselmotor, großem Wohnbereich, zwei Schlafkojen und Kochnische. Auf dem Heck waren zwei kleine Holzsitzflächen, ringsherum verlief die Reling und in der Mitte führte eine Leiter hinab. „Sieh nur, sogar eine Badeleiter hat es! Die werden wir brauchen, oder?“ Sie war ganz außer sich, aber die Freude in ihren Augen machte ihn ein wenig nachdenklich. Er sah in ihr strahlendes Gesicht und wusste, sie hatte keine Ahnung davon, was er wirklich vorhatte. Beklommen zwinkerte er ihr zu.
Dann ließ er sich von den Männern die Steuerung und das Navigationssystem erklären. Er wusste, wie sie funktionierten. Ähnliches hatte er bereits bedient. Den Peilsender erwähnten sie nicht. Er hoffte, er könnte ihn finden. Irgendwo bei den Geräten müsste er sein. „Er würde ihn auf Papua lassen“, dachte er.
Sie würden glauben, er wäre dort vor Anker gegangen, um seinen Freund zu besuchen. Aber dann wäre er schon längst wieder weg. Sie könnten ihn niemals finden…“
Sie stachen in See und nach einer Woche, nachdem er das ganze Schiff auf den Kopf gestellt hatte, entdeckte er die Geräte. Es waren zwei kleine Boxen mit weißem Gehäuse, an denen jeweils vier Schrauben angebracht waren. Eine von ihnen befand sich unterhalb der Steuerungseinheit, die andere lag dort, wo der Backofen war.
Das Mädchen begann zu weinen, als er ihr sagte, er müsse nun alleine weiter, um seinen Freund zu besuchen. Sie wollte ihn nicht verlassen. Sie fragte ihn, ob er sie denn nicht liebe und aus welchem Grund er sie eigentlich mitgenommen hatte.
„Ich weiß es selbst nicht!“ antwortete er. „Aber ich werde zurückkommen.“ Doch sie merkte, dass er nicht die Wahrheit sagte.
Robin sinnierte noch eine ganze Weile, bis ihn das sanfte Plätschern des Meereswassers aus seinen Erinnerungen zurückholte. Er saß nun schon ziemlich lange auf dem Stamm der alten Palme, die sich sanft zum Wasser neigte und war dabei einen Plan zu fassen. Er wurde sich immer sicherer, was er wollte. Er wollte weg von hier. „Jawohl!“ sagte er laut. „Ich gehe zurück, zurück nach Hause!“ Und wie um sich selbst Mut zu machen, schwang er sich auf einmal herab vom Stamm, sprang in den Sand und schrie auf das offene Meer hinaus: „Ich komme! Ich komme zurück!“
Das Schiff war eine Tagesreise entfernt. Er musste den weiten Weg nehmen, den er hierhergekommen war und über den hohen Berg klettern. Umgehen wollte er ihn nicht, denn das war zu gefährlich und außerdem war der Boden zu stark bewachsen. Er nahm es lieber in Kauf, einen anstrengenden Aufstieg mit schwerem Rucksack zu wagen, als dauernd mit der Machete Lianen wegschlagen zu müssen, oder gar auf irgendwelche Wilde zu treffen. Vom Fuß des Berges war es dann nicht mehr weit. Was er jetzt brauchte, waren Vorräte. Eine Menge an Vorräten, zunächst für den anstrengenden Fußmarsch und danach für die Reise mit dem Schiff, die eine ganze Weile dauern würde. Er nahm sich vor, keine verderbliche Ware einzupacken, sondern lediglich Kokosnüsse und Fleisch, das er vor längerer Zeit selbst mit Meersalz eingerieben und über offenem Feuer auf dem Platz vor dem Haus geräuchert hatte. Von seinem Vorhaben beflügelt, ging er zurück über den Strand durch das kurze Waldstück, vorbei an den Palmen bis zu seinem Schlafzimmer und von dort in den kleinen Raum, der seine Vorratskammer war. Bis auf diese beiden Räume - die Vorratskammer und das Schlafzimmer - sowie den großen Raum, wo die Treppe und der Kamin waren, hatte Robin kaum jemals irgendein anderes Zimmer in seinem Haus benutzt. Die meisten befanden sich ja im oberen Stockwerk. Ein Raum grenzte jedoch direkt an das Schlafzimmer an. Er war besonders groß und unwohnlich, wie er fand. Robin warf kurz einen Blick hinein, als er daran vorbeigehen wollte. Es kam ihm vor, als hätte er ihn noch niemals zuvor betrachtet. Ein paar Stühle befanden sich darin, ein altes Podest war aufgestellt, darüber stand ein Rednerpult, das mit rotem weichen Stoff bezogen war. „Hier hatte er wohl seine Reden gehalten“, dachte Robin und kurz fiel ihm Nuii ein, als er ihm vom König von Samoa erzählt hatte. „Nur jetzt keine Wehmut“, sagte er zu sich. Er verscheuchte seinen Gedanken und ging weiter.
Seine Vorratskammer fand er so vor, wie er sie zuletzt verlassen hatte. Es lagen da auf einem Holzgestell, das er sich aus Ästen zusammengezimmert hatte, reihenweise Kokosnüsse und darunter, separat auf Palmblättern aufgelegt, eine Menge getrockneter Fleischstücke. Zum Teil waren sie aus dem Fleisch von Fischen, die er im Meer gefangen hatte und zum geringeren, aber immer noch beträchtlichen Teil, aus dem Fleisch der großen Vögel, oder der Rebhühner, wie er sie nannte - der langbeinigen Tiere, die er mit dem Gewehr jagte und deren Fleisch ganz besonders zart war. Immer wieder, wenn er einen solchen Vogel erlegt hatte und ihm den Kopf abschneiden musste, graute ihm noch Tage danach davon. Er sammelte die Fleischstücke ein und wickelte sie in frische Blätter. Fisch war ihm immer lieber gewesen, als dieses Fleisch hier. Auch, weil seine Munition zur Neige gegangen war, von der er sich anfangs sehr viel mitgenommen hatte. Er räumte sämtliche Fleischstücke ab und verstaute sie in seinem alten Rucksack. Die Kokosnüsse wollte er nicht mitnehmen, ebenso beschloss er auf Wasser zu verzichten, denn davon gab es genug in den großen, grünen Halmen des Waldes. Bevor er losging, wollte er jedenfalls noch viel davon trinken.
„Draußen im Plastikbehälter war genug“, dachte er. Er musste das Wasser nur noch abkochen.
Als er alles in seinem Rucksack verpackt hatte, sah er neugierig auf eine graue Blechtüre, die hinter dem Holzgestell verborgen war. Er öffnete sie. Ein dunkler, hohler Raum tat sich auf. Modriger Geruch trat daraus hervor. Er musste sich die Nase zuhalten, während er hineinsah. Er glaubte eine Eisenstange zu erkennen, die tiefer drinnen angebracht war. „Wem sie wohl nützte?“ dachte er. Er bekam Lust, den geheimnisvollen Raum zu erkunden. Er setzte sein Knie in die Öffnung, zog sich hinauf und kroch ein Stück weit hinein. Er konnte nichts sehen. Es war stockdunkel. Er kroch weiter und die Luft wurde immer schlechter. „Ich drehe besser um“, dachte er und schob sich zurück, dem Ausgang entgegen. Als er draußen stand, war er froh über seine Entscheidung. Es war wichtigeres zu erledigen. Er ging in den Gang hinaus. Durch das rückwärtige Fenster sah er, dass die Sonne hoch am Himmel stand. Es durfte also um die Mittagszeit sein. Wenn er sein Boot vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wollte, dann musste er morgen zeitig aufbrechen. Er machte sich daran Kleidung und geeignetes Schuhwerk zusammenzutragen. Auch sonst hatte er noch einiges zu tun. Er wollte nichts zurücklassen, das an seine Anwesenheit erinnerte. Ein letztes Mal noch ging er an diesem Tag hinaus zu seiner Palme. Er setzte sich in den Sand und lauschte dem Meeresplätschern. Dann, nach einer Weile, als es schon zu dämmern begann, stand er auf und ging zurück. „Ich werde heute früh zu Bett gehen“, dachte er unterwegs und trat ein ins Haus.