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Kümmernisse
ОглавлениеMutter hatte inzwischen alle Gardinen abgenommen, auch die vom Flurfenster, das man nur erreichen kann, wenn man die Leiter auf die vierte Treppenstufe stellt. Sie lagen auf einem Haufen in der Küche, und Philos hatte sich ein Plätzchen darauf eingerichtet. Unschuldig blickte er Melanie an, lenkte mit ruhigem Blick ab von den Fetzen, in die er die Küchengardinchen verwandelt hatte. "Das war aber mal nötig", stöhnte Mutter und streute aus einer Tüte ein blaues Pulver über die vergilbten Stores aus dem Wohnzimmer. Mutter hatte sich vor drei Jahren das Rauchen angewöhnt.
"Bitte, Mama, was tust du? Gleich wirst du noch Wasser auf die Gardinen schütten!"
"Unsinn. Das ist ein Trockenreinigungsmittel. Laß mich nur machen. Wenn du nur mit dem Hund noch etwas rausgehst."
Melanie musste die Arme sehr weit machen, um den staubigen Wäscheberg zu packen. Philos hatte sich sicherheitshalber verzogen. Auf dem Weg in die Waschküche verlor sie mehrere Stücke und ärgerte sich, dass sie den Weg noch einmal machen musste.
"Soll ich dir helfen?" rief Mutter aus der Haustür. Sie hatte die Leiter unterm Arm und versuchte, damit um die Ecke zu kommen. Ein Topf mit Duftgeranien wurde Opfer dieser Aktion und verteilte seine krümelige Erde auf dem Flurteppich.
"Bitte nicht, Mama. Es geht schon."
Vor der Waschmaschine saß Philos und machte sein Wollen-wir-nicht-endlich-hier-raus?-Gesicht. Melanie machte es nach, so gut es ging, und als Philos nicht gleich verstand, sagte sie entschieden: "Ja! Wir wollen endlich hier raus!" Sie ging in die Hocke und presste mit dem Po die Waschmaschinentür hinter dem Wäscheknäuel zu. Das richtige Programm wählte sie wie im Schlaf. Philos kratzte behutsam, aber unüberhörbar an der Kellertür, die in den Garten führte. Draußen war es bereits dunkel geworden. Niemand raffte sich auf, eine Beleuchtung für die Treppe installieren zu lassen. Wenn Vater noch da wäre, hätte er das längst erledigt.
Melanie stieß die Trauer, die sie manchmal wie ein Panther aus dem Nichts ansprang, mit einem Seufzer von sich. Sie kannte jede einzelne dieser Stufen, hatte sie schon oft von Herbstlaub, Schnee und Moos befreit. Sie sprang hinter Philos her und war schon auf der letzten Stufe, als sie einen Fuß auf etwas Weiches setzte, das erbärmlich aufjaulte. Philos hatte sich vor Schreck flach auf den Boden gelegt, denn er hatte jemand im Garten ausgemacht, den er nicht erkannte. Melanie sah den schwarzen Umriß einer menschlichen Gestalt, der sich von der Wand der kleinen Scheune abhob, in der die Ponies standen. Sie kannte diesen Umriß und war nicht überrascht, als sie Juro an seiner kehligen Jungenstimme erkannte: „Wo warst du? Ich warte seit Stunde hier.“
„Du hast doch wohl meine Mutter nicht belästigt!“ Mutter hatte Angst vor ihm. Er war sehr groß für seine dreizehn Jahre, und seine dunklen Haare und Augen schüchterten sie ein. Vor allem aber die fanatische Hartnäckigkeit, mit der er um Melanie herumschlich, hatte sie vorsichtig gemacht. Mamas tägliche Warnungen hatten einen anderen Klang, seit Juro hier aufgetaucht war: "Geh nicht im Dunkeln auf die Straße, Kind! Nicht allein!"
Immer wenn er anrief und Melanie nicht schnell genug am Telefon war, nahm Mama ab und erschrak jedesmal heftig. "Der hat keine gute Stimme, Kind." Sie konnte dann oft die ganze Nacht nicht schlafen und geisterte durchs Haus. Noch nie hatte sie ein Telefon einfach klingeln lassen können. "Ich warte im Garten. Komm bald." Juro schnippte mit den Fingern, Philos lief zu ihm und legte sich zu seinen Füßen. Juro machte keine Anstalten, ihn weiter zu begrüßen oder zu kraulen, er hielt seine Augen starr auf Melanie gerichtet.
Melanie raffte sich auf: "Ich will nicht, dass du mir hier auflauerst." Sie versuchte streng zu wirken, hörte ihrer Stimme aber sofort an, dass sie gescheitert war. Ihr Mitleid war größer als die Furcht, die sie auch spürte, aber zu beherrschen versuchte.
Juro war mit seinen Eltern aus Rumänien gekommen und vor zwei Jahren hierher gezogen. Seine Eltern hatten in einer Ziegelei Arbeit gefunden. Er war noch nirgendwo länger als drei Tage zur Schule gegangen. Er zog seit Monaten mit einem jungen Schäfer durchs Land, dem er zur Hand ging, wenn er wollte. Mit Tieren verstand er umzugehen, und er brauchte nicht mehr als einen Schlafplatz bei den Schafen und Hunden. Seine Eltern hatten nie ernstlich nach ihm gesucht, sonst hätte sie ihn sicher leicht gefunden. Als Melanie einmal versucht hatte, mit dem Vater zu reden, tat er, als verstehe er sie nicht. Sehr freundlich war er und bot ihr Tee an. An den Wänden der 5-Zimmer-Wohnung sah sie kein Bild von Juro, nur eine ölige Berglandschaft. — Verdammt, sie konnte sich nicht auch noch um streunende Jungen kümmern! Natürlich gefiel es ihr, das jemand um sie bemüht war, aber in ihrem Herzen war kein Platz für diesen Jungen vorgesehen, der noch ein Kind war und doch schon so viel gesehen hatte..
„Ich will dich nur sehen. Geh mit mir weg. Du gefällst mir so.“ So viel hatte Juro noch nie auf einmal gesagt, auch nicht am Telefon. Seine Anrufe waren eher ein Schweigen, das von kurzen Worten unterbrochen wurde. „Magst du mich nicht?“
Melanie nahm alle Kraft zusammen: „So geht das nicht, Juro. Ich muss mich um meine Mutter kümmern. Ich habe nichts gegen dich, aber ich kann mich nicht vierteilen. — Du machst mir Angst. Wenn du mich magst, lässt du mich in Ruhe. — Komm, Philos! Wir gehen ins Haus."
Der Hund machte keine Anstalten zu folgen. Er hatte seine Geschäfte auch noch nicht erledigt, aber das konnte er schließlich allein.
„Dann nicht.“ Melanie ging die Treppe zum Waschkeller hinunter und schloß die Tür hinter sich zu. Sie wußte, Juro würde heute Nacht wie so oft schon hinter der Scheune schlafen, auf dem alten Leiterwagen. Und Philos würde bei ihm liegen, bis morgen früh.
*
Melanie hatte in dieser Nacht kaum Schlaf gefunden. Mutter war einige Male aufgestanden, um "nach dem Hund zu sehen", wie sie sagte. Sie spürte wohl auch, dass da jemand im Garten war. Melanie musste dann jedesmal aufspringen, denn Mama war in diesem Zustand unberechenbar. Einmal wäre beinahe das Haus abgebrannt, weil sie nachts unbedingt bügeln musste und das heiße Eisen in den Papierkorb gestellt hatte. Heute nacht ließ sie sich willig beruhigen und ins Bett zurückbringen.
Der folgende Tag begann mit einer kalten Sonne, die in Melanies Zimmer schien und sich dort umsah: Ein Jungmädchenzimmer mit abgegriffenen und zerzausten Stofftieren und einigen Postern, auf denen ruhige Stuten mit ihren wackligen Fohlen zu sehen waren. Ein Zirkusplakat hing über ihrem aufgeräumten Schülerschreibtisch. Der Zirkus Olfetti warb mit Riesen-Attraktionen. Ganz klein war da auch von Belema zu lesen. Im Regal zwei Ausgaben von "Wir Mädchen". Eine Pinwand mit Fotos. Eines davon hatte sie mit rotem Faden umstickt. Es zeigte sie mit Papa und Mama. Vater sah man von schräg hinten. Er hatte das Bild mit dem Selbstauslöser gemacht und war nicht schnell genug zu der kleinen Bank gelaufen, auf der sie Picknick gemacht hatten. Selbst-Auslöser. Das Foto wirkte manchmal wie eines dieses Kipp-Bilder. Wenn man lange genug draufschaut, verändert es sich plötzlich. Dann vermochte Mel nicht zu sagen, ob Papa zu ihnen gerannt kam oder ob er im Begriff war davonzulaufen.
Der Terminkalender bestand aus einer nur für Melanie verständlichen Zettelsammlung. Er sah für heute zwei Aktionen vor: Mit Onkel Harald zum Wagen. In Klammern dahinter: Kühlschrank! Durchgestrichen war der Eintrag: "Zeugnis beglaubigen lassen und an Zulassungsstelle schicken". Das hatte sie schon dreimal verschoben. Und das Zimmer in Ulm war sicher längst weg. Wenn sie nicht bald etwas für sich tun konnte, würden andere ihr Leben bestimmen. Sie spürte das ganz deutlich. Da waren immer mehr Menschen, die wollten, dass sie etwas Bestimmtes tue oder lasse. Und jetzt musste sie diesen blöden Kühlschrank abholen. Von Opas Tieren ganz zu schweigen. Warum hatte sie diesem schleimigen Notar nicht gesagt, dass sie das blöde Erbe nicht annimmt! Aus Trotz wahrscheinlich, und weil sie der Tante den Triumph über Bels große Worte nicht gönnen konnte.
"Kommst du?" rief es von unten. Mutter hatte Frühstück gemacht, jedenfalls duftete es schon nach Kaffee. Den konnte sie wirklich gut kochen.
"Ja, Mutter, bin gleich fertig." Sie huschte ins Bad und wusch sich nicht besonders gründlich, denn sie rechnete damit, dass es viel Drecksarbeit in dem alten Wohnwagen geben würde, zog die zerschlissenen Jeans und einen alten Pulli von Vater an. Er roch immer noch nach ihm. Melanie hatte es verstanden, ihn an jeder Wäsche vorbeizumogeln.
Sie sprang die schmale Treppe hinunter in die Küche. Der Kaffee war wieder gelungen, und den Tisch brachte sie unauffällig in Ordnung. Die Tassen standen verkehrt herum auf zwei Gläsern. Das Brot hatte Mutter in winzige Dreiecke geschnitten. Melanie ging darüber hinweg und freute sich, dass Mutter ausgeruht wirkte. Wie machte sie das bloß, nach so einer Nacht? "Ich werde heute den Boiler reparieren. Hab mir schon das Werkzeug zusammengesucht." Mutter wies mit dem Kopf auf eine Schüssel, in die sie alle ihre Lockenwickler gesammelt hatte.
"Warte doch, bis ich zurück bin, Mutter! Ich kann dir helfen, aber erst muss ich mit Onkel Harald zum Wohnwagen. Das dauert sicher nicht lange.
"Dann grüß doch Opa Bel von mir, ja?"
"Opa ist tot, Mutter. Ich hol nur seinen Kühlschrank ab und sehe, was aus den Tieren wird. Was sind das überhaupt für Tiere, hast du eine Ahnung? Er hat doch zum Schluß gar keine Dressur mehr machen dürfen."
"Von Mäusen und Menschen, von Menschen und Mäusen, von Mäusen und Menschen..."
"Bitte, Mutter, hör auf. Nicht beim Frühstück!" Wenn man sie nicht unsanft aus ihren Wortspielen befreite, konnte sie Stunden damit zu bringen. Dafür hatte der Arzt neulich ein Wort benutzt, das ihr jetzt nicht einfallen wollte. Vielleicht wäre das Herumbrabbeln aber besser gewesen, als sie den Boiler reparieren zu lassen. Aber Melanie hatte jetzt nicht die Nerven für Mäuse und Menschen. Und einen Boiler besaßen sie sowieso nicht.
Sie hätte gern ein Brot mitgenommen, aber die kleinen Stückchen wußte sie nicht unterzubringen. Sie stopfte sich eine Handvoll in den Mund, spülte mit dem heißen Kaffe nach und war schon aus dem Zimmer, um in die Stiefel zu kommen.
"Nimm Philos mit, er freut sich immer so, wenn er Opa sieht!"
"Mir wäre es lieber, er würde hier auf Dich aufpassen. Aber meinetwegen. Bis bald! Ach ja, geh besser nicht ans Telefon. Juro ist wieder da."
Mutter antwortete nicht. Sie würde jedesmal abheben und Juros Flehen ertragen müssen. Melanie malte sich aus, was sie bei ihrer Rückkehr erwarten würde. Oh Gott!
Philos war nirgends zu sehen. Auf dem Leiterwagen lag nur die graue Pferdedecke. Sie war kalt wie der Morgen. Der Hund würde sich schon Einlaß verschaffen, wenn er Hunger hätte.
Onkel Harald erwartete sie schon und betätigte sich unter vollem Körpereinsatz als Einweiser, damit Mel mit ihrem rostfarbenen R4 auf dem schmalen Streifen neben dem Wohnwagen parken konnte. Er gab erst Ruhe, als das Auto genau parallel zur Seitenwand des Anhängers zum Stehen kam. Nein, er traute ihr wohl nicht viel zu. Ganz ernst blieb er dabei. Vermutlich war ihm die ganze Sache sehr peinlich. Sonst wäre er sicher auch schon hineingegangen.
"Hast du einen Schlüssel?" fragte er statt einer Begrüßung.
„Hier brauchst du keinen Schlüssel. Guten Morgen.“ Melanie ging sicher über die glitschigen Bohlen, die jemand vor die Treppenstufe gelegt hatte. Vom Zirkus interessierte sich niemand für das alte Gefährt, und das Ordnungsamt hatte darauf bestanden, dass es "umgehend entfernt" würde. Auf dem letzten Standplatz hatten die Planierraupen mit den Arbeiten für den Lidl-Supermarkt begonnen.
So sehr verrückt sah der Wagen hier in Honscheid gar nicht aus, denn die verwitterten Farben hielten sich dezent zurück. Gerlind, eine Freundin, die zwei Pferde bei Melanie untergestellt hatte, war sofort bereit, den Wagen oberhalb des kleinen Fischteiches unterzustellen. Hier war er zum Haus hin von einer Fichtenreihe abgedeckt, die mal jemand in Heckenform geschnitten hatte. Die Fichten hatten mehr Geduld als der Gärtner und trieben selbstbewußt in den aprilblauen Himmel.
Als Melanie die Holztüre öffnete, hielt sie einen Moment lang inne, um sich an die Gerüche zu erinnern, die sie erwartete. Manchmal meinte sie, ihre Nase sei empfindlicher und genauer als ihre Augen. Aber Onkel Harald stolperte ihr in den Rücken.
"Entschuldige."
Melanie nahm den Geruch von billigem Weinbrand auf. Er kam von ihrem Onkel. Zuerst wollte sie sich darüber ärgern, aber als ihr dann der Gestank aus dem Wageninneren die Luft nahm, hätte sie gern einen Schluck aus Onkels Flachmann genommen. Sie seufzte nur, holte dann Luft und trat ein. Sofort stieß sie das kleine Fensterchen auf, dessen Rahmen von der Feuchtigkeit aufgequollen war. Onkel Harald wedelte mit der quietschenden Holztüre, um den Gestank schneller zu vertreiben.
Melanie drückte sich an ihm vorbei zurück ins Freie, bis auf das Treppchen. Ihr war schlecht. Drinnen stank es nach Aas und altem Mist.
Von draußen sah sie, dass ihr Onkel entschlossen Luft holte und sich an die Arbeit machte: Zielstrebig ging er zu der einfachen Schlafstelle und versuchte, die Bretterverschalung dahinter mit bloßen Händen abzureißen. Dabei fielen die meisten der dort angepinnten Fotos und Briefe auf das ausgebleichte Bettzeug, das einmal blauweiß kariert gewesen sein musste. Auch auf dem Boden lagen jetzt Fotos im Staub. Die Bretter aber hielten stand. Onkel Harald fluchte und hastete hinaus, eine Werkzeugtasche aus seinem Auto zu holen.
Melanie traute sich jetzt ins Innere und bückte sich, um die Bilder und Zettel zu retten. Eines zeigte sie auf dem Schoß ihres Opas, der in einem eindrucksvollen blauen Kostüm vor seinem Wagen saß. Melanie sah direkt in die Kamera. Wer hatte eigentlich das Foto gemacht? Sie hatte es vergessen. Ihre blauen Kinderaugen sahen sie an und schienen eine Frage zu stellen, aber bevor Mel sie richtig hören konnte, war Onkel Harald zurück und machte sich mit einem dicken Schraubenzieher an der Verschalung zu schaffen.
Melanie stopfte sich die Andenken unter den Pulli und klemmte sie mit dem Gürtel fest.
Mit dem Werkzeug ging es sehr rasch. Die Bretter waren spröde. Sie hatten der Feuchtigkeit trotzen können. Dahinter kam tatsächlich ein Plakat zum Vorschein, mit Kreppstreifen befestigt, die ihr Onkel sehr vorsichtig ablöste. Mit dem Erbstück ging er hinaus, weil es ihm im Wagen nicht hell genug war. Melanie sah nicht genau hin. Nur die alles beherrschende Katze in der Mitte war nicht zu übersehen. Das Mädchen hörte nur noch das Knistern und Knacken, das entstand, als Onkel Harald das staubtrockene Plakat einrollte, während er schon fluchend zu seinem Wagen ging.
Dann sah sie die Tiere. Sie hatte mit allem gerechnet, mit Hunden und Katzen, mit Tigern und Elefanten. Tatsächlich hatte sie heute Nacht von einer Herde Dickhäuter geträumt, die sie dazu bewegen musste, auf winzige Schemel zu klettern. Sie hatte sich schon Platz schaffen sehen in der kleinen Scheune, wollte die Gastpferde ausquartieren oder anbauen.
Das alles würde absolut nicht nötig sein. Eine Mäusefamilie hockte etwas eingeschüchtert, aber immer noch neugierig genug in der hinteren Ecke des Wagens, wo es recht dunkel war. Durch die offene Tür fiel ein Lichtschein auf die pelzige Gruppe. Melanies erster Impuls war, auf irgend etwas in diesem stickigen Wagen zu klettern. Das hatte sie schon so oft im Fernsehen gesehen, dass sie es beinahe für angebracht hielt. Der zweite Gedanke war, sie aus dem Wagen zu scheuchen, weil sie dachte, sie hätten sich erst kürzlich hier eingenistet und würden nun die kümmerlichen Reste von Opa Bels Besitztümern anfressen. Sie griff nach einem der schmalen Bretter, die auf dem Brett verstreut lagen. Als sie sich den Tieren näherte, merkte sie, dass sie keinerlei Scheu zeigten. Sie zuckten ein wenig zurück und schienen sich zu ducken, aber ein Fluchtimpuls war das auf keinen Fall. Melanie musste lachen, als sie bemerkte, wie sie fast minutenlang sich so gegenüber standen. High Noon. Albern war das.
Nein, das waren keine obdachsuchenden Feldmäuse! Sie waren offensichtlich an die Gegenwart von Menschen gewöhnt, guckten aufmerksam und beinahe klug aus ihren Knopfaugen. Mel wurde klar, was das bedeutete: Diese Tierchen gehörten zu Belemas Truppe!
Mein Gott — Mäuse! Mäuse?
Wie hält man denn Mäuse? Und warum? Sie legte ihre Waffe zur Seite und setzte sich auf den Hocker, der neben dem Wandtischchen stand. Nach dem Warum hatte sie nicht zu fragen. Es war Opas Vermächtnis. Punkt. Und sie wollte ihr Erbe antreten.
Sie wusste nicht genau, weshalb sie jetzt leise seufzte. Das war es jetzt also. Eine regelrechte Bruchbude war die ganze Hinterlassenschaft eines Künstlerlebens. Na super! Ich werde jetzt einfach abwarten, was passiert. Wenn die Tierchen aus freien Stücken den Wagen verlassen und das Weite suchen, kann ich sie leider nicht aufhalten. Will ich sie nicht aufhalten. Mel wollte ehrlich bleiben.
„Also bitte, meine Herrschaften, wenn Sie mich jetzt meine Arbeit machen lassen wollen?!“ Sie wandte sich entschlossen von dem kleinen Tier-Stillleben ab.
Vielleicht barg der Kühlschrank ja noch den verborgenen Schatz. Ein Schokolädchen für das Mädchen? Ausbauen musste sie ihn auch noch selber. Ach, Opa.
Wenn danach die Mäuse immer noch da wären, fiele ihr schon etwas ein.
Ein Kühlschränkchen, mehr war es ja nicht, aber dieses knapp 50 Zentimeter hohe Kästchen war ein ausgetüfteltes Einbaumodell. In diesen Wohnwagen musste mit jedem Millimeter Raum gerechnet werden. Ohne Werkzeug war da nur schwer etwas zu machen.
"Onkel Harald!" Seine Werkzeugtasche war ihr eingefallen. Statt einer Antwort hörte sie das Geräusch eines anfahrenden Autos. Melanie musste nicht bei der Tür hinausschauen, um zu wissen, dass es der Passat ihres Onkels war. Typisch! Herkommen, abräumen, den Dreck liegen lassen und wortlos verduften.
"Ich liiiiebe meine Familie!" schrie sie ihm nach. "Wenn man euch braucht, seid ihr nie da! Und wenn ihr was braucht, wird man euch nicht mehr los!" Sie rief aus dem kleinen Fenster. "Ich will dich nie mehr sehen!" Knallte den Fensterladen zu. Schnaufte. Wunderte sich: Sind das die Mondphasen? Kriegte sie ihre Tage? So leicht war sie doch nicht aus der Ruhe zu bringen! Was hatte sie sich im Ernst vorgestellt? Onkel Harald besaß nun, was er wollte, was ihm zustand. Er war nicht der Mann, der andere danach fragte, ob sie seine Hilfe brauchten. Und bevor sie ihn um etwas bitten konnten, war er meist verschwunden.
Melanie durchwühlte die kleinen Schubladen in dem selbstgebauten Schrank, der durch eine Plastikvase mit zwei Plastiktulpen in den Rang eines Wohnzimmerschranks erhoben werden sollte. Vergeblich. Sie fand einen Schraubenzieher mit verbogener Klinge zwischen mürben Gummiringen, Rabattmarkenheftchen aus den 5oern und einem Teesieb. Er hatte einen Holzgriff, der erkennen ließ, dass er seltener als Schraubenzieher denn als Meißel benutzt worden war. Die Schrauben, mit denen der Kühlschrank verankert war, waren jedoch so grob, dass Mel keine große Mühe hatte, sie zu lösen. Sie suchte nach dem Stromanschluß und fand stattdessen hinter einer Blende am Fuß des Geräts ein Ventil und eine fadenscheinige Gasleitung. Auch das noch! Sie hatte eine panische Angst vor Gasöfen, sogar vor den gasbetriebenen Campingleuchten mit den blauen Kartuschen. Und Gas hatten sie zuhause so wenig wie einen Boiler. Sie kam sich reichlich verarscht vor. Nehmen Sie das Erbe an? Das war doch nicht die Frage! Bauen Sie das Erbe aus? Verschrotten Sie das Erbe gemäß der Schadstoffverordnung? Füttern Sie Ihr Erbe ein Mäuseleben lang? Ja-ja-ja, verdammt!
Sie folgte der Gasleitung mit den Augen und konnte sich schließlich draußen, oberhalb der Deichsel des Wagens, überzeugen, dass keine Gasflasche ans System angeschlossen war. Sie dachte dabei an die Bilder, die vor einigen Tagen im Anzeigenblatt zu sehen waren. Eine Gasexplosion zerstört mühelos ein Mehrfamilienhaus. Sie dachte an Mutter. Auf einem alten Hof gab es tausendundeine Möglichkeit, gefährlichen Unsinn zu treiben. Irgendwie gab es ihr immer ein wenig Sicherheit, Philos in ihrer Nähe zu wissen. Er vertrat für sie so etwas wie eine natürliche Vernunft. Er tat nie etwas, was ihm schaden könnte. Hoffentlich war er inzwischen wieder bei ihr. Drinnen brach sie die dünnen Gasrohre einfach ab, was leichter ging als bei Hühnerknochen. Überrascht und verärgert war sie vom Gewicht des Apparates. Oh, Onkel Harald! Gute Fahrt, Alter! Mit großer Mühe nur konnte sie das Gerät bis zum Auto schleppen und schonte es nicht dabei. Wie eine Leiche, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr Opa war ein verrückter Kerl gewesen. Liebenswert, diese verrückten Kerle. Aber wenn Verrückte so viel Mühe machen, stößt die Liebe an Grenzen.
Der R4 ging hinten mächtig in die Knie, aber sie war stolz auf ihr praktisches Gefährt. Sicher wäre der Umzug nach Ulm kein Problem damit. Den Wohnwagen noch verschließen! Sie brachte es nicht über sich, ihn offen stehen zu lassen, wie Opa das immer tat. Sie ging zurück und wollte sich zwingen, die Mäuse zu vergessen. Wieso schaffte sie sowas nie? Etwas vergessen, einfach so! Ein bisschen was von Onkel Harald hätte sie doch gern gehabt! Der Herrgott hatte vergessen, sie mit den ortsüblichen Scheuklappen auszustatten. Blickwinkel 360 Grad. Wie die Fliegen. Sie hoffte inständig, dass sie die Tierchen nicht mehr antreffen würde.
Und wirklich: Die dunkle Ecke war leer! Kluge Tierchen. Haben gemerkt, dass sie nicht so sehr willkommen sind. Melanie sah noch einmal flüchtig, sehr flüchtig überall nach, schloß aber dann die Wagentür. Ein Schlüssel war nirgends zu finden. So genau mochte sie nicht nachschauen. Womöglich hätte sie dann das Mäusenest aufgestöbert. Schnell weg hier.
Auf dem Weg zum Auto fühlte sie sich beobachtet. Das passierte immer, wenn sie etwas tat, was man nicht von ihr erwartete, was sie selbst vielleicht nicht ganz in Ordnung fand. Wer da nun saß und ein Auge auf sie warf, wusste sie nie. Ein bisschen Ähnlichkeit mit ihrem Opa hatte die Gestalt vielleicht.
Melanie verscheuchte die Gedanken und setzte sich trotzig-schwungvoll in ihr Auto. Auf dem Beifahrersitz hatte es sich eine fünfköpfige Mäusefamilie bequem gemacht. Die drei Kleinen schliefen. Zwei größere Exemplare saßen richtig ordentlich in Fahrtrichtung. Die Maus mit den längsten Bartspitzen wisperte: "Nun fahr schon los!"