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Durchgebrannt

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"Ich werde noch wahnsinnig!" schrie Mel. Es klang enttäuschend dumpf im Auto. Sie wollte das Fenster runterkurbeln, tastete an der Tür, fand aber keine Kurbel. Sie war wieder einmal abgefallen. Wütend beugte sich Mel während der Fahrt bis zur Beifahrertür und drehte dort das Fenster einen Spalt herunter. Wollte nochmal schreien, kam sich aber zu blöd dabei vor. Warf nur den Mäusen einen bösen Blick zu und fuhr weiter, die Hände jetzt fest ums Lenkrad geklammert.

Ich höre Stimmen, dachte sie. Ich fahre kaputte Gaskühlschränke und eine Horde Bonsai-Ratten durch die Gegend. Ich fahre nach Hause und weiß, dass dort noch mehr solche Erbstücke auf mich warten. Ich komme nicht dazu, diese blöde Kurbel festzuschrauben. Ich habe nix als ein Papier, dass mir meine Reife bescheinigt, und will in einem Monat auf eigenen Füßen stehen. Ich trage an jedem Fuß eine Eisenkugel, die jeden Tag schwerer wird. Und es ist überhaupt nicht kindisch, hier zu schreien.

Und sie schrie. Schrie wie am Spieß. Die Tränen traten ihr in die Augen. Sie konnte die Straße vor sich nicht mehr erkennen. Bremste scharf ab. Stand. Heulte. Weinte wie das Kind, das sie immer noch war. Immer bleiben würde. Kind, Kind!

"Du hältst den Verkehr auf!" wisperte es von unten. Mel ballte unwillkürlich die rechte Hand zur Faust und schwang sie drohend über den Tieren. Die beiden Großen streckten nur die Köpfchen hoch, senkten sie dann und rückten etwas näher an ihre Brut heran.

"Tu es nicht. Du würdest es bereuen. Und nun fahr. Wir werden beobachtet." Mel blickte kurz in den Rückspiegel, drehte das Radio an und stellte laut, was da gerade dudelte. Sie fingerte erfolglos nach Taschentüchern. Der Ärmel der Jeansjacke musste herhalten. Er war sowieso fettverschmiert von den Ausbauarbeiten im Wohnwagen. Endlich fuhr sie dann aber doch los und streckte den Stinkefinger energisch aus. Allerdings so, dass die Autofahrer hinter ihr es nicht sehen konnten.

Die Sonne verdrückte sich hinter den westlichen Hügeln und hinterließ ein rosiges Farbenspiel, das Melanie einigermaßen beruhigte. Trotzig ließ sie den Blick von der engen und kurvenreichen Straße abschweifen, die sie zunächst von Honscheid Richtung Petershagen führte. Tiefe Schatten bildeten sich bereits im jungen Grün der Eichen, die haarige Kuppen auf den Hügeln bildeten. Auf der Höhe kurz vor dem Weiler Ginspert hielt sie auf offener Strecke an, um in Ruhe das Spiel der Lichter auf den Wipfeln zu beobachten. Ein leichter Südwind brachte Bewegung in die Fichtenspitzen und trieb die Wolkenbänder leise vor sich her. Mel öffnete die Tür und atmete tief ein, genoss es, dass dieser elend lange Winter endlich vorbei war. Sie schloss für einen Moment die Augen und merkte, dass auch ihre Kopfschmerzen sich verzogen hatten. Der hartnäckige Dauerschnupfen der letzten Monate hatte sich aufgelöst. Deswegen waren auch keine Tempos mehr im Auto.

Als sie das Radio ausmachte, hörte sie erst einmal gar nichts mehr, außer diesem verrückten Nachdröhnen der Dire Straits, die Paps immer so gern gehabt hatte. Dann mischten sich piepsige Vogelstimmen hinein, die sie nicht kannte. Bis dann urplötzlich der erste Kranichschrei in diesem Jahr sie elektrisierte. Sie kletterte aus dem Auto, um den Kopf empor zu recken. Gerade rechtzeitig genug, um den Vogelzug noch zu erkennen. Es war nicht die klassische Eins, die jetzt in den Norden zog, sondern ein ziemlich ungeordneter Haufen. Aber irgendwie fanden die Vögel sich immer wieder für Sekunden zusammen, um dann in alle Richtungen auseinander zu stieben. Dennoch würden sie ihren Lagerplatz irgendwo an der Ostsee erreichen. Diese Tiere hatten eine untrügliche Orientierung. — Und wie war das in ihrem eigenen Leben? Im Moment sah alles ziemlich chaotisch aus, aber bald würden die Lebenslinien sich wie über einem Magnetfeld ordnen und endlich ein Muster ergeben. Ganz egal was für eins, aber ein Muster! Sie musste nur dieses verdammte Kraftfeld finden, von dem sie überhaupt keine Vorstellung besaß.

Ein BMW kurvte mühsam an ihr vorbei. Der Fahrer, ein rundlicher Graukopf, schüttelte ärgerlich den Kopf, so dass sein Goldkettchen im Abendlicht blitzte. Melanie stieg in ihr Auto und machte sich Mut für den Heimweg. Probierte den Kranich-Schrei und nahm sich vor, die Unterlagen für ihre Bewerbung in Ulm zu checken. Papierkram war nicht ihre Stärke.

Als sie in Waldberg den schmalen Wirtschaftsweg zu ihrem Elternhaus hinauf fuhr, fiel ihr der blaue BMW auf. Graukopf! Auch das noch. Mel stellte sich neben den Wagen des Besuchers, stieg nach einem Blick auf ihre Tierchen aus und ließ die Tür sehr weit offen stehen.

Durch die grünlich getönten Scheiben des BMW sah sie die Freisprechanlage mit dem finnischen Luxushandy und das Display eines Navigationssystems. Sicher hatte ihn eine freundliche Damenstimme hierher geleitet. Melanie wünschte sich, dass dieser kleine Flecken Heimat für die Satelliten da oben nicht erkennbar wäre. Gerne hätte sie das irgendwo beantragt, für ihre Mutter und für sich selbst. Doch auf dieser Erde durfte es keine weißen Flecken mehr geben. Dabei hätte sich das winklige Fachwerkhaus auf dem Bruchsteinsockel so herrlich geeignet als weißer Fleck.

Auf dem Rücksitz erkannte sie noch die Senior-Gigolo-Grundausstattung: Eine bauchige Flasche mit protzigem Champagner-Schiftzug, der an Moet & Chandon erinnern sollte. Daneben lag, in Plastikfolie eingewickelt und mit blassgrüner Schleife gebunden, eine Phantasie- Orchidee, der auch eine längere Reise überhaupt nichts ausmachen konnte. Vielleicht hatte Graukopf ja noch ein Alternativ-Date ausgemacht? So ein überwältigendes Präsent für die Dame des Herzens lässt man doch nicht im Auto liegen! — Es würde enden wie immer, wusste Mel.

Drinnen war man noch beim Vorspiel. Mutter zeigte Graukopf gerade den Computer. Seltsamerweise kam sie mit dem Apparat immer gut zurecht, während sie an einem simplen Radiowecker schon verzweifeln konnte.

Sie begrüßte Melanie, ohne sie anzusehen: "Oh, Liebes, wunderbar! Da kann ich dir gleich Herrn..."

"Sehr erfreut, wir hatten bereits das Vergnügen, nicht wahr?", unterbrach sie der Namenlose und zwinkerte Melanie zu.

Sophie Sternfeld kannte ihn vorerst nur als Cicero. Eigentlich hieß er Christoph Bauschulte und kam aus einem Kaff bei Münster. Den entschlossenen Senator Cicero mimte er nur im Chatroom.

Melanie grüßte ihre Mutter kurz und fragte dann, ob Philos aufgetaucht sei. "Nein, Liebes, aber mach dir doch keine Sorgen. Vielleicht wird er ja auf seine alten Tage nochmal rollig", kicherte sie mit einem verschwörerischen Blick auf Graukopf.

"Mutter! Philos ist seit Jahren kastriert." Sie hätte nun gerne ihrerseits dem Herrn Cicero einen Blick zugeworfen, aber das gelang ihr nicht. Womöglich hätte er dann in ihre Augen starren müssen wie dieser Dr. Abstoß.

"Ich durfte soeben mit Ihrer Frau Mutter anstoßen. Darf ich Ihnen auch ein Gläschen...? Alice, du hast doch sicher nichts dagegen! Holst du uns noch ein drittes Glas?" Alice nannte sich Mama also. Bestimmt wollte sie aber nicht, dass man es wie Alize ausspricht!

"Danke, nein, ich muss noch das Auto ausladen und nach dem Hund sehen. Hübsche Blume, die Sie da mitgebracht haben. Die im Auto gefällt mir farblich irgendwie besser. Aber die Damen sind ja auch so unterschiedlich wie die Lilien auf dem Felde, nicht?"

„Red' nicht so, Kind. — Mir gefällt die Farbe und auch alles andere. Lass dich nicht ärgern von meiner Tochter, Cicero. Sie meint, sie müsste auf mich aufpassen. Jetzt, wo Philos nicht mehr ist. Und seit ihr Papa nicht mehr da ist, gönnt sie mir keine Freude im Leben." Mutter schenkte sich noch etwas von der lauwarmen Tankstellen-Köstlichkeit ein und prostete ihrem Cicero zu. "Erzähl doch mal: Was hast du überhaupt geerbt? — Vielleicht sind wir ja jetzt reich, Cicero!"

"Vergiss es, Ma. Einen Kühlschrank, gasbetrieben, und eine Handvoll Mäuse", muffelte Mel. "Hübsches Blümchen!", rief sie im Hinausgehen.

Seit Paps sie im Stich gelassen hatte, war mit Graukopf nun der siebte "Bekannte" aufgekreuzt. Für Mel allesamt Eindringlinge. Sechsmal hatte sie sich vorgenommen, Mamas Beziehungen zu akzeptieren. Bei Nummer eins und zwei fiel es ihr noch leicht, denn erst nach den dramatischen Abbrüchen wurde ihr klar, was die Herren jeweils hatten mitgehen lassen.

Den ersten nannte sie nur den "einarmigen Banditen": Es fehlten: 1 Sparbuch (5000,-) und 1 Hoffnung (zerbrochen). Das Geld war zu verschmerzen, obwohl es Papas Rücklage für ihr Studium gewesen war. Mamas Hoffnung war dagegen so unverwüstlich wie Tupperware. Sie konnte so wunderbar vollständig vergessen. Weil sie dazu immer ihre Tochter missbrauchte, hatte Mel die Nase voll von den Typen, die ihnen da ins Haus schneiten. Frau Holle — das wäre das passende Pseudo für Ma!

Als sie sich mit einem langen Kratzer an Graukopfs Limousine verewigte, hörte sie hinter dem knirschenden Ton, wie eine helle Stimme ihr nachrief: "Pechmarie ist wieder hie!" Sie steckte ihren Schlüssel ein und trat nur kräftig gegen das linke Vorderrad, das sich völlig ungerührt davon zeigte. Mel hielt sich die Ohren zu und presste die Lippen zusammen. Ich werde euch nicht die Pechmarie machen, dachte sie. Auf keinen Fall!

Dass sie die Goldmarie sein wollte, mochte sie sich nicht eingestehen.

Sie steckte Daumen und Zeigefinger der rechten Hand in den Mund und produzierte einen beachtlichen Pfiff. Das hatte immer genügt. Philos wäre in Sekunden hier bei ihr am Auto gewesen, wenn er nicht mehr als zwei Kilometer entfernt wäre. Mel setzte noch ein Signal ab und öffnete dann die Kofferraumklappe des R4. Irgendeine rostigbraune Soße war aus dem Kühlschrank ausgelaufen und stank bestialisch.

Na, prima. Danke, Ops. Hoffentlich wird das kein bleibendes Andenken an dich, dachte sie. Sie beugte sich weit ins Wageninnere, um das Erbstück herauszuziehen. Durch die Seitenscheibe sah sie, dass Graukopf sie dabei vom Fenster aus beobachtete und sich die Lippen leckte. Mel zog sich aus dem Wagen, richtete sich auf, stemmte die Arme in die Hüften und schrie: "Wie wär's mit Helfen?!"

Graukopf tat, als hätte er nichts gehört und wandte sich offenbar wieder seiner Alize zu.

Von Philos keine Spur. Mel zog endlich den Kühlschrank über die braune Brühe ins Freie. Sie wuchtete ihn in die kleine Remise und stellte ihn auf dem Arbeitstisch der Kreissäge ab.

In der Waschküche bewaffnete sie sich mit Putzeimer, Radikalchemie, Lappen und Wasser, um ihrem Erbteil zu Leibe zu rücken. In der Zwischenzeit würde Philos sicher aufgetaucht sein!

Im Halbdunkel der Remise öffnete sie die Kühlschranktür und wollte schon einen Schwall Sagrotan verteilen, als sie auf der mittleren Glasplatte ein grünes Pillendöschen aus Metall liegen sah. Es zeigte auf dem Deckel eine weißblonde Frau, die über ihren klaren Kopf strahlte. Das war wohl die Wirkung der Pfefferminz-Tabletten. Mel schüttelte die Dose. Es rappele etwas darin. Aber es waren keine Frischmacher, sondern ein Häuflein Häkchen, die Ähnlichkeit mit silbrigen Büroklammern hatten, jedes mit dünnen Fädchen am oberen Ende. Mel hatte so etwas noch nie gesehen. Vielleicht brauchte man das, um den Kühlschrank zu betreiben?

Dann sah sie noch etwas. Etwas Haariges und Blutverschmiertes. Es war etwa briefmarkengroß. Die Haare waren hell-beige, das Blut noch nicht ganz eingetrocknet. Mels Ekel verwandelte sich in einer Sekunde in blankes Entsetzen. Das war Philos‘ Fell! Konnte eine Ohrspitze sein. Ob sonst noch etwas in diesem verfluchten Kühlschrank lag? Nur ein Zettel klebte auf dem Glas, mit blutigen Flecken. Drei Worte waren draufgekrakelt worden: "Komm. Heute! Juro."

"Scheiß Jugo!", schrie Melanie und trat die Kühlschranktür zu. Schien ein Tag zum Reintreten zu sein.

Magic Melanie

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