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Kapitel 4: Willkommen in Arlit!

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[Eddie Trick]

Warum erinnert Pascale mich, so wie er da sitzt, an einen kleinen Siddartha? Innerlich gewappnet. Aus sich selbst zufrieden. Als ich um die Ecke komme, schnappe ich noch Wortfetzen auf. Meine Ohren sind so schlecht nicht. Pascale spricht von einer plötzlichen Familie.

Nathalie dreht sich zu mir um.

»Ich wollte«, sage ich unbewusst leise, »nicht stören.«

»Bitte«, erwidert Nathalie, »bleib nur.«

Ich stecke die Hände unter die Achseln. Die eine vorsichtiger als die andere. »Verdammte Kälte.« Ohne zu stören – glaube ich – beobachte ich die Gruppe von außen, ganz wie ein Konrad Lorenz seine Gänschen. Die beiden großen Affen klammern sich an den Kaftanen der Kinder fest. Wo der Kleinste der Primaten geblieben ist, kann ich erst sagen, als sich unter dem Stoff auf Pascales Brust eine merkwürdige Rundung abzeichnet. Ich bereite mich auf das Ausbrechen eines Alien-Babys vor. Der Schwarze Kapuzineraffe richtet sich halb auf, sein Kopf sucht die Halsöffnung. Pascale streicht dem winzigen Bündel wie einem Baby, das ein Bäuerchen machen soll, über den Rücken. Plötzlich ist da dieser familiäre Moment, an dem ich denke: Mann! Das ist stark! So sieht es in der Tat aus! Die Seifenopern hatten doch recht! Es gibt diesen Zusammenhalt wirklich!

Samir crasht mit seiner Wirklichkeit dazwischen, taktlos, wortlos, ganz die Wüstenmannversion eines gesandstrahlten Tekkens. Der Targi hat seine Handflächen bandagiert. Dann der geharnischte Befehl: »Aufbrechen!«

Mühsam rappele ich mich auf. Nicht so leicht, wenn man krampfhaft mit einer Hand Berührungen zu meiden sucht.

Samir teilt uns in mehrere kleine Gruppen auf. »Arbeiter. Rotten sich niemals zusammen. Keiner will es als Armee aussehen lassen. Die Wachen könnten schießen. Die kel tamasheq machen Söldner nervös.«

Da ich ihre kämpferischen Fähigkeiten aus nächster Nähe begutachten durfte, unterschreibe ich das blind. Wir marschieren dahin. Richtung Arlit. Unser langer Marsch, so punktuell im Wüstensand, führt bald zur wundersamen Vermehrung. Hinter unserer lockeren Kolonne sehe ich mehr und mehr Staubwolken langsamer Fahrzeuge aus der kleinen Ortschaft Akokan streben. Auf dem Weg zur Arbeit, zum Markt, mit Tauschobjekten, Nahrungsmitteln oder leer, weil die Leute einkaufen wollen. Ein ganz normales Bild an einem kriegsfreien Tag irgendwo in Afrika.

Samir hat den Jungen angeboten, sie tragen zu lassen.

Pascale hat bloß auf seine eigentümlich blinde Art gelächelt und ein schlichtes »Nein« hintangestellt. Claude, dem das Angebot erst von Nathalie übersetzt werden musste, tat mit kindlicher Entrüstung einen Schritt zurück und winkte so heftig ab, dass es ihn durch die eigene Wedelei fast von den Beinen riss. Und so passt sich unsere Marschgeschwindigkeit den Kindern an. Ist aber nicht der Schneckengang, den ich befürchtet habe.

Samir legt mir eine Hand auf die Schulter, zieht mich freundlich und bestimmt auf die Seite. In einem Beutel über seiner Schulter klappern ein paar Behälter mit Wasser und Nahrung. Und Pistolen. Er zeigt in den rückwärtigen Raum. Die Form des aufgewirbelten Drecks verändert sich und wird von etwas Schnellem unterfüttert. Zwei kleine Umrisse von Geländewagen quellen regelrecht aus der qualmenden Suppe. Zu weit weg, um ihre Zugehörigkeit identifizieren zu können.

Samir nimmt mir meine Frage vorweg. »Sicherheit. Von ARTAUD.«

Der Targi muss die besseren Augen haben, denke ich.

»ARTAUD hat Gewohnheiten entwickelt. Sie verbreiten durch ihre Patrouillen ...«

»Unbehagen?«, frage ich. So geht’s mir jedenfalls.

»Angst«, widerspricht Samir. »Bei uns nicht. ARTAUD ist berechenbar. Faul. Müde.« Er blinzelt in die Sonne. Nachdenklicher fährt er fort: »Ich bin oft hier. Ich habe einen Onkel in Arlit. Einen von vielen. Er passt auf meinen Bruder auf, der schwer krank ist.«

Ich erinnere mich. An meinen ursprünglichen Auftrag. Den Flug mit Samir und Julien, dem Luftjockey. Den Bruder und Krebs.

»Er kann nicht mehr laufen. Die Beine sind steif geworden.« Die Bitterkeit in Samirs Stimme hat jene unverträglichere Traurigkeit abgelöst, die noch durch Alkohol besänftigt werden konnte. »Krebs, hatte einer der durchreisenden Ärzte gesagt. Wenn sie von ARTAUD erwischt werden, jagt man sie davon. ARTAUD schickt eigene Ärzte. Die hatten keine Antwort. Aber Medikamente. Die wirkten nicht.« Samir zögert. »Mein Bruder hat einmal um den Tod gebeten. Kurz bevor er nicht mehr aus dem Bett kam. Seither sagt er kein Wort mehr. Wir lassen ihn nicht sterben. Es gibt Tage, da wehrt er sich gegen Essen und Trinken, verschließt den Mund und weint. Er wehrt sich gegen das Leben und alles andere, was sein Leiden verlängert. Aber wir lassen ihn nicht sterben.« Wieder macht er eine Pause. »Allah wird ihn zu sich holen, wenn es an der Zeit ist.«

Es heißt, Stolz und Ehre bestimmten das Leben von Tuareg, nicht nur das Leben der Männer. Wenn das wahr ist, dann muss eine Krankheit, die einem die Entscheidung raubt, wie mit dem eigenen Leben verfahren werden soll, für diese Menschen furchtbar sein. Wahrscheinlich noch furchtbarer als für uns. Die wir uns mit unserer westlichen Drohnenphilosophie über so schöne und antiquierte Ehrbegriffe erhoben haben.

»Mein Onkel«, sagt der Targi, »mein Onkel, Mr. UNO, ist ein sehr alter Mann, der hier lebte, als es Arlit gar nicht gab. Damals war ich noch nicht geboren. Ich kenne keinen, der lebte, als mein Onkel hier lebte. So alt ist er.«

Ein Lieferwagen überholt uns langsam. Der Motor tuckert und tickt angestrengt. Auf seiner Ladefläche hocken mehrere Schwarze auf Stoffballen. Einer sitzt auf einem zerknüllten Tuch, auf dem ich die Farben der Nationalflagge – orange, weiß, grün – wiederzuerkennen glaube.

»Die 1960er Jahre waren nicht vorbei. Da haben sie die Stadt gegründet.« Er beachtet den Lieferwagen nicht. »Sie haben Kästen auf den Sand gestellt und es Häuser genannt. Sie haben Löcher gegraben. Beides mussten sie fortan gegen den Sand verteidigen. Jeden Tag. Immer noch. Mein Bruder hat hier gearbeitet und sich später der Rebellion angeschlossen. Nicht lange. Dann hat er wieder hier gearbeitet. Dann kam der Krebs.« Ein Seufzen entfleucht mit dem Wort. »Wir gehen im Kreis, Mr. UNO. Es gibt kein Ziel. Unsere Karawanenrouten besitzen keinen Wert mehr.«

Er sieht mich mit der Sanftmut desjenigen an, der die Welt brennen sehen will.

»Die Wüste. Sie wandert. Wir sollten auch. Irgendwie.«

Ich bekomme von ihm einen Schlag auf die Schulter. Einen Ritterschlag? Einen Richterschlag? Mit der Faust anstelle eines Hammers? Über die Westler, die seine kleine sandige Oase auf dem Globus kaputt machen? Ist immer leicht, den Mund so voll zu nehmen.

»So, Mr. UNO, kommen wir an unser Ziel. Gemeinsam. Wir gehen zu meinem Onkel. Deine Freunde und wir. Kopf geradeaus!« Ein gezischter Befehl setzt ein Ausrufezeichen hinter Samirs Tuaregpredigt.

Ein Handschlag des Targi trifft mich kurz über dem Becken. Langsam reicht's mir, trotzdem klappe ich zu meiner kompletten Größe auf. Langsam reicht mir dieses kumpelhafte Getue.

Die Geländewagen der Sicherheitsleute von ARTAUD rasen an uns vorüber. Allgegenwärtige Steinchen und talkumfeiner Staub fliegen um uns herum, regnet auf uns herab. Höhnisches Gelächter schallt aus einem offenen Wagenfenster.

»Lass sie lachen!« Samir vergewissert sich, dass sich die anderen in keiner Weise verraten haben.

Gemessenen Schrittes laufen wir auf Arlit zu. Immer, wenn ich aus dem Tritt gerate, sucht sich Samir einen anderen rücklings liegenden Körperteil von mir, den er schubsen kann, mal die Schulter, zwischen den Schulterblättern. Oder er zieht mich am Unterarm, sobald ich Anzeichen von Erschöpfung zeige und mein Gang zu schleppend wird.

»Wir werden sicher erwartet.« Samir mustert die aufholenden Fahrzeuge. Das Gedränge wird dichter. Die Auswahl der Fortbewegungsmittel mannigfaltiger. Gezogene Karren neben knatternden Mopeds. Ein einzelnes Fahrrad mit einem Halbwüchsigen darauf. In den Reifen ist keine Luft.

Mir steigt der Duft aus dem Rachen eines vorbeischwankenden Kamels in die Nase.

»Ja«, sagt Samir kaum eine Minute später. »Wir werden erwartet.« Unauffällig deutet er voraus zum Ortseingang.

Die beiden Geländewagen haben dort angehalten und sich, ganz american-cop-like scherenartig positioniert und so eine engere Passage geschaffen. Eine Dachluke im rückwärtigen Teil des links von mir haltenden Fahrzeugs öffnet sich. Ein Mann schiebt seinen Oberkörper nach draußen, in der Hand eine Maschinenpistole.

Willkommen in Arlit!

[Nathalie Pagnol]

Ist es erst 6:30 Uhr oder bereits später? Unser Marsch scheint ewig zu dauern.

»Nicht stehenbleiben. Hier bleibt niemand stehen.« Unser Samir hat für Bitten nichts übrig. Je mehr er sich in seiner Rolle gefällt, desto tougher ist sein Auftreten.

Wir schleichen dahin, als seien wir bereits von der trockenen Luft erledigt. Pascale hat sich fest bei Claude untergehakt, beide verschleiert wie kleine Targi, seine blinden Augen ruhen auf mir.

Während Claude den Stoff in seinem Gesicht zurechtrückt und tiefer zieht, weil er ihm die Sicht zu rauben droht, drückt Samir seinen Schleier höher, bis knapp unter die Augen.

Nach all der Einsamkeit auf unserer Reise und einem nur kurzzeitigen Trubel in Timia ist die Anzahl derjenigen, die ihren täglichen Gang nach Arlit erledigen, richtiggehend erdrückend. Das ist mir zu viel. Ich verliere den Überblick. Den ich so dringend bewahren möchte. »Wenn wir einen anderen Weg hinein wählen? Mehr außen herum?«

Die Fingerzeige des Targi kann außer uns beiden niemand sehen. Rechts und links der Straße auf die Häuserlinie zu fallen mir unbewegliche Gestalten an den Ecken der Behausungen auf. In den leidlichen Schatten der Gassen sind noch mehr. Sitzend, kauernd. Zu zweit, zu dritt. Arlit wurde gesichert.

Samir beugt sich zu mir herab und flüstert: »Das machen sie sonst nicht.«

»Die Jungen und die Affen. Wir machen einen Riesenfehler. Das ist meine Schuld. Wir gehen zurück«, sage ich bestürzt.

»Zu spät.«

Er hat recht. Keiner geht zurück, wendet sich um. Geradeaus. Alles andere würde die Aufmerksamkeit der Wachen auf uns ziehen.

»Da sind noch andere«, stellt Samir leise fest.

Schwarze, Einheimische, wie ich vermute – aber wie sehr kann ich mich nach all dem täuschen – treiben sich zu lange an einem Fleck herum, verharren auf der Stelle, in der Kleidung von Tuareg, die seltsam falsch auf mich wirkt. Auf Samir sowieso. Ich grüble mit gesenkten Augen über unser Schicksal, die nächsten Schritte, meine unbestreitbar vollzogenen Fehler, als Ix unter Pascales Kaftan hervorjagt.

Der Schwarze Kapuzineraffe rennt so schnell, schneller als Katzen. In flinkem Zickzacklauf bewegt er sich auf den Kontrollpunkt der Söldner zu. Zu Anfang nehmen sie keine Notiz von dem Affen. Er ist lediglich ein kleiner beweglicher Punkt im alltäglichen Gewusel, der schon wieder verschwindet, sobald man ihn bemerkt. Ix verlässt den Boden, hüpft über völlig überraschte Wanderer, reißt Kopftücher herunter, stößt im Absprung Körbe von Frauenhäuptern. Manche sind leer, andere mit Waren gefüllt. Buntes, ein wenig Obst, Blattwerk, Fladenbrote, kullern und rollen in alle Richtungen davon, teils in den Staub getreten, bevor jemand sie aufsammeln kann.

Die Menge zerstreut sich und weicht von Straße seitlich auf den wesentlich gröberen Wüstenschotter aus. So wird die Menschenansammlung vor Arlit übersichtlicher. Unruhe bemächtigt sich der Beobachter. Auch sie verteilen sich.

Samir gibt heimliche Anweisungen aus. Wir geben seinem Drängen nach und tauschen unsere Positionen, nehmen die Jungen enger zwischen uns, so dass sie von außen nur schwer zu entdecken sind. Zet und Vau verschwinden im Gewirr unserer Beine.

Ix setzt sein – unbeabsichtigtes – Störmanöver fort. Er macht sich mit seiner Aktion keine Freunde. Ich habe eine Heidenangst um ihn. Immer mehr Reisende reagieren wütend auf die Berührungen und die Hektik, die der Kleine verbreitet.

Ein Söldner – oben im Ausguck eines Geländewagens – hebt den Lauf seiner Maschinenpistole an.

Ix rast aus der Menschenmenge hervor, rechts außen vorbei, springt in schwindelnder Artistik über zutretende Füße und hangelt sich einen Sekundenbruchteil darauf an der Fassade eines Gebäudes empor, das mit anderen den vorläufigen Rand von Arlit markiert.

Eine Gruppe von Söldnern verlässt ihr Fahrzeug. Vier, nein, fünf Männer sind es. Sie verteilen sich. Die Abstände zwischen ihnen sind klein gefasst. Sie recken die Hälse und halten nach dem Affen Ausschau. Durcheinander erschwert ihre Arbeit. Plötzlich ist Ix wieder da. Fäuste werden wütend geschwenkt. Kleine – Dinge – Steinchen, wahrscheinlich, werden von dem Affen von den Dächern geschmissen, in schneller Folge, von einem ständig wechselnden Standort. Ix kann so verdammt flott sein. Gut bei seiner Tätigkeit mit César, wenn der Junge zügig Hilfe benötigt, schlecht für die zunehmend verblüfften Männer, die nicht so recht wissen, ob sie etwas gegen diesen Zwergenstörenfried unternehmen sollen. Offensichtlich einer von ihnen ist besonnen genug, seine Kollegen zurückzuhalten und keinen Blödsinn zu machen. Es kann nicht im Sinne von ARTAUD sein, tausende von Menschen gegen sich aufzubringen.

Samir führt uns ins dichte Gedränge der übrigen Wanderer.

Endlich sind wir in der Stadt.

[Eddie Trick]

Eine Ecke, noch eine, die nächste, dann verliere ich den Überblick. Anhand des Sonnenstands kann ich die Richtung ausmachen, aus der wir gekommen sind. Das wird sich ändern. Die Gassen sehen alle gleich aus.

Samir gibt unserer merkwürdig sortierten Eingreiftruppe den Befehl zum Anhalten.

Nathalie schaut nach oben, die Dachkanten entlang.

»Ix wird zurückkommen«, sagt Antoine im Brustton der Überzeugung. Keiner reagiert. Allen steckt noch die Angst in den Knochen.

Die Geisterfrau, deren Haare aus der Erfahrung heraus besonders gut von der Kleidung verborgen werden, beugt sich zu Pascale herab. Leichter Tadel liegt in ihrer Stimme, als sie sagt: »Du hast ihn ausgeschickt, oder nicht?«

Der blinde Junge legt den Kopf schief, als überlege er seine Antwort mit aller zur Gebote stehenden Gewissenhaftigkeit. »Ich weiß nicht, wo er ist. Er sollte längst zurück sein.« Es folgt ein unsteter Kopfwackler, der sein Handicap ungewollt verrät.

Samir streicht dem Jungen unerwartet über den Kopf.

Pascale zuckt wieder Erwarten nicht zusammen.

»Er kommt wieder«, brummt der Targi zuversichtlich. »Ist tapfer!« Dann gibt er Zeichen nah beieinander zu bleiben. »Mitkommen!« Zwei weitere Targi übernehmen die Nachhut. Samir scheucht uns voran und findet rasch die weniger überlaufenen Wege. Trotzdem hasten wir wie Flüchtlinge die Gassen entlang. Nach einer Viertelstunde habe ich ein Arlit gesehen, das mich nach der ehrlichen, nüchternen, fast sauber zu nennenden Kargheit der Wüste abstößt. Keiner der Bewohner, die ich gesehen habe, erweckt den Eindruck wirklich hier sein zu wollen. Das ärmliche Niger zeigt sein Gesicht. Das Niger, durch das die Flüchtlinge ziehen. Das Niger, aus dem die Menschen aus irgendeinem Grund selbst nicht fliehen. Ein mit allerlei Kleidung verhüllter Mann stoppt sein Moped unweit von uns. Der Motor knallt, unkontrollierbare Rauchschwaden entweichen dem Auspuff kringelnd, Metall an der Seite der Maschine scheint unter der schmurgelnden Hitze der Apparatur zum Glühen gebracht worden zu sein. Der Mann, der in seiner in allen Regenbogenfarben strahlenden Montur auf einer Christopher-Street-Day-Parade nicht nennenswert auffallen würde, wirft uns einen abschätzenden Blick zu. Die drei Targi in unserem Tross zeigen Wirkung. Eingeschüchtert dreht er das Gas hoch und tuckert davon. Gerade rechtzeitig schleust er sich in den Verkehr einer stärker befahrenen Straße ein, bevor ein über und über mit mannshohen Paketen beladener Laster ihn überrollen kann. Der Lkw bremst scharf. Das mit unzähligen Seilen befestigte Frachtgut schwankt auf der Ladefläche von hinten nach vorne und drückt eine selbst auf zwanzig Meter Entfernung sichtbare Delle ins Führerhaus.

Ich bin der Gruppe einfach hinterher getappt. So sehe ich die blass blaugrau gestrichene Tür an einer Häuserflanke viel später als alle anderen. Dieser Fleck im weitaus helleren Lehm öffnet sich vor Samir. Ein altersschwacher Mann in gekrümmter Haltung lässt uns ein und heißt uns – so denke ich – auf Tamasheq willkommen.

Samirs Verhalten ändert sich schlagartig. Es liegt Anteilnahme und Rücksicht darin.

Das versetzt mir einen Stich in die Brust. Und bringt meine große Klappe in Windeseile zum Schrumpfen – ich wundere mich sowieso, wo meine Giftspritze ein geheimes Versteck gefunden hat, derart geheim, dass ein krampfhafter Versuch, es aufzuspüren, nicht fruchtet.

Vor dem Durchgang in einen Innenhof bittet uns der Gastgeber in einen Raum links davon. Alles eintönig, wenig einladend, sieht man von ein paar Decken und Kissen auf dem Boden ab, die zum Verweilen einladen. Nichts aus einheimischer Herstellung. Von einem Kissenmotiv winkt uns Micky Maus zu. Im weihnachtlichen Outfit. Nichts könnte unpassender sein.

Samir zieht seinen Schleier vom Gesicht. »Wartet hier.«

Allesamt müde kommen wir der rüden Aufforderung nach und verteilen uns im Raum. Seltsamerweise will keiner seinen Hintern auf dem Micky-Kissen platzieren. Die Wände sind kahl, ein Fenster gibt es nicht. Eine Dachluke spendet Licht. Meine ich anfangs. Bis mir klar wird, dass es sich um eine mit Wasser gefüllte Plastikflasche handelt, die in die Decke eingefasst ist. Durch das Loch, in dem die Flasche steckt, bringt das Tageslicht das Wasser in der Flasche zum – Leuchten! Es sieht total absurd aus, wie eine gemeinsame Schnapsidee von Weird Al Yankovic, Sacha Baron Cohen und Benny Hill. Aber es funktioniert. Ich bin der einzige, der das Ding fasziniert anstarrt.

Aus einem Nebenraum hören wir einen Streit. Der Klang ist dumpf.

»Kannst du etwas verstehen?« Nathalie umarmt Pascale voll mütterlicher Zärtlichkeit.

»Ich verstehe die Sprache nicht.« Die Miene ihres Sohnes bleibt unbewegt. Er kuschelt sich zurück an Claudes Seite.

»Tamasheq«, wirft Bertrand ein. »Dem Klang nach.« Er sieht mich an. »Nein, ich verstehe auch kein Wort. Nur einen Fluch höre ich heraus. Besonders, wenn er mich betrifft. Oder – ARTAUD?«

Das ist wieder der charmant analysierende Ol' Blue Eyes, den ich kenne. Wenigstens birgt der keine Überraschungen.

Minuten darauf, nach einer gesteigerten Lautstärke, von dumpf zu schrill, stürmt ein stinksaurer Samir ins Zimmer. »Armee!«, ruft der Targi aus. »Aus der Hauptstadt. Nicht viele Soldaten.«

»Maged Leroux muss ein paar Leute überzeugt haben, ihm Hilfe zu schicken. Das verschlimmert die Angelegenheit.« Der Franzose steht auf, klopft sich den Staub von den Beinen. »Wir können uns mit ARTAUD anlegen. Nicht mit dem Staat.«

Samir gibt ein abfälliges Geräusch von sich. »Die kel tamasheq haben sich mit dem Staat angelegt. Staat ist schwach. Ein paar Soldaten, nicht mehr. Schlecht bezahlt.«

»Die Soldaten sind ein Symbol«, verteidigt Bertrand seine Aussage. »Nach außen. Das Bild ist ein stärkeres, wenn ihr euch mit der Staatsmacht anlegt und nicht bloß mit ein paar Söldnern.«

Nathalie streckt sich und nimmt eine Position zwischen den beiden Männern ein. »Was sollten da drüben die lauten Worte? Samir? Hat der andere auch so argumentiert?«

»Nichts war das!«, entgegnet der Targi mürrisch.

»Pascale?« Antoine reibt sich die Augen. »Wo ist Pascale? Claude? Ich habe nur kurz nicht aufgepasst. Merde!«

»Pascale?« Nathalie sieht sich um. »Zet? Vau?«

»Rausgeschlichen. Kinder! Sorg dich nicht, Geisterfrau. Die Kinder können nicht raus.«

SAVANT - Flucht aus Niger 3

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