Читать книгу MONO - 1. Akt: Der Köder - Michael Nolden - Страница 5
Prolog: Tonios Abschied
ОглавлениеMai 2027: Tonio Atlas' letzter Arbeitstag
Kleinschwetzingen, Baden-Württemberg, Bundesrepublik Deutschland
Es war ein Montag.
Neben einer ungewöhnlichen sommerlichen Wärme hing der beißende Rauch verwehenden Tränengases über den Dächern der Gießerei.
Ein dumpfes Ploppen begleitete die Treffer nicht tödlicher Geschosse. Ihr unnatürlich klingender Aufprall geriet zeitweilig lauter als die heranrollenden Lastkraftwagen. Die antiquierten und vor kurzem reaktivierten Dieselmotoren röhrten martialisch gegen den übrigen Lärm an. Jede Bodenwelle versetzte die metallene Fracht auf den Kipplastern in elendig lautes Gepolter.
Keiner der Demonstranten hatte etwas aufzubieten, das die vierachsigen Ungetüme stoppen konnte – nicht einmal sich selbst in Form lebender Barrikaden, wie es andernorts tatsächlich versucht worden war. Die protestierenden Menschenansammlungen skandierten ihre vorbereiteten Rufe, hielten Transparente in die Kameras der angereisten Nachrichtenagenturen, stellten sich provokativ unbewaffnet gegen die Reihen der ganz in schwarz gekleideten Polizeikräfte und spuckten, wo sich jemand ganz besonders mutig oder empört fühlte, gegen die Beamten aus.
Aus den Fahrerhäusern der schweren Transportfahrzeuge winkten die Soldaten von der vor zwei Jahren neu aufgestellten Reservistenarmee bei der Einfahrt auf das Werksgelände der Gießerei den Polizisten zu. Von dieser erzwungenen Reibungslosigkeit an der Hauptzufahrt war am Nebeneingang, dem Tor für die Angestellten, nichts zu spüren.
Tonio Atlas hielt seinen Firmenausweis in die Höhe und huschte am Kordon der Polizisten vorbei. Steine flogen. Bislang wurden sie von den Protestlern lediglich vom Straßenrand aufgelesen. Etwas knallte. Die angetretene Hundertschaft hielt eine gewalttätige Gruppe der Demonstranten vom Näherkommen ab. Sie schossen Gummischrot in die Menge. Tonio Atlas spürte einen Luftzug an seinen Ohren. Unangenehm nah sausten die kleinen Projektile an seinem Kopf vorbei. Die grob streuende Munition streifte auch den einen oder anderen Mitarbeiter des Werks, ehe dieser in die Sicherheitszone rund um das Metalltor am Zaun gelangt war. Der hoch und athletisch gewachsene Gießer Atlas rieb sich die Augen. Auf einem Acker feuerten die Einsatzkräfte gegen eine noch massiver anrückende Menschenmenge Tränengasgranaten in die Luft. Eine Windböe trieb den Reizstoff großzügig den zur Arbeit rennenden Angestellten hinterher. Obwohl bereits in der Luft sehr verdünnt, genügte das Kampfmittel, um Tonio Atlas' Augen wie bei einer Heuschnupfenattacke auf das Äußerste zu reizen. Derart zum Weinen animiert, betrat Atlas kurz darauf das Personalbüro.
»Tränen zum Abschied?! Tonio!« Klara Keutner stand von ihrem Schreibtisch auf. Die Papiere zu Atlas' Kündigung hatte sie flink bei der Hand.
»Frau Keutner«, sagte Tonio Atlas zur Begrüßung und schickte den beiden Worten ein vom Gas provoziertes Niesen unbeabsichtigt hinterher. Ein paar Tröpfchen aus seinen schmalen Nasenflügeln landeten auf dem modernen Stahltresen, der das Personalbüro in zwei Hälften teilte.
»Klara. Sagen Sie doch Klara. Wir waren doch beim Du.«
»Klara«, meinte Atlas schniefend. Mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der sie die offiziellen Dokumente ergriffen hatte, zauberte sie eine Packung Papiertaschentücher hervor und hielt sie ihm in einem angemessen freundlichen Abstand hin. »Danke. Dicke Luft heute morgen.« Atlas schnäuzte sich. Das Kribbeln in der Nase verlor sich kaum, wurde allenfalls durch die ablenkenden Bewegungen im Gesicht für Sekunden erträglicher. »Meine Papiere?«
Klara Keutner reichte sie ihm wortlos. Sie schwang den Kopf, um ihr in einem honigblonden Ton gefärbtes Haar zu lockern. Wie immer in den vergangenen Jahren, da sie zu diesem zwischenmenschlichen Kommunikationsinstrument gegriffen hatte, erfuhr sie von Atlas keinerlei Reaktion. Ihre Enttäuschung beschränkte sich auf ein Minimum. Einmal hatte er ihr ein Foto seiner Frau Monica gezeigt und seither wusste sie, wieso er nicht auf ihre Annäherungsversuche ansprang. Das war allerdings noch lange kein Grund, Flirtversuche vollends aufzugeben. Sie beugte sich leicht nach vorne, in einem genau geprobten Winkel und präsentierte genauso viel von ihrem Dekolleté, wie es ihrer Ansicht nach ausreichen sollte, um selbst einen desinteressierten Mann in hormonelle Kopflosigkeit zu stürzen.
»Ja, danke. Danke sehr.«
In seinem hageren Gesicht war keine sexuelle Neugier abzulesen, eher meinte Klara Keutner Wehmut zu entdecken, nahe am Ausdruck der Ablehnung, und das war kein Gefühl, das eine Frau wie sie in einem Mann gespiegelt sehen wollte. Reine Gleichgültigkeit wäre ihr allemal lieber gewesen. »Schade, dass du gehst«, stellte sie schlicht fest und gab ihre nutzlosen Avancen auf.
»Tja«, sagte Atlas, weil er nichts anderes zu erwidern wusste. Ihm tat es selbst leid, einen sicheren Lebensabschnitt hinter sich zu lassen und seiner Frau in die Ungewissheit zu folgen. Aber Tonio Atlas hatte seiner Monica ein Versprechen gegeben, und er war so erzogen worden, dass ein einmal gegebenes Versprechen so treu auszuführen und fest zu halten sei wie das berühmte Amen in der Kirche. »Diese Tage«, rang er sich den Beginn einer Erklärung ab und endete sofort, denn weitere Worte entglitten ihm im Wust seiner Empfindungen, die keine rechte Linie finden wollten.
»Ich weiß, was du meinst.« Echtes Bedauern klang aus ihrem Tonfall.
Dankbar nickte Tonio Atlas der Sekretärin zu. »Danke. Klara«, fügte er schnell hintan.
Klara Keutner lächelte tapfer mit starren Augen. Je mehr sie über diesen Mann mit dem traurigen Blick nachdachte, umso mehr erkannte sie, wie sehr sie seine Begegnung vermissen würde.
»Auf Wiedersehen.« Atlas gab ihr über den Tresen hinweg die Hand.
Nach einem zu langen Zögern, resultierend aus dem Wissen um die Überwachungskameras, ergriff Klara Keutner die dargebotene Hand, erwiderte den Druck ähnlich behutsam, wie er ihr entgegengebracht wurde. »Auf Wiedersehen, Tonio. Alles Gute. Meine ich so.«
Ein Ruck ging durch die Haltung des Gießers. In diesem Augenblick waren ihm seine hängenden Schultern aufgefallen. Sein Beruf hatte ihm über die Jahre hinweg durchtrainierte Muskeln beschert. Wenn er sein Rückgrat jedoch krümmte, der Kopf wie auf einem gebogenen Geierhals saß, wirkte Tonio Atlas wie der sprichwörtliche Schluck Wasser, der sich selbst als Ziel auserkor. Halbstarke hatten mehrmals versucht, ihn aufzumischen. Langer Lulatsch! Langes Elend! Ihre Ausrufe waren zugegebenermaßen fantasielos. Doch sie hofften natürlich, ihr Spott werde ihn aus der Reserve locken. Reagierte er nicht, fielen ihre Attacken handfester aus. Wie überrascht waren sie doch, wenn sie die von ihm ausgeteilten und sehr treffsicheren Antworten erhielten. Die Blutergüsse seiner Backpfeifen trugen sie noch Tage später zur Schau, zuerst verschämt, dann stolz, als handele es sich um Kriegsverletzungen. Aus einem unerfindlichen Grund heraus wollte er Klara Keutner nicht als nachlässig auftretende Erscheinung in Erinnerung bleiben. »Alles Gute«, sagte er, ließ sie los und drehte sich zur Tür um.
»Dein Firmenausweis!« Härter ausgesprochen als gewollt, schallte der Ausruf einer Ohrfeige gleich durch das Büro.
Tonio Atlas' erste Reaktion war ein heruntergeschlucktes »Oh?!«, gefolgt von einem verstohlenen Blick zu der sichtbaren Überwachungskamera, deren einziges Lebenszeichen das Blinken eines roten LED-Lichtes war.
Am Tag der Installation einer ganzen Armada von Sicherheitstechnik quer über die gesamte Gießerei hinweg, nur wenige Tage bevor die Einschmelzung der religiösen Symbole anlief, waren noch Witze über das unregelmäßige Aufleuchten der Kameraapparaturen gemacht worden. Den Mitarbeitern war in den folgenden Wochen das Lachen und Feixen vergangen, so auch Tonio Atlas, der versuchte, seinen Verfolgungswahn abzuschütteln und sich bewusst in ein verbogenes Gummimännchen verwandelte, von dem er annahm, es lasse ihn zwischen den Arbeitskollegen sichtlich untertauchen. Nur war es von ihm ein Trugschluss zu glauben, jemand mit einer Größe von 1,90 Meter sei wirklich unauffällig.
»Natürlich.« Seine Stimmlage geriet zu einem Nuscheln. Er nestelte das kreditkartengroße Dokument aus der Tasche, wandte sich auf dem Fuße um, machte den Arm lang und legte den Ausweis auf den Stahltresen. Ein flappender Laut ertönte, als habe er eine Spielkarte auf die metallene Oberfläche geschnippt. Atlas zuckte entschuldigend mit den breiten Schultern. »Die brauch ich natürlich nicht mehr.«
»Natürlich«, erwiderte Karla Keutner, und die Freundlichkeit im Gesicht der Sekretärin war allenfalls noch vage zu nennen.
»Also, dann.«
»Alles Gute.«
Es spielte keine Rolle, wer von ihnen beiden was gesagt hatte. Die Peinlichkeit zum Schluss, die hierdurch aufgepumpte, eben noch unterschwellige Angst hatten den kleinen Funken Zuneigung zunichte gemacht.
Tonio Atlas ließ die Bürotür hinter sich zufallen und atmete befreit auf.
Von seinen fünfunddreißig Lebensjahren hatte er fünfzehn als Gießer gearbeitet, zehn davon am Standort in Kleinschwetzingen, der vor einem Jahr hätte geschlossen werden sollen, wäre nicht festgestellt worden, dass die Kapazitäten landesweit nicht ausreichten, um der Vernichtung religiöser Symbole aus Metall im von Regierungsseite geforderten Zeitrahmen nachzukommen. Atlas hatte das zusätzliche Jahr genutzt, damit er seine Gefühle in dieser Zeit des Umbruchs besser zu begreifen lernte. Er selbst war italienisch-maltesischer Abstammung. Seine Mutter kam aus dem Inselstaat Malta, genauer gesagt aus Victoria auf der Insel Gozo, während sein Vater in Neapel auf dem italienischen Stiefel geboren war. Die Eltern hatten sich auf Sizilien in den Ferien kennengelernt und waren gegen Ende der 1980er Jahre nach Deutschland ausgewandert, pünktlich zur Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Die Arbeitsmöglichkeiten für fleißige Menschen in dieser Aufbauphase erschienen ihnen damals verlockend genug, um die Heimat hinter sich zu lassen. Nach wenigen Jahren im neuen Osten des Landes zogen die Atlas' in den alten Westen nach Baden-Württemberg. 1992 kam Antonio Maria Giovanni Atlante, kurz Tonio zur Welt. Weil sie sich ihrer deutschen Umgebung enger zuwenden wollten, beantragte Tonios Vater einige Jahre darauf nicht nur die deutsche Staatsbürgerschaft, sondern gleichzeitig eine Namensänderung von Atlante in Atlas. Deutsche Freunde beschrieben die Familie Atlas in jeder Hinsicht als vorbildlich.
Vater und Mutter Atlas waren stark im Katholizismus verhaftet, Tonio selbst, obwohl er sämtliche Zeremonien und Feiertage über das Jahr hinweg mit den Eltern, Verwandten, Freunden, Gemeindemitgliedern und Nachbarn teilte, bezeichnete sich als christlichen Mitläufer, der all das eben tat, was seine Eltern ihm in dieser Hinsicht vorlebten und vorbeteten, weil es offensichtlich zu jemandem mit seinen Wurzeln dazu gehörte, und die Annahme dieser Strukturen einfach bequem war.
Seine Frau Monica lernte er über die Gemeinde kennen. Ihre italienische Familie betrieb ein Eiscafé in einer Fußgängerzone in Tübingen. Monica war eine ziemlich gläubige Katholikin, so empfand es jedenfalls Tonio, der ein schlechtes Gewissen in sich wachsen fühlte, da jemand seines Alters sich derart zu christlichen Glaubensidealen und Prozeduren hingezogen fühlte.
Nun, so viele Jahre später, verstand er instinktiv Monicas Entschluss, ihrem Glauben nicht abzuschwören und Deutschland den Rücken zu kehren. Monatelang hatten sie die Auswanderung nach Malta geplant. Italien, was ihnen lieber gewesen wäre, hatte zwar anfänglich mit der Aufnahme ausreisewilliger Christen geworben, sah sich jedoch nach einer wahren Flut von Katholiken dazu gezwungen, dem Strom der Einwanderer Einhalt zu gebieten und einen Einreisestopp zu verhängen, der sogar militärisch streng kontrolliert wurde. Malta hingegen setzte auf Verwandte von Einheimischen und hielt so die Zahl derer, die in den naturgemäß eng begrenzten Raum des Inselstaates einreisen wollten, klein. Tonios Mutter hatte die Anträge ausgefüllt und nun stand dem Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nichts mehr im Weg. Die Macht der Gewohnheit trieb Tonio, sich zum Arbeitsplatz zu begeben. Er blieb stehen. Unschlüssig verharrte er auf der Stelle und sah sich mit der Nervosität eines Menschen um, dem der nächste Schritt verweigert blieb. Ein Kribbeln jagte von seinem Nacken her das Rückgrat hinunter. Seine Ohrläppchen röteten sich, ein untrügliches Anzeichen von Scham, bemerkte er. Wegzulaufen gehörte sich nicht. Dazubleiben aber auch nicht. Tonios Unruhe wuchs.
Die Temperaturen draußen auf dem Platz vor der gewaltigen Halle Eins der Gießerei waren nichts gegen die Hitze, die von den Schmelzöfen aufstieg. Sie flirrte noch im Torrahmen, durch den die Lastkraftwagen ein und aus fuhren. Das Werk war das Wochenende über nicht zur Ruhe gekommen. Verunsichert durch den Widerstand von Gläubigen, die sich weigerten, den allgemeinen Aufforderungen Folge zu leisten und das Land zu verlassen, beschleunigte man seitens der eigens zu diesem Zweck aufgebauten verantwortlichen Stellen die Entsorgung der, wie es offiziell genannt wurde, religiösen Altlasten. Im Inneren der Halle stieben Funken in die Höhe. Sie sprangen wie Derwische über die Betonböden und tanzten bis zu ihrem irrlichternden Tod zum Takt einer wahnsinnigen Komposition.
Niemals in der Vergangenheit war Tonio Atlas in derart feiner Kleidung zur Arbeit erschienen wie an diesem ganz speziellen Tag. Der Anzug war nicht neu oder von besonderer Qualität. Er war gerade so ausreichend, um auf Hochzeiten und Beerdigungen getragen zu werden, die einzigen Gelegenheiten, die Tonio Atlas einfielen, damit sich der Kauf eines solchen Ensembles für einen längeren Zeitraum rechtfertigte. Irgendwie ordnete Atlas diesen Lebensabschnitt unter der Kategorie Beerdigung ein, denn von diesem Schritt gab es für ihn kein Zurück mehr. Heute ging etwas zu Ende und kehrte nicht wieder. Ein weiteres orangefarbenes Ungetüm auf vier Achsen fuhr in einer Wolke aus Abgasen und Dieselgestank an ihm vorbei, hüllte ihn sekundenlang in seinem dunkelgrauen Gift ein und holperte daraufhin über die Schwellen und die Führungsschienen des Lauftores hinein in die Halle Eins. Innen stand schon ein Fahrzeug. Die Entladung war in vollem Gange.
Tonio Atlas hörte Berge von Metallteilen krachend auf die Förderbänder fallen, die wiederum die Fracht tiefer ins Innere des Werks transportierten, wo sie bei 1500° Celsius binnen kürzester Zeit in den Schmelzbecken ineinander zerflossen.
Das Werk war eine Mischkonstruktion aus dunkelrotem Backstein, Beton und über die Jahre blind gewordenen Panoramafenstern. Es hockte wie ein zweihundert Meter langes L auf einer schwarzen Asphaltfläche im Osten von Kleinschwetzingen in einem einstmals modernen Gewerbegebiet. Der Zahn der Zeit hatte von außen an den Backsteinen genagt. Die Metallrahmen der Fenster rosteten unter einer schlecht aufgetragenen grauen Farbschicht. Nicht nur im sprichwörtlichen Sinne war hier der Lack ab. In den vergangenen Jahren hatte es eine Auswanderung von Hochindustrie gegeben. Ein früher blühendes Konglomerat von Firmenniederlassungen war auseinandergebrochen. Zulieferer sahen sich infolge der Verzahnung mit umsatzstärkeren Produzenten plötzlich im Niedergang begriffen. Zu speziell waren die von ihnen belieferten Nischen, so dass der Weg in die Zahlungsunfähigkeit vorprogrammiert war. Die Gießerei blieb davon nicht verschont – bis zu jener Zeitperiode, als in der Bundesrepublik Deutschland den Religionen und im Besonderen Gott der Kampf angesagt wurde.
Seitlich des Hallentores hatten uniformierte Reservisten Aufstellung bezogen. Atlas zählte vierzehn Soldaten. Auch Frauen waren darunter. Er zögerte. Ein paar der mit Sturmgewehren bewaffneten Sicherheitskräfte sahen seit dem Verlassen des Personalbüros zu ihm hinüber.
»Tonio!« Der Ausruf besaß den humorvollen Schwung, den der Gießer seit seinem Einstand vor rund zehn Jahren kannte. »Tonio, Mensch, klasse, dass ich dich noch erwisch!« Ein gelber Schutzhelm war über die verschwitzte Glatze von Xaver Schütten ins Gesicht gerutscht und hing so eben über den Augenbrauen. Die Wangen glänzten proper, die Körpermitte beulte die hitzebeständige Schutzkleidung dicklich aus. Deuteten die Fettpölsterchen auf einen Genussmenschen hin, bewiesen die Oberarmmuskeln, dass der Vorarbeiter jederzeit bereit war, sich eine reichhaltige Mahlzeit und ein ordentliches Glas Bier durch kräftiges Zupacken zu verdienen. Schütten schob den Schutzhelm zurück. »Tonio! Wolltest geh'n, ohne was zu sagen? Ich bitt dich!«
»Xaver, schön dich zu sehen!« Tonio Atlas klopfte dem einen Kopf kleineren Mann sachte auf die Schulter. »Dachte nicht, dass ich dich noch treffe. Warum bist du nicht drinnen?«
»Anweisungen, Tonio. Sollt ich mir abhol'n. Persönlich. Hab ich gemacht, freu mich nicht drüber. Aber was soll's?« Die Erwiderung war schnellstens ausgesprochen worden, als hätte Xaver Schütten gerne mehr gesagt, dürfe es nicht und wollte dennoch nicht unhöflich zu einem alten Arbeitskollegen sein.
»Ach?«
»Ist vielleicht ganz gut. Dass du gehst. Verpasst wahrscheinlich viel Mist in den nächsten Tagen. Was sag ich?! Wochen! Wochen, ja, wahrscheinlich Wochen. Kannst dir das denken.« Schütten sah an dem hoch aufgeschossenen Gießer vorbei auf die Soldaten.
»Die waren am Freitag noch nicht hier«, meinte Atlas. »Auf den Lkws, aber nicht als Wachen hier.«
»Eine der Anweisungen«, sagte Schütten, begleitet von einem misslungenen und plötzlich sehr hartnäckigen Augenzwinkern, weil zwei der Reservisten auf sie zukamen. Die Abzeichen an den Uniformen wiesen den einen als Feldwebel aus. »Da will einer was zu sagen haben.«
»Haben die hier jetzt was zu sagen?«, gelang es Tonio Atlas gerade noch zu fragen, ehe die Soldaten neben den beiden Gießern standen. Atlas' Augen huschten über die Namensschilder der Reservisten. »Wer will etwas sagen?« Die Stimme des Feldwebels, der sich damit ins Gespräch einbrachte, war freundlich bestimmt, aufmerksam, und sie klang für Tonio Atlas, als käme sie von einem Mann, der nicht nur gewohnt war, dass man dieser Stimme Gehör schenkte, sie gehörte auch zu einem Menschen, der für sich eine natürliche Autorität in Anspruch nahm und nach Höherem strebte. Sein Name lautete Kaplan.
Atlas lächelte amüsiert.
»Finden Sie meine Frage komisch?«
»Nein, gar nicht«, erwiderte der – ehemalige Gießer. Denn das war er. Ehemalig. Sofort wusste er, welche Richtung der weitere Wortwechsel nehmen würde.
»Das sieht mir nicht nach Arbeitsbekleidung aus?« Das Kopfnicken des Feldwebels deutete auf den Anzug von Tonio Atlas, der einen unverbindlichen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte. Der Soldat musterte den Zivilisten vor sich eindringlich.
Gräulich helle Augen besaßen einen abweisenden Glanz, den der Feldwebel sofort unsympathisch fand. Schmale Ohren standen derart weitwinklig ab, dass der türkischstämmige Deutsche belustigt dachte, es käme im nächsten Moment zu einem Flügelschlag, der den Kopf wie in einer schwarzhumorigen englischen Komödie mit sich trüge. Unter einem langen Nasenrücken mit höchst kleinen Nasenflügeln geriet Atlas' Lächeln umso breiter über einem dreieckigen, spitz zulaufenden Kinn. Für Feldwebel Kaplan sah der größere Mann vor ihm wie ein Spitzbube aus. Schwarze Haare, länger als fünf Zentimeter – und deshalb für den Soldaten schon verdächtig –, begannen sich zu kräuseln.
Tonio Atlas besaß Selbstbewusstsein. Zog er allerdings Blicke auf sich, offen oder verstohlen, vernahm er Getuschel, von dem er glaubte, dass es ihm gelte, wurde er schnell unsicher und bewegte sich zusehends tollpatschig. Er fühlte sich stolpern, obwohl er sich überhaupt nicht bewegte. Dem Auswanderer war nicht an unnötigen Scherereien gelegen. Im Augenblick wollte er nur zu seiner Monica. Das Land verlassen und weit weg sein. Sein linker Fuß wollte einer Bemerkung vorauseilen und bewegte sich leicht, da sprang Schütten helfend ein.
»Er hat heute seinen letzten Arbeitstag.«
»Was macht er dann noch hier?«, fragte der Feldwebel und sein Bariton verlor jegliche Weichheit unter einem rüden Grollen, mit dem der Unteroffizier in solchen Momenten gerne seine vom Staat verliehene Macht unterstrich.
»Er verabschiedet sich. Ich verabschiede ihn. Nach zehn Jahren im Betrieb ist das das Mindeste.« Xaver Schütten setzte den Helm ab und schob ihn sich unter den Arm. Eine Brandnarbe zog sich über die rechte Haupthälfte. Die Haut hatte eine dunkelrote wellenartige Oberfläche ausgebildet. Schütten waren Schmerzen allzu bekannt.
Kaplan respektierte das. Er verzog den Mund. »Hat er seinen Firmenausweis noch?«
»Abgegeben«, antwortete Tonio Atlas, der nicht übergangen werden wollte und zu altem Mut zurückfand. »Im Personalbüro abgegeben.«
»Hat schon alles seine Ordnung«, bekräftigte Schütten mit einem wohl berechneten dreisten Grinsen.
»Name?«
»Atlas. Antonio Atlas.«
Feldwebel Kaplan revanchierte sich nun für Atlas' Amüsement. »Ha!«, entschlüpfte es ihm unbeherrscht. Eine Sekunde später hatte er sich wieder im Griff. »Na, gut, Herr Atlas. Wenn ich Sie weder heute, noch in der folgenden Zeit auf dem Werksgelände sehe, dann«, Feldwebel Kaplan flocht eine bedeutungsschwere Pause ein, zigfach im Kommunikationstraining für diesen Einsatz durchexerziert, »belassen wir es dabei. Alles Gute für Ihre Zukunft.« Der deutsche Unteroffizier mit den türkischstämmigen Wurzeln winkte dem Gefreiten, der ihn begleitet hatte, ihm zurück zum Tor zu folgen.
Von seinen Eltern hatte Tonio Atlas Anteile der anderen Sprachen gelernt. Ein Repertoire an italienischen Worten half im Urlaub und ebenfalls beim Kennenlernen seiner Frau und, noch viel wichtiger, seiner zukünftigen Schwiegereltern. Malti, die Sprache seiner Mutter, beherrschte er weitaus besser. Zwar war es die Sprache, die ihn in der Welt am wenigsten weiter brachte, auf Malta jedoch nützte sie am meisten. Englisch war dort die offizielle Amtssprache, Malti, eine Mixtur aus italienischen und arabischen Klängen, schloss hingegen das zwischenmenschliche Band der Inselbewohner enger. Deutsch, die Sprache der Dichter und Denker, war, obwohl damit aufgewachsen und am besten gesprochen, oft eine Hürde, eine hohe Mauer im Miteinander, die auf der Zunge begann. Der Soldat hatte ihm alles Gute für die Zukunft gewünscht, dennoch hatte es für Tonio Atlas nicht wie die übliche Floskel geklungen. Der Verabschiedung war der Beigeschmack eines Fluches beigemischt gewesen.
Sobald die Soldaten außer Hörweite waren, setzte sich Xaver Schütten erneut seinen gelben Schutzhelm auf den Kopf. »Wichtigtuer«, sagte er.
»Nimm dich in Acht«, warnte Tonio Atlas mit Blick auf die nagelneuen Sturmgewehre der Reservisten, an deren Tarnuniformen selbst auf gut dreißig Meter Entfernung noch Bügelfalten zu erkennen waren. Der Rasterdruck ihres Camouflagemusters half nicht, den Eindruck von Sonntagskriegern zu mildern. Die ungelenken Gestalten, ungeübt in echten Einsätzen, waren für Atlas die Staffage einer operettenhaften Inszenierung, trotzdem oder gerade deshalb machten ihre nervösen Griffe um die Schulterstützen und den Handschutz am Lauf der Gewehre ihn unruhig.
»Muss ich nicht«, bekräftigte Schütten grimmig mit zu offensichtlichem Misstrauen verzogenen Augenbrauen. »Noch ein letztes Gucken? Noch mal eben in die Halle linsen? Außerdem«, erklärte Schütten weiter, »würd's die da ärgern. Na? Komm schon.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging der Vorarbeiter voran.
Tonio Atlas folgte, langsam zunächst, alsbald schneller, bis er gleichauf mit dem Berufskollegen schritt. Der Weg war allzu kurz. Xaver Schütten blieb schließlich stehen, wischte seine von Ruß verschmutzte und verschwitzte Hand an der Schutzkleidung, auf Brusthöhe, ab, reichte sie Atlas und verabschiedete sich mit einem festen Händedruck. Schütten sandte der Berührung ein freudloses Schnaufen hinterdrein. Geredet hatten sie genug. Der Lärm des soeben vorbei fahrenden Lastwagens hätte ohnehin jedes zusätzliche Wort verschluckt. Schütten ging in die Halle hinein und tauchte in einem Nebenarm des Gebäudes zwischen unbenutzten Hochregalen unter. Scheu und ausgeschlossen schaute Atlas ihm nach.
Der Krach aus der Eins – Halle Eins sagten die Chefs, nicht die Arbeiter – wurde an hektischen Tagen gerne im Verbund mit den Kollegen verabscheut. In diesem Moment war die Geräuschkulisse tröstlich. Atlas würde sie nicht ständig vermissen, wenn er das Werksgelände hinter sich ließe, so viel war sicher. Hin und wieder allerdings, das ahnte er mit einer bleiernen Traurigkeit, würde der Lärm fehlen. Oft hatte das Getöse gestört. Zeitweilig deckte es aber auch die Sorgen des Alltags zu, jene, denen sich Atlas nicht stellen wollte. Nun konnte er sich nicht mehr mit der aus einer Acht-Stunden-Schicht resultierenden Taubheit herausreden.
Das improvisierte Förderband rechts von ihm ratterte. Ein mahlendes Geräusch ertönte, ein zerfetzt klingendes Knattern in rasch aufeinanderfolgenden Sekundenbruchteilen, sodann jaulte die strapazierte Maschinerie auf, ruckelte bockig, ehe sie den weiteren Dienst versagte und mit einem endgültigen Knirschen stehen blieb. Ein paar kleinere Metallteile sprangen über die niedrige Umrandung der Konstruktion. Scheppernd polterten sie über den Betonboden. Atlas erkannte die üblichen Formen, wie sie in den letzten Monaten zu Abertausenden in die Schmelzöfen gefallen waren. Gesammelt aus den Besitztümern von Menschen, die ihrem Glauben abgeschworen hatten. Von den Dächern und Türmen, den Eingängen, Türen religiöser Häuser entfernt. Von Friedhöfen, von jedwedem Grab. Ganz gleich wie alt. Aus dem Leben der Menschen verbannt. Von Schmuck. Anhänger, Ohrstecker und Ringe, wirtschaftlich nach Metallen sortiert. Gold und Silber, Bronze und Kupfer, ganz selten Platin wurden in zu diesem Zweck aufgerüsteten staatlichen Münzanstalten aufbereitet. Lediglich als besonders historisch wertvoll eingestufte Objekte blieben nach den neuen Richtlinien verschont.
Ein fein gepunztes, blank poliertes Kreuz, kaum größer als einer der Anhänger, aus der Vertiefung eines Grabsteines herausgebrochen, blitzte im Licht der Neonröhren. Ein einzelner echter Lichtstrahl traf das Kleinod von der Halleneinfahrt her und reflektierte von dort stechend in die Augen von Tonio Atlas, der die Feuchtigkeit an seinen Lidern fühlte. Halbmonde. Davidssterne. Kreuze. Buddhafiguren sogar, deren mitfühlendes Lächeln sich in jeder der metallenen Flächen vervielfachte.
Zwei Gießer kamen fluchend vom anderen Ende des Gebäudes her angerannt. Es war ein seit Monaten bekanntes Problem. Besonders die kleineren der religiösen Symbole verfingen sich im Förderband. Manchmal fiel eine Transporteinheit über Stunden aus, so dass die Lastkraftwagen weit in die Werkshalle hinein fuhren und die Metallgüter vor den Schmelzöfen deponierten, von wo sie umständlich, Teil für Teil, teils mit Spaten, teils von Hand, einzeln, mithin zu dritt in das flüssige Inferno des Hochofens geschmissen wurden.
Ein Schaudern durchlief Atlas, als er sah, wie die anderen beiden Männer in ihren feuerfesten Monturen, deren Kopfbedeckungen sie der besseren Sicht wegen abgenommen hatten, die Metallteile am Boden achtlos zur Seite traten. Wütend kniete sich der zuvorderst stehende Gießer hin und schaute von unten in das Kettengetriebe des Transportbandes, bis er die verbogene Form eines rund dreißig Zentimeter langen vierbalkigen orthodoxen Kreuzes entdeckte, das in die Mechanik geraten war und offensichtlich etwas herausgebrochen hatte. Die Flüche des Mannes waren nicht laut ausgesprochen und kaum zu verstehen, über ihre Bedeutung indes kamen bei Tonio Atlas keine Missverständnisse auf.
Er horchte. Die verärgerte Litanei des Arbeiters ging in einem allzu bekannten Signalton unter. In den letzten Wochen war er häufiger erklungen. Tonio Atlas wartete nicht auf den wie gewohnt nachfolgenden Alarm aus seinem Mobiltelefon und zog das Gerät aus der Innentasche seines Jacketts. Kaum hielt er es in Händen, fiepte der Warnhinweis einer seit Jahren aktiven App. »2D«, Abkürzung für »TOO DANGEROUS«, war von mehreren europäischen Heimatministerien gemeinsam entwickelt worden. Wer sich in der antireligiösen Zweckgemeinschaft bewegte, lud das Alarmprogramm automatisch herunter. Wer sich dieser Prozedur verweigerte, dem blieb der Netzzugang verwehrt. Es verstrich die Dauer eines Wimpernschlages, und in Halle Eins begannen die gelben Warnleuchten an den lediglich per Leiter zugänglichen Decken zu rotieren, synchron zur ansteigenden Lautstärke des Alarmsignals.
»2D« kündigte eine terroristische Bedrohung in Baden-Württemberg an, die Wahrscheinlichkeit eines Anschlages noch an diesem Tag war hoch. Auf einer Farbskala blinkte das drittletzte rote Quadrat. Das bedeutete: Meiden Sie öffentliche Gebäude. Meiden Sie größere Menschenansammlungen. Besuchen Sie keine Vergnügungs- oder Einkaufszentren, keine kulturellen Veranstaltungen. Bleiben Sie, falls möglich, daheim. Begegnen Sie Sicherheitskräften, leisten Sie den Anweisungen unbedingt Folge. Lassen Sie durch Ihr Handeln keine widersprüchlichen Einschätzungen entstehen, die entschlossenes Vorgehen seitens der Sicherheitskräfte notwendig erscheinen lassen und Sie unnötig in Gefahr bringen ...
Hinter sich spürte Atlas eine Bewegung. Die zwei Soldaten von vorhin hatten in wenigen Metern Abstand Aufstellung bezogen. »Ich muss Sie nun dringend bitten, das Werk zu verlassen«, befahl Feldwebel Kaplan mit einem rudimentären Lächeln.
Sein Gegenüber in Zivil murmelte ein »Ja, sofort«, in der Kakophonie der widerstreitenden Geräusche einzig an den Lippenbewegungen erkennbar. Tonio Atlas rückte seinen Anzug zurecht, der sich gegen die Bewegungen seines Besitzers grundsätzlich sträubte, dessen Ärmel hochrutschten und im Schritt unbequem war. Es war kaum der rechte Zeitpunkt für Peinlichkeit, so fischte er im Geiste nach Selbstvertrauen, fand hier und dort etwas und bezwang mit diesen Bruchteilen seiner inneren Stärke seine Unsicherheit in der ungewohnten Bekleidung, im steifen Vorüberschreiten an den Reservisten, deren Finger über das geschwärzte Metall des Schutzbügels über dem Abzug strichen.
Für die nächsten Tage hatte Tonio Atlas die Abreise aus seinem Geburtsland geplant. Er und seine Familie gehörten zur dritten Welle Ausreisewilliger, die Deutschland und dem losen Verbund der Restriktiven Union Europas den Rücken kehrten.
Zwölfeinhalb Millionen Menschen waren bereits gegangen.