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Das große Grummeln

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„Mann, Mann, Mann… Es geht nur um den ersten Satz… Ich krieg das einfach nicht hin“, regte er sich fast schon ein bisschen verzweifelt auf und spuckte auf den Boden wie es eine seiner Angewohnheiten war.

„Die Idee ist eigentlich ganz gut, auch wenn ich sie gar nicht haben wollte. Ich hab mich sogar lange Zeit dagegen gewehrt, aber hier!“ – und er hielt Carlos seine zerknitterten Schmierblätter vor die Augen – „das sind ungefähre drei- bis vierhundert Seiten! Aber ich kann es nicht... Ich kann das einfach nicht! Das ist einfach eine Nummer zu groß für mich! Ich hätte nie gedacht, dass mich eine Idee mal so fertig machen könnte… Ich meine, das ist doch kein reales Problem, sondern nur irgendeine Idee für irgendeine Geschichte…“ – und spuckte wieder verächtlich auf den Boden.

„Es fühlt sich ungefähr so an wie eine Raupe, die in ihrem Kokon eingesponnen ist. Sie hat überhaupt keine Ahnung von einem Leben als Schmetterling. Und sie verbindet Fliegen auch nicht etwa so wie wir mit Freiheit, Unabhängigkeit oder Leichtigkeit… Aber es wird langsam verdammt eng in ihrem Gehäuse… Es ist irgendwie so wie nicht richtig Kacken können… So als würden unfertige Sätze und unausgegorene Gedanken in deinen Hirnwindungen verrotten…“

„Hmmh, Hmmh, Hmmh“, raunte Carlos mit auf scharf gestellten Augen hinter seiner runden Hornbrille. „Musst du raus. Brauchst du Bewegung… Nicht wie Smetterling, aber vielleicht auf eine Weg. Eine große Weisse hat gesagt: auch lange Reise beginnt mit die erste Sritt. Hast du gehört von die Jakobsweg?! Viele, viele, die das gemacht haben sagen: ich bin eine andere Mensch! Und ab und zu schreibst du mir wie es geht. Das macht den Kopf wieder frei!“

„Aber Carlos“, erwiderte er gedehnt, kniff seine ohnehin schmalen Augen ein wenig zusammen, streckte seinen Hintern aus und ließ einen kurzen kleinen Furz. Das war eine andere Angewohnheit. Aber glücklicherweise konnte er die gemeinen Stinker von den harmlosen kleinen Knallern, die oft zu Carlos` Erheiterung beitrugen, voneinander unterscheiden.

Die ersteren setzte er denn dann auch eher intim an die Luft und von den anderen hatte er anscheinend immer einen in der Pipeline.

„Carlos, du weißt doch, dass ich mit Religion aber auch so gar nix am Hut habe. Ein Haufen spiritueller Spinner und jede Menge Möchtegern-Erlöser in überfüllten und stinkigen Massenunterkünften… dazu Knie- und Rückenschmerzen, Blasen an den Füßen und nix zu Kiffen…“, regte er sich mit einem angedeuteten Spucken auf.

„Aber geht nicht um Religion! Geht um Weg laufen! Geht um Kopf leer machen! Und geht um Ziel… Das kann jeder! Und man braucht…, oder?“

Das war nicht das erste Mal, dass eine Diskussion zwischen Matz und Carlos solch eine Richtung einschlug. Aber so eine persönliche Not, das wirklich qualvolle Leiden dieser Künstlerkrankheit – das war dann doch ganz neu, zumindest für Matz.

Seitdem die beiden hier, in Sulis Café, ihr kleines Theaterstück „Willkommen in der Welt“ überwiegend hier geschrieben und auch als kleines Mitmach-Theater-Experiment hier aufgeführt hatten, war Tisch 20, das ist der kleine, runde Marmortisch direkt vor dem Fenster, immer für sie reserviert. Carlos, der Mann mit der Einsteinnase, immer mit Chapeau und den lustigen Augen hinter seiner Brille und Matz, der mit seiner Lache oft die halbe Terrasse anstecken konnte, waren hier inzwischen sowas wie eine Institution.

Und obwohl die Terrasse an diesem ersten wirklich schönen Frühlingstag brechend voll war, saßen sie hier - wie immer an Tisch 20 - und manch anderer Gast schaute gelegentlich verstohlen und verwundert, die beiden ein wenig belächelnd herüber und betrachtete das meist emotionale und von vielen Gesten begleitete Gerede über Gott und die Welt bestenfalls als weiteres kleines Theaterstück.

Matthias „Matz“ Roth war aber gar kein Künstler, geschweige denn Schriftsteller: er war Masseur – und nicht mal das stimmt!

Er schlägt sich nun schon seit mehr als zehn Jahren mehr schlecht als recht mit mobiler Massage am Arbeitsplatz durch…


Matz ist eigentlich nur eines wirklich: ein Spinner! Und zwar durch und durch. Schon früher als Kind ein kleiner Spinner und dann später immer irgendwie ein bisschen mehr…

Jetzt könnte man einwenden, dass die größten Spinner immer die tollsten Frauen haben. Nicht so bei Matz. Mit Frauen hatte er nie wirklich Glück. Das fing schon mit seiner Mutter an.

Katharina Roth, geborene Köster, eine nach außen hin unscheinbare nette Husche, war für alle, die mehr mit ihr zu tun hatten, durch und durch erdrückend. Und zwar aus Angst! Mit ihrer Angst und ihrer permanenten Unzufriedenheit, ihrer tiefen Trauer um ihr trostloses, nicht gelebtes Leben, das sie sich ganz anders vorgestellt hatte, brachte sie es fertig nicht nur bei sich, sondern vor allem in ihrem nahen Umfeld einiges an Krankheiten, Verhaltensstörungen und Drogenabhängigkeiten zu erschaffen.

Ihr Mann, ebenfalls ein Versager und Dummkopf der übelsten Sorte, sah keinen anderen Ausweg, als sich langsam aber konsequent noch vor seinem sechzigsten Geburtstag zu Tode zu saufen. Josef, ihr erster Sohn, den sie eine Woche nach der Hochzeit zur Welt gebracht hat, ist noch eifrig dabei.

Doch wie dem auch sei: das größte Problem ist: die Welt ist voll von vielen unterschiedlichen Realitäten. Und jeder hat seine eigene – und natürlich die einzig Wahre! Darum endet diese Familiengeschichte hier und jetzt, denn letztlich ist doch jeder der Autor seiner eigenen Geschichte, oder?

Obwohl es schon verlockend erscheint, das hier groß auszubreiten und einige Seiten zu füllen, unter dem Vorwand, Matz besser verstehen zu wollen…

Aber es ist so oder so klar: in diesem Elternhaus konnte man nur eines werden – ein anderer! Vielleicht konnte man so rausfinden, wer man wirklich war – oder werden – oder sein wollte… Und dafür trägt jeder selbst Verantwortung, oder?

So wie Carlos zum Beispiel. Carlos war Künstler durch und durch. Hat einige Bücher geschrieben, Bilder gemalt, Musik komponiert, Kunstaktionen in aller Welt veranstaltet, Filme gemacht, war als Verleger und Dramaturg tätig. Sein Geld verdiente er mit Programmierungen, die allerdings auch eher künstlerisch waren…

Carlos lehnte es aber schon seit längerer Zeit ab, Künstler zu sein oder als solcher bezeichnet zu werden. So sind seine sämtlichen Aufzeichnungen, Ideen, Manuskripte oder Projektideen dieser ablehnenden Haltung zum Opfer gefallen.

Wenn er sich in einem sicher war, dann, dass die Kunst tot ist! Und zwar schon lange! So tot wie sein weltberühmter Maler-Bruder, der noch heute von der Kunstwelt auf eine Stufe mit Beuys und Dalí gestellt wird.

Er selbst konnte das trotz internationalen Ausstellungen und ziemlichem Reichtum nie wirklich glauben, weshalb er – vielleicht um ein letztes großes Mysterium zu erkunden – sich in der Abenddämmerung kniend und mit weit ausgebreiteten Armen auf irgendwelchen Zuggleisen irgendwo in der Nähe des Ammersees, darauf vorbereitete zu erkunden, was für ihn persönlich die letzte große menschliche Freiheit sein würde…

Tja, wie gesagt, jeder hat so seine eigene Art, nach seiner eigenen Wahrheit zu suchen…


An: carlos@name.de

Betreff: Reisevorbereitung


Hallo Carlos,

ich denke ernsthaft über deinen Vorschlag nach. Denn Eins steht fest: ob mit oder ohne Idee – ich muss hier raus! Tag ein Tag aus, Woche um Woche, Jahr für Jahr… Immer wieder mehr oder weniger das Gleiche, ohne dass wirklich was passiert…

Wie du ja weißt, mach ich ja manchmal diese kleinen Spezialreisen zuhause. Tja, und wie das manchmal auf diesen Reisen so ist, spielen Zeit und Raum irgendwann mal keine Rolle mehr.

Man ist ganz weit weg und kommt doch so ganz nah an sich ran. Je weiter weg, desto näher – so scheint es. Und aus dieser Entfernung, mit diesem Abstand vom lächerlich Alltäglichen erscheint so Vieles so klein und bedeutungslos. Fast ein bisschen lustig – oder tragisch. Je nach dem..

Und immer wenn man dann versucht, ein Reisemitbringsel, eine Erinnerung an die Erkenntnis mitzunehmen, dann heißt es plötzlich von der Reiseleitung: „So, meine Damen und Herren; das war`s für heute! Und bitte denken Sie daran, dass es nicht möglich ist, irgendetwas von hier mitzunehmen. Außerdem weisen wir nachdrücklich darauf hin, dass diese unsere Reiseziele niemals End-, sondern immer nur Ausflugsziele sein können. Wer versucht, hier zu bleiben, zerstört damit unweigerlich diese Orte und gibt seine physische Realität auf. Das heißt, Sie sind dann weder - noch! Weder hier noch da – weder wirklich lebendig noch tot.

Wir hoffen, Sie hatten eine angenehme Reise und freuen uns auf Ihre nächste Buchung bei „wheat-grass-adventures.!“

Aber natürlich bleibt, wie nach jeder Reise, auch ohne konkretes Mitbringsel, ein Gefühl von Erinnerung. Eine Erinnerung an ein großes Fernweh oder an eine große Klarheit. Je nach dem…

So wie die Erinnerung an den kosmischen Tante-Emma-Laden mit seinem vermutlich allwissenden Verkäufer, der freundlich augenzwinkernd vor dir steht und bedauernd feststellt: „Tut mir leid! Hauptfiguren für Ihre Romanidee sind im Moment leider aus. Vielleicht versuchen Sie es morgen oder übermorgen nochmal…“

Und du fühlst dich wie ein einzelner speckiger Würfel in einem abgegriffenen Lederbecher. Hektisch und angespannt hin- und her geschüttelt in der Hand eines verzweifelten Spielers, für den es um nichts Geringeres geht als um Alles oder Nichts…

Lieber Carlos, ich denke, ich mache mich bald auf den Weg und halte dich auf dem Laufenden.

LG M.


Weckruf

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