Читать книгу Weckruf - Michael Piater - Страница 4
Goldy
ОглавлениеImmer wieder schaufelte er kaltes Wasser ins Gesicht und strich mit den nassen Händen über seine Glatze.
Irvin D. – das D. steht für David, den er aber lieber immer schon hinter der Abkürzung versteckt hielt, weil ihm das in Verbindung mit Goldmayer denn doch zu viel war. Irvin D. Goldmayer also, blickte tief in seine dunkelbraunen Augen, musterte die fast genauso dunklen Ringe darunter und erinnerte sich, wie er sich vor über vierzig Jahren zum ersten Mal eine ähnliche Frisur verpasste…
Aus seinem linken Auge rann eine kleine Träne. Zum ersten Mal seit langer Zeit. Wenn überhaupt, dann konnte er schon immer nur mit dem linken Auge weinen – dem Zielauge des Jägers. Denn noch im selben Moment, in dem er die Beute erlegte, hatte er unfassbares Mitleid mit ihr. Die Jagd an sich war viel größer und erhabener als die fetteste Beute jemals hätte sein können und bedeutete ihm deshalb unendlich viel mehr.
Er war zwar der Sohn deutsch-jüdischer Einwanderer und in England aufgewachsen, aber er weigerte sich, seinen schon als Kind enorm entwickelten Geschäftssinn damit in Verbindung zu bringen. Klischees waren ihm zuwider und wo immer es ging, stellte er sie in Frage oder ging dagegen vor. Er war einfach nur neugierig. Er liebte es, mit den Händen und dem Kopf zu arbeiten und rauszufinden, was geht.
Schon mit acht oder neun Jahren verstand er es, die lädierten, abgenutzten oder kaputten Modellautos seiner Schulkameraden und Nachbarskinder in liebevoller Kleinarbeit nicht nur zu restaurieren, sondern so aufzupeppen, dass sie schnell zu begehrten Sammlerobjekten für Erwachsene wurden, die ein Vielfaches dafür bezahlten.
Joshua, sein Vater, sah das mit zurückhaltendem Stolz aber auch mit einem gewissen Unbehagen. Er war ein Mann des Geistes und der schönen Künste. Er liebte nicht nur jedes einzelne Buch in seinem liebevoll geführten Antiquariat, sondern widmete zur Enttäuschung seiner Frau Rebecca, seinem Ältesten, Samuel und dem Nesthäkchen David, seinen Kunden mehr und intensivere Zeit. Die allermeisten Bücher hatte er tatsächlich gelesen, aber sein Wissen umfasste noch deutlich mehr.
Dabei war er wirklich ein einfacher Mensch, dessen Glaube an die Schriften der Thora unerschütterlich und ein Leben ohne Gott unvorstellbar war.
„Der Gottlose flieht, auch wenn niemand ihn jagt.“ – das war einer seiner Lieblingssprüche Salomos.
Klein David floh nicht wirklich vor dem Religionsunterricht, aber er war einfach zu sehr mit dem Aufbau seines kleinen Modellauto-Imperiums beschäftigt. Außerdem war es für ihn, der in England geboren und aufgewachsen war nicht nachvollziehbar warum er versuchen sollte etwas anderes als Engländer zu sein. Er fühlte sich nicht wohl in den abgetragenen Anzügen seines großen Bruders und ständig eine Kopfbedeckung tragen zu müssen, war für ihn so etwas wie eine Einschränkung des selbständigen Denkens. Von den Predigten des Rabbiners fühlte er sich bedroht und von der Gemeinschaft eingesperrt.
Und dann kam der verhängnisvolle Tag seiner Bar Mitzwa, der ihn zu einem „Sohn der Pflicht“ machen sollte…
Ein bedeutungsvoller Tag, der für Jungen nach dem ersten Sabbat nach Vollendung des dreizehnten Lebensjahres stattfand und dessen weiteres Leben für immer festlegen würde. Der Tag, nach dem er für die Erhaltung und Beachtung der jüdischen Gebote verantwortlich sein sollte!
Muss, muss, muss! Er aber wollte rausfinden, was geht – nicht, was muss…
Die Synagoge füllte sich mit feierlich gekleideten Gemeindemitgliedern. Bedächtiges Gemurmel surrte durch die Halle und langsam fing die religiöse Zeremonie an ihren überlieferten Ritualen zu folgen.
„Mutter…!“ – Mama ging ihm einfach nicht über die Lippen,
„Mutter“, flüsterte er, „ich muss ganz dringend nochmal aufs Klo!“
„Gut, aber mach schnell! Es geht gleich los!“
Und auch damals sah er im Toilettenspiegel in seine dunklen, entschlossenen Augen, sah dieses Blitzen – vor allem im Linken, nahm seine Kippa ab, holte langsam und mit zitternder Hand die Schere aus seiner Jackentasche, schnitt sich zuerst die linke dann die rechte Schläfenlocke ab und dann - den Rest so gut er konnte… Erhobenen Hauptes, ohne Kippa und mit einem Schädel, der aussah als wäre er von Ratten angefressen worden, erschien er vor der versammelten Gemeinde
An: carlos@name.de
Betreff: Auf dem Weg
Hallo Carlos,
ich bin mir noch nicht ganz sicher, aber ich glaube, das war eine scheiß Idee!
Es gibt Entscheidungen, von denen man gar nicht so genau weiß, ob man sie wirklich selbst getroffen hat. Aber auf jeden Fall sind sie nicht mehr rückgängig zu machen.
Ich bin heute in Zabaldika angekommen. Also nur noch schlappe 734 km bis Santiago… Ich werde zum ersten Mal in einer kirchlichen Herberge übernachten: 18 Schlafplätze in 3 Zimmern, die allesamt durch die nicht vorhandenen Türen miteinander verbunden sind…
Ungefähr 80 km in vier Tagen, ohne genau zu wissen warum!
Es ist so wie im Leben: wir wissen nicht warum und wieso und wir haben keinen Plan – aber wir ziehen das jetzt erstmal durch. Möglicherweise bis zum Ende. Aber das ist natürlich für jeden woanders.
Es fühlt sich ein bisschen so an wie beim ersten Mal: Du willst das unbedingt - und Du hast überhaupt keine Ahnung wie das gehen soll. Wie das gut gehen soll… Für alle Beteiligten. Für die allermeisten ist das eine ihrer ersten von vielen großen Enttäuschungen. Das kann man dann nun natürlich solange wiederholen bis es das ein oder andere Mal auch ganz schön ist – bloß: das Leben an sich lässt sich nicht wiederholen. Eigentlich, oder?
Die Landschaften, die ich bisher gesehen habe wiederholen sich nie. Sie sind immer wieder ganz neu. Nur, was ich bisher von den Menschen so mitgekriegt habe, unterscheidet sich nicht wirklich von dem, was ich, der Beobachter, schon kenne. Und du weißt ja, ich beobachte ganz besonders genau mit meinem linken Auge – dem Zielauge des Jägers! Denn das Beobachten ist nun mal viel aufschlussreicher und interessanter als einfach nur leben… Leben an sich ist eigentlich ganz einfach….
Manche suchen, wenn sie erkannt haben, dass sie dieselbe Sprache sprechen irgendwie nach Anschluss, damit sie das Gefühl haben, sich in der Fremde besser aufgehoben zu fühlen. Zuhause interessiert sich niemand für Niemanden, weil da all die anderen immer so grau aussehen.
Was mir besonders aufgefallen ist, sind Lehrer oder Lehrerinnen, ob jünger oder älter, mit ihren vom vielen Palavern verunstalteten Schwabbelköpfchen, Bierbäuchen, unrasierten Beinen und Hängetitten. Sie sind anscheinend die Spezies Mensch, die eigentlich verzweifelt sich selbst – und vielleicht die Welt, aber nur vielleicht… - zu verstehen versucht, indem sie andere belehren. Warum lassen sie sie nicht einfach ihren Weg gehen?
Aber mir waren Menschen, die auf Alles eine Antwort haben, immer schon suspekt, vor allem wenn sie Nichts ausstrahlen.
Ich denke, ich gehe weiterhin alleine diesen Weg. Vielleicht wird er irgendwann meiner auch wenn er mich von meiner Idee, einen Roman schreiben zu wollen abbringen sollte. Wir werden sehen.
Ab morgen werde ich erstmal kürzere Etappen laufen, mir mehr Zeit gönnen für meine Spezialreise und immer mal wieder Pause machen.
Angeblich soll das ja das Ziel sein – also der Weg…
Bis bald LG.
Es gibt Momente, die noch im Augenblick des Geschehens zu erbarmungslosen Eiszapfen gefrieren und sich gemein und unerbittlich in dein Herz bohren.
Durch die Gemeinde ging ein Raunen der Empörung, seine Mutter schlug vor Entsetzen die Hände vors Gesicht. Das Allerschlimmste aber war sein Vater. Der stand nur regungslos da, starrte ihn an, verzog keine Miene und sagte keinen Ton. Für ihn war das ein Angriff auf seinen Gott, auf sein Leben.
Reinen Herzens also ging er zum Rabbi und zwang ihn, seinen Sohn mit einem Bann zu belegen und aus der Gemeinde zu verstoßen.
Der strenge Rabbi hätte es nochmal mit einem geduldigen Gespräch versucht, aber die regelmäßig großzügigen Spenden von Joshua Goldmayer verlangten ihren Tribut…
Wenn Kinder sich nicht gegen ihre Eltern wehren, verkommen sie zu deren Eigentum und degenerieren auch ansonsten zu verängstigten Jasagern und Befehlsempfängern, in denen ein tiefer Groll das Innerste zernagt. Nur wenige Väter oder Mütter haben die Kraft und die Größe eine eigenständige Entwicklung ihrer Kinder zu akzeptieren und zu unterstützen. So spielt man also lieber immer und immer wieder die altbewährten Spielchen der Macht.
Nun also, dreiundvierzig Jahre nach diesem eisigen Moment, stand er mit frisch rasierter Glatze und einer großen Sonnenbrille etwa achtzig Meter entfernt von der Begräbniszeremonie auf dem kleinen jüdischen Friedhof seines Heimatstädtchens. Dreiundvierzig Jahre und achtzig Meter entfernt von dem Mann, der einmal sein Vater hätte werden sollen..
Er war sich nicht sicher, ob er Abschied nehmen oder sich einfach nur vergewissern wollte, dass er endlich aus seinem Leben verschwunden war.
Plötzlich, wie von Geisterhand bewegt, drehte sich seine Mutter langsam um und blickte hilflos suchend in seine Richtung als spürte sie seine Anwesenheit.
Er fühlte diesen alten Eiszapfen… und eine plötzliche Hitze stieg in ihm auf…
Mit einer Mischung aus Scham, Peinlichkeit und sowas wie Angst verschwand er schnellen Schrittes ohne sich noch einmal umzusehen.
Er, als einstmals mächtiger und verhandlungssicherer Geheimvertreter von Goldman Sachs, der Weltbank schlechthin, er, Dr. Irvin D. Goldmayer, hatte das Gefühl, dass sein Lebensweg mehr einer wackeligen Hängebrücke als einer soliden Steintreppe glich, wovon er eigentlich bisher immer überzeugt war.
Bot aber nicht gerade die ständig notwendige Aufmerksamkeit und Vorsicht beim Beschreiten eines schwankenden Pfades die bessere Gelegenheit, im Hier und Jetzt anzukommen als das vorhersehbare Voranschreiten auf vorhersehbaren Stufen?! Das hatte er sich doch nun mal vorgenommen: das Hier und Jetzt – weg und raus aus der Vergangenheit!
Kann man dann noch Mensch sein? Also, so ganz ohne Vergangenheit?!
Mit diesen und anderen verwirrenden Gedanken versuchte er seinen hartnäckigen Eiszapfen zum Schmelzen zu bringen.
Wie in einer Art Wachschlaf wählte er diese Handynummer, die er für solche Situationen unter „R“, wie Reset abgespeichert hatte.
„ Hallo Becky! Ich bin`s! Hast du Zeit…?!“
„ Goldy?! - Goldy, bist du das…?! - Mein Gott – so lange Nichts von dir gehört! Jetzt ist grad schlecht… Wie wär`s in zwei Stunden? Das volle Programm?...“
„Ja, Becky, das volle Programm! Also, bis gleich! Und nenn mich nicht immer Goldy!“
Vollkommen leer und erschöpft ließ er sich mit Klamotten und Schuhen aufs Bett fallen und fand - wie immer keine Ruhe…
Diese Müdigkeit… Wenn nur nicht immer diese dauernde Müdigkeit wäre… Alles war so unendlich anstrengend… Selbst ein einzelner Gedanke!!!
Weil hinter jedem einzelnen Gedanken immer noch tausend andere standen... Er konnte sich nicht erinnern, dass es jemals anders gewesen sein könnte. Er musste immer alles genau sehen, genau hören, genau wahrnehmen. Die Situation genau analysieren, alle möglichen Folgen bedenken, dafür sorgen, dass alles in Ordnung war.
Stets und ständig bemüht, Konflikte zu vermeiden, niemanden unnötig sein Gesicht verlieren zu lassen. Dabei reichte es niemals aus. Egal was er erreichte, egal was er bewirkte, egal wie viele Auszeichnungen, Ehrungen, persönliche Dankschreiben… Es reichte einfach nicht. Er reichte einfach nicht! Das war nicht das Hamsterrad, in dem sich die normalen Menschen abmühten, in dem Glauben dadurch ihren Arsch retten zu können.
Das war sein ganz persönlicher Fahrstuhl, der nur nach unten fuhr. Nach unten – bis ins Herz der Hölle…
Becky war dann manchmal so etwas wie ein Not-Stopp, um das Verglühen seines Hirns irgendwie noch ein bisschen hinauszuzögern.
Er tauschte seinen Brioni-Anzug gegen Jeans und Kapuzenpulli, kaufte unterwegs eine weiße Rose und eine eisgekühlte Flasche Dom Pérignion und drückte pünktlich zum verabredeten Zeitpunkt drei Mal kurz auf die Klingel mit dem in goldener Schreibschrift eingravierten Namen:
Dr. Rebecca Richter
Institut für Persönlichkeitsentwicklung
Eine wohlgebaute Dame mittleren Alters mit flaschenglasgrünen Augen, einem naturrotblonden Bürstenhaarschnitt und – na, sagen wir… - in einer Art „Kostüm“…, öffnete die Tür.Sie musterte ihn kurz mit etwas zusammengekniffenen Augen und raunte leise: „ Aahhh, böööser, böööser Goldy… Goldy sieht gaanz, gaanz schlecht aus. Das ist der Beweis, dass Goldy gaanz, gaanz böse ist…!
Komm rein Goldy... Wir müssen uns eine gaanz, gaanz schöööne Strafe ausdenken…“
An: carlos@name.de
Betreff: Auf dem Weg
Hallo Carlos,
ich bin jetzt in Puente la Reina. Knapp dreißig Kilometer in fünf Tagen… Das muss mir erstmal jemand nachmachen… Die meisten laufen das an einem Tag, gemäß der großen Lüge, die in allen Glaubensrichtungen verbreitet wird: Du musst Dich nur ordentlich anstrengen, dann wartet am Ende eine große Belohnung auf Dich! Dieser irrsinnig eindimensionale Gedanke von A nach B gelangen zu müssen oder mit jeder weiteren mühsam erklommenen Stufe der Erleuchtung oder was auch immer, näher zu kommen. Nur, wer will wissen, was am Ende wirklich kommt?! Ist das Ende Deines Weges tatsächlich das Ziel? Bedeutet ins Ziel kommen am Ende zu sein?
Und wenn du dabei auf der Strecke bleibst, ist das dann dein Ziel oder einfach nur das Ende?!
Dabei ist es herrlich ganz einfach unterwegs zu sein! Es riecht überall nach Gras – nicht nur nach dem frisch geschnittenen am Wegesrand, sondern auch nach dem zum Rauchen…
Ich denke, ich bleibe ein paar Tage hier, denn schließlich kann man ja immer noch selbst bestimmen wie lange man auf seinem Weg bleiben will, oder…?
Kurioserweise hat mich ja meine merkwürdige Romanidee, in der es um Religionen und so weiter geht, hierher verschlagen. Das macht meine Beobachtungen hier besonders interessant, weil ich – wie du ja weißt – davon absolut nichts halte.
Im Gegenteil, ich halte jegliche Religion für eine Krücke. Eine trügerische Hilfe für Menschen, die nicht alleine gehen können. Und das sind die meisten…
Ich glaube, sämtliche Ideen, vor allem solche, die zu Ideologien führen, sind sowas wie ein männlicher Schwangerschaftsersatz.
Man muss bedenken: die größten und schrecklichsten Ideen sind ja nun mal von Männern… Also, auch die Religionen… Das Bedürfnis also, etwas Großes zu erschaffen – und gleichzeitig Teil davon zu sein….
Ich bin zur Zeit einfach nur Teil der Landschaft, die ich rieche, Teil der Musik, die ich fühle, Teil der Menschen, denen ich begegne – auch wenn deren teilweise unkontrollierten geistigen Blähungen mich immer wieder aus meinen Gedanken reißen. Ich bin ja leider jemand, der immer die Veränderungen spürt, einen besonderen Sinn für aufkommende gefährliche Dummheit hat.
Und es ist schon – na sagen wir mal – ziemlich interessant, was manche Menschen so zwischen ihren Ohren bewegt.
Aber je voller die Köpfe und die Hosen, desto leerer die Herzen…
Was nutzen all die vielen Worte wenn sie keinen Inhalt mehr haben…?! Worte ohne Fleisch, wie du sagen würdest…
Wenn wir immer nur das Gefühl haben, wir müssten alles möglichst schnell hinter uns bringen – egal was – und das hört für die meisten beim Essen und beim Sex nicht auf…, bringen wir uns um all die wunder-vollen Höhepunkte. Denn ein Höhepunkt muss geduldig und kunstvoll aufgebaut werden. Sonst wird dat nix!
Wie viele Höhepunkte hat man eigentlich so in seinem ganzen Leben?! Also, allgemein gesehen – nicht nur sexuell… Und ist man dann dabei, oder empfindet man das erst später so? Also, gewissermaßen am Schluss, im Rückblick? Und wenn ja, warum?!
Ich jedenfalls freue mich und bin ganz entspannt neugierig wie es weitergeht und ob das Alles irgendwann einen Sinn ergibt.
Ich halte dich auf dem Laufenden!
LG M.