Читать книгу Sky-Navy 06 - Der letzte Pirat - Michael Schenk - Страница 4

Kapitel 2 Das Feld der Hoffnung

Оглавление

Greenland-Kolonie, Farm außerhalb der Hauptstadt Sanktum

Es gab immer wieder Menschen, die der Tatsache überdrüssig waren, wie sehr ihr Leben von der Technik bestimmt und von ihr abhängig war. Die es nicht schätzten, dass intelligente Haushaltsgeräte und andere Hilfsmittel über alle Einzelheiten ihres Privatlebens informiert waren und dies nutzten, um Dienstleistungen noch zielgerichteter an den Kunden zu bringen. Diese Menschen waren nicht unbedingt Technikverweigerer, doch sie standen ihr mit Skepsis gegenüber und fragten sich, ob grenzenloser Service denn unbedingt die Aufgabe des Privatlebens wert sei. Vor Beginn der interstellaren Raumfahrt war es nahezu unmöglich gewesen, sich der Allgegenwart der Technik zu entziehen, doch nun, im Zeitalter des Hiromata-Nullzeitantriebs, war dies anders.

Die Gruppe der sogenannten „Greener“ waren keineswegs Sektierer, welche Technik mit fanatischem Eifer verurteilten, doch sie wollten ein Leben führen, in dem sie selbst bestimmten, wie viel Technik sie zuließen. John Winkler, Begründer der Greener-Bewegung, konnte ein paar hundert Menschen für seine Idee begeistern, eine eigene Welt zu finden und zu besiedeln. Immer mehr bewohnbare Planeten und Monde wurden beim Direktorat registriert und den Greenern gelang es, die Rechte an einer kleinen erdähnlichen Welt zu erhalten. Man konnte nicht genug Geld aufbringen, um ein richtiges Kolonistenschiff zu erwerben, daher mieteten die Greener eines der für Nullzeit ausgerüsteten FLVs, die im Privatbesitz waren und die als Shuttles zwischen den Sternen hin und her eilten. Die „Fast Landing Vehicles“ waren für die Sky-Navy und ihre Sky-Trooper als schnelle Landungsboote entwickelt worden. Inzwischen waren viele aus dem Dienst ausgemustert und für zivile Zwecke umgerüstet worden. Eines dieser fünfzig Meter langen Raumboote brachte die Greener zu ihrer neuen Welt. Zwanzig Flüge waren erforderlich, um die neuen Kolonisten, ihre Ausrüstung und ihre Vorräte, auf die Oberfläche zu bringen. Mit dem letzten Pendelflug verschwand das FLV am Himmel und würde für lange Zeit das letzte Raumfahrzeug sein, welches die Greener zu Gesicht bekamen.

John Winkler und seine Gemeinschaft tauften ihre Welt auf den naheliegenden Namen „Greenland“ und die Stadt, die sie hier gründeten, „Sanktum“. Für sie alle sollte dies der Neubeginn einer selbstbestimmten Existenz sein, in der sie mit der Natur und nicht gegen sie leben würden.

Es war das sechste Jahr der Besiedelung und Farmer Bernd Rau ging mit langsamen Schritten zwischen den Furchen seines Ackers entlang. Er gehörte zu jenen Kolonisten, die etwas vom Ackerbau verstanden. Der Ursprung seiner Familie lag im ehemaligen Nationalstaat Europa auf der alten Erde, die man aufgrund der Umweltzerstörungen hatte verlassen müssen. Inzwischen erholte sich der geschundene Planet, aber die Menschheit fand ihre neue Heimat auf dem Mars und in fernen Sternensystemen. Es gab keine Bestrebungen die Erde erneut zu besiedeln. Doch das Wissen von der alten Erde war erhalten geblieben, vor allem in der Familie von Bernd Rau, dessen Vorfahren bis zuletzt die „Früchte der Erde“ aus den Krumen der Äcker geholt hatten. Aus Böden, die längst ausgelaugt waren und kaum noch Ertrag brachten.

Der Boden auf Greenland war fruchtbar. Bernd hatte ihn mit seinen eigenen Sinnen geprüft. Die dunkle Erde in der Hand gehalten, sie zwischen den Fingern zerkrümelt, daran gerochen und sie geschmeckt. Es war guter Boden, bestens geeignet um Feldfrüchte zu ziehen.

Die Greener begingen nicht den Fehler planetenfremde Arten einzuführen. Sie lebten die ersten Jahre von ihren mitgebrachten Vorräten und studierten währenddessen die Pflanzen- und Tierwelt der neuen Heimat. Der Planet war von einem Forschungsschiff des Direktorats kartiert und einem Wissenschaftlerteam untersucht worden. Bei dieser Expedition waren keine gefährlichen Krankheitserreger entdeckt worden, aber die Tier- und Pflanzenwelt hielten einige Gefahren bereit. Da jedoch atmosphärische Zusammensetzung und Luftdruck den menschlichen Erfordernissen entsprachen und man keine intelligenten Bewohner entdeckte, gab man den Planeten zur Besiedlung frei.

Die Greener mussten ihre neue Welt nun im Detail erkunden. Notgedrungen beschränkten sie sich zunächst auf einen relativ kleinen Bereich, denn ihre Mittel waren begrenzt. Vor allem galt es festzustellen, welche Pflanzen und Tiere nutzbar oder gefährlich waren. Auch wenn die Anhänger von John Winkler mit der Natur leben und möglichst wenig Technik benutzen wollten, so waren sie doch längst keine Narren. Sie besaßen ein kompaktes Hochleistungslabor, eine Reihe tragbarer Analysegeräte und neben diversen Werkzeugen auch zwei Dutzend wirksamer Waffen.

Die Greener lernten auf die harte Tour, dass die Beeren des Braan-Strauches sehr schmackhaft waren, die Berührung der Blätter hingegen eine üble allergische Reaktion auslöste. Die gefährlich aussehenden Scheck-Bären erwiesen sich als scheu und harmlos, die niedlichen Fellschleicher hingegen als gefährliche und angriffslustige Plage. Als mehrere Kinder von Rudeln angegriffen wurden, warfen die Siedler einen ihrer Grundsätze über Bord und rotteten die Tiere in der Umgebung von Sanktum ohne Erbarmen aus.

Eine dem Rind ähnliche Rasse erwies sich als Glücksfall. Die Tiere besaßen vier schlanke Vorderläufe und ein paar muskulöser Hinterbeine, dazu ein einzelnes Horn auf der Stirn, welches sich in sechs unregelmäßige Enden teilte, an denen man die einzelnen Individuen einer Gruppe gut unterscheiden konnte. Die Herdentiere ließen sich willig domestizieren, waren Lieferanten eines milchähnlichen Saftes, vorzügliche Zug- und Gespanntiere und lieferten, in den seltenen Fällen ihrer Schlachtung, ein vorzügliches Fleisch.

Der Schwerpunkt der Ernährung beruhte jedoch eindeutig auf pflanzlicher Basis und hier stießen die Greener auf ein unerwartetes Problem. Zwar gab es eine ganze Reihe guter Vitaminträger, doch es fehlte dem menschlichen Organismus ein Enzym, um sich diese Vitamine nutzbar zu machen. Das Labor lieferte ein Nahrungsergänzungsmittel, doch das konnte nur eine vorübergehende Lösung sein, denn die Kolonie sollte ja wachsen und die Kapazitäten zur künstlichen Herstellung des Enzyms waren beschränkt.

Bernd Rau hoffte zu der endgültigen Lösung beizutragen. In einer der wöchentlichen Versammlungen, die es in der Stadthalle der Siedlung gab, hatte Doktor Rickles erklärt, dass die Braunbeere das erforderliche Enzym beinhaltete, wenn auch in sehr bescheidenem Ausmaß. Diese Information rief gemischte Gefühle hervor. Erleichterung, dass es eine natürliche Quelle des Enzyms gab und zugleich Enttäuschung, denn ausgerechnet die Braunbeere hatte einen ausgeprägt widerlichen Geschmack.

Bernd hatte sich der ältesten Methode der Genmanipulation erinnert, die so viele Jahrhunderte auf der Erde praktiziert wurde: Das Pfropfen. Dabei wurde der Stamm einer Pflanze eingekerbt und der Trieb einer anderen an jene Stelle eingefügt, in der Hoffung, das beides miteinander verwuchs und ein Hybrid entstand, der Eigenschaften beider Pflanzen in sich vereinte. Auf der Erde waren so zahllose Obst- und Kartoffelsorten entstanden.

Bernd hatte vor zwei Jahren die Triebe von Braunbeeren mit jener Kartoffelsorte kombiniert, die auf Greenland heimisch war. Im vergangenen Jahr brachte er die erste kleine Ernte ein. Die von ihm benannte „Bertoffel“ war kein Genuss, löste beim Essen aber wenigstens keinen spontanen Brechreiz aus. Er war somit auf dem richtigen Weg und so hatte er bei der letzten Aussaat eine dritte Pflanze hinzugefügt.

Jetzt stand die diesjährige Ernte unmittelbar bevor und der Farmer inspizierte den Acker, auf dem seine Hoffnung beruhte, mit freudiger Erwartung und zugleich Skepsis. Bernd bückte sich und betastete die kleinen Erhebungen innerhalb einer der Furchen. Die Kolonie brauchte die Vitaminfrucht als wichtige Nahrungsergänzung und er wiederum brauchte die Einnahmen aus dem Verkauf. Vor einigen Tagen hatte er ein paar der ersten reifen Exemplare an das Labor der Stadt geschickt und rechnete jederzeit mit den Ergebnissen.

Er richtete sich seufzend auf und warf einen Rundblick über seine kleine Farm, die ein Stück außerhalb von Sanktum lag.

John Winkler hatte eine fast zweihundert Kilometer durchmessende Ebene zur Gründung von Sanktum ausgewählt. Es gab zwei große Flüsse und mehrere Bachläufe, ausgedehnte Wälder und weite Ebenen, die sich für Ackerbau und Viehzucht eigneten. Vor allem jedoch gab es ein ringförmiges Gebirge, mit nur wenigen Schluchten und Pässen, die eine Verbindung zum Rest des Planeten herstellten. Wahrscheinlich lag die Siedlung inmitten eines Vulkankraters, der vor Millionen von Jahren entstanden und inzwischen aufgefüllt war. Ein natürlicher Wall und Schutz, denn noch wusste man nicht genau, welche Gefahren die neue Welt zu bieten hatte. Die Stadt lag in der Nähe des westlichen Gebirgsrandes.

Bernd Rau hatte die Farm rund zwanzig Kilometer westlich von Sanktum angelegt. An einem ganz sanft ansteigenden Hang, der fast den gesamten Tag über Sonne garantierte. Bernd war dankbar für die Wahl der Lage der Stadt, denn mit vulkanischem Boden vermischte Erde war stets besonders fruchtbar.

Die Farm bestand aus dem kleinen Haus für die kleine Familie, einer großen Scheune für die Geräte und einem auf kurzen Säulen stehenden langgestreckten Silo für die eingebrachte Ernte. Wie auf vielen anderen Welten bewährte sich der „Hochbau“ auf Stelzen, der auf Greenland mit gebrannten Ziegeln durchgeführt wurde. Auf diese Weise wurden manche Nager und einige der teilweise faustgroßen Insekten von Greenland daran gehindert, sich an den Erträgen der Farm gütlich zu tun. Einen weiteren Schutz vor Schädlingen boten ausgerechnet die Beeren des Braan-Strauches oder vielmehr deren Saft. Vermied man den direkten Kontakt mit den allergieauslösenden Früchten und verrieb ihren Saft an den Ziegeln der stützenden Unterbauten, so wirkte dieser offensichtlich abschreckend.

Die Gebäude auf Greenland standen allesamt auf diesen kurzen Stützen und verfügten daher über keine Kellerräume. Auf den Ziegeln lag eine Platte aus Plas-Beton, über welcher dann der eigentliche Bau aus Holz errichtet war. Die einzigen Bauwerke mit Räumen zu ebener Erde waren bislang die Rettungs- und die Polizei-Wache der Constables. Vielleicht würde sich dies ändern, wenn man eine zuverlässige Abschreckung für alle Schädlinge entdeckt hatte.

Bernd Rau hatte, wie alle Siedler auf Greenland, großzügig und für die Zukunft geplant. Die Kolonie sollte wachsen und musste dies auch, sollte sie überlebensfähig sein. Knapp eintausend Menschen waren auf dem Planeten gelandet und innerhalb von nur fünf Jahren war ihre Zahl auf fünfzehnhundert angewachsen. Einige der Frauen waren schon während der Ankunft schwanger gewesen, doch die weiblichen Siedler waren, gegenüber den männlichen, noch immer deutlich in der Unterzahl. Die Gemeinschaft war sich daher früh darüber im Klaren gewesen, dass für die nähere Zukunft nur die Drei-Ehe in Frage kam. Die meisten Frauen hatten daher einen Erst- und Zweit-Ehemann. Bernd war der Erst-Ehemann seiner Frau Kara und daher im besonderen Maße für sie verantwortlich. Er genoss das Privileg sie als seine Frau bezeichnen zu können und den Alltag mit ihr zu verbringen, womit er dafür Sorge tragen musste, dass sie und ihre Kinder ein Zuhause und eine gute Versorgung besaßen. Bernd und Kara hatten einen gemeinsamen Sohn, Jake, und Kara war erneut schwanger, diesmal allerdings mit dem Kind des Zweit-Ehemannes Raul. Entsprechend war das Haus für künftige Kinder geplant und diesen das gesamte Dachgeschoss vorbehalten.

Die drei Gebäude standen im offenen Geviert, die Öffnung dem Tal und der Stadt zugewandt. Man konnte Sanktum nicht direkt sehen, da ein Waldstück dazwischen lag, aber jenseits der Bäume stiegen an einigen Stellen dünne Rauchfahnen empor. Viele Siedler kochten und heizten noch mit Holz, da es derzeit noch nicht genug Solar- und Windkraftanlagen gab. Die beiden Getreidemühlen am Ufer des kleinen Flusses, der an Sanktum vorbei floss, nutzten hingegen die Wasserkraft und speisten den überzähligen Strom in das Netz der Siedlung.

Bernd störte es nicht, dass Kara das Kind eines anderen Mannes unter dem Herzen trug. Es war eine absolute Notwendigkeit, denn ohne genetische Vielfalt würde es in der Kolonie rasch zu degenerativen Problemen kommen. Die Greenlander verfügten daher zusätzlich über eine genetische Bank mit einigen zehntausend Samenspenden, auf die man gegebenenfalls zurückgreifen konnte. Die meisten besaßen jedoch eine gewisse Affinität gegenüber künstlicher Befruchtung und bevorzugten, wohl auch aus gewissen angenehmeren Gründen, die natürliche Zeugung. Da die Gemeinschaft die Regeln hierfür schon auf dem Mars festgelegt hatte, gab es bislang keinerlei Unstimmigkeiten.

Der Farmer sah zur Veranda des Hauses hinüber. Kara, deren Bauch sich schon sichtlich rundete, hing dort Wäsche auf. Der siebzehnjährige Jake machte Handreichungen und wirkte ein wenig genervt. Bernd wusste dass sein Sohn sich mit einigen Freunden treffen wollte, doch die Arbeit auf der Farm und die Hausarbeit gingen vor. Wie ungeduldig Jake war, erkannte Bernd an der Tatsache, dass er seinen Gehgürtel bereits umgeschnallt hatte.

Kein Greenlander verließ das Haus ohne diesen breiten Gürtel, an dem sich ein Erste-Hilfe-Set, ein einfaches Funksprechgerät und eine nicht tödliche E-Pistole befanden. Letztere verschoss mit Hilfe von Luftdruck elektrisch geladene Kugeln. Die Elektro-Pistole benötigte einige wenige Sekunden um die Ladung aufzubauen. Versagte sie ihren Dient, dann blieb nur die Hoffnung, rechtzeitig ein schützendes Gebäude zu erreichen. In der Regel genügten sie, um die wenigen Raubtiere zu vertreiben, aber es hatte auch drei tödliche Angriffe gegeben. In solchen Fällen rückten die Jäcker und die Constabler der kleinen Polizeiwache aus, denn hatte ein Raubtier einmal begriffen, wie leicht sich ein Mensch töten ließ, dann wurde es zu einer großen Gefahr.

Insgesamt waren die Greenlander bislang glimpflich davongekommen. Krankheiten, Raubtiere und Unfälle hatten in den vergangenen fünf Jahren zu insgesamt siebenundfünfzig Todesopfern geführt. Jeder Einzelne war ein Verlust, aber die Eroberung einer neuen Welt verlief niemals ohne Opfer.

Bernd Rau gönnte sich die Zeit, Kara und Jake ein paar Minuten zu beobachten. Die letzten Jahre waren natürlich nicht leicht gewesen, aber keiner von ihnen hatte es bislang bereut, den Mars verlassen zu haben. Bernd war der festen Überzeugung, dass die moderne Technik die Gesellschaft entmenschlichte. In Mars-Central kannte doch kaum jemand seinen Nachbarn. Hier, auf Greenland, war das anders. Allerdings mochte sich das ändern wenn die Kolonie wuchs und immer mehr Menschen in ihr lebten. Irgendwann wurde man in jeder Masse anonym. Doch bis dahin würde es noch viele Jahrzehnte dauern. Auf Greenland kannte man sich und half sich gegenseitig. Morgen würden ein paar Siedler kommen und Bernd bei der Ernte helfen, ebenso wie er ihnen zur Hand ging, wenn ihre Felder so weit waren.

Bernd sah wie sein Sohn ans Funkgerät langte und ein kurzes Gespräch führte. Dann blickte Jake zu ihm herüber. „Bernd!“

Bernd Rau seufzte. Es war eine Folge der Familienpolitik auf Greenland, dass ein Kind seinen Vater niemals Vater nannte. Jedes Kind hatte nur eine Mutter, jedoch gleich mehrere Väter, um keinen der Ehemänner zu diskriminieren. Bernd mochte die Notwendigkeit akzeptieren, doch ein traditioneller Teil seiner Seele empfand einen leichten Schmerz, dass er für seinen leiblichen Sohn stets nur „Bernd“ sein würde. „Was gibt es, Jake? Probleme?“

Jeder Siedler besaß diese einfachen Funkgeräte, die nur zur Sprachübermittlung geeignet waren. Die Gemeinschaft hatte sich für ihre Anschaffung entschieden, da sie preiswert, robust und leicht zu reparieren waren. Die hochtechnischen Ressourcen in Sanktum waren knapp und nur wenigen vorbehalten.

Jake kam die Stufen der Veranda herab. „Frederic hat angerufen. Er hat einen Scheck-Bären in seiner Obstplantage. Einen alten Einzelgänger. Eine Pflückerin wurde angegriffen und schwer verletzt. Die Constables und Jäger sind schon auf dem Weg. Wir sollen die Augen offen halten. Der Bär ist in unsere Richtung gelaufen und er soll verletzt sein.“

„Verdammt.“ Bernds Gedanken überschlugen sich. „Ins Haus, sofort!“, rief er den beiden zu. Er sah dass Jake an seiner Elektro-Pistole fingerte. „Vergiss, die verdammte Pistole, Jake! Ein verletzter Scheck-Bär ist unberechenbar! Verschwindet ins Haus!“

Bernd machte sich selbst auf den Weg. Es waren ja nur ein paar Dutzend Meter. Während seine Frau und sein Sohn zögernd ins Haus traten, beeilte Bernd sich, ebenfalls den Schutz des Gebäudes zu finden. Ein normaler Bär ließ sich durch die Elektro-Kugeln vertreiben, aber ein verletztes Exemplar war etwas völlig anderes. Noch dazu, wenn es sich um einen alten Einzelgänger handelte. Scheck-Bären waren Rudeltiere mit einem Alpha-Männchen. Wurde dieses zu alt, dann wurde es von einem jüngeren Rivalen vertrieben und lebte als Einzelgänger. Er musste dann alleine jagen und manche Beute verstand es durchaus, sich zu wehren. Wurde ein Einzelgänger verletzt, dann wurde er oft bösartig, denn jede Verletzung beeinträchtigte seine Fähigkeiten zur Jagd. Er musste sich dann mit einfacher Beute begnügen. Beute, die nicht so schnell und stark war. Beute, wie den Menschen. Dieser Scheck-Bär hatte schon Menschenblut gekostet und würde sich nicht scheuen, dies erneut zu tun.

Bernd war noch zwanzig Meter von der Veranda entfernt, als der Scheck-Bär um die Ecke des Hauses trottete. Es war ein Prachtexemplar, von der Größe eines Pferdes und sicherlich dem dreifachen Gewicht. Das Tier hielt einen der vier Vorderläufe angewinkelt und scheute sich, die Pfote mit den scharfen Krallen auf den Boden zu setzen. Im hellen Sonnenlicht trat die scharfe Zeichnung des gelb und braun gescheckten Pelzes deutlich hervor.

Der Bär erblickte Bernd und stieß das seltsame Pfeifen aus, welches für seine Art typisch war. Prompt richtete er sich auf die Hinterbeine auf. Das Tier schien unsicher, ob es den Farmer angreifen solle.

Bernd verharrte. Schnelle Bewegungen provozierten die Scheck-Bären zum Angriff. Er leckte sich über die Lippen und sah unschlüssig auf die verlockende Haustür. Sie war halb offen und Jake stand in ihrer Deckung, die Elektro-Pistole bereit, allerdings befand sich das Tier außerhalb seines Blickwinkels.

Jake wusste nicht dass der Bär längst da war und wunderte sich wohl, dass sein Vater nicht ins Haus kam. Mit langsamer Bewegung griff dieser an das Holster an seinem Werkzeuggürtel, öffnete es und zog die eigene Elektro-Pistole. An der Waffe befand sich ein federnd gelagerter Impulsschalter. Ruhte die Waffe im Holster, war dieser Schalter gedrückt. Nun federte er nach Außen und die Waffe begann sofort aufzuladen. Innerhalb von knapp vier Sekunden stand die Kugel in der Kammer unter Spannung.

Bernd war unschlüssig. Die Pistole war bereit, doch wenn die Kugel den Bären nicht erschreckte oder betäubte, dann würde ihn das riesige Tier ohne weiteres Zögern attackieren.

„Was ist los, Bernd?“

Die Frage seines Sohnes gab den Ausschlag.

Der Scheck-Bär ließ sich nach vorne fallen, landete auf seinen Vorderpfoten und griff an.

In diesem Augenblick hätte der Farmer lieber eine moderne Militärwaffe verfügbar gehabt, deren Hochrasanz-Projektile den Angreifer bereits aufgrund der Schockwirkung getötet hätten aber Militärwaffen erhielten nicht einmal die Constables. Das Elektroprojektil verließ die Waffe und Jake reagierte blitzartig, als der Bär so unvermittelt in seinem Gesichtsfeld erschien. Beide Kugeln trafen und gaben ihre Ladung ab.

Das Tier knickte ein, rutschte auf dem Bauch, drehte sich dabei leicht und überschlug sich.

Bernd wartete gar nicht erst ab, ob es auch liegen blieb, sondern rannte zur Veranda, die Stufen hinauf und keuchend durch die Tür, die Jake ihm freigab. Sein Sohn warf sie ins Schloss und klappte den Sperrriegel vor, der von Rahmen zu Rahmen reichte.

„Grundgütiger“, ächzte Bernd und lehnte sich an das massive Holz. „Das war knapp.“

Kara sah ihn mit großen Augen an. Ihre Stimme zitterte unmerklich. „Bist du verletzt?“

Er schüttelte den Kopf. „Alles in Ordnung, Liebling.“ Er warf einen Blick zu Jake, der ans Fenster getreten war und hinaus spähte. „Und?“

„Er läuft weg“, berichtete der Sohn. „Oh Mann, der hat zwei Ladungen abbekommen und rennt davon. Den hätten wir auch mit drei oder vier Kugeln nicht erledigt. Was für ein Monstrum.“

„Ja, ein zäher alter Bursche.“ Trotz des Schreckens schwang Bewunderung in Bernds Stimme mit. „Eigentlich hätte er es verdient, zu überleben, denn wir sind Eindringlinge in seinem Revier.“

Jake liebte die Natur und verstand ihre Zusammenhänge, doch er sah es weit pragmatischer, als sein Vater. „Jetzt ist es unser Revier. So ist die Natur nun einmal. Der Schwächere muss dem Stärkeren weichen.“

„Das entschuldigt keine Gewalt“, hielt Bernd dagegen.

Jake grinste. „Keine sinnlose Gewalt, ja. Aber hier geht es ums Überleben. Town-Mayor Winkler sagt doch auch, dass das Alte weichen muss, wenn das Neue Raum zum Überleben braucht.“

Bernd wollte etwas erwidern, doch von draußen drang das auf und ab schwellende Heulen der Sirene eines Polizeifahrzeuges herein. Sie beide öffneten die Tür und traten mit Kara auf die Veranda hinaus. Ein schwarz und weiß lackierter Polizeiturbo fegte mit einer Staubschleppe heran, die von den Turbinen des Luftkissenantriebs hervorgerufen wurde. Auf dem Dach blitzten die typischen roten und blauen Warnlichter des Polizeidienstes der Kolonie. Ein Stück hinter dem Turbo waren Schemen im Staub zu erkennen, die dem Fahrzeug folgten.

Mit leisem Brummen der Turbinen kam das Fahrzeug zum Stehen. Vier Männer in Zivil stiegen aus, an deren Hemden die goldenen Abzeichen der Constables blinkten.

„Hallo, Bernd, wir suchen…“, begann Chief-Constable Dieter Wasmann und wurde auch schon von Jake unterbrochen, der mit dem Arm deutete. „Da lang, Chief.“

Wasmann nickte und gab seinen Männern einen Wink, die wieder in den Wagen stiegen. Die Turbinen heulten kurz auf und das Fahrzeug schoss davon. Es war schneller als der Scheck-Bär und seinen Sensoren und Scannern würde das Tier nicht entgehen.

Der Polizei-Turbo gehörte zu den wenigen modernen Fahrzeugen auf Greenland, die den Ordnungshütern und dem Rettungswesen vorbehalten waren.

Aus dem Staub tauchten Frederic Solmes und seine erwachsene Tochter auf, die auf zwei gezähmten Rindern ritten. Beide zügelten ihre Tiere vor den Raus.

„Er war hier, nicht wahr?“ Vater und Tochter schwangen sich aus den Sätteln. „Ihr habt Glück gehabt. Der Bursche hat sich bei uns zwei Kugeln eingefangen und Jenny trotzdem erwischt. Die Ambulanz hat sie in die Klinik gebracht, aber es sieht schlimm aus.“

„Chief Wasmann wird das Biest erwischen“, meinte Jake im Brustton der Überzeugung.

Solmes nickte. „Das wird er. Der ist genau so ein zäher alter Knochen, wie dieser Bär.“

„Hallo, Jake.“ Piedra strahlte Jake an. „Ich könnte was zu trinken vertragen. Wir haben den Staub vom alten Wasmann schlucken müssen.“

„Etwas mehr Respekt, Liebes“, knurrte Frederic. „Du redest hier immerhin von der einzigen Ordnungsmacht auf Greenland. Na ja, vom Town-Mayor vielleicht abgesehen.“

„Ach, hab dich nicht so, Frederic“, warf Piedra ein. „Wir sind nach Greenland gekommen, weil wir hier frei leben und frei reden können.“

„Das kannst du auch, Pie, aber das bedeutet nicht, dass man es an Respekt fehlen lassen darf. Ohne Respekt und Ordnung entsteht Chaos.“

Jake grinste Piedra an. Dass er etwas für sie empfand war schwerlich zu übersehen. „Wenn wir mit der Natur leben wollen, dann müssen wir uns ans Chaos gewöhnen.“

„Unsinn.“ Bernd schob die Elektro-Pistole ins Holster zurück. „In der Natur hat alles seine Ordnung.“

„Ja, die Großen fressen die Kleinen“, wiederholte Jake im Kern jene Aussage, mit welcher er bereits zuvor den Unmut seines Vaters hervorgerufen hatte. „Ist ja auch eine Art von Ordnung.“

Piedra lachte auf. „Wenn die Großen sterben, werden sie dafür von den ganz Kleinen gefressen.“

„Die Grundsätze unserer Gemeinschaft sagen klar aus, dass wir so wenig wie möglich in das Leben dieses Planeten eingreifen“, dozierte Bernd mit wachsendem Ärger.

Frederic klopfte gegen das Holster an seinem Gürtel. „Eins kann ich dir jedenfalls sagen, Bernd, diese verdammten Scheck-Bären gehören nicht in mein Bild von Ordnung. Ich werde mir etwas besorgen, mit dem ich diese Biester erledigen kann. Verflucht, du hättest sehen sollen, wie Jenny zugerichtet ist. Das werde ich nicht nochmals zulassen.“

„Du bist wegen Jenny erzürnt, sonst würdest du nicht so reden“, versuchte Bernd zu beschwichtigen. „Zudem kannst du dir auf Greenland keine tödlichen Waffen besorgen. Die wenigen, die wir haben, sind alle in festen Händen.“

„Aber ich kann mir eine bauen“, knurrte Bernds Nachbar. „Notfalls Pfeil und Bogen.“

Jake runzelte die Stirn. „Was ist das?“

„Eine historische Waffe von der Erde“, erklärte Frederic. „Die Leute, die sie benutzt haben, hießen Inder oder so ähnlich.“

„Hört auf zu streiten.“ Kara schob sich mit einem betont freundlichen Lächeln zwischen sie. „Piedra hat recht, ihr solltet euch nach dem Schreck mit dem Bären erst einmal erfrischen. Runold hat gestern Obst gebracht und ich habe frischen Saft gepresst.“

„Das hört sich gut an“, räumte Frederic ein. „Ich denke, gegen eine Erfrischung ist nichts einzuwenden. Ach, ich hätte es fast vergessen, Bernd. Ich war heute Vormittag in der Stadt und Doktor Rickles hat mir etwas für dich mitgegeben. Irgendeine Analyse, sagte er.“

„Oh. Darauf warte ich schon dringend“, erwiderte Bernd erfreut.

„Geht es um deine Ernte?“, erkundigte sich Frederic neugierig.

„Ja, um meine Bertoffeln“, gab Bernd zu.

Frederic nippte an dem Saft, den Kara ihm reichte. „Ein wirklich merkwürdiger Name. Ich hoffe, die Analyse von Doc Rickles klingt da besser. Na komm schon, lass sehen.“

Bernd Rau nahm den winzigen Datenträger entgegen und ging zu einer Kommode, auf der sein Analysegerät lag. Augenblicke später erschienen die Ergebnisse auf dem kleinen Monitor.

Frederic blickte ihm über die Schulter. „Verdammt, Bernd, ich glaube, du hast das Ei des Galileo gefunden.“

„Gali… Wer?“, hakte Jake nach.

„Irgendein Seefahrer von der alten Erde“, erläuterte Frederic ein wenig geistesabwesend. „Hat, glaube ich, den Mond erkundet und dabei entdeckt, dass die Erde keine perfekte Kugel ist.“ Er schlug Bernd auf die Schulter. „Geht halt nichts über eine gute Bildung, alter Freund.“

„Frederic interessiert sich sehr für Erdkunde“, meinte Piedra lächelnd. „Also, dieses historische Zeugs von der alten Erde.“

Bernd ignorierte sie und legte stattdessen den freien Arm um Kara. „Liebes, die Analyse von Doktor Rickles ist… Grundgütiger, wenn die Daten stimmen, und Rickles ist ein verdammt fähiger Wissenschaftler und Arzt, dann haben wir es tatsächlich geschafft. Die Bertoffel enthält eine hohe Menge des wichtigen Enzyms und dazu jede Menge Mineralstoffe und Vitamine. Der alte John Winkler wird verrückt vor Freude, wenn er davon hört.“

„Hat ihm der gute Doc bestimmt schon brühwarm erzählt“, lachte Frederic auf. „Jetzt will ich nur hoffen, dass deine Bertoffel auch genießbar ist.“

„Ein paar haben wir schon geerntet“, meinte Kara. „Wisst ihr was? Ich bereite sie zu und dann kosten wir sie alle.“

Frederic schlug Bernd nochmals begeistert auf die Schulter. „Du bist ein Glückspilz. Hast genau den richtigen Zeitpunkt erwischt.“

„Inwiefern?“

„In drei Tagen landet der Ehrenwerte Hopkins auf dem Raumhafen von Sanktum. Du weißt ja, der Freihändler kommt einmal im Jahr vorbei, um zu sehen, ob wir etwas für den Handel zu bieten haben. Deine Bertoffel könnte der erste Exportschlager von Greenland werden.“

Sky-Navy 06 - Der letzte Pirat

Подняться наверх