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ADRENALIN!

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„Was mache ich hier nur?“, frage ich mich, während ich auf meinen Fingernägel kaue. Ich stehe an einem Abhang und schaue hinunter. Hinunter auf ein verschlungenes Asphaltband, das sich wirr auf kleinstmöglicher Fläche zu einem Rundkurs windet. Auf das Asphaltband zu starren, macht nur deshalb Sinn, weil sich dort unten 22 Rennkarts in einer Doppelreihe, Stoßstange an Stoßstange, unaufhaltsam in Richtung Startlinie bewegen. Wie eine Schlange, die sich an ihr Opfer anschleicht, so fahren die Karts im gemäßigten Tempo die Windungen der Strecke entlang, um dann nach der Startfreigabe loszuschnellen. Ebenso wie es eine Schlange macht, wenn sie zuschlägt.

Ich stehe hier, weil im Kart auf Startplatz 11, also in dem sechsten Fahrzeug der linken Reihe, mein Sohn Maik sitzt. Meiner Meinung nach sticht er sogar etwas hervor, in seinem giftgrün-schwarzen Kart. Selbst der hohe Sicherheitssitz, der deutlich über seinen Helm herausragt, hat das auffallende Grün seines Unterstützers „Radikal-Bords“.

So stehe ich hier oben und die Anspannung ist inzwischen unerträglich. Vier meiner Fingernägel haben schon ihren Widerstand aufgegeben und liegen ausgespuckt im Gras vor mir. Zwei Kurven trennen die Meute noch von der Startlinie, an der sie der Rennleiter Tom Ferrero mit der Deutschlandflagge erwartet. Sobald Tom die Formation als ordentlich eingehalten beurteilt, wird er das Rennen freigeben, indem er die Flagge schwenkt. In diesem Moment wird die Adrenalinausschüttung in meinem Körper sämtliche Limits sprengen.

Ich hab ja schon mal darüber nachgedacht, mir im Moment des Starts eine Blutprobe entnehmen zu lassen, um eine Blaupause für die Gewinnung einer Wunderdroge zu haben. Aber zum einen habe ich als Polizeibeamter keine Motivation, die Drogenszene zu unterstützen, obwohl mir dieser Weg eventuell so manche Ermittlung erleichtern könnte. Zum anderen bin ich mir zu tausend Prozent sicher, dass ich in diesem Moment der Anspannung nicht einen Tropfen Blut geben würde.

Wer ich bin? Entschuldigen Sie, ich vergaß, mich vorzustellen. Mein Name ist Dieter Schlempert, Kripohauptkommissar, der, tja, eigentlich der Regionalleitung in Neustadt an der Weinstraße zugehört, aber als Gruppenleiter habe ich mein Büro in Landau in der Pfalz. Eine Rationalisierungsmaßnahme der Landesregierung hat die gesamte Abteilung nach Neustadt verlegt. Als man feststellte, dass wegen der Reaktionszeit und der erforderlichen Ortskenntnisse doch ein Minimalteam in Landau vonnöten ist, wurde ich kurzerhand mit meinem Kollegen Timo Gebauer in ein Büro unterm Dach der Polizeiinspektion Landau befördert.

Zur Verstärkung wurde mir noch eine Kollegin vom Morddezernat in Karlsruhe zur Seite gestellt. Dass ich Gruppenleiter und nicht Abteilungsleiter bin, hat wohl den Hintergrund, dass Abteilungsleiter besser bezahlt sind, was mir eigentlich weniger ausmacht, aber meiner Frau Natalie ein ordentlicher Dorn im Auge ist. Ich versichere ihr auch fortwährend, dass ich mich darum kümmere, wenn es sich ergibt. So etwas an zusätzlichem Barvermögen würde ja auch mich nicht stören, wenn da das Gespräch mit dem Vorgesetzten nicht wäre. Da jedoch diese Abteilung erst seit wenigen Wochen besteht, konnte ich ihr bisher auch glaubhaft zusichern, dass sich eben noch keine Gelegenheit ergeben hat.

Höchste Zeit, wieder nach meinem Sohn zu schauen … Das Feld biegt in die letzte Kurve vor der Startlinie ein und der schnellste vom Zeittraining, der Poolsetter, zieht das Tempo an. Was ist mit Maik? Er hat anscheinend nicht mitbekommen, dass das Feld am Beschleunigen ist, und verliert den Kontakt zum Vordermann. In diesem Moment schwenkt Tom Ferrero die Flagge und gibt das Rennen frei.

Mir bleibt nichts anderes übrig, als zuzuschauen, wie mein Sohn drei, nein, sogar vier Plätze verliert. Na, das kann ja heiter werden! Da haben wir geglaubt, durch Veränderungen am Kart, insbesondere durch die Anpassung der Spurweite der Hinterachse, noch etwas Speed herauszuholen. Maik sagte noch, als er in die Startaufstellung fuhr, er sei sich sicher, dass heute ein Platz unter den ersten fünf möglich sei, jetzt aber muss er schauen, dass er vom fünfzehnten Platz einen Weg nach vorne findet.

In solch einer Anspannung hab ich schon ab und an Angst, die Kontrolle über meine Körperfunktionen zu verlieren. Auch nun habe ich plötzlich das Gefühl, dass irgendwas in meinem Schritt nicht stimmt. Also, ich meine, dass ich mich seit meiner Kindheit nicht mehr eingenässt habe. Aber neulich konnte ich in einem medizinischen Magazin, das bei uns zu Hause herumlag, schon auf der Titelseite lesen, dass Inkontinenz bei Männern in meinem Alter ein gängiges Problem sei. Wenn ich mich recht erinnere, war in diesem Zusammenhang eine Werbeanzeige mit der möglichen Abhilfe gleich mit auf der Seite. Eine – wie soll ich sagen? – Hülle für den besten Freund des Mannes aus demselben Material, aus dem auch Babywindeln hergestellt werden. Ich habe mir vorgestellt, als ich das gelesen hab, dass ich damit sicher aussehen würde wie Mick Jagger in seinen besten Jahren, als er nur mit einer Banane in der Hose auf die Bühne ging.

Und nun habe ich das Gefühl, dass da was nicht stimmt! Da ist es wieder, das komische Gefühl. Aber es fühlt sich weder feucht noch warm an. Eher wie ein Kitzeln oder ein Vibrieren. Sicherheitshalber beuge ich mich nach vorn, um doch mal meine Hose zu kontrollieren, bevor ich mich zum Gespött der Rennstrecke mache.

Jetzt, wo ich kopfüber so dastehe und sicher reichlich albern aussehe, höre ich auch noch Geräusche. Nichts Unharmonisches oder gar Erschreckendes. Eher eine Melodie wie der Klingelton meines Handys.

Okay! Jetzt hab ich das Gefühl, mich reichlich albern verhalten zu haben. Erst deute ich den Vibrationsalarm von meinem Telefon als Inkontinenz und dann halte ich den Klingelton für Stimmen aus dem Jenseits.

Jetzt aber erst mal schnell das moderne Telekommunikationsgerät aus der Hosentasche, es macht sich ja schon ne Weile bemerkbar. Im Display sehe ich, dass es mein Kollege Timo ist. Ausgerechnet Timo, der doch weiß, dass ich das Wochenende mit Maik auf der Kartrennstrecke im hessischen Schaafheim bin.

Unfreundlich begrüße ich den jungen Polizisten: „Mensch Timo, du weißt doch, dass ich an der Strecke bin und Maik ist gerade am Fahren.“

„Klar weiß ich das“, entgegnet er mir, „aber was ich dir zu sagen habe, ist äußerst wichtig und duldet leider keinen Aufschub.“

„Na toll!“, fällt mir da nur ein. „Ist auf der Dienststelle die Toilette verstopft? Oder habt ihr keinen Kaffee mehr? Ihr solltet doch auch mal einen Tag ohne mich zurechtkommen.“ Jetzt, wo ich Dampf abgelassen hab, überlasse ich Timo das Wort.

„Bei deinem Freund Mayer wurde eine Leiche gefunden.“

„Wie – beim Gusti? Wie? Wo?“

„Wie? Mausetot natürlich. Und wo? Im Zentrallager in Hauenstein in der Industriestraße …“

„Die Adresse weiß ich, Timo!“ Hält der mich denn für blöd? „Ich kümmere mich hier um alles und melde mich so schnell es geht bei dir. Fahr bitte gleich hin und pass auf, dass keiner Scheiße baut. Vor allem, dass der Spurensicherung nichts durch die Lappen geht. Tschüss.“

Schon hab ich aufgelegt. Genau im richtigen Moment, denn schon kommt Maik mit seinem waidwunden Kart die Boxengasse entlanggerollt. Schnell renn ich den Hang hinunter zu meinem Sohn.

„Was ist passiert?“, will ich wissen.

„Sag mal, Baba, hast du Tomaten auf den Augen?“ Es muss wohl mein entgeisterter Blick sein, der ihn zum Weitersprechen bringt. „Nachdem ich den Start verpennt hatte, bin ich auf Angriff gefahren und konnte in der ersten Runde gleich wieder einen Platz gutmachen. Beim Angriff auf den Nächsten hat der mich, als ich auf gleicher Höhe war, abgedrängt und mich in die Reifen geschickt. Wie sieht es aus? Kann ich weiterfahren? Du weißt, dass ich erst ab der siebten Runde gewertet werde und wir sind gerade mal in der dritten.“

Langsam bekomm ich die ganzen Informationen der letzten Minuten auf die Reihe und beginne, den Schaden am Rennfahrzeug meines Sohnes zu begutachten. Und der ist leider verheerend.

„Vergiss es. Deine Heckstoßstange ist zur Hälfte abgerissen, dein rechtes Hinterrad ist aufgeschlitzt und dein Radstern ist so weit nach innen verschoben, dass der Reifen am Tank schleift. Das heißt, wir können zusammenpacken. Das schaffen wir auch zum zweiten Lauf in einer Stunde nicht.“

Enttäuscht steigt Maik aus und knallt seine Handschuhe und seinen vorgeschriebenen Rippenschutz in den Sitz. Während er den Schaden an seinem Kart begutachtet, klingelt erneut mein Handy. Dieses Mal ist es mein Freund Gustav.

„Hallo, Gusti!“ Zum Weiterreden komm ich gar nicht.

„Dieter, du musst kommen. Bei uns im Lager liegt ein Toter. Ich fahr auch schon hin. Ich weiß ja gar nicht, was ich tun soll. Kommst du, Dieter? Wo steckst du?“ So aufgelöst hab ich meinen Freund ja noch nie erlebt.

„Ich bin noch mit deinem Schützling in Schaafheim auf der Kartstrecke, aber mein Kollege ist auf dem Weg zu dir. Er heißt Timo Gebauer und kümmert sich um alles, bis ich da bin.“

„Okay“, höre ich aus meinem Handy, „aber komm bitte so schnell du kannst, Dieter.“

„Klar mach ich das“, und mit diesen Worten ist das Gespräch beendet.

Obwohl Maik sehr niedergeschlagen ist, hilft er mir tatkräftig. Zwei Tage lang hat er im Schweiße seines Angesichts Runde für Runde gekämpft, die Abstimmung seines Renngerätes verbessert. Nun steht er mit leeren Händen da.

Und doch schaffen wir es innerhalb einer Stunde, unser Fahrerlager abzubauen und alles zu verpacken. Das Wohnmobil haben wir schon am Morgen reisefertig gemacht, damit wir am Abend nicht zu viel zu tun haben. Aus Erfahrung wissen wir nämlich, dass wir am Ende eines Renntages so erledigt sind, dass wir uns über alles freuen, was wir nicht mehr tun müssen.

Auf der Rückfahrt habe ich nun Zeit, mir ein paar Gedanken zu machen. Auch über Gusti. Er betreibt die Firma Schuhqualität in zweiter Generation, die sich im Laufe der Jahre zu einer ansehnlichen Kette entwickelt hat. Es sollten inzwischen so um die zwanzig Verkaufshäuser sein, die Gusti betreibt. Selbst in Belgien und Luxemburg. Des Weiteren hat Gusti noch eine kleine, aber feine Skateboardmanufaktur, in der in Handarbeit edle Skateboards entstehen. Und genau der Name dieser Firma ziert auch das Renngerät meines Sohnes, weshalb ich Maik auch gerne als seinen Schützling bezeichne.

Wie doch die Zeit vergeht, wenn man in Gedanken versunken ist. Beinahe hätte ich die Abfahrt Landau Süd verpasst. Hier verlasse ich die Autobahn 65, die Ludwigshafen oder besser gesagt die Metropolregion Rhein-Neckar in einem Bogen durch die Südpfalz mit dem badischen Karlsruhe verbindet. Mein Weg führt mich über die B38, vorbei am Segelflugplatz auf dem Ebenberg, in die Stadt Landau. Noch vor dem Bahnübergang in Höhe des Vinzentiuskrankenhauses biege ich links ab, um über die L509 Landau in Richtung Wollmesheim zu verlassen.

Beim Ortsschild, aufgestellt in Höhe einer Großbäckerei, kann ich vor mir das Panorama des Wasgaus sehen. Eigentlich ein unscheinbares Mittelgebirge im Südwesten Deutschlands, aber durch seine Ruinen und Felslandschaften unverwechselbar schön. Auch die Madenburg ist schon deutlich zu sehen. Der Anblick der auf 458 Meter Höhe liegenden Burgruine dient mir stets als Orientierungspunkt, da am Fuße der Burg die B48 zwischen den Bergen verschwindet. Genau da muss ich hin. Dort liegt das verschlafene Dörfchen Waldrohrbach, in dem ich mit meiner Familie lebe.

Fünfzehn Minuten nachdem wir die Stadtgrenzen von Landau verlassen haben, parke ich das Wohnmobil mit Maiks Rennanhänger im Hof unseres alten Bauernhäuschens. Kaum habe ich den Motor abgestellt, sehe ich Natalie, meine Frau, aufgeregt aus der Haustür kommen. „Was ist passiert? Warum seid ihr schon zurück? Ist was mit Maik?“ Bei diesen Worten meiner Frau fällt mir ein, dass ich vor lauter Gedanken an Gusti und den auf mich zukommenden Fall total vergessen habe, sie über den Rennverlauf zu informieren. Klar, dass unsere viel zu frühe Ankunft sie in Angst und Schrecken versetzt.

„Mach dir keine Gedanken, Natsch“, versuche ich sie zu beruhigen. „Maik sitzt im Wohnmobil und wird dir alles vom Rennen erzählen. Nur ich muss leider gleich wieder los. Es gibt eine Leiche.“

Während ich in meinen Dienstwagen steige, sehe ich, dass meine Frau immer noch mit offenem Mund auf der gleichen Stelle steht. In der Gewissheit, dass Maik sie schon aufklären wird, fahre ich hastig vom Hof. Statt meiner Frau ist in meinem Rückspiegel nur noch eine Staubwolke zu erkennen.

Die Schuhleiche

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