Читать книгу Die Schuhleiche - Michael Schlinck - Страница 7
DER TOTE ZWISCHEN SCHUHEN
ОглавлениеKurz darauf biege ich in die Industriestraße in Hauenstein ein. Jetzt heißt es, Geduld zu bewahren. Überall sind Fahrzeuge mit den unterschiedlichsten Kennzeichen bemüht, einen Parkplatz zu finden. Auf den Gehsteigen sind Menschenmassen mit Tüten bepackt unterwegs. Ja, die Industriestraße ist unter dem Namen „Schuhmeile“ weit über die Grenzen Hauensteins bekannt. Ein Gesetz, bei dem es um in alter Tradition hergestellte Ware geht, erlaubt den ansässigen Händlern, ihre Schuhe auch sonntags zu verkaufen.
Nachdem ich mich durch den Trubel im vorderen Teil der Straße gekämpft habe, kann ich im hinteren Bereich die Einsatzfahrzeuge der Schutzpolizei erkennen. Einen Parkplatz zu suchen, hab ich nun echt keine Lust, also stell ich meinen Dienstwagen direkt am Absperrband vor dem Haupteingang ab. Schon kommt ein uniformierter Schutzpolizist energisch auf mich zu. Mich wundert sehr, dass mir der Kollege in keinster Weise bekannt vorkommt. „Hier ist und bleibt heute geschlossen“, bekomm ich zu hören. „Nehmen Sie Ihre Schleuder und fahren Sie weiter.“
Schleuder? Hat der Kollege eben meine Dienstwagen wirklich Schleuder genannt? Ich meine, dass ich lange für meinen Mini gekämpft habe. Er ist ja auch kein gewöhnlicher Mini. Es handelt sich um das limitierte GP Modell, mit 218 PS bei 1.235 Kilogramm Leergewicht, das ist doch eher ein Wolf im Schafspelz als eine Schleuder. Was ich allerdings dem Schutzpolizisten zugutehalten muss, ist, dass in unserer technischen Abteilung mein Wagen auf schäbig getrimmt wurde. Zudem hat er noch ein paar Raffinessen eingebaut bekommen. So ist er einfach wie geschaffen für verdeckte Ermittlungen.
Ich halte, um mir unnötige Erklärungen zu sparen, einfach meinen Dienstausweis in die Luft.
„Entschuldigen Sie, Hauptkommissar Schlempert. Ich wusste nicht …“
„Schon gut.“ Ich habe keine Lust, mir das peinliche Gestottere weiter anzuhören. Allerdings ist mir schon aufgefallen, dass er schnell lesen kann. „Sind Sie neu bei der Schutzpolizei? Sie sind mir nicht bekannt.“ Nun hat doch meine Neugier gesiegt.
„Nein“, bekomme ich postwendend Auskunft, „ich bin schon seit achtzehn Jahren im Dahner Revier tätig.“
Da habe ich meine Antwort. Klar, der Kollege kommt nicht aus Landau. In Dahn gibt es ja auch noch, ähnlich wie in Annweiler, eine kleine Polizeiinspektion, die nur tagsüber besetzt ist.
Endlich kann ich das Gebäude betreten, in dessen großzügigem Eingangsbereich sich zwei hochlehnige Sofas befinden, die als Wartebereich dienen. In einem sitzt mein Freund Gusti. Wie ein Häufchen Elend sieht er aus. In sich zusammengesunken und kreidebleich.
„Mensch, Dieter! Gott sei dank, dass du da bist.“ Na, das ist doch mal eine Begrüßung. „Ich weiß gar nicht, was ich tun soll. Da will man auf ehrlichem Wege Schuhe verkaufen und dann hab ich ne Leiche im Lager.“
„Hallo, Gusti. Beruhige dich erst einmal. Jetzt bin ich ja da. Hol dir einen Kaffee und ich spreche derzeit mit den Kollegen. Okay?“
„Nichts ist okay. Du weißt doch, dass ich die topmoderne Maschine nicht bedienen kann und Personal hab ich ja am Wochenende keins da, somit kann ich die Aufgabe auch nicht delegieren.“ So viel zu den armen reichen Leuten. „Ach ja, deinen Kollegen hab ich mein Büro zur Verfügung gestellt.“
Da das Büro von Gusti gleich das erste auf der linken Seite ist, brauch ich mich quasi nur auf dem Absatz umzudrehen und die Tür zu öffnen, um bei meinen Kollegen Timo und Laura zu sein. An dem großen Besprechungstisch im vorderen Bereich des großzügigen Büros haben sie ihre Unterlagen ausgebreitet, die bis dato hauptsächlich aus Notizen und ein paar Lieferscheinen bestehen.
„Hallo, ihr zwei“, begrüße ich sie kurz. „Bringt ihr mich bitte mit ein paar Worten auf den aktuellen Stand?“
Laura Schmitt, die wir auf der Dienststelle immer Lara nennen, tritt auf mich zu. Lara nennen wir sie deshalb, weil sie eigentlich die zu Fleisch gewordene Lara Croft aus dem bekannten Computerspiel Tomb Raider ist. Genau so kommt sie jetzt geradewegs auf mich zu. Die khakifarbenen Hosen mit dem superbreiten Gürtel, an dem sie ihre überdimensionale Gürteltasche trägt, betonen ihre athletische Figur noch zusätzlich. Unter ihrer offen stehenden Jacke kann man deutlich das Halfter ihrer Dienstwaffe erkennen und ihre blonden, glatten und halblangen Haare, die sie wie immer zu einem Pferdeschwanz gebunden hat, lassen sie sportlich und zugleich streng erscheinen.
„Viel haben wir noch nicht. Der Wachmann, der heute Vormittag seine Runde drehte, hat die Leiche entdeckt und den Lagerleiter und uns verständigt. Die Leiche ist männlich und etwa Anfang fünfzig.“
„Schon identifiziert?“, will ich wissen.
„Nein, noch nicht. Würgemale am Hals deuten auf ein Kapitalverbrechen. Gefunden wurde er in einer Kiste zwischen Schuhkartons, in Folie verpackt auf einer Europalette.“
Da Lara nun ihre Ausführungen beendet hat, beginne ich mit meinen Ermittlungen. „Was sagt der Arzt?“
Nun wird Timo aktiv: „Wie gesagt, Tod durch Ersticken ist naheliegend, was die Hämatome im Halsbereich bestätigen. Die fortgeschrittene Leichenstarre deutet darauf hin, dass unser Opfer schon vor mehr als 36 Stunden von uns gegangen ist. Alles Weitere will er bei der Obduktion feststellen.“
„Okay, und was sagen die Jungs der Spusi?“ Spusi ist unser gängiges Kosewort für die Spurensicherung.
„Also, ein gewaltsames Eindringen in das Lager konnte nicht festgestellt werden. Auch Fingerabdrücke konnten sie nirgends nachweisen.“
„Habt ihr die Anwesenden schon vernommen?“
„Nein, Dieter, damit wollten wir auf dich warten.“
„Okay, dann lassen wir die Leute nicht zu lange warten. Ich werde die Befragung durchführen. Timo, wenn du das Protokoll führst, kann Laura aus der zweiten Reihe das Verhalten der Befragten beobachten.“ Beide nicken zustimmend. Zufrieden mit der Arbeitsteilung frage ich, um die beiden mit einzubeziehen: „Mit wem fangen wir an?“ Einstimmig sind wir der Meinung, zuerst mit dem Wachmann zu sprechen, der die Leiche gefunden hat.
Nachdem ich mich und meine Kollegen kurz vorgestellt habe, beginnt der ältere Mann mit leiser, fast schon piepsiger Stimme zu reden: „Mein Name ist Georg Mayer und ich bin bei der Wach- und Schließgesellschaft Müller in Pirmasens beschäftigt. Gegen 10 : 00 Uhr heute Vormittag kam ich hier in der Firma an, um meinen Routinerundgang durchzuführen.“ Herr Mayer scheint viel Erfahrung beim Berichten zu haben, also werde ich ihn einfach mal reden lassen. „Nachdem ich in den Verwaltungsräumen sämtliche Kontrollpunkte abgescannt hatte, kontrollierte ich den Auszeichnungsbereich und das Lager.“
„War irgendetwas auffällig?“ Jetzt wollte ich doch mal einhaken, damit ich nicht teilnahmslos wirke.
„Nein. Bis dahin war alles wie immer. Beinahe wäre ich auch schon gegangen, wenn ich nicht plötzlich ein leises Piepen aus dem Bereich des Wareneingangs gehört hätte. Ich dachte, dass ein Mitarbeiter sein Handy vergessen hätte und nun der Akku zur Neige ginge. Doch auf dem Schreibtisch beim Wareneingang war keins zu sehen. Aber das Piepen war wieder zu hören, und zwar aus einer der Paletten mit Waren darauf, die gleich hinter dem Wareneingangstor abgestellt sind. Da mir das nun doch sehr ungewöhnlich vorkam, hab ich Herrn Jost verständigt.“
„Wer ist Jost?“, will ich wissen.
Timo hakt gleich ein: „Jochen Jost ist hier der Lagerleiter. Er hat die Schlüsselgewalt und ist auch noch im Haus.“
Diese Antwort von Timo stellt mich vollends zufrieden. „Und wie ging es weiter?“, wende ich mich wieder an Mayer.
„Ich habe dann auf Herrn Jost gewartet und derzeit die Palette identifiziert, aus der das Geräusch gekommen war. Als er dann eingetroffen ist, haben wir entschieden, die Ware auszupacken, um nachzusehen. In einem großen Karton unter den vielen kleinen Schuhkartons machten wir dann die grausige Entdeckung.“
Die Information reicht mir vorerst. Nachdem ich den Wachmann für Montagfrüh in mein Büro bestellt habe, um das Protokoll aufzunehmen, entlasse ich ihn ins Wochenende.
Nun ist Jochen Jost an der Reihe. Er bestätigt die Geschichte von Mayer in jedem Punkt, ich habe aber noch weitere Fragen an ihn: „Wie wurde die Palette angeliefert und woher stammt sie?“
„Die zwölf Paletten beim Wareneingang kamen gestern noch kurz vor Feierabend herein. Ich hatte den Fahrer schon abgewiesen, da wir eigentlich nur bis eine halbe Stunde vor Feierabend annehmen.“
„Wieso haben Sie dennoch die Lieferung angenommen?“
„Ja, das lag daran, dass mir der Fahrer erklärte, er müsse noch bis spät in die Nacht arbeiten, da in ihrer Firma eingebrochen wurde und die Paletten wegen der polizeilichen Ermittlung erst am Nachmittag verladen werden konnten. Also hab ich mich dazu bereit erklärt, die Ware noch schnell in die Halle zu ziehen.“
„Wie ging es dann weiter?“ Dieses Mal ist es Lara, die Jost zum Weitersprechen ermutigt.
„Nichts weiter. Es war schon kurz nach fünf und da ich auch ins Wochenende wollte, hab ich schnell die Alarmanlage aktiviert und fluchtartig das Gelände verlassen.“
Ich muss noch mal nachbohren: „Welche Spedition lieferte die Ware? Und von wo kam sie?“
Jost meint dazu, das sollte ja auf den Frachtpapieren vermerkt sein, die hinten im Lager liegen. „Wenn Sie es wünschen, kann ich sie schnell holen.“
Auf mein Bitten hin läuft Jost gleich los, was mir einen Moment zum Reden mit meinen Mitarbeitern gibt: „Was meint ihr?“
Lara sagt gleich, dass ihr alles absolut glaubwürdig vorkomme und auch in Timos Augen gibt es keinen Anhaltspunkt, der ihn zweifeln lässt. Somit waren wir also alle drei einer Meinung.
Herr Jost kommt mit ein paar losen Blättern zur Tür herein. „Laut Papieren hat uns die Spedition Bock aus Godramstein beliefert und laut Papieren sind die Paletten die letzten Tage in ihrem Lager gewesen.“
Das waren jetzt aber Informationen, die uns auf eine heiße Spur bringen könnten. Schnell bedanke ich mich bei Jost und informiere ihn, dass ich ihn Montagfrüh gerne zur Protokollaufnahme in meinem Büro begrüßen würde. Somit kann er nun auch nach Hause fahren.
Jetzt, wo wir unter uns sind, kann ich meine Mitarbeiter instruieren. Lara beauftrage ich damit, mir schnellstmöglich einen Termin bei der Spedition zu verschaffen, und mit Timo gehe ich in Richtung Lager, um mir selbst ein Bild vom Fundort zu machen.
„Auf, Gusti, machen wir mal ne Betriebsbesichtigung“, fordere ich ihn auf mitzukommen, da er immer noch kaffeefrei auf dem Sofa sitzt.
Wortlos trottet er uns hinterher. Auf unserem Weg kommen wir an weiteren Büros vorbei, die mit Warensteuerung, Buchhaltung und dergleichen beschriftet sind. Nachdem wir durch die große stählerne Brandschutztür gegangen sind, komme ich mir vor, als wäre ich in eine andere Welt getaucht. Nach den angenehm freundlichen Verwaltungsräumen stehen wir nun in einer Riesenhalle mit Hochregalen, die gefühlt bis zum Himmel reichen. Überall Schuhe, Schuhe und noch mal Schuhe. Zielstrebig führt uns Timo quer durch die Halle zu einem Tor, vor dem zwölf Paletten stehen. Elf davon sind noch in Folie eingepackt. Bei der zwölften jedoch ist die Folie zerrissen und um sie stehen lose Schuhkartons.
„Ich denke, dass ich dir den Bereich bis Montagfrüh wieder freigeben kann, damit dein Betriebsablauf nicht weiter gestört wird“, informiere ich den Inhaber.
„Kannst du mir wenigstens sagen, wie ich zu der Leiche gekommen bin, Dieter?“
„Tja, Gusti, wie ich die Sache einschätze, hast du sie frei Haus geliefert bekommen. Was der Grund ist und ob sie überhaupt für dich bestimmt war, heißt es nun herauszufinden. Wir sind hier in ein paar Minuten fertig, dann kannst du auch nach Hause fahren. Allerdings muss ich dich leider bitten, für uns erreichbar zu bleiben für den Fall, dass wir noch einmal in das Gebäude müssen.“
„Komm, Dieter, ich find eh keine Ruhe, ich lade dich zum Essen ein.“
Eigentlich eine gute Idee von ihm, denn erst jetzt fällt mir auf, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr in meinen Magen bekommen habe. Normalerweise verschlägt mir der Anblick einer Leiche für mehrere Tage den Appetit, aber heute blieb mir der Anblick durch mein spätes Eintreffen ja erspart. Der bebilderte Obduktionsbericht würde mir frühestens am Montagnachmittag meinen Hunger rauben. Allerdings hat Natalie sicher auch was vorbereitet und ich würde mich freuen, den Samstagabend mit meiner Familie zu verbringen.
Andererseits weiß Gusti auch immer sehr gute Adressen und scheut keine Kosten, seine Gäste kulinarisch zu verwöhnen.
„Natalie wartet, aber komm doch einfach mit zu uns“, versuche ich meinen Konflikt zu lösen.
„Damit deine Kinder Alpträume bekommen, weil wir beim Essen über ein Mordopfer reden? Nee, Dieter, lass mal. Ich will ja nicht bei deiner Familie in Ungnade fallen.“
Da ist auch was Wahres dran. Also gebe ich mich geschlagen. „Okay, aber wir bleiben in der Nähe, damit ich nicht noch später nach Hause komm.“
„Dann gehen wir doch zum Mario nach Waldrohrbach“, sagt Gusti spontan.
Diese Idee sitzt. Mario mit seiner Familie hat durch sein La Rusticana Waldrohrbach deutlich bekannter gemacht, als es für eine 375-Seelengemeinde üblich ist. Im XXL-Wahn hat Mario der Welt gezeigt, was italienischer Gigantismus ist. Eine normale Pizza wird auf zwei Tellern serviert und ein Beilagensalat reicht als Mahlzeit für meine ganze Familie. Mit einem deutlich vernehmbaren Knurren nimmt mein Magen Gustavs Einladung dankend an.
Beim Verlassen des Gebäudes sehe ich Lara noch telefonierend auf dem Gehweg stehen. Ich gehe auf sie zu, um letzte Informationen mit auf den Weg zu nehmen, kann aber nur noch mithören, wie sich Lara verabschiedet.
Unaufgefordert sprudeln die Informationen aus ihr heraus: „Die Geschäftsleitung der Spedition Bock konnte ich nicht erreichen. Allerdings sprach ich mit der Seniorchefin, die mir sagte, dass spätestens ab Montagfrüh um 7 : 30 Uhr das Büro in Godramstein besetzt ist.“
Auch nicht schlecht. So kann ich vielleicht wenigstens einen freien Sonntag mit meiner Familie verbringen.
„Schau bitte noch, ob der Einbruch, von dem der Fahrer sprach, polizeilich aufgenommen wurde und aktenkundig ist. Wenn ja, dann wäre es schön, wenn du es mir nach Hause an meine private E-Mail-Adresse schicken könntest.“ Lara nickt zustimmend und ich verabschiede meine Kollegen ins Wochenende.
Was nun kommt, hat absoluten Seltenheitswert. Gusti, mit dem ich in unserer Freizeit als Rallyeteam unterwegs bin, fährt in seinem Porsche vor mir her über die ländliche Route nach Waldrohrbach, ganz ohne Geschwindigkeitsübertretungen, ohne Überholmanöver, eben wie ein ganz gewöhnlicher Verkehrsteilnehmer, was mir zeigt, wie ihn die ganze Geschichte mitgenommen hat. Gut, dass ich mir nun doch etwas Zeit für ihn nehme.