Читать книгу Kommissar Schlemperts zweiter Fall: Recht & Unrecht - Michael Schlinck - Страница 10
Dienstag
ОглавлениеDer Weg zur Arbeit macht heute deutlich mehr Freude, was daran liegt, dass ich nach den Tagen im Wohnmobil und in dem alten Streifenkadett endlich wieder in meinem Mini sitze. Das Teil ist schon der Hammer. Der ist es doch wert, meinen ungeliebten Job zu machen. Das Fahren macht mir so viel Freude, dass ich nun einen Umweg über Annweiler in Kauf nehme, um eines meiner Lieblingsteile der B48, die Ebersbach, zu fahren. Und das gleich dreimal, zweimal runter und dazwischen einmal hoch.
So kommt’s, dass ich als Letzter im Büro erscheine. Laura und Timo sitzen schon fleißig an ihren Bildschirmen.
„Moin, Dieter“, begrüßen mich die beiden und Laura fügt hinzu: „Heut ist richtig was zu tun. Es gibt E-Mails aus Frankreich, von der Gerichtsmedizin und von der Spurensicherung.“
Obwohl ich es hasse, am Schreibtisch zu sitzen, fahre ich meinen Rechner hoch und hoffe darauf, den alles entscheidenden Hinweis in den Schriftstücken zu finden.
Meine erste Mail bremst gleich wieder meinen Enthusiasmus. Klar, jedes Wort ist französisch. Zum Glück hab ich ja Laura und durch ihre Hilfe erfahre ich dann, dass unser mutmaßliches Opfer am 07.04.1986 in Venlo, Holland geboren wurde. Mutter Charlotte van de House, geborene Bouchet, französische Staatsbürgerin, verstorben 2002. Vater Jan van de House, verstorben 1989. Da werden uns die Eltern wohl nicht mehr bei der Identifizierung helfen können. Ich beauftrage Lara damit, in Holland zu recherchieren, ob es irgendwo Verwandte gibt, die uns wenigstens bei der Identifizierung helfen können.
Als Nächstes nehme ich mir den Obduktionsbericht vor. Widerwillig schaue ich mir die Fotos vom Leichnam an. Man muss zugestehen, es war ein junger, gut aussehender Bursche, langes, blondes Haar, braun gebrannte Haut. Einzig der ungepflegte Bart passt nicht so zu seinem Gesicht. Sieht eigentlich gar nicht nach Bart aus, eher als würde der Träger eben nur alle paar Monate dazu kommen, sich zu rasieren. Das alles passt ja prima zu meiner Globetrotter-Theorie.
Wieso wird so ein Weltenbummler ausgerechnet in meinem Gebiet ermordet? Zum Mäusemelken ist das.
Auf der nächsten Seite ist dann eine Großaufnahme seines Halses zu sehen, auf dem deutlich ein Hämatom zu erkennen ist, ein Knutschfleck, um es beim Namen zu nennen. Auf den nächsten Seiten ist detailliert sein Intimbereich abgelichtet. Bilder, die ich im Normalfall schnell überblättern würde, wenn da nicht die ganzen Blutergüsse wären, zudem jede Menge Verletzungen und Risse in der Haut. Entweder hat der Mann an einem absolut bizarren Liebesspiel teilgenommen oder es wollte ihm jemand im wahrsten Sinne des Wortes die Eier herausreißen.
Nun lese ich doch gespannt den Text. Im Großen und Ganzen werden meine Eindrücke von den Bildern darin bestätigt. Durch UV-Strahlung gebräunt, Hämatom am Hals durch Saugeinwirkung, Genitalverletzung durch Zugeinwirkung einer Hand. Jetzt wird es aber interessant. In seiner Harnröhre befanden sich noch Spermarückstände. Auch der Hormoncocktail in seinem Blut hat es in sich. Zum einen das Übliche, was jemand im Blut hat, wenn man so dem sicheren Tod entgegenrast, also Adrenalin und so, zum anderen hatte er aber auch Testosteron und Östrogen im Blut und das in hohem Maße, alles eindeutige Anzeichen dafür, dass er noch kurz vor seinem Tod sehr erregenden Verkehr hatte. DNA-Spuren im Intimbereich zeigen an, dass es sich um eine Sexpartnerin gehandelt hat.
Eine Frau kommt wiederum für die Verletzungen kaum infrage. Die Größe der Hand und die Kraft, mit der sie zugefügt wurden, deuten eindeutig auf einen Mann.
Was suchen wir nun? Eine Frau mit dem Oberkörper und den Händen von Arnold Schwarzenegger oder doch einen Mann nach Geschlechtsumwandlung? Sind es am Ende zwei verschiedene Personen? Wenn dem so ist, sind sie dann unabhängig voneinander oder arbeiten sie zusammen? Fragen über Fragen. Mir platzt gleich der Schädel. Am liebsten würde ich Urlaub beantragen.
Jetzt nehme ich mir den Bericht von meinem Freund Martin Schneider zur Brust. Er hat eigentlich zwei Berichte angefertigt, den vom Tatort und den vom Fahrzeug.
Am Tatort war nicht viel zu finden, ein paar Fasern, eine Motorrollerspur, die aber nicht mit dem Fall zusammenhängen muss, und Fußspuren am Startpunkt des Fahrzeugs. Die sind interessant. Einmal Frauenschuhe Größe 37, vermutlich Ballerinas, viele Spuren von unserem Opfer, aber auch welche von Herrensportschuhen, die wesentlich größer sind als die des Opfers. Also handelt es sich tatsächlich um zwei weitere Personen.
Reichlich Urinspuren an einem benachbarten Baum, die vom Opfer stammen, weisen darauf hin, dass er sich dort am See etwas häuslich eingerichtet hatte. Inklusive Freilufttoilette. Luxus pur!
Die Inventarliste des Autos beinhaltet mehr Positionen als die meines Wohnmobils. Wieder ein deutliches Anzeichen für ein Globetrotter-Dasein. Wird uns das weiterbringen? Fehlanzeige! Da wird meine Stimmung auch nicht besser.
Nun rufe ich erst mal den Förster an, weil ich wissen will, ob er den Panda schon mal gesehen hat, was er bejaht, allerdings nicht in den letzten beiden Tagen, an denen er auch nicht am See war. Nein, das war etwa vor einem Vierteljahr, als ihm der Panda mit französischer Nummer schon einmal aufgefallen war.
Aha. Dann muss doch ein Bezug zu unserem Landkreis da gewesen sein. Ich glaube ja nicht, dass er sich nur wegen der Schönheit des Sees des Öfteren zu uns verlaufen hat.
Ich bedanke mich bei Phillip Hubertus und in mir keimt endlich etwas Hoffnung. Wenn es uns gelingt, herauszufinden, was Charles wiederholt hierhergelockt hat, dann haben wir endlich eine Spur. Nun beauftrage ich Timo, sich mit dem am See ansässigen Angelverein und dem Sportverein in Verbindung zu setzen. Irgendwer muss doch den Panda und seinen Insassen gesehen haben.
Sofort setzt sich mein Kollege an seinen Monitor und sucht nach Vorstandsmitgliedern und Telefonnummern.
Zur gleichen Zeit unterbricht Laura ein Telefonat auf Niederländisch, um „Bingo“ auszurufen. Sofort eile ich zur ihr rüber.
Nachdem sie aufgelegt hat, berichtet sie: „Die Großmutter väterlicherseits lebt nach einem Schlaganfall in einem Pflegeheim in Venlo und ist linksseitig gelähmt, aber bei klarem Verstand. Sie kann unser Opfer also identifizieren.“
Richtig! Bingo!
Nach der Hoffnung entwickelt sich sogar so etwas wie Dynamik. Nun ruft auch der Dritte im Bunde „Bingo“.
„Was gibt es, Timo?“, will ich sofort wissen.
„Ich habe den Vorstand des Angelvereins am Telefon“, klärt er uns auf, „und ihm seien der Wagen und sein Insasse nicht unbekannt.“
„Her mit dem Mann“, nun werde ich sogar etwas euphorisch, „ich brauch ihn umgehend hier.“
Timo regelt das direkt und kann den Mann dazu überreden, dass er sich im Laufe der nächsten Stunde hier einfindet.
Nach so vielen guten Nachrichten muss ja doch was Blödes passieren. Etwas, das den in mir aufkommenden Tatendrang wieder bremst. Aber er wird nicht gebremst. Nein, nicht gebremst. Er wird zunichtegemacht, denn es klingelt. Ganz unschuldig ist’s, das Klingeln. Das Display meines Diensttelefons auf meinem Schreibtisch zeigt ein freundliches, neutrales „Nummer unbekannt“.
„Kripo Neustadt an der Weinstraße in Landau, Schlempert!“, sag ich. Keine Ahnung, ob das einen Sinn ergibt. Ist mir auch völlig egal.
„Klappt doch schon viel besser“, vernehme ich meinen Chef aus dem Hörer. „Wir werden das nun noch einmal üben. Tun Sie doch einmal, als würden Sie mich anrufen.“
„Herr Heuler, ich bitte Sie. Wir haben hier einen Arsch voll Arbeit. Da bleibt keine Zeit für Rollenspiele.“
„Papperlapapp“, kommt da von ihm, „da müssen Prioritäten gesetzt werden. Wenn die Basis stimmt, dann lernen wir den Rest. Los, tun Sie, als würden Sie anrufen.“
Einen Moment denke ich daran, einfach aufzulegen, um dann die Leitung zu blockieren. Doch ich muss an Timos Worte denken. Gut, spiele ich eben mit. „Palim palim“, trällere ich in den Hörer.
„Kripo Neustadt an der Weinstraße, Kommissariatsleiter Rüdiger Heuler, Ehrendoktor GGB, einen wunderschönen guten Tag wünsche ich Ihnen, was darf ich für Sie tun?“, meint er allen Ernstes.
Und überhaupt? Was ist ein Ehrendoktor GGB? Bei seiner Intelligenz kann es nur Gegen GeBühr heißen.
Ich antworte dann mal ganz zuckersüß: „Das haben Sie aber schön gesagt. Ich werde es mir zum Beispiel nehmen. Was darf ich denn für Sie tun?“
„Tja, Herr Schlempert, da ich von Ihrer Abteilung erwartungsgemäß noch keinen Bericht erhalten habe, bin ich nun gezwungen, mich selbst um den Informationsfluss zu kümmern.“
Was werfe ich ihm denn nun vor die Füße? Den Mailverkehr hat er selbst auf dem Schirm. Damit kann ich schon mal keinen Eindruck schinden. Ich hab’s: „Wir haben die Großmutter des mutmaßlichen Opfers gefunden und auch noch einen Zeugen ausfindig gemacht, der ihn sogar lebend am See gesehen hat. Der Zeuge wird in den nächsten Minuten hier in der Wache vorstellig werden.“
„Ja prima“, ist der Heuler nun von unserer Arbeit begeistert. „Sofort in die Gerichtsmedizin mit dem Mann.“
„Mit dem Zeugen?“, frage ich verwundert. „Was soll er denn dort?“
„Ja, Schlempert, machen Sie Ihren Job zum ersten Mal? Identifizieren soll er den Toten. Identifizieren, wissen Sie, was das ist?“
Klar weiß ich das. „Und was bitte schön soll er identifizieren? Dass der Tote sich am See aufgehalten hat? Das wissen wir schon. Nur zur Identität wird er uns wohl keine rechtlich verwertbare Aussage machen können. Er hat ihn ja nur gesehen und ist nicht mit ihm aufgewachsen.“
„Gut“, sagt mein Chef dann unverdrossen, „dann schaffen Sie eben die Großmutter bei.“
So langsam kommt er auf die richtige Fährte, doch leider muss ich ihn wieder enttäuschen: „Geht leider nicht. Sie lebt im Heim und ist ein Pflegefall.“
„Ja, haben Sie denn auch einmal eine eigene Idee?“, wird er nun aufbrausend. „Dann müssen Sie eben hinfahren. Mein Gott, Schlempert, ist das denn so schwer?“
Schwer ist das nicht, aber ich hab absolut keine Lust, einen ganzen Tag im Auto zu sitzen, um eine Omi zu besuchen, die ich nicht einmal kenne. „Nein, da mailen wir ein paar Fotos zu den Kollegen in Venlo“, sag ich deshalb, „dann können die das machen.“
„Das kommt überhaupt nicht infrage“, überschlägt sich Heulers Stimme, „dass die am Ende noch die Lorbeeren einheimsen? Das machen schön Sie! Sie persönlich.“
„Aber hier wäre ich doch nützlicher.“
„Hören Sie, das ist doch eine Kleinigkeit für Sie. Sie fahren da morgen hin. Die paar hundert Kilometer sitzen Sie doch auf einer Pobacke ab. Ist doch nur eine Fahrzeit von gut drei Stunden.“
Sagen kann der doch, was er will, ich tu dann auch einfach, was ich will.
„Mensch Schlempert, einfach die A61 bis zum Ende durch und dann nur noch über die Grenze. Schon sind Sie in Venlo.“
Moment! Die A61? Das ist doch die Gelegenheit, in der Dienstzeit meine Familie in Köln zu besuchen. Sogar den Kraftstoff zahlt der Staat.
„Ja, da sind Sie platt, Schlempert“, spricht Heuler weiter, „nicht nur mein kriminalistischer Spürsinn ist legendär, nein, auch mein geografisches Wissen ist unerreicht.“
Ja, ja, googeln kann ich auch, durchs Telefon kann ich sogar hören, wie er auf den Tasten herumhämmert. Aber egal.
„Sehr geehrter Herr Heuler. Ich muss Ihnen zugestehen, dass ich Ihrer Argumentation nichts entgegenzusetzen habe.“ Ich schleime, was das Zeug hält. „Selbstverständlich werde ich mich Ihrer Anweisung fügen.“
Nun hat der Chef sein Erfolgserlebnis, ich meine Ruhe und wir können so unser Gespräch in beidseitigem Glücksgefühl beenden.
„Leute, ich bin morgen im Außendienst“, kläre ich mein Team auf.
„Na prima, und was machen wir so lange?“, will Laura wissen.
„Ihr könnt ja mal unsere bisherigen Ermittlungsergebnisse in einem Bericht erfassen. Zudem wird das Protokoll der Aussage von dem Angelvorstand zu tippen sein.“ Damit sollten sie zu tun haben.
Timo hat trotzdem einen Einwand: „Findest du es richtig, einen ganzen Tag weg zu sein? Jetzt, wo wir langsam in eine heiße Phase kommen?“
„Du meinst doch, ich soll nicht mehr so auf Konfrontation gehen mit unserem Vorgesetzten?“, werfe ich ihm an den Kopf.
„Da hast du schon recht. Aber diese Aktion ist doch komplett für den Allerwertesten“, ist Timo nun auch am Zweifeln.
„Komm, Timo, ist doch nur für einen Tag. Ich lass auch mein Smartphone nicht aus den Augen.“ Damit kann ich den jungen Mann sichtlich beruhigen.
Für weitere Diskussionen haben wir dann auch keine Zeit, da es an unserer Bürotür klopft. Ich öffne und mustere den Mann, der davorsteht. Schlank, circa einsfünfundachtzig groß, schätzungsweise Ende sechzig, markantes Gesicht mit deutlich herausstehenden Wangenknochen, tief sitzenden dunklen Augen mit grauen, buschigen Brauen, blitzblank polierte Schuhe und eine Art Ausgehuniform. Die Körperspannung vorbildlich und die Augen geradeaus. Einzig der Schlapphut mit allen möglichen Angelaccessoires will ganz und gar nicht zu ihm passen. Wer putzt sich schon so heraus, um dann mit Angelhaken, Blinker und kleinen Plastikfischen am Schlapphut strammzustehen?
„Guten Morgen, ich bin Kommissar Schlempert“, stelle ich mich vor.
„Schmitt! Hans Schmitt, Leutnant a. D. und Vorstand der Silzer Angellerchen“, sagt er in einem Tonfall, der mich glauben lässt, beim Militär zu sein.
„Ah, Herr Schmitt. Ich freue mich sehr, dass Sie so schnell Zeit für uns gefunden haben.“ Und dann bitte ich ihn: „Kommen Sie doch mit zu meinem Schreibtisch.“
„Es ist mir eine Ehre, der Zivilgewalt Unterstützung zukommen zu lassen“, sagt er und folgt mir – mit exakt fünfzig Zentimetern Abstand. Bei jedem Schritt kann ich sein Rasierwasser deutlich riechen.
Ich setze mich auf meinen Sessel. Er bleibt neben dem Sessel stehen, der für ihn angedacht ist. Ich bitte ihn, doch Platz zu nehmen. Er bleibt stehen. Es sieht aus, als hätte er einen Stock verschluckt, und sein Blick ist weiter schnurgeradeaus gerichtet. Ich wiederhole meine Bitte, Platz zu nehmen. Er erwidert: „Bitte, stehen zu dürfen.“
Also gut. Des Menschen Wille ist sein Königreich.
So beginne ich mit der Befragung: „Ihnen ist die männliche Person bekannt, die sich am letzten Samstag am See in Silz aufgehalten hat?“
„Korrekt!“
Das kann ja noch heiter werden. Ich rufe an meinem Bildschirm den Obduktionsbericht auf und wähle ein Bild vom Gesicht des Opfers, drehe den Bildschirm und frage: „Hat es sich dabei um diese Person gehandelt?“
Hans Schmitt senkt für einen Augenblick den Kopf, um anschließend wieder schnurgeradeaus zu starren und ein „Korrekt“ auszurufen.
Der macht mich noch verrückt mit seiner Militärnummer. „Nehmen Sie doch Platz“, bitte ich ihn wiederholt. „Das ist doch viel bequemer.“
Ohne dass er sich rührt, vernehme ich ein „Negativ“.
Wie soll man sich denn da konzentrieren? Jetzt beginnt auch noch Laura am Nachbartisch aktiv zu werden. Wieso zieht sie die Jacke aus? Nun kontrolliert sie die beiden Waffen, steht auf, zieht ihren voll bepackten Überlebensgürtel in Position und tritt neben mich.
Wo bin ich eigentlich? Und was will ich hier? Sollte ich tatsächlich mal ein Konzept gehabt haben, so ging es mir in den letzten Sekunden verloren.
„Leutnant Schmitt“, sagt sie in festem Ton, „setzen.“ So kann man doch nicht mit einem Zeugen umgehen. Laura kann.
„Ungerne“, sagt der große Mann und setzt sich tatsächlich hin, stocksteif und mit starrem Blick, aber immerhin sitzt er.
So. Nun erst mal Gedanken sortieren und weiter geht’s. „Wann ist Ihnen der rote Fiat denn zum ersten Mal aufgefallen?“
„Februar, genaues Datum unbekannt!“ Immerhin sparen die knappen Antworten Papier beim Protokoll.
„Wollen Sie damit sagen, dass das Opfer schon seit Februar am See campiert hat?“
„Negativ.“
„Ja, wie jetzt?“ Ohne dass ich es will, werde ich etwas ungehalten. Das ist aber auch eine Befragung unter erschwerten Bedingungen.
„Zum ersten Mal im Februar, dann im April und am letzten Donnerstag wieder.“
Damit lässt sich doch was anfangen. „Hatten Sie persönlichen Kontakt mit dem Mann?“
„Positiv.“
„Auch bei seinem letzten Besuch?“ Geht das denn schon wieder los?
„Positiv.“
Mir steigt langsam die Galle bis zum Hals. „Und wie lief die Unterhaltung beim letzten Treffen ab?“
„Negativ. Keine Unterhaltung. Nur Blickkontakt.“
Nun bricht mir der Schweiß aus und meine Gesichtsfarbe wechselt zu Burgunderrot.
Wieder baut sich Laura neben mir auf, zupft ihre Pistolenhalfter zurecht und sagt streng: „Leutnant Schmitt, sitzen Sie doch bequem und reden Sie frei.“
Augenblicklich lässt mein Gegenüber seine Schultern fallen und schlägt die Beine übereinander. Und ich? Ich glaube, ich hab mich gerade in Laura verliebt.
„So, Herr Schmitt, nun einmal in chronologischer Reihenfolge bitte!“
„Also“, fängt er nun ganz normal an zu reden, „Ende Februar war der Panda zum ersten Mal auf der Wiese am See zu sehen. Als er am Folgetag immer noch da war, ging ich dann hin. Ich wollte ja nicht neugierig erscheinen, aber wenn jemand bei Minusgraden offensichtlich im Auto übernachtet, will man doch nach dem Rechten sehen.“
Ist das derselbe Mann, der eben noch strammgestanden hat und nur mit „Positiv“ oder „Negativ“ geantwortet hat? Egal. Jetzt ist das Ganze angenehmer.
„Der junge Mann war sehr höflich und sprach mit einem fremdländischen Akzent. Genau kann ich den nicht beschreiben. Mal dachte ich an Belgisch oder Flämisch, kann aber auch Luxemburgisch oder eine Mischung aus allem gewesen sein. Jedenfalls stellte er sich mit dem Namen Scharell vor. Er erzählte, dass er ein paar Tage bleiben wolle, um jemanden zu besuchen.“
„Wen? Sprach er davon, wen er besuchen wollte?“, unterbreche ich ihn nun doch.
„Leider nicht“, bekomme ich zur Antwort. „Alles, was mir aufgefallen ist, ist, dass unten am Weg des Öfteren ein alter Motorroller stand.“
„Wem gehörte der Roller? Haben Sie auch den Fahrer gesehen?“
„Gesehen habe ich nie jemanden bei Scharell. Er war immer, wenn er hier war, sehr zurückgezogen und scheu. Der Roller war weiß mit so einem rosa Aufkleber am Tank. Mehr weiß ich leider auch nicht.“
Das klingt ja schon fast wie eine Entschuldigung von Hans Schmitt. Der, wenn er nicht im Militärmodus agiert, sehr sympathisch ist.
Ich wäre fürs Erste durch. Timo, der das Protokoll mitgeschrieben hat, lässt sich eben dies noch unterschreiben. Danach bedanke ich mich noch einmal bei dem älteren Herrn, der allerdings keine Anstalten macht aufzustehen.
„Wir sind dann so weit, Herr Schmitt“, fordere ich ihn auf, zu gehen, was er allerdings ignoriert. „Wir haben es bereits nach vierzehn Uhr und würden nun gerne Pause machen“, werde ich noch deutlicher.
Keine sichtbare Reaktion.
Nun baut sich Laura wieder neben mir auf und bittet ihn freundlich, zu gehen: „Leutnant Schmitt, abgetreten.“
An der Tür wendet er sich noch einmal zu einem militärischen Gruß, wobei sich mindestens ein Angelhaken in seinen Zeigefinger bohrt. Und das dermaßen fest, dass, als er die Hand wieder herunternimmt, der Schlapphut samt Toupet daran herunterhängt.
Traumhaft, dieses Bild!
Als wir dann zusammen zum Essen gehen, sagt Laura in einem ruhigen Moment: „Dieter, wenn du darüber reden willst, dann stehe ich dir jederzeit zur Verfügung.“
Was sie damit meint, entzieht sich meiner Kenntnis, aber ich danke ihr trotzdem mit einem Lächeln für das Angebot.
Den Rest des Arbeitstages verbringen wir damit, unseren Bericht zu verfassen und meine Unterlagen für den Hollandausflug vorzubereiten.
Als ich nach diesem ereignisreichen Tag endlich auf den heimatlichen Hof fahre, sehe ich im Nachbarhof eine Freiluft-Party-Location mit bunten Lampen, Girlanden, einem Grill und mehreren Festzeltgarnituren. Ich schaffe es auch nicht, ins Haus zu kommen, ohne dass Reiner mich abfängt.
„Dieter, endlich kommst du nach Hause“, empfängt er mich. „Wir machen ein Grillfest zu Ehren unseres Urlaubsgastes. Mensch, die hat in Frankfurt beste Beziehungen und will uns weiterempfehlen. Da müssen wir uns doch von unserer besten Seite zeigen. Also, komm gleich mit rüber.“
„Och, Reiner“, versuche ich mich herauszureden, „das passt mir heute gar nicht. Ich bin doch alleine, habe noch die ganze Hausarbeit und bin auch müde, ja, und zudem muss ich morgen ganz zeitig aus dem Haus.“
„Papperlapapp“, nutzt mein Nachbar den Sprachschatz meines Chefs, „ist doch keiner daheim, der dir Hausarbeit bereitet. Kochen brauchst du auch nichts, da es bei uns reichlich gibt. Und früher hat es dir auch nie etwas ausgemacht, wenn du morgens rausmusstest.“
Ja, früher, da war ich auch noch jung. Da konnte ich auch mal zwei Nächte durchfeiern. Zudem gab es früher keine Kordula mit ihrem Öko-Wahn. Das, was da heute Abend auf den Tisch kommt, ist sicher nicht nach meinem Geschmack. Sicher alles von Reiner Buttermilch.
„Jetzt hab dich nicht so“, lässt mein Nachbar nicht locker. „Der Domme kommt auch und bringt das Grillgut mit.“
Domme? Dominik Schäfer? Das ändert natürlich die Sachlage. Eigentlich ist er genauso ein Exot wie Reiner. Der Domme hat eine riesige Ziegenherde, mit der er durchs Land zieht und deren Fleisch etwas Besonderes wäre. Ich als Vegetarier weiß jedenfalls genau, dass sein Ziegenkäse der Hammer ist. Eine schöne Scheibe Bauernbrot mit zerlassenem Ziegenkäse auf Holzkohle gegrillt. Ein Traum. Ein absolut hammermäßiger Traum.
Also sag ich: „Gut, Reiner, du hast mich überzeugt. Lass mich schnell duschen gehen, dann komm ich rüber.“
So kommt es, dass ich eine halbe Stunde später zusammen mit Domme, seiner Frau Anke und zwei Ortsgemeinderäten auf einer Bierbank sitze. Reiner steht am Grill und wendet, was das Zeug hält. Ohne Scheiß, das riecht einfach saugut.
Einer der beiden Gemeinderäte sitzt da mit seinem grauen Anzug und dunkelblauer Fliege mit einem Zettel in der Hand. Da er lautlos seine Lippen bewegt, deutet alles darauf hin, dass er eine Rede einübt.
Der andere wiederum, im karierten Hemd und Knickerbocker, hat einen Stein Bier, in Bayern auch Maß genannt, vor sich stehen. An seinen Augen erkennt man, dass es nicht der erste für heute ist, und an der roten Knollennase erkennt man, dass es auch sicher nicht der letzte Stein Bier für heute sein wird.
Kordula trägt eine Salatschüssel nach der anderen herbei. Am Torbogen hängt eine Rheinland-Pfalz-Flagge herunter. Es wird reichlich durcheinandergeplappert und unser Gemeinderat im karierten Hemd stimmt fröhlich „Do wird die Wutz geschlacht“ an. Echte Volksfeststimmung beim Buttermilch.
Doch plötzlich wird alles still. Einen Moment glaube ich sogar, dass selbst das Brutzeln auf dem Grill verstummt. Als ich erschrocken aufsehe, bemerke ich, dass alle Personen in eine Art Starre verfallen sind. Alle schauen in die gleiche Richtung. Noch denke ich nicht daran, es den anderen gleichzutun, um keinesfalls auch in Hypnose zu verfallen. Doch meine Neugierde ist zu stark. Und so folge ich dem Blick meiner erstarrten Nebenmänner.
Dann sehe ich sie. Die unbestrittene Hauptperson des Abends. Im hautengen, knöchellangen Abendkleid. Mindestens drei Perlenketten um den Hals und eine Hochsteckfrisur, wie ich sie noch nicht gesehen habe. Eine Zigarette qualmt in einer zentimeterlangen Zigarettenspitze elegant vor sich hin. Als sie die Treppe herunterschwebt, gibt der beidseitige hüfthohe Schnitt im roten Kleid bei jeder Stufe den Blick auf ihre schwarzen Strapse frei.
Furchtbar! Ganz einfach furchtbar! Das tolle leuchtend rote Kleid, die schwarzen Netzstrapse und dann das weiße Bein mit deutlichen Dellen und Altersflecken. Jeans würde ich bei der Figur tragen. Ganz einfach Bluejeans. Das wäre passend, aber doch nicht so eine Operngarderobe fürs Grillfest auf dem Dorf.
Die anderen scheinen meine Meinung nicht zu teilen. Warum sonst sitzen sie immer noch mit offenen Mündern da und schauen Stufe für Stufe der Diva hinterher?
Als sie unten angekommen ist, erhebt sich die hypnotisierte Meute, um in einen kollektiven Applaus einzustimmen.
Unser Gemeinderat mit der Fliege unterm Kinn setzt nach dem Verstummen der Jubelrufe mit seiner Rede an: „Sehr verehrte, gnädige Frau. Es macht mich ausgesprochen glücklich, Sie im Namen der Ortsgemeinde Waldrohrbach begrüßen zu dürfen.“
Auch in den weiteren fünfundzwanzig Minuten wird diese Ansprache inhaltlich nicht interessanter. Einzig die Fliege macht das Ganze zum Schauspiel. Also nicht die unterm Kinn, sondern die, die ihm um den Kopf schwirrt und unermüdlich auf seiner Nase landet. Dort angekommen, wirkt sie wie eine tiefschwarze Warze, die sich bewegt. Anfangs versucht er mit Wischbewegungen das Tier zu verscheuchen. Na ja, im Laufe der Zeit werden die Bewegungen immer heftiger und der Redefluss immer weniger flüssig. Lange Rede, kurzer Sinn, die Sache endet damit, dass ihm eine tote Fliege auf einer blutenden Nase klebt, nachdem er sich selbst heftig geohrfeigt hat. Shit happens.
Die Frankfurter Diva stellt sich im Laufe des Abends als angenehme Gesprächspartnerin heraus, deren Alter unter der ganzen kosmetischen Gesichtsspachtel nicht zu erahnen ist. Die etwas unnatürlichen Gesichtszüge deuten jedenfalls darauf hin, dass sich hier auch schon so manch ein Schönheitschirurg ausgetobt hat. Meinen Geschlechtsgenossen gefällt’s. Sie flirten fleißig um die Wette. Unser Gemeinderat im karierten Hemd hält ihr die Hand und schmettert ein „Rosamunde, schenk mir dein Herz und sag ja“ durch die Nacht. Und das, obwohl sie Gerda heißt.
Was mich allerdings wundert, ist, dass sie bei der ganzen Aufmerksamkeit, die ihr entgegengebracht wird, immer das Gespräch mit mir sucht. Egal. Für mich ist es auf jeden Fall Zeit zum Schlafen. Morgen geht es in aller Herrgottsfrühe in die Niederlande und dann zu meiner Familie, bei der ich mich auch schon per SMS angekündigt habe. Glücklicherweise führe ich kein Tagebuch, denn da hätte ich wohl heute eine Menge zu schreiben. So komm ich nun direkt ins Bett.
Also, gute Nacht.
Papa, es war schrecklich, nachdem du gegangen bist. Nachdem du gefallen bist, bei deinem Kampf um die Freiheit. Sie sind alle gekommen. Egal ob Freund oder Feind. Sie kamen ins Haus. Einer nach dem anderen. Niemand hat gesehen, wie ich bin. Keiner der vielen Männer. Keiner der großen Kämpfer. Einen Körper haben sie in mir gesehen. Einen Körper, an dem sie ihre perversen Fantasien ausleben können. Stundenlang. Nächtelang. Einer nach dem anderen. Ich konnte das nicht mehr ertragen. So beschmutzt. So ausgenutzt. So erniedrigt.
Ich bin geflohen. Papa, ich bin geflohen aus dem Land, für das du so gekämpft hast. Aus dem Land, für das du gestorben bist. In die Berge bin ich und dann immer weiter Richtung Westen. Über die Grenze nach Polen bin ich geflohen. Weg aus dem Land, das du so liebtest. Was sollte ich tun?
Irgendwo in den polnischen Bergen habe ich ihn dann getroffen. Ihn: Charly. Er sieht mich als den Menschen, der ich bin. Er ist so rücksichtsvoll, zärtlich und so warm. Er hat mich nach Deutschland gebracht. Hier bin ich bei einem Mann untergekommen. Dieser gibt mir Arbeit, Bücher und eine Unterkunft. Er sagt, dass ich bessere Arbeit bekomme, wenn ich die Sprache kann.
Charly kommt auch immer wieder nach Deutschland. Er will eine Zukunft für uns aufbauen. Er will mich heiraten. Charly will eine Familie mit mir gründen. Er war hier. Gestern haben wir uns getroffen. Am See haben wir uns getroffen. Doch tags darauf war er weg. Die Polizei und die Feuerwehr waren da. Sie haben gesagt, dass das Wasser verseucht ist. Mit Öl und Benzin, haben sie gesagt. Die werden auch Charly verscheucht haben. Mein Charly.
Melde dich bitte bald wieder, Charly.
Kleine Veroschka, warum wehrst du dich? Warum stößt du mich zurück? Ich bin der Mann, von dem alle träumen. Alle, egal, ob jung oder alt, arm oder reich, alle könnte ich sie haben, doch ich will dich, dich allein. Ich habe sogar gemordet für dich. Ist das nicht Beweis meiner Liebe genug? Du weißt, dass du mir nicht widerstehen kannst. Du weißt, dass du mir nicht widerstehen wirst. Nein, du wirst mir gehören. Mir ganz allein. Bis zu deinem Ende wirst du mir gehören. Keiner wird dich mehr berühren. Nicht ohne meine Erlaubnis. Ich werde deinen Preis bestimmen. Ich allein. Warum setzt du dich noch zur Wehr? Warum? Dein Schicksal ist doch besiegelt. Deine Geschichte ist bereits geschrieben. Ich lasse mich nicht so behandeln. Nein, kleine Veroschka, nun musst du auch deine Lektion lernen. Du wirst nicht zur Polizei gehen. Du wirst dich nicht mehr wehren. Hör auf damit. Ich bin deine Bestimmung. Wir wollten doch nur etwas klettern gehen. Ich wollte dir nur zeigen, was für ein toller Beschützer ich bin. Dass ich dich auf den richtigen Weg leiten kann. Warum hast du mich nur zurückgestoßen? Warum hast du mich nur gezwungen, dich zwischen die Bäume zu binden? Warum setzt du dich noch immer zur Wehr? Du spürst doch, dass ich in dich eingedrungen bin. Du spürst doch, dass du nun die Meine bist, kleine Veroschka. Meine kleine Veroschka!