Читать книгу Kommissar Schlemperts zweiter Fall: Recht & Unrecht - Michael Schlinck - Страница 9
Montag
ОглавлениеAls ich in der Früh ins Revier komme, wundert sich niemand. In so einem Fall scheint es üblich zu sein, dass der Urlaub und die Familie zurückstehen müssen.
Es ist kurz nach sieben und unser Büro ist noch verwaist, also Rechner hochfahren, die Post durchsehen, Kaffee holen und Mails abrufen, das übliche morgendliche Ritual eben. Die französische Polizei bestätigt, dass in Toulon ein Charles van de House gemeldet ist. Im Laufe des Tages wollen sie eine Streife bei ihm vorbeischicken, um zu sehen, ob er am Leben ist.
So oder so ähnlich soll der Wortlaut der E-Mail sein, meint zumindest der Onlineübersetzer. Die Mail ist auf Französisch, weshalb ich mir mit dem Übersetzer helfen musste, denn Französisch verstehe ich gar nicht. Portugiesisch, Arabisch, Türkisch und Andalusisch auch nicht. A little bit english vielleicht, aber null Komma gar nix Französisch. In einem Schuhgeschäft in der Champs-Elysées begrüßte mich einst ein freundlicher Verkäufer mit „Bonjour“, worauf ich ihm ebenso freundlich mit „Ja, ein Paar braune bitte“ antwortete. Meine Familie konnte darüber herzlich lachen. Ich nicht!
„Kommissar Timo Gebauer wünscht dem Außenstellenleiter Dieter Schlempert einen wunderschönen guten Morgen.“ So begrüßt mich nun mein Kollege und fühlt sich auch noch spaßig dabei.
Dass ich Timo nach meinem Urlaub mit den Worten „Halt die Fresse, Idiot“ begrüße, hätte ich mir zuvor nicht träumen lassen.
Aber er reagiert relativ gelassen: „Hab dich auch lieb.“
Nun kommt auch Laura zur Tür herein und sieht wieder zum Dahinschmelzen aus, zumindest wenn man auf Terminator steht, mit khakifarbener Hose und einem hautengen Top. Darüber trägt sie eine kurze offene Lederjacke, sodass man die beiden Pistolenhalfter sieht.
Da wir nun komplett sind, setzen wir uns an den Besprechungstisch. Davor stellen wir unsere Tafel, auf der wir in bunten Lettern die Namen unserer Beteiligten eintragen. Viel zu schreiben gibt es nicht. In der Mitte steht in Rot geschrieben „Charles van de House“, von dem wir noch nicht viel wissen, außer dass er vermutlich bei der Gerichtsmedizin auf dem Seziertisch liegt. In Grün steht noch „Phillip Hubertus“ an der Tafel, was bedeutet, dass er nicht unter Mordverdacht steht. Damit ist nicht viel anzufangen. Wir müssen dringend Indizien, Fakten und alle möglichen Hinweise sammeln.
„Timo, recherchiere du mal im Internet nach dem Namen van de House, ob da was zu finden ist“, beginne ich mal Aufgaben zu verteilen. „Und Laura, da du etwas Französisch sprichst, könntest mit Toulon telefonieren. Behörden und so weiter. Schaut mal, was ihr so rausfindet.“
„Ach ja, da wäre noch was“, beginnt nun Timo herumzustottern.
„Was ist? Heraus mit der Sprache“, sage ich ungeduldig.
„Der Heuler möchte die Ermittlungen leiten und eins zu eins, also quasi just in time, über jeden unserer Schritte informiert sein.“
„Der kann mich, quasi just in time, dort, wo die Sonne nicht hinscheint.“ Nun bin ich ja fast schon cholerisch, aber der Mann treibt mich noch in den Wahnsinn. Also der Heuler, nicht Timo.
Der arme Kerl sitzt nun da wie ein geläutertes Kind und jammert vor sich hin: „Wenn du den Feind nicht hast, dann steinige den Boten.“
„Kommt, Leute, wir fangen an, und lasst Herrn Heuler meine Sorge sein“, bringe ich nun wieder Ruhe in die Situation.
Timo hämmert fleißig in die Tastatur und was Laura treibt, kann ich nicht sagen, denn ich verstehe kein Wort. Sie telefoniert reichlich auf Französisch und verwendet in jedem zweiten Satz den Namen Charles van de House, was mich glauben lässt, dass die Telefonate tatsächlich dienstlich sind. Mich selbst stört nur das ausländische Geplapper bei meinem Brainstorming. Jetzt beginne ich auch noch mit dem eingedeutschten Gelaber. Also, keinen klaren Gedanken bekomm ich auf die Reihe bei dem unverständlichen Gerede.
So beschließe ich, nun nach Neustadt zu fahren und mir das Autowrack anzuschauen. Eine Entscheidung, die ich Minuten später auch schon wieder bereue. Auf dem Hof der Landauer Polizeiwache steht nämlich nur der alte Opel Kadett Diesel, mit dem ich heute Morgen zur Arbeit gekommen bin. Klar, mein eigentlicher Dienstwagen, ein Mini GP mit vielen Gimmicks und über dreihundert Pferdestärken, steht zu Hause in der Scheune. Na gut, so eiere ich mit fünfundachtzig über die Autobahn und bete, dass das Ding nicht schlappmacht.
Auch die schönste Fahrt hat einmal ein Ende und so parke auch ich irgendwann auf dem Hinterhof des Neustädter Präsidiums ein. Die Kapuze ins Gesicht gezogen, dass der Heuler mich nicht durchs Fenster entdeckt, schleiche ich mich in Klaus Reuters Werkstatt, die im Keller untergebracht ist.
„Ja, der Dieter, welch seltener Glanz in meiner bescheidenen Hütte“, begrüßt er mich auch gleich überschwänglich. Er ist der beste Mechaniker, der mir je begegnet ist. Unter Kollegen nennen wir ihn „Daniel Düsentrieb“ der Neustadter Wache.
„Hallo, Klaus, wie geht’s?“, begrüße auch ich ihn freundlich.
„Ach, du weißt ja: Schaffe, schaffe, schaffe. Der Tag hat vierundzwanzig Stunden und wenn die nicht reichen, soll ich eben die Nacht durcharbeiten. So meint es zumindest der Heuler.“
Ich weiß schon, was er meint. Bei jeder erdenklichen Gelegenheit prahlt unser gemeinsamer Vorgesetzter mit den Fähigkeiten von Klaus und so kommt es, dass er sämtliche Sonderumbauten an polizeilichen Fahrzeugen machen muss. Nebelwerfer oder Lachgaseinspritzungen wie bei meinem Mini sind da die leichteren Übungen. Es kommt schon mal vor, dass ein schwimmender Porsche oder ein BMW mit Düsentriebwerk seine Werkstatt verlässt. Und so ganz nebenbei hilft er auch noch der Spurensicherung wie im aktuellen Fall, weshalb ich gleich mal nach dem Fiat frage.
„Viel kann ich dir noch nicht sagen“, meint er erwartungsgemäß. Immerhin haben wir es erst kurz nach zehn. „Die Blockade am Gasgestänge kann jeder Laie ausgeführt haben und auch sonst gibt es außen keine Auffälligkeiten. Den Innenraum schauen wir uns erst heute Mittag an. Bis dahin ist dann auch der Martin mit seinem Team hier.“
Okay, das bringt uns wirklich nicht weiter, also bitte ich ihn, mir das Fahrzeug zu zeigen.
Ja. Tatsächlich ein Fiat. Um genau zu sein, ein roter Panda mit französischem Kennzeichen. Modell anno dazumal. Und ihm sieht man auch sein Alter an. Tellergroße Rostflecken, zum Teil sogar mit Löchern, zieren sein Äußeres, bepflastert mit jeder Menge vergilbter Aufkleber, die anzeigen, dass dieses Fahrzeug anscheinend einen großen Teil der Welt gesehen hat. Die Algen und die anderen Wasserpflanzen, die an Wischern und den Außenspiegeln getrocknet herunterhängen, runden das traurige Bild ab. Dass die Rückbank mit Decken, Konservendosen, einem Campingkocher und sonstigem Krimskrams belagert ist, deutet an, dass es sich bei unserem Opfer um einen Globetrotter handelt.
Das hat mir gerade noch gefehlt. Ein Weltenbummler ohne feste Wurzeln. Gemeldet in Frankreich, mit holländischem Namen, auf der ganzen Welt zu Hause. Ermordet, ausgerechnet in meinem Revier. Wo soll ich da nur ansetzen? Mensch, wäre ich doch nur zu Hause geblieben. Dann hätten wir den Panda einfach in Lingenfeld oder so in den See geschmissen und somit hätte sich jemand anderes damit rumärgern müssen. Mich macht das verrückt, so im Dunkeln zu tappen.
Da ich mir das Leichenschauhaus nicht antun will, fahre ich zurück nach Landau. Leichen sind nicht so meins. Manche Kollegen sagen, dass der Gesichtsausdruck oder die Körperhaltung so viel über den Fall aussagen würden. Ich brauche das nicht. Immerhin hab ich eine Aufklärungsquote von einhundert Prozent. Und das, obwohl ich die Opfer nie gesehen habe, also zumindest nicht nach ihrem Ableben. So soll es auch bleiben.
Als ich zurück in unser Büro komme, telefonieren alle. Laura auf Französisch, Timo auf Deutsch. Logischerweise versuche ich Timos Gespräch zu folgen.
„Wird erledigt“, sagt er. „Ja, selbstverständlich werden wir alle Presseanfragen an Sie verweisen. Natürlich überprüfen wir stündlich unseren Maileingang, um Ihre Memos sofort umzusetzen. Ja, Herr Heuler, mir ist es eine außerordentliche Ehre, unter Ihren fähigen Händen arbeiten zu dürfen. Auf Wiederhören.“
Mit „du alte Schleimbacke“ mache ich mich bei Timo sicher nicht gerade beliebt, aber ich konnte eben nicht anders.
Jetzt setzt auch Timo an: „Hör mal zu, Dieter. Wenn du dich weiter so mit dem Heuler anlegst, musst du damit rechnen, dass er dich austauschen wird. Dann will ich gerüstet sein. Ich brauche den Job hier. Außerdem rechne ich mir eben Chancen aus, deine Position zu übernehmen, wenn du es dir komplett verschissen hast.“
So, das hat gesessen. Schlagartig wird mir klar, dass ich den Fall lösen sollte, um meinem Vorgesetzten und meinem Kollegen die Grundlage für irgendwelche Intrigen zu entziehen. Nur, wie soll das gehen? Auf der Tafel stehen nach wie vor nur zwei Namen und ich habe keinerlei Anhaltspunkte. Ich muss dringend nachdenken. Aber umso mehr ich mir das Hirn zermartere, umso weniger kommt dabei raus. Vielleicht wäre es ja auch das Beste, wenn Timo die Abteilung leiten würde. Gut, er ist noch sehr jung, aber immer motiviert und zuverlässig. Alles Dinge, die man von mir nicht gerade behaupten kann. Polizist bin ich eigentlich nur geworden, weil mir ein Sandkastenfreund immer davon vorgeschwärmt hat. Dementsprechend oft haben wir damals Räuber und Gendarm gespielt. Das war ja auch cool, so im Wald herumzurennen und den anderen zu jagen. Schnell musste ich aber feststellen, dass man in dem Job die meiste Zeit am Schreibtisch verbringt. Endlos Berichte tippen und so ein Scheiß. Dann wurde in Landau die Arbeitsgruppe Kapitalverbrechen gegründet. Das war meine Chance, aus den grünen Klamotten herauszukommen und einen coolen Dienstwagen zu fahren. Zudem hab ich noch zwei Mitarbeiter bekommen, die die ungeliebten Sachen übernehmen, wie den Schreibkram eben. Was ich dabei allerdings vergessen hatte, war, dass ich weder Leichen noch Blut sehen kann, ohne dass es mir elend wird.
Ich glaube, ich sollte erst mal wieder mit Timo Frieden schließen. Ich meine, dass es sehr unproduktiv wäre, wenn wir nun auch im Team gegen- anstatt miteinander ermittelten.
„Komm, Timo, lass uns reden“, winke ich deshalb mit der weißen Flagge.
Gemeinsam gehen wir nach draußen und ich ziehe am Automaten noch zwei Kaffee. Unten auf der Terrasse setzen wir uns an einen kleinen Tisch, auf dem ein Aschenbecher überquillt.
„Sorry, Timo“, beginne ich das Gespräch, „das alles ist jetzt ein wenig blöd gelaufen. Meine Familie ist nicht gerade begeistert, dass ich den Urlaub abgebrochen habe. Das kannst du dir ja denken. Und ganz ehrlich, der Heuler geht mir so was von auf die Nerven, dass ich schon mit Widerwillen zur Arbeit komme. Das wird mir einfach alles zu viel. Vielleicht hast du recht und unsere Arbeitsgruppe wäre besser in deinen Händen.“
„Komm, Dieter, auch du weißt, dass ich große Stücke auf dich halte.“ Will er sich nun auch bei mir einschleimen? „Aber ich will weiter von dir lernen und nicht sehen, wie du in einer Depression versinkst. Komm, geh doch wieder joggen, das hat dir immer geholfen. Bekomme deinen Kopf in den Griff, dann knacken wir auch den Fall.“
Nun glaub ich doch, dass er es ehrlich meint und nicht nur schleimen will. So gehen wir wieder nach oben und nehmen erneut am Besprechungstisch Platz.
Zuerst berichte ich von meinem Besuch bei Klaus Reuter. Viel Interessantes habe ich ja nicht zu erzählen. Laura hat halb Südfrankreich angerufen. Anscheinend hat Charles van de House seine Wohnung nur als Unterstellort für seine Habseligkeiten genutzt und äußerst selten dort übernachtet. Selbst direkte Nachbarn können ihn nur vage beschreiben. Was sie allerdings beschrieben haben, würde zu der Wasserleiche passen, die Laura gestern gesehen hat.
Timo hat auch nicht viel im Internet gefunden. Eigentlich nur, dass van de House ein in Frankreich nicht gerade geläufiger Name ist, während es in Holland Tausende Einträge gibt. Ich hoffe, dass das Meldeamt von Toulon uns bald das Meldeblatt zukommen lässt, damit wir endlich mal irgendwo anfangen können.
„Gibt es das denn“, lass ich nun meinen Frust heraus, „können wir denn nichts tun als warten?“
Und so ist es. Genau so ist es. Warten, dass etwas von Frankreich kommt. Warten, bis der Obduktionsbericht kommt. Warten, bis jemand eine Vermisstenanzeige aufgibt und unser Opfer identifiziert. Warten auf den Bericht der Spurensicherung. Es ist einfach zum Mäusemelken. Da es eh schon auf siebzehn Uhr zugeht, beschließen wir, Feierabend zu machen und uns zum Ausgleich morgen eine halbe Stunde früher zu treffen. Laura erklärt sich noch spontan dazu bereit, mich nach Hause zu fahren, damit ich den ungeliebten Kadett loswerde und wieder in meinem Mini herumdüsen kann.
Zu Hause angekommen, nehme ich mir Timos Rat zu Herzen und krame meine Laufsachen hervor.
Wie ich so losjogge, muss ich schon sagen, dass mein Kollege absolut recht hatte. Bei so einer sportlichen Betätigung ändert sich schlagartig das Stimmungsbild. Inzwischen stehen schon zweihundertfünf Meter auf meiner Fitness-App und ich habe das Gefühl, Berge versetzen zu können. Bei dreihundertzwanzig Metern öffnen sich die Poren und bei dreihundertfünfundfünfzig Metern bade ich im eigenen Schweiß. Bei dreihundertneunzig Metern passiere ich endlich das Ortsschild und bereue, mich auf die Körperertüchtigung eingelassen zu haben. Schlagartig drossele ich die Geschwindigkeit um zwei Drittel mit dem Vorsatz, wenigstens das Stück Radweg, das an der B48 entlangführt, im Laufschritt zu schaffen.
Ich schaffe es. Auch wenn ich dabei sicher wie ein Gehbehinderter auf der Flucht ausgesehen habe. Zwischendurch hat auch mal ein Autofahrer gehupt. Warum weiß ich nicht. Der Schweiß lässt meine Augen dermaßen brennen und tränen, dass ich im Blindflug dem heiß ersehnten Vollochweg entgegentaumle. Das Hupen war sicher nur der Gruß eines Bekannten, könnte aber auch eine Warnung gewesen sein, weil ich nichts sehend den Radweg verlassen habe und der Fahrbahn gefährlich nahe gekommen bin. Wieder so eine Sache, die ich nie erfahren werde.
Jetzt stehe ich am Anfang des Vollochwegs und habe eine ausgeprägte Schnappatmung. Anstatt meiner Beine fühle ich nur ein Brennen. Das Höllenfeuer fühlt sich sicher identisch an. Ein Wunder, dass sie mich noch tragen, meine Beine. Dabei war ich noch vor nur einem Jahr topfit. Urplötzlich ist alles aus dem Ruder gelaufen. Ganz schnell war der Spaß am Laufen einfach weg. In der gleichen Zeit haben Axel und Stan die Dashwings verlassen. Ja, die Deutschrockband, in der ich die Leadgitarre gespielt habe, war somit auch Geschichte. Wie ich so am Anliegerfreischild lehne, hab ich schon das Gefühl, dass es schwarze Katzen von links auf mich herabregnet.
Glücklicherweise geht der Nachhauseweg bergab, was dazu führt, dass ich ihn im Trab bewältige. Meine App interessiert mich schon längst nicht mehr. Als ich in unsere Straße einbiege, sehe ich mitten auf der Fahrbahn meinen Nachbarn stehen.
Der Reiner ist ja schon ein seltsamer Kauz. Ich würde wetten, dass er ursprünglich Rainer hieß, sich aber, wegen einer aus seiner Sicht genialen Geschäftsidee, den Vornamen auf Reiner umschreiben ließ. So vertreibt er nun sehr fragwürdige Produkte von Reiner Buttermilch.
Da steht er nun, der Nachbar, und grinst und winkt mich zu ihm her. Wer kann da schon Nein sagen. Ich könnte schon, doch das gute Benehmen verbietet es mir. So kommt es, dass ich trotz meines erbärmlichen Zustands bei ihm stehen bleibe.
„Hey, Dieter, ich muss dir unbedingt von meiner neuen Geschäftsidee erzählen“, sprudelt es aus ihm heraus und das ohne Begrüßung. Bin mal gespannt, was nun kommt. Sicher macht er nun Pudding aus Kuhdung oder so. Seine Buttermilch holt er auch als Abfallprodukt aus einer Butterfabrik und das mit einem alten Güllefass. Wenn man das sieht, vergeht einem die Lust auf Bio. Wobei erwähnt werden muss, dass er menschlich echt okay ist, der Reiner. Als letztes Jahr unser Haus brannte, hat er meine Musikinstrumente aus dem Keller vor einem Wasserschaden gerettet, während meine Familie und ich mit Rauchvergiftung im Krankenhaus verweilten.
„Wir haben jetzt auch Gästezimmer mit Wellness-Kur“, erzählt er voller Stolz. „Schönheit von innen mit Reiner Buttermilch.“
Hab ich es mir doch gedacht. Seine Ideen werden immer abstruser.
„Toll. Hast du das Gewerbe denn schon beim Fremdenverkehrsamt angemeldet?“, sag ich, weil mir gerade nichts anderes einfällt.
„Woher denn. Ich melde doch nichts an. Das spart Steuern, weißt du?“
Ja, das weiß ich. Aber dass ich nun offizieller Mitwisser bin, stört mich ungemein. „Steuerhinterziehung nennt man das!“, warne ich ihn.
Doch er sagt trocken und allen Ernstes: „Nicht meine, deine!“ Hä? „Schau doch, da der Staat nichts von meinem landwirtschaftlichen Betrieb weiß, braucht er mich auch nicht zu subventionieren. Das spart Steuern.“
Nun sag ich nichts mehr, weil mir einfach nichts mehr einfällt.
Dafür ist mein Nachbar umso gesprächiger: „Heute ist auch schon unser erster Kurgast eingetroffen. Ich kann dir sagen, ein ganz heißes Gerät! Eine Dame der besseren Gesellschaft von Frankfurt. Irgendeine Kaufhauserbin. Schau doch nur mal zur Wäscheleine! Solche Teile sollte sich Kordula auch mal zulegen. Dann wäre mal wieder was los auf der heimatlichen Pritsche, wenn du verstehst, was ich damit sagen will.“
Und ob ich verstehe. Sofort verbiete ich meinem Gehirn, die dazugehörenden Bilder zu liefern. Es verweigert mir den Gehorsam. Nun bin ich nicht nur deprimiert, jetzt ist mir auch noch übel.
Durch den Blick zur Wäscheleine wird dieses Gefühl noch verstärkt, was nicht an den schwarzen Teilen aus Spitze und Nylon liegt, die dort hängen, sondern an den selbst gehäkelten Schafswolleunterhosen, die Kordula gehören und gleich daneben hängen. Reiners Lebensgefährtin ist eben der Inbegriff von Öko.
Ohne ein weiteres Wort gehe ich nun nach Hause. Ob zum Kotzen oder zum Duschen, weiß ich noch nicht. Das entscheide ich dann spontan.
Papa. Mein Gebet richtet sich an meinen geliebten Papa. Lieber Papa im Himmel, der mich immer beschützt hat, mich großgezogen hat nach Mutters Tod. Der für mich gesorgt hat. Dann im Kampf für ein freies Land gefallen ist. Papa, ich habe die Ukraine verlassen. Anstatt für die Freiheit zu sterben, bin ich in die Freiheit geflüchtet. Ich weiß, dass du es sicher als feige empfindest, einfach bei Nacht und Nebel abzuhauen, um dann illegal in einem fremden Land zu sein. Aber mir ist es das wert. Keine Schüsse. Keine Leichen auf offener Straße. Kein Rauch in der Luft und keine Einschlagkrater.
Das ist es mir wert, mich zu verstecken. Ich wurde aufgenommen und kann ein wenig arbeiten. Und lerne Sprachen. In jeder freien Minute lerne ich. So kann ich schon etwas Deutsch, Englisch und Französisch. Das sei wichtig, wenn ich dann mal voll arbeite, wurde mir gesagt.
Außerdem gibt es einen Mann. Er hat mich auf der Flucht gefunden und über die Grenzen gebracht. Er ist anders als die anderen. Er ist einzigartig und trotzdem wie du, Papa. Ich liebe ihn und er liebt mich. Ich weiß das. Er ist der Mann meines Lebens. Endlich weiß ich, warum ich lebe. Endlich weiß ich, für wen ich lebe.
In Liebe, deine Veroschka.