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Julia Annina Jorges – Für immer Helena
Оглавление„Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz!“ Helena beugte sich zu Martha hinunter und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Die Haut unter ihren Lippen fühlte sich unangenehm rau an, als bedürfe sie dringend einer Pflegecreme. Dass Martha so wenig auf ihr Äußeres hielt! Vielleicht würde die Woche im luxuriösen Wellnesshotel, die Helena in Form eines Gutscheins auf den Gabentisch gelegt hatte, ihre Tochter auf den Geschmack bringen, doch insgeheim bezweifelte sie es. Anders als sie hatte Martha im Kampf gegen das Alter kapituliert. Es überlief Helena kalt, als sie spürte, wie knochig, wie zerbrechlich die schmalen Schultern ihrer Ältesten waren. Etwas zu rasch zog sie die Hände fort und überging Marthas Stirnrunzeln mit einem Lächeln. „Gesundheit, Glück und noch viele schöne Jahre!“
„Danke, Mutter, du wirst mich ganz bestimmt überleben“, kam es distanziert zurück. Durch die Gläser der Gleitsichtbrille schaut Martha zu ihr auf.
Zu ernst, viel zu ernst, dachte Helena verstimmt. Offenbar wusste Martha die für sie organisierte Feier nicht zu schätzen. Täuschte sie sich oder glänzten Tränen in den Augen ihrer Tochter? „Na, na, jetzt redest du aber Unsinn“, versuchte sie den drohenden Gefühlsausbruch abzuwenden.
„Unsinn?“, schnappte Martha und erweckte kurz den Anschein, als wolle sie sich aus dem Rollstuhl hochstemmen, um Helena ihre Meinung ins Gesicht zu schleudern. „Das glaubst du doch selbst nicht.“ Sie fing sich wieder und lächelte bemüht. „Aber vielleicht möchtest du mir ja endlich dein Geheimnis verraten, als Geburtstagsgeschenk sozusagen.“
Helena runzelte die Stirn, etwas, das sie selten tat. Gewiss hatte Martha schon vom Champagner gekostet, andernfalls hätte sie es nie über sich gebracht, die in Jahren gewachsene Übereinkunft des Stillschweigens zu diesem Thema zu brechen, an die sich das Gros der Verwandtschaft mittlerweile hielt. Ganz im Gegensatz zu früheren Jahren, als vornehmlich deren weibliche Hälfte Helena ständig das Geheimnis ihres makellosen Äußeren zu entlocken suchte. Entsprechend spitz fiel ihre Erwiderung aus. „Ach, Martha. Nimm es, wie es ist. Schau, nicht viele Frauen deines Alters sind in der glücklichen Lage, überhaupt noch eine Mutter zu haben, die sie darüber hinaus mit allen Annehmlichkeiten versorgt. Wärst du glücklicher, mir das Pflegeheim zu bezahlen?“
Die Flügeltüren des Festsaals schwangen auf und Marthas Kommentar ging unter in den bewundernden Ausrufen der Gäste, als vier Serviererinnen ein mehrstöckiges Tortenkunstwerk hereinrollten, auf dem aus Zuckerguss die „70“ prangte.
Perfektes Timing, dachte Helena dankbar und trat hinter ihre Tochter, um deren Rollstuhl aus dem abgeteilten Seitenbereich an den Ehrenplatz der Tafel zu schieben, wobei sie die Hilfe zweier heraneilender junger Leute energisch zurückwies. Das Gemurmel verebbte, Köpfe wandten sich der Jubilarin und, mehr noch, der sie überragenden Patriarchin zu. Zufrieden ließ Helena den Blick über die Häupter ihrer Lieben schweifen. Fünf ihrer sechs Enkel waren der Einladung gefolgt, begleitet von Ehegatten und Kindern. Die Geburt des jüngsten Sprosses der Sippe, Jonathan, hatte sie kürzlich zur Ururgroßmutter gemacht. Genau genommen sagte ihr dieser Umstand nicht sonderlich zu, doch wurde ihr Unbehagen gemildert durch die Gewissheit, dass niemandem einfallen würde, sie auch so zu nennen. Erfreulicherweise hatten die jungen Eltern dem Wunsch Helenas entsprochen und den kleinen Schreihals bei einem Babysitter gelassen, nachdem sie im Vorfeld auf Marthas Unverträglichkeit hohen Geräuschpegeln gegenüber verwiesen hatte.
Erst als es bereits mucksmäuschenstill war, klopfte Helena an ihr Glas und begann ihre sorgfältig einstudierte Rede auf das Geburtstagskind.
Als der Beifall verebbte und sie sich gerade setzen wollte, fiel ihr am Ende der u-förmig aufgestellten Tafel eine junge Frau auf. Schwarzes Kostüm, schwarzer Hut mit Schleier. Als säßen sie zum Leichenschmaus beisammen … Helena rümpfte die Nase und ließ sich eilig in den von Schwiegersohn Andreas bereit geschobenen Stuhl gleiten, bevor jemand ihre Irritation bemerkte. Wer war diese Person, die hinter Laura saß, der Frau von Enkelsohn Maximilian? Hatten die beiden sie spontan mitgebracht? Sie würde ein ernstes Wort mit ihnen sprechen – und mit der Security, die gehalten war, niemanden ohne Einladung zur Feier vorzulassen. Und was zum Teufel sollte diese modische Extravaganz? Wenn dies ein Scherz war, dann ein äußerst geschmackloser.
Während des Menüs schielte Helena immer wieder zu der Fremden hinüber, die ihren Blick mit kaum wahrnehmbarem Heben der Mundwinkel erwiderte. Ob sie Martha zu ihr befragen sollte? Etwas in ihr sträubte sich dagegen; schlimm genug, sich selbst gegenüber eingestehen zu müssen, ihre Familie doch weniger gut im Griff zu haben als angenommen. Um sich abzulenken, konzentrierte sie sich auf die Tischgespräche in ihrer Umgebung, lächelte, nickte, gab sich unbefangen. Mit Andreas scherzend ignorierte sie geflissentlich die giftigen Seitenblicke ihrer jüngeren Tochter Caroline. Ihre Jüngste war noch nie eine gute Verliererin gewesen. Nach Helenas Dafürhalten setzte Andreas’ offenkundige Bewunderung für ihre Person der Vierundvierzigjährigen mindestens ebenso zu wie der Umstand, dass Fremde in ihr schon seit geraumer Zeit mitnichten die Tochter, sondern Helenas ältere Schwester sahen. Martha hielt man mit schöner Regelmäßigkeit für die Mutter der beiden. Aber anders als Caroline, die jede Gelegenheit nutzte, zu sticheln und zu spionieren, begegnete Martha dem Phänomen Helena mit stoischer Gelassenheit. Aus diesem Grund wäre die mehr als bloß unterschwellige Feindseligkeit, die vorhin aus Marthas Worten gesprochen hatte, durchaus dazu angetan, Helena die Laune zu verderben – wenn ihre Haltung sie nicht davor bewahrt hätte. Das Leben war zu kurz, um es mit Grübeleien zu vergeuden. Der Gedanke an die Verwechslungen, die das Mutter-Töchter-Verhältnis mitunter auslöste, rief ihr das reizend verwirrte Gesicht des jungen Chauffeurs ins Gedächtnis, und so kam das Lächeln, das sie ihren Töchtern schenkte, aus tiefstem Herzen.
Das Abräumen der Teller bot den Rauchern Gelegenheit, sich zu entschuldigen. Zeit, der Frau in Schwarz auf den Zahn zu fühlen … Der Platz am Ende der Tafel war leer. Wohin konnte die Fremde so plötzlich verschwunden sein? Verärgert presste Helena die Lippen zusammen. Sie hatte sich ablenken lassen von Andreas, dessen Humor mit steigendem Alkoholpegel ins Zotige abdriftete, während sein Knie gegen das ihre drückte und seine Hand mehr unter als auf dem Tisch verweilte. Ihrem geflüsterten Einwand, dies käme jetzt ungelegen, hatte er – zu Recht nicht überzeugt von ihrer Ablehnung – wenig Beachtung geschenkt. Helena verspürte das Bedürfnis nach einer Zigarette. Sie erhob sich und griff nach ihrer Handtasche. Vielleicht war der ungebetene Gast ja in den Rauchersaal vorausgeeilt.
Helena durchquerte die opulent nach ihren Vorstellungen geschmückte Halle, begleitet von bewundernden, hauptsächlich jedoch argwöhnischen Blicken. Es störte sie nicht. Zu einer Grande Dame gehören Geheimnisse, die sie umwehen wie edles Parfüm. Die Liebe des Publikums, das ihretwegen in die Konzertsäle strömte, genügte ihr. Natürlich gab es Gerüchte, sie habe bei ihrem Äußeren nachhelfen lassen. Es entlockte Helena jedes Mal ein Schmunzeln, wenn sie in den Zeitschriften Spekulationen über Botox, Facelifting oder Frischzellentherapie las. Willkommene Publicity, unabhängig davon, ob sie gerade ein neues Album herausbrachte. Böswillige Zungen behaupteten gar, sie würde vom Verband der Schönheitschirurgen gesponsert – wer wäre als Werbeträger effektiver als eine knapp Neunzigjährige, die aussah wie Mitte dreißig? Oder doch wenigstens keinen Tag älter als vierzig. Die meisten Menschen jedoch – ob nun Intendanten, Kollegen und Reporter oder ihre Fans – hielten Helenas vorgebliches Geburtsdatum für den eigenwilligen Humor einer Diva, die mit „guten Genen“ und „eiserner Selbstdisziplin“ kokettiert. Sie hütete sich, dagegen Einspruch zu erheben.
Am Ziel angekommen zögerte Helena, sich eine Zigarette anzustecken, denn auch hier konnte sie die Fremde nicht ausmachen. Inzwischen war sie sich relativ sicher, ihr doch schon früher begegnet zu sein, nur war sie da anders frisiert und anders gekleidet gewesen. Zuerst vor rund einer Woche vom Fenster ihrer Villa aus. Die Frau hatte verlangt, zu ihr vorgelassen zu werden, mit der Begründung, sie sei eine alte Freundin und mit Helena verabredet … Ha! Keine wahrhaft alte Freundin besaß ein solch jugendliches Äußeres. Nachdem die Hausangestellte die Betrügerin abgewimmelt hatte, war Helena ans Fenster getreten, von wo aus sie eine ihr unbekannte blonde Frau beobachtete, wie sie kurz zu ihrem Fenster hinaufblickte, um dann fortzugehen. Ein paar Tage später hatte dieselbe Dame in der Zentrale ihrer Modefirma vorgesprochen, aber auch dort gelangte sie nicht einmal in die Nähe der Chefetage. Allerdings war sie damals, soviel hatte Helena auf dem Überwachungsmonitor gesehen, brünett gewesen. Und nun schwarzhaarig. Offenbar eine Stalkerin, die nicht erkannt werden wollte … Sie musste sie finden und zur Rede stellen!
Nervös strich Helena mit den Fingern über die Wange. Ihre Verunsicherung wuchs, als sie etwas ertastete, das nicht dorthin gehörte. Unverrichteter Dinge verließ sie den Raucherbereich und eilte zu den Waschräumen. Im Wandspiegel begutachtete sie ihr Gesicht, doch dessen ebenmäßige Züge brachten ihr die Ruhe nicht zurück. Linien, fein, aber unübersehbar, krochen aus den Winkeln ihrer veilchenblauen Augen. Vertikale Fältchen auf der Oberlippe, die am Morgen, nein, noch vor einer Stunde, nicht da gewesen waren. Selbst ihre prächtige blonde Mähne schien ihren Glanz einzubüßen. Ohne Zweifel lag das Alter nicht länger auf der Lauer, es hatte bereits zum Sprung angesetzt.
Nun, wenigstens in dieser Hinsicht konnte sie etwas tun. Nachdem sie sich vergewissert hatte, allein zu sein, öffnete Helena ihre Handtasche. Sie besaß es, das Mittel, dem sie seit einem halben Jahrhundert vertraute und dessen Rezeptur sich die Pharmakonzerne, bekämen sie je Wind davon, Millionen würden kosten lassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Das Mittel, das ihre Jugend und Schönheit erhielt, zuverlässiger als jeder plastische Chirurg. Von einer entfernten Großtante hatte sie es geerbt, einer Namensvetterin, und ein Schreiben war der Erbschaft, die sich in einem Koffer befand, beigefügt gewesen, in dem sie Helena beschwor, das Geheimnis sorgfältig zu bewahren.
Sie tastete nach der kleinen, silbernen Dose, die sie immer mit sich führte und in der sich ihre Notfallration befand. Anfangs hatte Helena das Mittel nur hin und wieder eingenommen, vor wichtigen Terminen oder Partys, später monatlich, dann wöchentlich. Mittlerweile griff sie beinahe täglich zu den goldglänzenden, knapp erbsengroßen Perlen, die ein wenig schwer zu schlucken waren, sodass sie anfangs versucht hatte, sie mit dem Messer zu zerteilen, im Mörser zu zerstoßen oder in Flüssigkeiten aufzulösen, ohne Erfolg. Der Vorrat ihrer Wunderkügelchen schrumpfte, doch noch befanden sich einige Hundert davon in ihrem Safe. Wie es weiterginge, wenn die Perlen aufgebraucht waren, darüber mochte sie sich jetzt noch keine Gedanken machen. Notfalls würde sie einen Chemiker darauf ansetzen, die Formel für sie – und nur für sie – zu entschlüsseln. Dass sich der körperliche Verfall jetzt so rasch bemerkbar machte, war kein gutes Zeichen. Zärtlich hob sie die Perle mit Daumen und Zeigefinger aus ihrem samtenen Polster und führte sie an die Lippen.
Unversehens entglitt das Kügelchen ihren Fingern, fiel mit leisem Pling auf die Fliesen und rollte unter einer der Toilettentüren hindurch. Helena riss die Kabine auf, doch statt der erwarteten Keramik empfing sie nachtschwarze Dunkelheit, als würde das Deckenlicht an der Tür abgeschnitten.
Einen Fluch ausstoßend setzte sie ihre im zierlichen Manolo-Blahnik-Stiletto steckende Fußspitze hinein und tippte probehalber auf den unsichtbaren Boden. Glatt und hart, nicht anders als die übrigen Fliesen. Sie reckte den Hals, spähte ins Nichts. Ihr Herz machte einen Sprung, als sie weiter hinten einen hellen, schimmernden Punkt entdeckte. Im Bewusstsein, dass sie für jeden, der jetzt hereinkäme, einen befremdlichen Anblick böte, kniete sie vor der Kabine und tastete mit den Fingerspitzen über den Untergrund, vermochte die Perle jedoch nicht zu erreichen.
Kurzerhand zog sie einen Schuh aus, um mit dessen Hilfe nach dem Objekt der Begierde zu angeln. Als ihr wiederum kein Erfolg beschieden war, blieb sie an der Grenze zwischen Licht und Schatten hocken. Ein Blick auf ihre Hände zeigte, dass der Alterungsprozess unbarmherzig voranschritt. Verblichene Haut wie Pergament, gesprenkelt von braunen Flecken, daraus hervortretend bläuliche Venen. Ihr grauste bei dem Gedanken, wie ihr Gesicht aussehen mochte. Draußen näherten sich Schritte. Würde man sie erkennen? Die Gefahr der Entdeckung erschreckte Helena mehr, als die Finsternis vor ihr es tat. Auf allen Vieren kroch sie in die Kabine und empfand beinahe Dankbarkeit, als das Dunkel sie fremden Blicken entzog.
Als hätte eine unbekannte Macht sie hineingestellt, fand sie sich auf einer Straße wieder; jedenfalls deuteten der Asphalt unter ihren Absätzen und die lang gezogene Perspektive vor ihr darauf hin, dass es sich um eine solche handelte. Um sie herum wogte Nebel, bildete eine undurchdringliche graue Masse, die hinter ihr ineinanderfloss, als sie sich umdrehte. Es gab nur einen Weg, vorwärts. Einen anderen hätte sie auch gar nicht einschlagen wollen, denn da lag sie, die Perle, keine drei Meter von ihr entfernt. Als Helena auf sie zuging, rollte sie weiter. Sie beschleunigte ihre Schritte, doch das verfluchte Ding passte sich ihrer Geschwindigkeit an. Helena blieb stehen und fixierte die Perle, die in höhnischer Reglosigkeit liegen blieb.
Während sie noch verschnaufte, schälte sich seitlich des Weges ein Bild heraus. Das Innere einer Kirche, bis auf den letzten Platz gefüllt mit Menschen. Menschen, die sie kannte. Niemand nahm Notiz von ihr; sie war nicht mehr als ein unsichtbarer Beobachter. Helena erblickte sich selbst, vor dem Traualtar, daneben ihren verstorbenen zweiten Mann, Heinz, der ihr den Ring an den Finger steckte. Ein Seufzer entrang sich ihrer Brust. Hinreißend sah sie aus in der Designerrobe, die ein kleines Vermögen gekostet hatte, aber jeden Pfennig wert war. Die Hochzeitsgesellschaft bestand aus Kollegen und einflussreichen Bewunderern sowie Freunden und Familienmitgliedern, erstere zahlreicher, letztere etwas weniger stark vertreten als auf Marthas Geburtstagsfeier.
Das Bild wechselte. Die Feierlichkeiten hatten sich ins Freie verlagert, in den Schlosspark, den Helena und Heinz, Erbe einer deutschen Waschmittelherstellerdynastie, für dieses Ereignis angemietet hatten. Ein Stück abseits der prächtigen Pavillons stand Caroline, die sich mit einer alten Frau unterhielt.
„Mein Gott, sie ist einundsiebzig. Einundsiebzig! Was ist bloß ihr Geheimnis? Schönheitsoperationen?“ Die Worte stammten von Frieda, Helenas Schulfreundin, die sich auf einen Stock stützte und kopfschüttelnd in Richtung der Braut unter dem weißen Baldachin blickte, bevor sie sich wieder der damals Sechsundzwanzigjährigen zuwandte.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das überhaupt wissen möchte“, hörte Helena ihre Tochter seufzen. „Es ist unnatürlich und macht mir Angst. Sie macht mir Angst“, fügte sie leise hinzu.
Die Worte gaben Helena einen Stich. Jäh wurde ihr bewusst, wie einsam es um sie geworden war, ungeachtet ihrer weitläufigen familiären und gesellschaftlichen Beziehungen – und beileibe nicht nur deshalb, weil viele Freunde inzwischen senil oder tot waren. Das aufkeimende Unbehagen abschüttelnd, ging sie weiter, denn die Perle hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Weitere Szenen erschienen nebst des Weges. Die Geburt von Caroline, die Beerdigung von Alfred, Helenas erstem Mann, Premieren, Jahreswechsel, Geburtstagsfeiern. Immer war sie der Mittelpunkt des Geschehens, immer lächelnd, mal verhalten, mal strahlend. Immer schön. Kein Kummer, keine Sorgen vermochten ihr Antlitz zu trüben, nicht einmal Freudentränen, denn nichts berührte sie wirklich.
Der Pfad führte sie zurück durch die Jahre, gesäumt von Ereignissen ihres Lebens, unbedeutenden Episoden wie biografischen Meilensteinen. Die Perle rollte nur noch sehr langsam, Helenas Schritte wurden schwerer, schleppender. Längst hatte sie die Schuhe ausgezogen, auf denen sie das Gleichgewicht zu halten nicht mehr imstande war, geschweige denn, dass ihr abgesenktes Fußgewölbe der Belastung standgehalten hätte. Sie waren liegen geblieben auf ihrer ersten Hochzeit, wie ein Geschenk an die junge Braut, mit der Helena kaum mehr etwas gemein hatte. Nur mit Mühe vermochte sie ohne Stütze voranzuschreiten, doch noch immer führte die Straße sie weiter, tiefer hinein in die Vergangenheit.
Da, endlich, der Weg endete vor einem Gebäude. Blumendekoration, buntes Zuckerzeug und Torten in der Auslage wiesen es als Café aus. Helena war, als müsse sie es kennen, aber die Erinnerung ließ sich nicht einfangen. Zögernd betrat sie das Haus in dem Wissen, am Endpunkt ihrer seltsamen Reise angekommen zu sein: Die Perle rollte durch die offen stehende Tür ins Innere und Helena folgte ihr.
Keiner beachtete sie. Einrichtung und Kleidung der Gäste ließen auf die Sechziger Jahre schließen. An den Wänden hingen Fotos von Romy Schneider, Katharine Hepburn, Mario Adorf und anderen Filmgrößen. Manche von ihnen hatte sie während ihrer Zeit am Theater persönlich kennengelernt … Die Perle! Wo war sie? Ein stechender Schmerz schoss Helena in die Brust und sie rang um Atem. Unter Aufbietung all ihrer Willenskraft zwang sie sich zur Ruhe. Nur nicht zusammenbrechen, jetzt, so kurz vor dem Ziel. Sie musste der Perle habhaft werden, um wieder sie selbst sein zu können. Helena verwünschte ihre schwindende Sehkraft. Hinten glänzte etwas; mattes Gold auf poliertem Holz. Voll Misstrauen in die eigene Muskulatur stakste sie zwischen den Tischen hindurch, den Blick auf den Boden gerichtet, zog sich, gestützt auf die Lehnen, von Stuhl zu Stuhl.
Das Fischgrätmuster der Dielen rief die Erinnerung wach. Ja, sie war schon früher an diesem Ort gewesen. Zuletzt um 1980 herum, als sie hier mit ihrem Finanzberater zu einem zwanglosen Treffen zusammenkam, in dessen Folge sie Aktien an einem indischen Unternehmen erwarb, das Schädlingsbekämpfungsmittel produzierte. Eine Fehlentscheidung, die sie fast schon vergessen hatte: Bedauerlicherweise entwichen aufgrund menschlichen Versagens und unglücklicher Umstände im Jahre 1984 etliche Tonnen hochgiftiger Chemikalien nach draußen und verseuchten die Landschaft. Kritiker und Umweltaktivisten machten die von den Investoren erzwungenen Sparmaßnahmen für die Katastrophe verantwortlich, die zu mangelhaften Sicherheitskontrollen und dem Einsatz minderwertiger Materialien geführt hätten – ein Vorwurf, der an Helena abgeperlt war, die sich aus technischen Details noch nie etwas gemacht hatte. Glücklicherweise wurde ihr Anteil an dem Konzern nicht publik und sie befasste sich nicht weiter mit der Angelegenheit. Nun aber drängte der traurige Sachverhalt in ihr Bewusstsein, dass das Unglück Tausende Tote gefordert hatte. Tote, die zu einem Teil auf ihr Konto gingen. Bhopal. Der Name bohrte sich in ihre Gehirnwindungen und in ihre Magengrube. Nach all den Jahren fühlte sie sich schuldig.
Als hätte die Erkenntnis ein Tor geöffnet, fielen ihr weitere Entscheidungen ein, die sie getroffen hatte, ohne einen Gedanken an mögliche Auswirkungen zu verschwenden …
„Hallo, Helena.“
Zitternd hob sie das Kinn, um zu sehen, wer sie so vertraulich anredete. Am Tisch in der Ecke saß eine junge Frau. Schwarze Haare, schwarzes Kostüm, schwarzer Hut mit Schleier. Die Frau, die sie verfolgt hatte, der sie gefolgt war. Neben ihr ein wuchtiger Koffer. Helena schluckte. Ein nahezu identisches Exemplar befand sich in ihrer Wohnung. Aus einem nostalgischen Gefühl heraus hatte sie ihn aufgehoben, damals, vor fünfzig Jahren, nachdem sie seinen kostbaren Inhalt in ihrem Safe verstaut hatte. Nachdem er ihr von einer gewissen Notarin überreicht worden war, die ihr auch die kurze Nachricht ihrer bis dato unbekannten Erbtante überbrachte, ebenfalls hier in diesem Café. Fünfzig Jahre, in denen sich ihr Gegenüber kein bisschen verändert hatte. Nur das Haar war damals rot gewesen.
„Sie haben unsere Verabredung offenbar vergessen.“ Helena zog die Schultern hoch und die Bewegung verursachte einen reißenden Schmerz in den seitlichen Halsmuskeln. „Da Sie mich nicht empfangen wollten, blieb mir nichts anderes übrig, als Sie herzubitten.“ Die Frau wies auf den freien Stuhl ihr gegenüber. „Setzen Sie sich.“ Mühsam und umständlich folgte Helena der Aufforderung. Die Schwarzhaarige beobachtete ihre Bewegungen, ohne Hilfe anzubieten.
Helenas Blick wanderte von der Frau über den Koffer und suchte den Boden ab. „Ich bin mir nicht sicher, von was für einer Verabredung Sie sprechen“, sagte sie zögerlich. „Ich habe etwas verloren, eine Perle.“ Die Notarin lächelte; ihre Augen hinter dem dünnen Netz blieben ausdruckslos. Sie öffnete die rechte Hand, die bis eben locker auf dem Tisch gelegen hatte, und präsentierte den gesuchten Gegenstand. Wie von selbst streckten Helenas Finger sich der Perle entgegen. Die Frau zog die Hand zurück. Mit dem Zeigefinger ihrer Linken rollte sie die Perle hin und her und betrachtete ihre matten Reflexionen. „Sie gehört mir. Bitte geben Sie sie mir.“ Helena hasste den flehentlichen Klang ihrer Stimme, doch was blieb ihr anderes übrig?
„Und dann? Wie lange wird diese eine Perle Ihre Bedürfnisse befriedigen?“ Die schwarz Gekleidete schüttelte den Kopf. „Vergessen Sie die übrigen in Ihrem Tresor. Sie sind wirkungslos ohne Vertragsverlängerung.“
„Vertragsverlängerung?“
„Sie waren zufrieden mit unserem Produkt?“, fragte die Frau. „Den Perlen. Um Ihre Jugend und Schönheit zu erhalten“, setzte sie hinzu, als Helena sie begriffsstutzig anstarrte. „Immerhin hatten Sie fünfzig Jahre, um ihren Effekt zu testen. Wenn Sie mögen, verlängern wir Ihren Vertrag, und im Gegenzug erhalten Sie Perlen für die nächsten fünf Jahrzehnte.“ Helena bezweifelte, dass der Bogen Papier, den ihr die junge Frau entgegenschob, eben schon auf dem Tisch gelegen hatte. Überlassungsvertrag stand oben. „Lesen Sie und dann unterzeichnen Sie bitte hier als Vermieter.“ Ein langer, rot lackierter Fingernagel klopfte auf die freie Zeile links unten. Das verschnörkelte Signum auf der Unterschriftszeile daneben vermochte Helena nicht zu entziffern, wohl aber den Stempel Abyssos Incorporation.
„Und dann komme ich zurück nach Hause?“
Die Dame in Schwarz seufzte, als sei sie der Erklärungen überdrüssig, bevor sie in professionellem Tonfall antwortete. „Um sich selbst zu beerben, überlassen Sie uns für die nächsten fünfzig Jahre das Nutzungsrecht. Dafür erhalten Sie die Perlen und wir sorgen für beste Startbedingungen, denn natürlich benötigen Sie eine neue Identität.“
Helenas Finger zitterten, als sie den Stift aufnahmen, und sie zu ahnen begann, dies schon einmal … mehrmals … unzählige Male getan zu haben. „Was haben Sie mit meiner Seele vor?“
Die Vertreterin der Abyssos Incorporation lächelte und ihre schwarzen Augen hinter dem Hutnetz glänzten wie Kiesel in einem Gebirgsbach. „Nichts. Wir verwahren sie lediglich. Es sind Menschen wie Sie, Helena, in die wir unsere Hoffnungen setzen. Menschen, so schön, so vollkommen, dass um ihretwillen Kriege geführt werden.“ Hochachtung, ja Zuneigung erwärmte für Sekunden ihre Stimme. „Ohne das lästige Anhängsel sind Sie frei zu tun, was immer Sie wollen. Sie können alles sein. Oder hat es Ihnen in der Vergangenheit an irgendetwas gefehlt?“
Helena schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich elend. Der Schmerz in ihrer Brust machte sich erneut bemerkbar. Ein Ziehen, von dem sie befürchtete, es könne Anzeichen eines Infarkts sein. Was, wenn sie nicht unterschrieb? „Gibt es eine Alternative?“
Die Finger der Frau öffneten sich. Zum Vorschein kam ein Häuflein grauen Staubs, das sie beinahe nachlässig fortpustete. Helena spürte, wie Frost sich in ihr Herz fraß. Das Café, die Tische, die Gäste, alles begann sich zu drehen. Die Gesichter ihrer Töchter schoben sich über die verschwimmenden Bilder. Sie würde sie nicht wiedersehen, egal welche Entscheidung sie traf. Eine einzelne Träne, die erste seit langer, langer Zeit, rann gemächlich ihre Wange hinab und verlief sich in den Runzeln ihrer Haut.
„Soweit muss es ja nicht kommen“, hörte sie wie aus weiter Ferne die Stimme der Frau in Schwarz, die sie ins Hier und Jetzt – wo immer sich dieses Hier und Jetzt befand – zurückholte. Von unten erklang das metallische Schnappen von Schlössern, gefolgt von einem knarrenden Laut. „Wenn es Sie beruhigt: Nach Ablauf erhalten Sie Ihr Eigentum zurück – sofern Sie das wünschen.“
Aus dem Koffer glitzerten verführerisch die Perlen.
„Aber die meisten verlängern.“