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Liebe auf Rädern
ОглавлениеMumbai, 19. Februar
Mit Ahmed ist nicht zu spaßen. Er ist einer von vier Millionen Moslems, die in der Riesenstadt leben. Fünf Mal pro Tag ist das scheppernde Rufen des Muezzins zu hören. Dann ist Vorsicht geboten: Ein Fünftel der Bevölkerung fällt unmittelbar darauf auf die Knie. Über einen betenden Sohn Allahs zu stolpern, kann schwierig werden. Ahmed fährt Taxi. Er bringt mich zu einer der vielen Seltsamkeiten Mumbais. Am Rückspiegel baumeln ein paar Chilischoten, nebst einer Limone. Ich frage, wofür das gut sei. Wogegen wäre die bessere Frage. Ahmed sieht mich an, als wollte er mir einen Dolch in die Brust stoßen. Früh am Morgen ist der Verkehr entsprechend dürftig, eine Stunde später wäre der Blick verhängnisvoll gewesen. Bedächtig wendet er sich wieder nach vorne. Achmed hat die Fahrgeschwindigkeit nicht reduziert. Vielleicht gilt das Glücksgemüse all jenen, deren Fragen nerven.
Für die Fahrt quer durch Mumbai verlangt er zweihundert Rupien Fixpreis. Auf den Taxameter wird gepfiffen. Die Chilis schlackern. Ahmed vermeidet kein Schlagloch und davon gibt’s hier jede Menge. Ich versuche ihn dazu zu bringen, die Zeituhr einzuschalten. Abrupt hält er und öffnet die Türe. Null zu eins. Wir brausen weiter in Richtung Mahalaxmi Station. Mitten auf einer Brücke bremst er jäh ab. Ich reiche ihm das abgezählte Geld und steige aus. Er gibt Gas, der Muezzin ruft. Ich stehe verloren am Geländer, neben mir eine Kuh, unter mir ein verwirrendes Muster an Bahngleisen.
Rechter Hand liegt das Dhobi Ghat, die größte Open-Air-Waschmaschine der Welt. Die Wäscheleinen haben es ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft, länger als hier hängen sie angeblich nirgends. In den Wasserbecken, zwei mal zwei Meter groß, stehen die Wäscher. Die grünliche Brühe reicht ihnen bis zu den Knien. Unaufhörlich stapfen sie auf Wäschestücken herum, danach dreschen sie sie gegen die Beckenwände. Das Slum trägt den Namen Shanti Nagar, und das bedeutet »Stadt des Friedens«.
»You want to go in?« Eine junge Japanerin lacht übers ganze Gesicht, ihre Augen sind hinter dunklen Brillengläsern verborgen. »I’m travelling around India. Six months at least. My name is Tama. Tokyo. You know?«
»I know«, sage ich. »Schotti. Vienna.« Das Mädchen steckt mich in Sachen Travelling in seine linke Hosentasche. Sie läuft die Steinstufen hinunter, ich hinterdrein.
Ein baumlanger Kerl, einer der Slum-Keiler, versperrt uns den Weg. Pro Nase will er fünfhundert Rupien. Weit überzogen, mehr als 100 Rupien sollte man nicht bezahlen, das steht in jedem Reiseführer. Kaum hat der Mann den Preis genannt, dreht Tama sich um und geht. Ich versuche, ihn auf dreihundert (für mich) und zweihundert (für Tama) herunterzuhandeln. Diesbezüglich kann ich von Tama einiges lernen. Ich blieb stehen, also koste ich mehr. Unmittelbar darauf steht sie wieder neben mir und steckt mir heimlich ihren Anteil zu.
In Shanti Nagar leben mehr als fünftausend Menschen. Achthundert davon sind Dhobis (Wäscher). In winzigen Hütten hausen bis zu zehn Menschen. Tama und ich stolpern durch ein dunkles Labyrinth, vorbei an siechenden Alten, im Schlamm hockenden Frauen und greinenden Kindern. Auf Ölkanistern werden Chapatis geröstet. Wir waten durch aufgeweichte Erde. Wir sind, was wir sind: Touristen, die dafür zahlen, einen Blick ins Elend werfen zu dürfen. Auf verschlungenen Pfaden werden wir von einem Krüppel durch die Unterwelt dirigiert. Ich frage, wie die einzelnen Wäschestücke je wieder dort landen, wo sie herkommen. Der Mann spricht besser Englisch als ich. Er deutet auf eine Jeans, an deren Bund ein kleines weißes Stoffstück hängt, mit der Aufschrift »K-2-2«. »K ist das Areal und 2 steht für die Schlafstelle.«
»Und der andere Zweier?«
»Die Uhrzeit. Da muss es fertig sein.«
Die Abteilung für Jeans befindet sich auf den Wäscheleinen im ersten Stock. Auf den Dächern nebenan trocknen hunderttausend ident aussehende Blaumänner. Ich steige eine Hühnerleiter hinunter, stolpere und lande in einer Wasserpfütze mit grünem Schimmel obenauf. Tama kriegt sich nicht ein vor Lachen.
Irgendwann spuckt uns die Friedensstadt wieder aus, ich stecke dem Alten einen Fünfhundert-Rupien-Schein zu, eine Hand schiebt sich dazwischen und der Keiler sackt das Geld ein. Dreihundert gibt er mir zurück, wovon ich Tama hundert weiterreiche. Er hat längst vergessen, wie viel er anfangs verlangt hat. Auch wenn man anfangs unterschiedlicher Meinung ist, letztlich gehen in Indien doch alle zufrieden auseinander. »Good luck for you!«, sage ich zu Tama. Das Mädchen hört es nicht mehr, lachend verschwindet sie zwischen den Hütten der Elenden, den Einhundert-Rupien-Schein wie eine Trophäe in der Hand.
In Mahalaxmi besorge ich ein Bahnticket für die Fahrt zurück nach Colaba. Für sechs Kilometer Fahrt bezahle ich fünf Rupien. Umgerechnet sind das 0,06 Euro, und dafür geniere ich mich ein wenig.
Am Bahnhof Churchgate erwartet mich eine besondere Mission. Seit Jahren schon, der Seitensprung ins Privatime sei gestattet, bin ich der indischen Küche mit all meinen Sinnen verfallen. Das geht so weit, dass ich für mein Selbstgekochtes nur originales Thali-Geschirr verwende, auch die musikalische Untermalung muss stimmen, von den Bananenblättern, wie man sie im Süden des Landes als Teller verwendet, ganz zu schweigen. Einer meiner Sehnsuchtsfilme heißt Lunchbox. Eine zauberhafte Liebesgeschichte rund um, nebbich, die indische Küche. Eine zentrale Rolle darin kommt den Dabbawalas zu, Männern, deren Aufgabe es ist, die von Frauen mit viel Liebe am häuslichen Herd zubereiteten Speisen an deren Ehemänner zu überstellen. Kulinarische Liebesboten könnte man die Herren mit den kecken weißen Hütchen auch nennen. Bei uns wird die mittägliche Austragerei profan »Essen auf Rädern« genannt.
In Indien gelten Herstellung und Versand von Selbstgekochtem als Liebesversprechen. Die Köchin muss sich darauf verlassen, dass das auf die Reise geschickte Essen auch wirklich sein Ziel erreicht. Bei geschätzten zwanzig Millionen Einwohnern in Mumbai ist das alles andere als selbstverständlich. Wer bitte hat schon die Straßennamen von sechshundert Quadratkilometern Stadtfläche im Kopf? Dazu braucht es, bei aller Liebe, eine ausgefuchste Logistik.
Viele der Dabbawalas können weder lesen noch schreiben, sie entstammen einer unteren Kaste. Die Codierung auf den vielstöckigen Blechbehältern ist gefinkelt und von Nichteingeweihten nur schwer zu durchschauen: Auf die Außenseite wird eine Kombination aus Zahlen, Buchstaben und Zeichen gekrakelt. Die empathischen Liebesboten sind sich ihrer Verantwortung wohl bewusst. Auf Handkarren, Fahrrädern oder zu Fuß transportieren sie täglich bis zu zweihunderttausend solcher Henkelmänner kreuz und quer durch die Riesenstadt. Die Effizienz ihrer Organisation verblüfft. Angeblich gibt es eine Statistik, der zufolge nur alle vierzig Tage eine der delikaten Lunchboxen verloren geht, also eine von acht Millionen. Das Räderwerk ist so ausgereift, dass sich Logistikunternehmen wie FedEx, UPS oder DHL auf Studienfahrt begeben, um vor Ort zu lernen.
Im Film Lunchbox passiert das Undenkbare: Eine der Boxen landet an falscher Stelle und es kommt, wie es kommen muss: Der Gaumengenuss stürzt den Ahnungslosen in einen Sturm der Gefühle, dem er sich nicht zu entziehen weiß. Das Missverständnis klärt sich nicht auf, die Unschuldigen werden einander nie erreichen. Ihre Liebe aber währt ewig.
Ich wollte den Weg der täglichen Liebesbotschaft nachvollziehen, tatsächlich war dies einer der Gründe, weshalb ich Mumbai als Ausgangspunkt meiner Reise wählte. Ich wollte Zaungast subkontinentaler Gefühlswelten werden.
»They will come at half past eleven, perhaps five minutes earlier!« Der Busfahrer der Linie 981 weiß Bescheid. Seit einer halben Stunde stehe ich an der Ostflanke der Churchgate Station auf Posten, das Spektakel der mittäglichen Reindl-Parade darf nicht versäumt werden. Punkt elf Uhr fünfundzwanzig ist es so weit, der erste Dabbawala erscheint. Innerhalb weniger Minuten sind sie alle da: Wie auf ein geheimes Zeichen hin treffen die sagenumwobenen Kuriere ein. Alle tragen kecke Hütchen, weithin sichtbares Zeichen ihrer Zunft. Und auch sonst sind sie schmuck gekleidet: weiße Hemden, gebügelte Hosen. Die Dabbas mögen nicht hoch oben stehen in der gesellschaftlichen Hierarchie, Standesbewusstsein aber haben sie.
Dosen knallen auf den Asphalt und werden nach Wohngebieten sortiert. Immer mehr Boten treffen ein. Ein Blechgebirge faltet sich auf, die Passanten müssen sich ihren Weg zwischen den Büchsen bahnen. Die Töpfchen, in denen bestimmt die köstlichsten Currys wabbeln, werden auf schmale Bretter geschlichtet oder auf Handkarren verladen, einige landen auch direkt auf dem Kopf der Träger. Das oberste Reindl-Geschoß bleibt den Chapatis (Brot) vorbehalten, darunter befindet sich das Palak Paneer (Spinat mit indischem Käse), dann das Chana Masala (Kichererbsencurry) und als Grundierung quasi und zuunterst der Safranreis. An dessen Stelle kommt auch das würzige Kartoffelgericht Batata Bhaji infrage, dazu Chicken Tikka Masala (Hühnchen in Joghurt und Tomate) sowie das allgegenwärtige Spaltlinsengericht Dhal, und, als krönender Abschluss, Dahi, eine Art selbst gemachtes Joghurt. Denkbar wäre auch: Patal Bhaji (geschmorter Spinat mit Nüssen), Puri (Fladenbrot, aufgebläht wie ein Kugelfisch), Alu Gobhi (Kartoffel und Karfiol in Kurkuma), Tawa Pulao (Masala-Reis mit Gemüse) oder ein überirdisches Masala Pav (in Butter geschwenktes Brötchen mit Gemüsefüllung). Das alles habe ich im Kino gelernt und auf meinem Herd nachvollzogen.
Eine Abordnung verlässt den Bahnhof in Richtung Jamshedji Tata Road. Schon die nächste Kreuzung ist eine erste, ernst zu nehmende Hürde. Sechs breite Boulevards treffen sternförmig aufeinander. Die Straßen gesund zu überqueren, verlangt höheren Beistand. Den haben die Herren: Sie sind dem Schutzheiligen des weltlichen Genusses, dem Gott Kamadeva, unterstellt. Um ein bisschen was davon abzukriegen, schließe ich mich einer der Karawanen an. Den (h)eiligen Essenszustellern und ihrem unauffälligen Trabanten gelten keine irdischen Verkehrsregeln, für sie ist das Gesetz der Liebenden zuständig, in dessen Auftrag sie unterwegs sind. Sobald die Gottgewollten die Straße betreten, bremsen sogar LKW-Trucks jäh ab. Jeder weiß um den delikaten Inhalt der Dosen. Die weiß gewandete Schlange, mit mir als Nachhut, erreicht die gegenüberliegende Straßenseite, an der das symbolträchtige Eros Cinema liegt, ein Kino, das zu Kolonialzeiten mit seiner kühnen Art-déco-Architektur für Furore sorgte. Ganz in der Nähe gibt es ein schattiges Plätzchen, an dem letztes Justieren stattfindet. Die Büchsen werden einer tieferen Systematik unterzogen. Diesmal wird pro Häuserblock geschlichtet. Einer der Walas, der Grandseigneur der Kolonne, ist mir bei seiner Ankunft im Bahnhof bereits aufgefallen, ein Aristokrat in Aussehen und Tenue.
Kurz vor zwölf. Gewiss wartet bereits ein hagerer Jüngling, Typus Staatsdiener, auf die heutige Sinnesattacke. Schüchtern sollte er schon sein, darauf legt meine Phantasie Wert, seine Anbetungswürdige gibt sich nicht für Rabauken her. Sendet er ihr ein hastig hingekritzeltes Poem zurück, das er in einer mit Chapati-Resten blank getunkten Etage des Blechkerls wie zufällig deponiert? Die Göttin irdischen Genusses am Beginn der Nahrungskette sehnt wohl schon den Augenblick herbei, da sich der errötende junge Mann dem verführerischen Duft ihrer Speisen hingibt.
In Windeseile ordnen und beschriften die Boten das wertvolle Gut erneut, dann zerstreuen sich die Delegationen in Einzelgänger und Gruppenläufer. Schwer beladen nehmen sie mit ihren Fahrrädern die letzte Etappe in Angriff. Manche wuchten sich das lange Tragegestell auf den Kopf, andere stoßen Handkarren vor sich her, auf denen die Dosenungetüme verzurrt sind. Ich trachte danach, meinen »Anführer« nicht aus den Augen zu verlieren, was sich leichter anhört, als es ist, bewegt sich die Gruppe doch überaus ambitioniert durch den mittäglichen Verkehr.
Zehn nach zwölf. Die Herren verfallen in Trab, immer mehr von ihnen verschwinden in den Seitengassen. Mein Team läuft die Jamshedji Tata Road entlang, so zügig, dass ich Mühe habe, Schritt zu halten. Wir pflügen durch Mumbai, in Richtung Nariman Point. Autos, Busse, Motorräder, Ochsenkarren, Fußgänger, Kühe – alles steht still und nimmt Rücksicht auf den seltsamen Zug: ein Handkarren, darauf Trauben verschnürter Blechbüchsen, geschoben von zwei weiß gekleideten Herren, einer davon reichlich nervös, gefolgt von einem schweißüberströmten Traveller mit gezückter Kamera. Die Träger werden immer schneller. Sie wissen, es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Der in seinem stickigen Büro Schmachtende benötigt Seelenfutter. Die Walas erhöhen das Tempo, ich immer noch hinterdrein. Längst habe ich meine Tarnung abgelegt, weswegen mir die Kollegen bei jedem Überqueren der Straße bereits freundschaftlich zuwinken. Das Lauftempo wird erneut gesteigert. Tun sie es, um mich abzuschütteln?
Halb eins. Ich bin am Ende meiner Kräfte. Eine halbe Stunde schon hasten wir durch die Mittagshitze. Die wilde Jagd verlangt mir alles ab. Endspurt. Wir sind in der Madame Cama Road, nach vorne hin zum Marine Drive wird sie zur Sackgasse. Endlich halten die beiden Läufer. Zwölf Uhr achtunddreißig. Wir sind da. Die ersten Henkelmänner verschwinden in den Bürohäusern. Der Grandseigneur-Dabbawala entwirrt die Dosen und ordnet sie ein allerletztes Mal, indem er sie der Reihe nach auf das Trottoir stellt. Dann pflückt er eine Büchse, wie mir scheint, mit besonderer Sorgfalt heraus, wirft mir einen verschmitzten Blick zu und verschwindet im Hausflur. Der Moment ist gekommen. Bald schon vereint die beiden jungen Liebenden: Duft (vorerst), Vollkommenheit (später) und Erfüllung (endlich). Der Übermittler all dieser Genüsse ist abgetaucht in der dunklen Kühle des Hauses und hastet hinauf in den ersten Stock. Der Mitläufer bleibt außen vor. Heute durfte ich teilhaben am Kreislauf allzu menschlicher Sehnsucht.
Mein Blick fällt auf ein Messingschild: »Thai Massage, First Floor«. Der schüchterne junge Kerl ist mitnichten schüchtern, noch weniger Mann. Meine postpubertäre Liebesphantasie stürzt in sich zusammen. In Wahrheit hat eine Gruppe Professioneller von einer Restaurantkette Fast Food gegen den hastigen Hunger geordert. Gewiss machen sich flinke Finger sogleich wieder an ihre Arbeit. Oh, mein Gott. Das Geheimnis der Henkelmänner ist gelüftet: Halbseidenes Licht fällt auf die Madame Cama Road. Nachdenklich mache ich mich auf den Heimweg.