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Eine Landung wie im Märchen

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Mumbai, 16. Februar

Der Gockel lässt nicht locker. Nach drei traumlosen Stunden wache ich auf. Über mir dreht sich ein Monstrum von Ventilator. Durch die Jalousien fallen grelle Sonnenstrahlen und werfen Linien durch den Raum, als wären sie Teil eines Bildes der englischen Op-Art-Künstlerin Bridget Riley. Auf dem Fenstersims hockt eine Krähe und starrt mit bösen Augen auf den großen weißen Mann, der sich unter falschem Namen in ihr Reich geschmuggelt hat. Scharfe Federn kratzen gegen das Scherengitter. Eine zweite Krähe linst herein. Was sehen sie? Wer hat bis gestern hier gewohnt? Enssinger? Wie begreifen Vögel die Welt? Die letzte Spielzeit meines Theaters habe ich mit Aristophanes’ gleichnamigem Stück eröffnet. Die Tiere errichten ihr Wolkenkuckucksheim. Was mit der »besten aller Welten« beginnt, endet in der schlechtesten – dem Faschismus. Mein geliebter Kumpel, der theatralische Querkopf Schulte-Michels hat inszeniert. Indem ich das Theater verließ, habe ich auch viele meiner Wegbegleiter verloren. Schumi war einer der Liebenswertesten.

Um ins Badezimmer zu kommen, muss ein Vorhängeschloss geöffnet werden. Das Hotel gleicht einer geschlossenen Anstalt. Mit abgekochtem Wasser putze ich mir die Zähne und stelle mich unter das eiskalte Rinnsal einer Dusche. Die Seife fühlt sich nach Klostein an. Vielleicht ist sie auch einer. Der allgegenwärtige Smog verfolgt mich bis hierher: Im Bad stinkt’s nach Diesel. Kein Wunder, das Hotel heißt Bentley’s.

Am Colaba Causeway liegt ein geschichtsträchtiger Ort. Das Leopold Café ist einer der Hauptschauplätze des Romans Shantaram, der bizarren Lebensgeschichte eines australischen Drogendealers, der in einem der unzähligen Slums Mumbais untertaucht. Das Leopold ist auch noch aus einem anderen Grund in die Schlagzeilen geraten. Vor Kurzem bekamen hier zehn Menschen ein paar Kugeln in den Kopf. Vier Tage später sperrte der Besitzer seinen Laden wieder auf, in der berechtigten Hoffnung, dass Verbrecher ihre Handschrift nie zweimal am selben Ort hinterlassen. Unzählige Löcher an den Wänden erzählen eine grausige Geschichte. Ich bestelle Toast, gefüllt mit einer undefinierbaren Pampe, und überlasse ihn dem unentwegt mit dem Kopf wackelnden Kellner. Täusche ich mich oder sehe ich in seiner Backe ein Einschussloch? Ich zahle und verlasse den Ort blutiger Facts and Fakes.

Das Gateway of India liegt in unmittelbarer Nähe zum Taj Mahal Palace Hotel und ist das Wahrzeichen der Stadt. Ein Willkommensgruß für all jene, die sich der Stadt vom Wasser her nähern. Es sollte Jahrhunderte dauern, bis sie alle wieder gingen. Ein klein gewachsener Mann, in der Rechten einen Wanderstab, auf der Nase eine Nickelbrille und an den Füßen ein Paar Sandalen, brachte es zuwege. Mahatma Gandhi war Rechtsanwalt. Am 30. Jänner 1948 stellte sich ihm ein fanatischer Hindu in den Weg. Der kleine, große Mann begab sich zum Gebet, das Hindus gleichermaßen galt wie Moslems. »Du bist zu spät«, sagte der Fremde. Unmittelbar darauf trafen Gandhi drei Kugeln, zwei in den Bauch, eine in die Brust. Die Kugeln töteten nicht nur die Ikone des gewaltfreien Widerstandes, sie galten der Vision, Religionen zu einen. Gandhi hatte einen gewaltfreien Kampf gewonnen, die Macht der Engländer wurde gebrochen. Das Todesurteil aber hatte eine andere Ursache. Sein Aufruf zur Versöhnung der Religionen führte letztlich zur Gründung zweier neuer, unabhängiger Staaten: Westpakistan, das heutige Pakistan, und Ostpakistan, Bangladesch. Der Mord war der Startschuss eines bis heute schwelenden Konfliktes. Auch das Gateway wurde Ziel eines blutigen muslimischen Terrorangriffes. Heute ist das Gebäude entsprechend geschützt, man muss einen Kordon von Polizeischranken überwinden, um es zu besichtigen. Wenn man drinnen ist, ist man schon wieder draußen. Mehr als ein Tor gibt’s nicht zu sehen.

Im Taj Mahal Palace möchte ich ein Gläschen auf die Freiheit des indischen Staates heben. Die Revolutionsfeier muss allerdings verschoben werden. Weshalb? Ich finde den Hoteleingang nicht. Kein Witz. Keine Türe.

Ich spaziere durch ein Viertel, in dem ein monumentales Gebäude neben dem anderen steht: Kala Ghoda. Das größte Museum der Stadt befindet sich in einem traumhaft schönen Park gleich am Beginn der Mahatma Gandhi Road. Hier lagern die meisten ethnischen Kunstschätze Indiens. Ein anderes Haus, schräg gegenüber, zieht mich noch mehr an: Der sephardische Jude David Sassoon hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Stadt ein »Haus der Weisheit« geschenkt. Der Mann konnte sich’s leisten, sein Vermögen machte er mit Opium. Nicht jeder Dealer aber spendiert gleich eine Bibliothek. Hundert Jahre später existiert das Legat immer noch. Über dem Eingang prangt ein Relief des Stifters: Mit Rauschebart und Turban grüßt der Jude seine Schüler.

Der Eintritt in die Bücherwelt ist mystisch und – stockdunkel. Ein Typ mit Bart und Turban steht vor mir. Er ist aus Stein. Die Hände hat er zum Himmel gerichtet.

»Yes, please?«

Ich sehe den Golem an. Spricht er zu mir? Jemand tippt mir auf die Schulter. Ich erschrecke.

»In the name of Mr. Sassoon, I welcome you!«

Ein Mann aus Fleisch und Blut wendet sich einem Berg von Schlüsseln zu und legt sie der Größe nach geordnet auf den Tisch. Ich sage, dass ich es wunderbar finde, der Welt Buchstaben zu hinterlassen, verneige mich vor dem versteinerten Mr. Sassoon, nicke seinem menschlichen Ebenbild zu und betrete den Garten des Hauses. Vögel hopsen durch das Gras. Wenn sie die trockenen, am Boden liegenden Blätter der großen Banyan-Bäume berühren, klackt es, als legten hinten in der Laube der Opiumhändler und seine Freunde Dominosteine auf die Tischplatte. Auf einer Bank strecke ich mich aus und schließe die Augen. Inmitten der unüberschaubar großen Stadt habe ich einen Platz der Ruhe gefunden. Wissen und Bücher machen es möglich. Lange liege ich da, im Schatten der Vergangenheit, so lange, bis es mich zu frösteln beginnt.

Gleich nebenan steht das Esplanade Mansion, vormals erstes Hotel der Stadt. Die Straße davor wurde nach ihm benannt. Ein Autobus kracht in ein Taxi. Der Fahrer springt aus dem Wagen, trommelt gegen die Scheibe des Buslenkers, tritt gegen die verbeulte Türe und verpasst dem Monstrum weitere Dellen. Ungerührt lässt der Chauffeur den Angriff auf sein Fahrzeug geschehen, legt unter Seufzen der schweren Maschine eine nachtschwarze Dieselwolke über den Tatort und löst sich vor den Augen der staunenden Menge in nichts auf. Resigniert steigt auch der Taxilenker in seinen ramponierten Wagen und entfernt sich, seiner Wut geschuldet, gegen die Einbahn fahrend. Schon bald ward auch er, gleich einem Zaubertrick des berühmten Magiers Copperfield, nicht mehr gesehen.

Die Gebrüder Lumière schrieben im Esplanade Stadtgeschichte: 1896 führten sie zum ersten Mal auf indischem Boden ein kinematografisches Experiment vor, das die High Society Mumbais entzückte. Die Sensation strahlt bis heute nach: Die hiesige Filmindustrie zählt zu den umsatzstärksten Wirtschaftszweigen des Landes. Längst ist das Esplanade eine verfallene Ruine. Betritt man das Gebäude, wähnt man sich in einem Bollywood-Action-Movie. Vor Kurzem krachte ein Balkon auf den Gehsteig und begrub zwei Menschen unter sich. Eine Unmenge von Messingschildern sind im Entrée angebracht. Advokaten und Versicherungen betreiben hier ihre Büros. Das scheint das Problem zu sein, das Haus ist im Besitz von Rechtskundigen. Eine Renovierung scheint nicht in ihrem Interesse zu liegen. Balkone abstürzen zu lassen und die Versicherungssumme zu kassieren, ist lukrativer.

Ich spaziere den Oval Maidan entlang, eine riesige Grünfläche, die für Kricket genutzt wird, vorbei an den beiden viktorianischen Trutzburgen Universität und High Court. Zwei Bahnhöfe ziehen mich an: die Churchgate Railway Station und der regierende Weltmeister in dieser Disziplin, der Chhatrapati Shivaji Terminus, eine Merkwürdigkeit, die weltweit ihresgleichen sucht. Es dämmert gerade und der Blick, der sich mir bietet, ist unbeschreiblich: eine indo-sarazenische Mischung aus Grottenschloss und Geisterberg. Von Weitem grüßt das Wiener Rathaus. Nie zuvor habe ich einen ähnlich bombastischen Kitsch gesehen. Blau-rot glänzt die Fassade, die Fenster grün, die Türme gelb, und die Mauervorsprünge, Nischen und Erker, wovon es jede Menge gibt, sind mit Glühlampen bestückt. Man traut seinen Augen nicht: Hogwarts, von Mumbais größenwahnsinnigsten Filmarchitekten nachgebaut und ausgeleuchtet.

Ich betrete die bombastische Kassenhalle, gleich dahinter erstreckt sich ein Labyrinth aus Wandelgängen, Couloirs und Foyers, die für die Krönungsfeierlichkeiten des englischen Königshauses herhalten könnten. Endlos viele Gleise enden hier, im größten Kopfbahnhof der morgenländischen Welt. Im Minutentakt kommen Züge an. Menschen hängen an den Türen wie doldenartige Wucherungen. Der erste Waggon eines jeden Zuges ist ausschließlich Frauen vorbehalten. An der Fahrerkabine, groß wie ein geräumiges Kontor, prangt das Schild »Motor Man«. Damit ist alles gesagt. Die Branche ist sauber gegendert, zumindest hier. In unzähligen Filmen spielte der Chhatrapati die Hauptrolle. Neben Millionen Reisenden beherbergt der Bahnhof auch Heerscharen von Bettlern und Straßenkindern, die hier auf den Perrons ihr Zuhause haben. Vorsicht ist geboten: Über sie zu stolpern, heißt in die Welt der Unberührbaren einzutauchen.

Direkt hinter dem Monstrum hat ein Nachtmarkt seine Pforten geöffnet. Hier und jetzt erfüllt sich erstmals auf dieser Reise meine Leidenschaft für Street Food: Ein zu allem Entschlossener schaufelt Unmengen von Reis auf einen Blechteller, dazu Dhal, Curry und Mixed Pickles, das Ganze wird mit Schichten von heißen, frisch zubereiteten Fladenbroten versehen, nebst einem Vada Pav, einer Art vegetarischen Burgers bestehend aus frittierter Kartoffelmasse in einem weichen Brötchen (Pav). Das fertige Kunstwerk drückt er mir, garniert mit höllenscharfem Chutney und grünen Chilis, in die Hand. Dafür will er dreißig Rupien, das sind umgerechnet vierzig Cent. Nie zuvor habe ich eine köstlichere Mahlzeit genossen. Ich schlinge, schaufle, gaffe, werde begafft und schlinge und schaufle weiter, vergesse das Chaos rund um mich und bin mittendrin und lebe und bin glücklich – und bin angekommen.

Das Sahnehäubchen des Tages bildet das Regal, eines der ältesten Kinos der Stadt. Wer etwas auf sich hält, muss dort hinein. Um stramme zweihundertfünfzig Rupien leiste ich mir im Dress Circle den »ersten« Platz. Ein sündteures Vergnügen, aber es ist jeden Cent wert. Das Kino ist gesteckt voll. Es wird gegessen und getrunken, die Stimmung ist bestens. Plötzlich schnellen alle wie auf ein geheimes Zeichen von ihren Plätzen auf: Über die riesige Leinwand flattert die indische Fahne. Mit einem Mal herrscht Ruhe im Saal. Ehrfurchtsvoll, die Hand am Herzen, lauschen wir der Hymne. Danach geht’s los: Party! Der Streifen heißt Aiyaary und spielt in indischen Geheimdienstkreisen. Die Sprache ist Hindi, ich verstehe Bahnhof, kein Wunder bei meinem heutigen Programm. Egal, ich bin der Zuschauer wegen hier und das entschädigt das Fehlen jeglichen Fachwissens. Mein erster Tag in Indien geht zu Ende, wie er begonnen hat: in einem Bollywood-Märchen.

Von Menschen, Märchen & Moguln

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