Читать книгу Die magische Bibliothek - Michael Siefener - Страница 4
2. Kapitel
ОглавлениеAlbert fragte sich, wie wohl sein Zimmer aussehen mochte. Lag es in einem der Türme oder war es ein hochherrschaftlicher Raum mit einem uralten Himmelbett, einer altersdunklen Holztäfelung und unheimlichen Porträts an den Wänden? Er hatte noch nie auf einer Burg übernachtet.
Der Bentley rollte die Hauptstraße entlang, bog dann nach links in eine kleine Gasse ein und glitt zwischen gedrungenen, weiß gekalkten Häusern hindurch, die sonderbar verlassen wirkten. Wiederum an der linken Seite führte eine schmale Straße bergan und auf das Schloss zu.
Albert war verwirrt, als der Bentley nicht dort hochfuhr, sondern weiter der kleinen Gasse folgte, die geradewegs in das Herz des stillen Dorfes zu stoßen schien. Sicherlich gab es irgendwo eine zweite Auffahrt, die für den schweren Wagen geeigneter war.
Zur Rechten bemerkte Albert eine neugotische Kirche, die für das winzige Dorf viel zu groß zu sein schien. Links neben ihr erstreckte sich ein Platz, unter dessen Linden bereits die Nacht eingekehrt war.
Der Bentley hielt auf diesem Platz, der an der linken Seite von einem zweistöckigen Haus mit eifeltypischen Sandsteineinfassungen um die lichtlosen Fenster begrenzt wurde. Über der modernen, hellen Holztür hing ein neongrelles Schild mit der Aufschrift: Zum Roten Ochsen.
»Ich hoffe, Sie werden hier einen angenehmen Aufenthalt haben«, meinte Paulus und schaltete den Motor aus.
»Bekomme ich kein Zimmer in der Burg?«, fragte Albert mit tiefer Enttäuschung in der Stimme. Er sah im Rückspiegel, wie Paulus lächelte.
»Ich bedaure zutiefst, dass das nicht möglich ist«, gab der Diener zurück. »Wir haben oben auf der Burg nicht die Mittel, es einem Gast Ihres Ranges bequem zu machen. Wir sind nicht auf Besuch eingerichtet.«
»Aber mein Bruder …«
»Auch Ihr Bruder hat noch nie eine Nacht auf der Fangenburg verbracht«, schnitt ihm Paulus das Wort ab. »Seien Sie versichert, dass Sie im Roten Ochsen besser aufgehoben sind.« Der Diener stieg aus und hielt Albert die Tür auf. Es war eine höfliche, zugleich aber auch sehr bestimmende Geste. Als Albert in der kalten Abendluft stand und sich zwischen den Schattenseen des Platzes umschaute, fröstelte ihn. Er schaute hoch zur Burg. Das goldene Fensterauge war erloschen.
Schon hatte Paulus sein Gepäck auf den Platz gestellt. »Der Graf erwartet Sie morgen früh.« Ohne dem Rechtsanwalt die Hand zu geben, stieg er wieder in den Bentley und fuhr davon.
Adieu, Dracula, dachte Albert. Hier endet die Übereinstimmung des Lebens mit dem Traum. Es wäre ja auch zu schön gewesen.
Wie still es hier war. Kein Laut drang an seine Ohren. Kein Hundegebell, keine Kinderstimmen, kein Motorenlärm, kein Hühnergegacker oder Gänsegeschnatter. Er warf einen letzten Blick auf die plötzlich so fern wirkende Burg, wuchtete seufzend den Reisekoffer hoch, nahm mit der anderen Hand den kleinen, schwarzledernen Aktenkoffer auf und tauchte in die Lindenschatten ein.
* * *
Der Schankraum war leer und dunkel. Die Lichtreste, die durch die niedrigen Fenster an der Platzseite drangen, gaben Albert bloß eine Ahnung gedrungener, labyrinthischer Balken, etlicher Tische und Stühle und einer breiten Theke.
Er stellte sein Gepäck ab und rief: »Hallo?«
Niemand antwortete ihm.
Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Zwielicht. Die Tische waren poliert und hatten keine Decken; auf jedem stand eine kleine Vase mit frischen Blumen. Balkenkonstruktionen bildeten Nischen um einige der Tische und verwirrten die Konturen des Raumes zu einem hölzernen Irrgarten.
»Hallo?« Sollte das ein Witz sein? Hatte man ihn als Zielscheibe für eine Posse auserkoren? Es wäre nicht das erste Mal in seinem Leben. Albert spürte, wie jegliche Gefühle von Freude und Wunder aus ihm abflossen und einer verzweifelten Wut Platz machten. »Ist denn hier niemand?«
Ein Lichtspalt erschien neben der Theke und warf einen hellen, sich rasch verbreiternden Balken auf den Boden. Eine gedrungene Gestalt erschien im Türdurchgang. Sie machte einen Schritt in den Schankraum hinein, dann blieb sie stehen.
»Hallo, Sie da!«, rief Albert. Er rührte sich nicht von der Stelle. »Hier ist offenbar ein Zimmer für mich bestellt worden. Albert Moll ist mein Name. Sind Sie der Wirt?«
Wie ein Blitz sprang Licht ihn an. Die Gestalt hatte die Beleuchtung eingeschaltet. Schatten flohen mit leisem Gewisper. Langweilige Formen und Farben ordneten sich zur Alltäglichkeit einer Dorfkneipe.
»Moll?«, fragte die Gestalt mit tiefer, heiserer Stimme und glitt hinter die Theke. Albert hörte, wie ein Buchdeckel aufgeschlagen wurde und Papier raschelte. »Albert Moll? Ein Zimmer, bestellt vom Grafen. Ja. Hier ist der Schlüssel.«
Es klapperte auf der Theke.
Albert nahm seine beiden Koffer auf und stellte sie vor dem Tresen wieder ab. Der alte Mann dahinter trug einen fleckigen Pullover, aus dem viele Fäden hervorlugten; er war unrasiert; seine grauweißen Bartstoppeln erinnerten an ein abgeerntetes Feld. Die Lippen waren eingefallen; offenbar hatte der Mann keine Zähne mehr im Mund.
Er sah Albert mit forschendem Blick an. »Aus der Stadt, nicht wahr? Sie haben das schönste Zimmer. Gleich unter dem Dach. Gemütlich und groß. Wird Ihnen gefallen. Nummer 14.« Er schob Albert den Schlüssel entgegen. »Nehmen Sie ihn mit, wenn Sie heute Abend noch ausgehen. Obwohl ich nicht wüsste, wo Sie hingehen sollten.«
»Kann ich bei Ihnen ein Abendessen bekommen?«
»Wir haben heute Ruhetag.«
»Gibt es hier am Ort noch ein anderes Restaurant?«
»Nein.«
»Und was soll ich jetzt machen?« Alberts Wut kochte höher.
»Auf das Frühstück warten. Gibt’s morgen früh ab sieben. Sie sehen nicht so aus, als würden Sie in der Zwischenzeit verhungern.« Er starrte seinen Gast frech an.
Sollte Albert es diesem verlotterten Alten mit gleicher Münze heimzahlen? Nein, das war es nicht wert. Er würde eine oder zwei Nächte hier verbringen und dann diesem Ort den Rücken kehren für immer und ewig. »Wo ist die Treppe nach oben? Einen Fahrstuhl haben Sie ja wohl nicht, oder?«
»Einen Fahrstuhl für zwei Etagen? Unsere Gäste sind normalerweise noch so rüstig, dass sie ihr Gepäck zu Fuß raufbringen können. Die Treppe ist da hinten.« Er zeigte auf eine Tür rechts neben der Theke; dann verschwand er ohne ein weiteres Wort hinter der Tür, durch die er gekommen war.
Albert schleppte sich ächzend mit seinem schweren Reisekoffer ab. Auf der schmalen, steilen Treppe wäre er beinahe gestürzt, konnte sich aber gerade noch am Geländer festhalten. Schließlich stand er in einem fensterlosen Gang, der wie ein schwarzer Schlauch ins Nichts zu führen schien. Albert tastete nach einem Lichtschalter. Als er ihn endlich gefunden hatte, quälte sich das kranke Licht einer Energiesparlampe durch den Korridor, von dem nur drei Türen abzweigten. Nr. 14 war das letzte Zimmer. Resigniert schloss Albert die Tür auf, schaltete das Licht dahinter ein und sah sich um.
Der Raum machte einen geräumigen, sauberen und frischen Eindruck; er passte keinesfalls zu der Erscheinung des verwahrlosten Wirtes. Die beiden Gaubenfenster besaßen gerüschte Gardinen; die Bettwäsche war vom selben Stoff; der alte Schreibtisch unter dem rechten Fenster hatte eine Schreibunterlage aus grünem Leder und am Schlüssel des verspiegelten Kleiderschrankes baumelte ein Lavendelsäckchen.
Albert wuchtete den Reisekoffer auf das Bett, das kaum nachgab. Den Aktenkoffer legte er daneben und verließ das Zimmer. Er musste nach draußen, an die Luft, musste ein paar Schritte gehen, um Ordnung in seine Gedanken und Wünsche zu bringen.
* * *
Das Licht in der Schankstube war bereits wieder ausgeschaltet. Albert durchquerte den Raum an der verlassenen Theke und den Balkennischen entlang und trat nach draußen in den Frühlingsabend.
Die Sonne war bereits hinter dem Kraterrand versunken; die Bäume des kreisförmigen Bergkamms stachen wie Nägel in den tiefblauen Himmel. Alle Wolken hatten sich verzogen. Albert ging die Gasse zurück, durch die Paulus ihn gefahren hatte, und bog dann nach rechts in die steil ansteigende Straße ein, von der er vermutete, dass sie zur Burg führte.
Die Häuser rechts und links wirkten verlassen; kein Lichtschein drang aus ihren Fenstern. Niemand war auf der Straße zu sehen; nicht einmal ein Hund bellte, als Albert sich den Berg hochkämpfte. Er war nicht gerade leichtgewichtig und schwitzte stark, als er endlich die Hügelkuppe erreicht hatte. Der Torbau des Schlosses erhob sich zu seiner Linken; er war genauso tot und abweisend wie all die anderen Häuser. Zwischen zwei zinnenbewehrten Türmen steckte ein uraltes Holztor, das nicht den geringsten Ausblick auf die Burg dahinter freigab. Lediglich die hexenhutartigen Schieferdächer einiger Rundtürme ragten hinter den Mauern so hoch in den Himmel, dass sie auch vom Tor aus zu sehen waren.
Albert war traurig, nicht innerhalb dieser Mauern logieren zu dürfen. Er war traurig, dass sein Dracula-Traum zerstoben war. Aber was hatte er denn erwartet? Früher oder später mussten all seine Fluchten an der Wirklichkeit zerschellen. War es eigentlich nicht genau das, was er wollte? Was wäre denn, wenn er plötzlich einen Schritt hinter die Wirklichkeit machte und mitten in eine seiner papiernen Fantasien stolperte? Was wäre, wenn er keine Rückzugsmöglichkeit mehr hätte, wenn er selbst in eines der Bücher geriete, die er über alles schätzte, und deshalb nicht mehr einfach den Band zuklappen konnte, um seine Geister zu bannen? Ihn fröstelte.
Er wandte sich von der Burg ab und war erstaunt, dass die Straße hier oben keineswegs zu Ende war. Sie verengte sich zu einem unasphaltierten Weg und verlief über einen schmalen Grat, der den Burghügel mit dem kreisförmigen, bewaldeten Kraterrand verband. Eine kleine Wandertafel kurz vor dem Grat zeigte einige Rundwege. Sie zerstörte mit ihrer spießigen Normalität die letzten Wunderreste, die noch in der kühlen Abendluft um die Mauern der alten Burg gelagert hatten.
Albert hatte keine Lust, jetzt schon zum Roten Ochsen zurückzukehren; also betrat er den Gratweg.
Der Pfad wurde von einigen Fichten gesäumt, zwischen denen man nach rechts und links einen beunruhigenden Blick auf den Grund des Kratertals hatte. Der Weg schien in der Luft zu schweben wie eine Hängebrücke über einem geheimnisvollen Urwaldtal. Albert hätte sich kaum gewundert, wenn der Boden unter ihm plötzlich zu schwanken begonnen hätte.
Doch er blieb fest und unbewegt und rasch hatte Albert die enge Schlucht überquert. Der Kamm dahinter war viel breiter, als es von unten den Anschein gehabt hatte. Der bequeme Weg verlief zunächst auf der Kammhöhe, dann führte er ein Stück weit abwärts und schmiegte sich an die Bergflanke.
Albert blieb bald stehen. Der Himmel wechselte langsam von Dunkelblau zu Schwarz. Schon sah er das Funkeln der ersten Sterne über den Wipfeln. Es war zu gefährlich, in diesem Düster weiterzugehen; wie schnell konnte er sich den Knöchel verstauchen oder gar einen Fehltritt machen!
Da bemerkte er neben sich in der Bergflanke ein aufklaffendes Gittertor. Zuerst hatte es im ungewiss gewordenen Licht wie Gestrüpp ausgesehen, doch als Albert näher heranging, entdeckte er, dass sich hinter dem spärlichen Unterholz eine Grotte oder gar eine Höhle in den Fels bohrte. Sie war mannshoch und das offen stehende Gitter wirkte wie eine Einladung.
Höhlen faszinierten Albert. Man konnte sich in ihnen so vieles vorstellen, wenn man sie nicht allzu eingehend untersuchte. Er erinnerte sich an die unzähligen Höhlen und Tunnelsysteme, die das Werk Howard Phillips Lovecrafts durchzogen, und an die grausigen Geheimnisse, die diese lichtlosen Kavernen bargen. Ein wohliger Schauer durchrieselte ihn. Dracula war vergessen. Er machte einen Schritt in die Höhle hinein.
Dunkelheit sprang ihn an. Es war, als sei er vom einen Augenblick auf den anderen erblindet. Beißende Gerüche stiegen ihm in die Nase: Erbrochenes, Exkremente. Nach ein paar weiteren Schritten drehte er sich um.
Der Höhlenausgang war kaum mehr zu erkennen.
Hinter ihm raschelte etwas.
Er wirbelte wieder herum und blinzelte in die Finsternis. Das Rascheln hörte auf; einige Minuten herrschte völlige Stille, doch dann setzte ein schabendes Geräusch ein.
Es kam auf ihn zu.
Es klang wie etwas Großes, das über den Boden schleifte. Wie etwas sehr Großes.
Albert floh nach draußen. Hinter dem offenen Gitter hielt er kurz an. Das Geräusch war verstummt.
Inzwischen hatte samtene Schwärze die letzten Reste des Tages geschluckt. Albert konnte kaum mehr etwas sehen. Er ertastete sich seinen Weg zurück und ging so vorsichtig, als wandle er über dünnstes Eis. Langsam beruhigte er sich wieder. Bestimmt hatte er nur ein Tier in dieser Höhle aufgescheucht, das mindestens genauso viel Angst gehabt hatte wie er selbst.
Nein, dort in den Eingeweiden des Berges war er seinen Träumen zu nahe gekommen; das spürte er. Es war besser, die Fantasie über die Wirklichkeit zu stülpen und nicht die Fantasie mit der Wirklichkeit zu erschlagen.
Er fand den Gratweg wieder. Hier war er besonders vorsichtig; schließlich wollte er keinen Absturz riskieren. Trotzdem kam er einmal dem Abgrund gefährlich nahe. Sein Fuß fand keinen Halt mehr und er geriet ins Trudeln. Rasch klammerte er sich an eine der Fichten und verhinderte so in letzter Sekunde seinen Fall in die Tiefe. Seine Beine wurden weich und gaben nach. Mit klopfendem Herzen setzte er sich auf den Boden des Pfades.
Bald hatte er sich wieder beruhigt und setzte seinen unsicheren Weg fort. Er war froh, als er endlich die Torburg sah. Eine vereinzelte Laterne brannte vor ihr und tauchte einen Teil der Mauern in hartes, unwirkliches Licht, während der Rest in der Dunkelheit verdämmerte.
Albert spürte wieder den unnachgiebigen Asphalt unter den Füßen und war dankbar dafür. Dieser abendliche Ausflug war eine große Dummheit gewesen. Nun sollte er sich auf sein Zimmer begeben und den Tag bei einem guten Buch ausklingen lassen. Morgen erwartete ihn schließlich wichtige Arbeit auf der Burg des Grafen.
Er hasste den Grafen.
Roderich von Blankenstein hatte bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen er samt seinem Diener Paulus die Kanzlei besucht hatte, einen äußerst ungünstigen Eindruck auf Albert gemacht. Solange der Graf bei diesem Abenteuer für Albert die Rolle Draculas eingenommen hatte, war er nicht gezwungen gewesen, sich mit der wahren Person Blankensteins auseinanderzusetzen. Doch jetzt, da seine Fantasie zerfallen war, grinste ihn unter der verführerisch teuflischen Maske das bacchantische, hässlich hämische Gesicht des Grafen an, dem er morgen früh gegenübertreten musste. Albert wusste, dass der Graf nichts von ihm und seinen bescheidenen juristischen Fähigkeiten hielt. Warum war er damit einverstanden gewesen, dass Albert diesen Auftrag ausführte? Und warum hatte Paulus bei der Herfahrt gesagt, man sei froh, Albert hierzuhaben? Verbarg sich unter den Trümmern seiner Träume tatsächlich noch ein anderes, realeres Geheimnis?
Als Albert in das dunkle Dorf hinunterging und von einer Pfütze aus Laternenlicht in die nächste trat, wusste er plötzlich, woran ihn seine Situation nun entfernt erinnerte. Es gab eine Geschichte des begnadeten englischen Fantasten Algernon Blackwood, deren Titel in der deutschen Übersetzung enigmatisch … à cause du sommeil et à cause des chats lautete. Ein Reisender steigt in einem ihm unbekannten kleinen Städtchen aus, bezieht dort ein Zimmer im einzigen Gasthaus und gerät in einen Strudel äußerst rätselhafter und gefährlicher Ereignisse. Konnte der Rote Ochse nicht dieses Gasthaus sein? Albert ging schneller.
Voll neu gefasster Freude lief er durch das schweigende Dorf, hastete über den Kirchplatz und zur Tür des Roten Ochsen. Er sperrte sie mit seinem Schlüssel auf, fand einen Lichtschalter, stieg nach oben unters Dach, betrat sein Zimmer und packte den Reisekoffer aus, der so schwer gewesen war, weil er eine kleine Bibliothek enthielt.
Albert stellte die Bücher in einer Reihe auf den Schreibtisch und ließ den Blick über die verheißungsvollen Rücken gleiten. Das Buch der Stunde war schnell gefunden: Blackwoods Band Das leere Haus, erschienen in der legendären Bibliothek des Hauses Usher, herausgegeben von dem nicht minder legendären Kalju Kirde, gedruckt auf parfümiertes, grünes Papier. In diesem Buch befand sich die Erzählung, die Albert Moll gesucht hatte. Er setzte sich in den weichen Ledersessel neben dem Schreibtisch und begann mit der Lektüre.
Er versank in ihr und in den Gemeinsamkeiten mit seiner persönlichen Situation.
Da war von einem Zimmer im Gasthaus die Rede, von dem aus der Protagonist einen Blick über die schiefen Dächer des Ortes hatte. Albert drehte den Kopf und schaute aus dem Fenster. Er sah nur die von der Nacht geschwärzten Linden und dahinter eine Ahnung der riesigen neugotischen Kirche und einiger Häuser, doch für ihn war dieser Ausblick wie jener in der Erzählung. Selbst die außergewöhnliche Stille des Ortes stimmte überein. Und der Wirt des Roten Ochsen war durchaus mit jener alten Wirtin in der Geschichte vergleichbar. Albert schnurrte wie eine zufriedene Katze und las weiter.
Er hatte sich recht erinnert.
Es war auch eine Liebesgeschichte. Sein Herz schlug ein ganz klein wenig schneller.
Die Wirtin hatte eine wunderschöne Tochter, welche den Reisenden verführte, er sollte sie zum Hexensabbat begleiten.
Ob auch der Wirt des Roten Ochsen eine Tochter hatte?
Albert schüttelte den Kopf. Warum sollte ihn das interessieren? Seit Inge hatte er das Verlangen nach der Damenwelt verloren. Es war schon sechs Jahre her, doch die Kränkungen und Schmerzen, die sie ihm zugefügt hatte, waren noch lange nicht vergessen. Nein, er sehnte sich nicht mehr nach Liebe. Nie wieder!
Die Stille seines Zimmers wurde gestört.
Eine Diele knarrte auf dem Flur. Jemand stand dort, dessen war Albert sich plötzlich sicher. Lauschte jemand an seiner Tür? Er legte das Buch zur Seite, stand auf und versuchte, leise zur Tür zu gehen, doch bei jeder Bewegung knarrte der Boden. Er hörte, wie draußen auf dem Korridor hastige Schritte fortliefen. Rasch zog er die Tür auf und spähte hinaus.
Es war dunkel auf dem Flur und nun befand sich dort niemand mehr.
Doch er hatte etwas gesehen.
Es war die Gestalt einer Frau gewesen, die rasch auf der nach unten führenden Treppe verschwunden war. Er lauschte eine Weile ihren verklingenden Schritten, bevor er zurück zu seinem Buch ging. Er las mit noch größerer Aufmerksamkeit und größerem Freudenschauer weiter.
Und mit größerer Beklemmung.