Читать книгу Die magische Bibliothek - Michael Siefener - Страница 5
3. Kapitel
ОглавлениеSeine nächtlichen Träume waren ganz nach seinem Geschmack gewesen. Es dauerte ihn, sie verlassen zu müssen, als am Morgen der Wecker rasselte und ihn aus dem Schlaf riss. Rasch machte er Morgentoilette, zog sich an und ging hinunter zum Frühstück. Er war der einzige Gast. Ein Tisch in der Nische vor einem Fenster war für ihn gedeckt. Albert setzte sich und wartete auf den Wirt.
Er kam nicht. Dafür stand plötzlich, als habe sie sich gerade erst materialisiert, eine junge, schwarzhaarige Frau hinter dem Tresen. Albert war sich sicher, dass sie bei seinem Eintreten noch nicht dort gewesen war. Mit verzehrender Macht kehrte die Erinnerung an Algernon Blackwoods Geschichte zurück.
Die junge Frau kam mit geschmeidigen Bewegungen auf seinen Tisch zu und streckte zur Begrüßung die Hand aus. »Mein Vater hat mir gesagt, dass Sie gestern Abend angekommen sind«, meinte sie mit einer hellen, weichen Stimme, die sehr gut zu ihrer katzenhaften Erscheinung passte. »Sie sind ein Gast des Grafen.« Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. Ihre beinahe schwarzen Augen verengten sich, als wolle sie durch Alberts Panzer hindurchsehen und herausfinden, ob ihn mehr als Geschäftliches mit dem Grafen verband.
Albert stand höflich auf und ergriff ihre Hand, die zart und hart zugleich war. Es durchschauerte ihn. »Ja«, krächzte er und musste sich erst einmal räuspern. Dann stellte er sich mit seinem Namen vor und fügte hinzu: »Ich bin einer seiner Anwälte.«
Die junge Frau sah ihn erstaunt an. Er kannte diese Reaktion. Niemand traute ihm aufgrund seiner durchschnittlichen Erscheinung und seines zurückhaltenden Auftretens einen solchen Beruf zu.
Warum zog sie die Hand nicht fort? Sie blickte ihm tief in die Augen. »Hauptsache, Sie sind nicht einer seiner Freunde«, rutschte es ihr heraus. Jetzt schlängelte sich ihre Hand aus der seinen und legte sich ihr in einer Geste des Erschreckens über den Mund. »Verzeihen Sie, das hätte ich wohl nicht sagen sollen. Mein Mundwerk ist immer das Schnellste an mir.« Sie sah ihn schuldbewusst an.
Albert musste lächeln. Sie erwiderte sein Lächeln und wirkte erleichtert.
»Ich kann Ihnen versichern, dass mein Interesse an dem Grafen nicht über eine reine Geschäftsbeziehung hinausgeht«, sagte Albert. Nun wäre es an ihm gewesen, entsetzt über seine Äußerung zu sein, denn über seinen wichtigsten Klienten durfte er keinesfalls abschätzig sprechen. Sein Bruder wäre fassungslos gewesen, wenn er Albert in diesem Augenblick gehört hätte. Aber der jungen Frau gegenüber hatte er das Gefühl, völlig offen reden zu dürfen. »Sie mögen ihn nicht besonders?«
»Richtig. Niemand im Dorf mag ihn. Er hat keinen guten Ruf hier.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Sie kennen ihn. Dann wissen Sie, dass er etwas unheimlich ist. Und nicht nur das. Er ist böse.« Ihre Stimme war zu einem Flüstern herabgesunken. »Vieles, was man sich über ihn erzählt, ist bestimmt übertrieben, aber für mich wirkt er immer so, als wären selbst die schlimmsten Gerüchte über ihn wahr.« Die junge Frau schlug die Augen nieder und faltete die Hände vor dem Busen zu einem Dach.
»Und was sind die schlimmsten Gerüchte?«
»Zum Beispiel, dass er seinen Bruder umgebracht haben soll.«
Albert sah sie erstaunt an. Ja, Roderich von Blankenstein hatte einen Bruder gehabt, der vor einigen Jahren unter ungeklärten Umständen irgendwo in England gestorben war. Aber niemals wäre Albert auf den Gedanken gekommen, dass Roderich von Blankenstein etwas mit seinem Tod zu tun haben könnte.
Die junge Frau seufzte. »Nehmen Sie das bloß nicht zu ernst! Hier im Dorf gibt es ein paar ziemlich abgedrehte Typen, die sich hauptberuflich solche Geschichten einfallen lassen. Ach, ich rede einfach zu viel. Aber Sie wirken so vertrauenerweckend.« Sie lächelte ihn komplizenhaft an. »Und jetzt sollte ich mich endlich um Ihr Frühstück kümmern. Der Kaffee ist gleich fertig.«
Albert setzte sich wieder.
»Übrigens heiße ich Ilse. Einfach nur Ilse.« Sie ging fort und verließ den Schankraum.
Albert saß da wie vom Schlag gerührt.
Sie hieß Ilse.
Wie die Tochter der Wirtin in Blackwoods Geschichte.
* * *
Der Weg hoch zur Fangenburg lag noch im Schatten der kleinen Häuser, doch der wolkenlose, stahlblaue Himmel versprach einen wunderbaren Frühlingstag. Albert hatte nicht die geringste Lust, zusammen mit dem Grafen an dessen Testament zu arbeiten. Er war nun ganz in der Blackwood-Geschichte versunken. Natürlich war es reiner Zufall, dass die Tochter des Wirtes denselben Namen trug wie die verführerische junge Frau in der Erzählung, doch besonders dieser Umstand erlaubte es ihm, immer tiefer in seinen Fantasien zu versinken, in denen nun kein Platz mehr für einen dämonischen Grafen war.
Ob er wirklich seinen Bruder auf dem Gewissen hatte? Albert fand, dass es ihm durchaus zuzutrauen war. Er musste bis heute Abend durchhalten, dann durfte er wieder seinen neuen Traum leben.
Rechts neben dem großen Holztor in der Burgmauer steckte ein großer, messingfarbener Klingelknopf. Albert drückte ihn zaghaft. Beinahe sofort schwangen beide Torflügel auf und gaben den Blick auf die imposante Burg und den großen Innenhof frei. Albert trat durch das Tor, das sofort hinter ihm mit einem unangenehm endgültigen Geräusch wieder zufiel.
Zur Linken erstreckte sich ein langer, turmbewehrter Flügel, der hinter einem zierlichen, hexenhaubigen Rundturm im spitzen Winkel nach rechts abknickte und in einem massigen Bergfried endete. An ihn schloss sich ein zweiter Bau an, der schon nach wenigen Metern in einem stumpfen Winkel leicht nach innen bog und bis zur Torburg führte. Er begrenzte den Innenhof an der östlichen, zur Bergflanke hin gelegenen Seite. Die gesamte Anlage bildete also ein ungelenkes U, dessen Öffnung die Torburg und die an sie grenzenden Verteidigungsmauern verschlossen.
Der rechte, stumpfwinklige Flügel schien der ältere zu sein; das Quaderwerk wirkte roh und ungelenk zusammengefügt; es war unverputzt und die Fenster waren so schmal wie Schießscharten. Der linke, westliche Flügel hingegen besaß große Spitzbogenfenster. Über allem thronte der gedrungene Bergfried mit seiner hohen, spitzen Schieferhaube.
Hier war es genauso still wie im Dorf. Der lange Bentley war vor dem archaischen Ostflügel geparkt und bildete einen seltsamen Kontrast zu den klobigen, altersdunklen Mauern.
Nun öffnete sich eine hohe Tür im weitaus eleganteren Westflügel. Hinter ihr wirbelten Schatten; niemand war zu sehen. Albert ging auf das Portal zu, über dem heraldische Ornamente in den Sandstein gemeißelt waren. Die ganze Fassade dieses Burgteils zeugte vom Geschmack der Renaissance. Die Umrahmungen der Fenster waren fein modelliert und verloren sich fast in den vielen Säulen, Simsen und Pilastern, die dem großen Bau ein verspieltes, aber auch verwirrendes Aussehen gaben.
Die hünenhafte Gestalt des Dieners schälte sich aus dem Dunkel und trat auf den kleinen Absatz der Freitreppe. Albert stieg die Stufen hoch, warf einen letzten Blick in die Runde und begrüßte Paulus mit einem kräftigen Handschlag. »Fantastisch haben Sie es hier oben.«
»Vielen Dank«, sagte Paulus mit seiner seltsam hohen Stimme. »Der Graf erwartet Sie bereits.« Er schloss das Portal hinter Albert.
Schatten flossen aus allen Ecken in die große, sich über zwei Stockwerke erstreckende Halle, die von hohen, bunt verglasten Kirchenfenstern nur unzureichend erhellt wurde. Es dauerte eine kleine Weile, bis Alberts Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten. Ein gewaltiger Kamin wurde sichtbar, dazu eine ausladende lederne Sitzgruppe und mehrere Tische. Rechts und links des Kamins führte eine breite Treppe nach oben auf einen Absatz, wo sich ein zweiter Kamin und weitere Sessel befanden. In einer Rückwärtsbewegung kletterten die Treppen weiter hinauf in den ersten Stock.
Paulus geleitete den Rechtsanwalt nicht nach oben, sondern durch einen breiten Korridor mit Kreuzrippengewölbe in die Tiefen des Renaissance-Flügels. An den Wänden lehnten träge Rüstungen; dazwischen hingen altersdunkle Ölgemälde, deren Sujets nur noch undeutlich zu erkennen waren: Bei einigen schien es sich um Porträts zu handeln, bei anderen um fantastische Landschaften. Unter ihnen hockten mittelalterlich wirkende Truhen und Stühle.
Von außen mochte die Burg Ähnlichkeiten mit dem Schloss des Grafen Dracula aufweisen, doch hier drinnen herrschte eine andere, schwerer zu fassende, undeutlichere Atmosphäre, die indes keinesfalls weniger unheimlich war. Sie erweckte in Albert eine bestimmte Erinnerung, die er jedoch nicht zu fassen vermochte.
Seine Schritte und die von Paulus klapperten über den schwarzen Parkettboden einem unausweichlichen Ziel entgegen.
Plötzlich wusste er es.
Der Diener, das Haus, das Parkett, die Spitzbogenfenster und der Name des Hausherrn! Wie hatte Albert es nur vergessen können? Er befand sich mitten im Haus Usher aus der meisterhaften Erzählung Edgar Allan Poes. Hieß der letzte Spross des dekadenten Geschlechts Usher nicht Roderick? Nannte er nicht ein gewaltiges, unheimliches, totes Haus sein Eigen? Doch es war verwahrlost, während die Fangenburg einen tadellosen, höchst gepflegten Eindruck machte. Dennoch: Die Gemeinsamkeiten waren frappierend. Ahmte hier das Leben wieder einmal die Kunst nach – oder vergewaltigte Albert die Kunst, indem er sie in das unkünstlerische Schema des Lebens presste?
Der Diener öffnete mit einer Sanftheit, die schlecht zu seiner riesenhaften Gestalt zu passen schien, eine Tür am Ende des Korridors und meldete den Rechtsanwalt. Nun galt es. Nun konnte Albert dem Grafen – und der Wirklichkeit – nicht mehr ausweichen.
»Ah, Moll!«, dröhnte es aus der Ferne des riesigen Saales. »Kommen Sie näher!«
Albert trat ein; die Tür wurde hinter ihm sacht geschlossen. Zuerst war er von diesem Zimmer so überwältigt, dass er den Urheber der Stimme nicht sofort erkannte. Vier hohe, klarverglaste Spitzbogenfenster gingen auf das Dorf hinaus und wurden von ungeheuren, blutroten Damastvorhängen eingefasst. Zwischen den Fenstern und an allen anderen Wänden hingen unzählige Bilder in schweren, dunklen Goldrahmen. Dicke Teppiche bedeckten hier das Parkett; zwei Kamine an den Stirnseiten reichten über die ganze Breite des Raumes. Sessel, Sofas und Stühle standen scheinbar wahllos verteilt überall herum, doch wenn man genauer hinsah, bildeten sie Gruppen und Muster. Zwischen den beiden mittleren Fenstern hockte ein ausladender Schreibtisch mit kühn geschwungenen Beinen, die den Eindruck erweckten, als könnten sie jederzeit losspringen.
»Ich hoffe, Sie sind gut untergebracht, Moll.«
Die Stimme kam vom Schreibtisch her. Erst jetzt bemerkte Albert den kleinen Mann, der hinter dem polierten, zum Sprung bereiten Holz kauerte.
»Vielen Dank«, antwortete Albert und ging auf den Schreibtisch zu.
Graf Roderich von Blankenstein glitt um das Möbel herum und rollte vor den Rechtsanwalt.
Einen größeren Kontrast zum aristokratischen, schmalgliedrigen, leichenblassen Roderick Usher konnte es kaum geben. Der Graf war dick, klein, ungeschlacht, hatte grobe Gesichtszüge, die ihn eher wie einen Metzger als wie einen Adligen wirken ließen, und einen fast völlig kahlen, gewaltigen Kopf, dessen Röte an manchen Stellen ins Bläuliche hinüberspielte. Die fleischige Nase wucherte vor wie ein Geschwür.
Und er saß im Rollstuhl.
Albert streckte die Hand aus; der Graf ergriff sie kurz und drückte sie mit großer Kraft. Als er sie losließ, hatten sich rote Striemen in Alberts Haut eingegraben.
»Setzen Sie sich, Moll.«
Albert hasste diese Anrede. Es klang, als sei er noch immer ein linkischer Schüler. Doch er gehorchte und nahm in einem der englischen Ledersessel Platz. Er sank so tief in das knarrende Polster ein, dass sein ganzes Blickfeld plötzlich nur noch aus apfelgrünem Leder zu bestehen schien.
Der Graf rollte mit einigen heftigen Armbewegungen vor ihn und sagte: »Ich dachte mir schon, dass Sie es sind, der mein Testament aufsetzt. Ihr Bruder ist ja immer sehr beschäftigt. Er ist ein so hervorragender Jurist.«
Das war ein dezenter Tiefschlag. »Warum haben Sie dann darauf bestanden, dass nur einer von uns beiden Ihr Testament aufsetzen soll?«, fragte Albert gereizt.
Der Graf lachte und schlug sich auf die Schenkel. »Oho! Der sonst so stille Windschattenanwalt gibt Widerworte! Das gefällt mir außerordentlich. Ich sehe, wir werden gut miteinander auskommen. Ich kann Ihnen sagen, warum ich nur einen von Ihnen beiden haben wollte, mein Lieber. Es könnten persönliche Dinge zur Sprache kommen, die ich sonst niemandem anvertrauen will. Aber freuen Sie sich denn nicht, dass Sie die Gelegenheit zu diesem Ausflug der Sonderklasse erhalten haben? Wann sieht jemand wie Sie schon eine solche Burg von innen? Wollen Sie sie denn nicht besichtigen?«
Albert spürte, wie seine Wut auf diesen Krüppel immer stärker wurde. Woher nahm der Graf das Recht, ihn fortwährend zu beleidigen? »Natürlich möchte ich sie mir mit Ihrer gütigen Erlaubnis gern ansehen, aber sollten wir nicht zuerst an die Arbeit gehen?«
»In meinen vier Wänden stehen Sie unter meinem Befehl, Moll! Wenn ich sage: ›Arbeiten!‹, dann arbeiten Sie. Wenn ich sage: ›Besichtigen!‹, dann besichtigen Sie. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« Der Graf röhrte vor Lachen. Dann schrie er: »Paulus!«
Sofort wurde die Tür leise geöffnet und der Diener trat ein.
»Eine Burgführung für unseren Gast!«, rief Graf Roderich. Er beugte sich zu Albert vor und flüsterte: »Diese Burg enthält zahlreiche Seltsamkeiten. Sie befinden sich hier im Zentrum eines ganzen Kosmos voller Ungeheuerlichkeiten.« Und wieder stieß er sein unangenehmes Lachen aus.
»Das Ungeheuerlichste von allem sind Sie«, hätte Albert ihm beinahe entgegengeschleudert. Er beherrschte sich nur mit Mühe. Wo waren jetzt seine kindischen Fantastenträume geblieben? Zu nichts waren sie zerstoben angesichts dieses widerlichen Menschen, dem Albert nicht einmal wegen seiner Lähmung eine gewisse Sympathie entgegenzubringen vermochte.
Paulus schob den Rollstuhl hinaus; Albert folgte den beiden. Zuerst begaben sie sich in die mächtige Halle. Am Fuß der Treppe stand ein kleiner Lift, der am Geländer entlang hochführte. Paulus hievte seinen Herrn scheinbar mühelos in den schmalen Sitz des Liftes. Der Graf legte einen Schalter um und der Lift setzte sich in Bewegung. Auf dem ersten Absatz hielt er an. Paulus war mit dem Rollstuhl in den Händen hochgeeilt und fuhr den Grafen zum zweiten Lift am gegenüberliegenden Ende des Absatzes. Von dort aus ging es hinauf in den ersten Stock. Graf Roderich führte Albert etliche Korridore entlang, wobei Paulus bisweilen den Rollstuhl über einige Tritte heben musste, wenn sich das Niveau des Bodens änderte.
Albert sah Gästezimmer, die ein wenig verwahrlost wirkten und häufig von dicken Staubschichten überzogen waren, und Schlafzimmer, von denen eines das Kaiserzimmer genannt wurde, weil angeblich Kaiser Karl V. einmal in dem riesigen Himmelbett genächtigt hatte. An vielen Wänden klebten schwarze, feuchte Flecken, die dem gepflegten Eindruck, den das untere Stockwerk gemacht hatte, Hohn sprachen. Langsam verstand Albert, warum man hier keine Gäste unterbringen konnte. Also gab es wieder ein Geheimnis weniger. Aber gleichzeitig glich sich das Bild des Gebäudes langsam dem des Hauses Usher an.
Das ganze Bauwerk schien Albert ein riesiges Labyrinth zu sein, das von zahllosen Zimmern, Sälen, Kammern, Korridoren, Erkern und Treppen gebildet wurde. Wie mochte es sein, in einer solchen Burg zu leben? Würden die Schatten und die unzähligen verstohlenen Geräusche einen langsam überwältigen? Oder wurde man irgendwann unempfindlich gegen die Einflüsterungen und Vorgaukelungen der eigenen Fantasie?
Nässe, Modergeruch, Kälte, Zugluft – hier oben gab es alles, was der üblichen Vorstellung von einer alten Ritterburg entsprach. Und es wurde noch schlimmer, als der Graf seinen Besucher in den alten Flügel führte, der nicht mehr bewohnbar war. Die wenigen hier verbliebenen Möbel waren vor Feuchtigkeit aufgequollen. Schimmel wucherte über die Wände. Risse im Mauerwerk waren mit Spinnweben verklebt. Fensterscheiben waren gesprungen; Rahmen hatten sich verzogen; uralte, zerfressene Gobelins, die einmal ein Vermögen wert gewesen sein mussten, hingen an einigen Wänden oder waren aus ihren Halterungen gefallen und in moderigen Klumpen auf den Boden gesunken.
Alberts Träume kehrten zurück. Trotzdem war er froh, als sie wieder in den behaglicheren Renaissancebau hinüberwechselten. Doch eines war seltsam: Der Graf befahl Paulus bisweilen, den Rollstuhl anzuhalten. Dann legte er den Kopf schief und lauschte.
Lauschte wie Roderick Usher auf die schrecklichen Laute seiner lebendig begrabenen Schwester.
Als sie wieder in den gewaltigen Saal mit den vielen Sofas und Sesseln und dem ausladenden Schreibtisch zurückgekehrt waren, schickte von Blankenstein Paulus fort, um das Mittagessen zu richten.
»Er ist ein hervorragender Koch«, sagte der Graf anerkennend. »Eigentlich ist er in allem hervorragend«, setzte er hinzu, als der Diener das Zimmer verlassen hatte. »Man darf es ihm nur nicht sagen, sonst wird er übermütig.« Er klatschte sich vor Lachen auf die gefühllosen Schenkel. Dann sagte er stiller und erstaunlich nachdenklich: »Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn machen sollte.« Plötzlich sah er sehr verletzlich aus.
Es musste schwer für ihn sein, im Rollstuhl zu leben. Albert wusste, dass der Graf erst seit einem Autounfall vor drei oder vier Jahren querschnittgelähmt war. Vielleicht erklärte dies viele Ungehobeltheiten im Charakter des Adligen.
Der Rechtsanwalt versuchte, das Thema des Testaments anzuschneiden, doch von Blankenstein wollte noch immer nichts davon hören.
»Erst essen wir zu Mittag«, sagte er im Befehlston. »Wir haben heute einen weiteren Gast. Er wird Ihnen zusagen. Meine Frau ist soeben zurückgekehrt und wird mit uns speisen. Sie wird Ihnen bestimmt gefallen.«
Seine Frau, dachte Albert. Er spürte, wie sich auf seinem Rücken eine Gänsehaut bildete.
Von Blankensteins Frau hatte bei dem schrecklichen Autounfall, der den Grafen seine Bewegungsfreiheit gekostet hatte, neben ihm im Wagen gesessen. Sie war noch auf der Fahrt ins Krankenhaus gestorben.
* * *
Der Speisesaal war eines der wenigen Zimmer, die ihm der Graf bei der Besichtigung noch nicht gezeigt hatte. Es war ein kristallblitzender Raum, der zum Innenhof der Burg hin lag und genauso lang und breit wie der Salon war, in dem Graf Roderich seinen Besucher empfangen hatte.
Der Tisch in der Mitte war gigantisch und bot Platz für mindestens vierzig Personen. Am rechten Ende der Tafel war für drei Personen gedeckt.
Der Graf rollte an den Kopf und bedeutete Albert mit einer herrischen Geste, er solle sich links neben ihn setzen. Albert nahm schweigend Platz und schaute zuerst durch das hohe Spitzbogenfenster ihm gegenüber und dann auf den leeren, gedeckten Platz. Ihn durchrieselte ein seltsames Gefühl. Wer mochte der dritte Gast bei diesem Mittagessen wirklich sein?
Paulus war sofort aus dem Speisesaal geeilt, nachdem der Graf und sein Besucher sich gesetzt hatten.
»Sie werden mit der Speisenfolge zufrieden sein, hoffe ich«, meinte der Graf und steckte sich die Serviette in den Hemdausschnitt. Dann hielt er wieder einmal den Kopf schief und schien angestrengt auf etwas zu lauschen. Kurz grinste er Albert an.
Albert hörte, wie die Tür hinter ihm geöffnet wurde. Ein leiser, kalter Luftzug wehte herein. Ein Hauch wie aus einem Grab. Das Parkett knarrte nur ganz leicht, als jemand auf den Tisch zuging. Albert zwang sich, nicht den Kopf zu drehen; er wollte nicht neugierig wirken.
Dann ging sie um den Grafen herum, berührte ihn leicht an der Schulter und setzte sich schweigend an ihren Platz.
Die Gräfin von Blankenstein.
Die verstorbene Gräfin von Blankenstein.
Albert spürte, wie ihm Schweißperlen von der Stirn fielen. Ein seltsames, halb angenehmes, halb erschreckendes Gefühl durchwühlte seinen Magen. Er hatte die Gräfin nie gesehen, aber er hatte von ihrer Schönheit gehört.
Und die Frau ihm gegenüber war in der Tat wunderschön.
Und leichenblass.
»Ich freue mich, dass du es einrichten konntest, mit uns zu Mittag zu essen«, sagte der Graf aufgekratzt und warf seiner Frau seltsame Blicke zu. »Darf ich dir unseren Gast vorstellen? Herr Rechtsanwalt Moll.«
Albert erhob sich linkisch und reichte der Gräfin die Hand über den Tisch. Die Gräfin stand ebenfalls auf. Sie lächelte ihn spöttisch an und verneigte sich leicht, ergriff seine Hand aber nicht. Dann trat Paulus ein und servierte die Suppe.
Während Albert seine Champignoncremesuppe löffelte, warf er immer wieder verstohlene Blicke auf die Gräfin. Es musste eine natürliche Erklärung geben. Vielleicht war sie damals gar nicht gestorben. Vielleicht hatte sie sich von ihren furchtbaren Verletzungen erholt. Sie war so erstaunlich jung, viel jünger als der Graf. Damals, zur Zeit des Unfalls, musste sie noch ein halbes Kind gewesen sein.
»Was starren Sie meine Frau so an?«, erboste sich der Graf und richtete den Blick auf seinen Gast. Albert fuhr zusammen. Sein Löffel platschte in die Suppe.
»Verzeihen Sie, aber ich … ich hatte nicht …« Albert schaute vom Grafen zur Gräfin. Die junge Frau schenkte ihm ein seltsames Lächeln, das nicht ganz frei von einer gewissen Unzüchtigkeit war. Gerade dies verwirrte ihn noch mehr.
»Bilden Sie sich nicht ein, Sie könnten bei meiner Frau landen!«, fuhr ihn der Graf an. »Glauben Sie bloß nicht, dass das kleine Biest verschmachtet. Sie sind bestimmt der Meinung, ich könnte es ihr nicht mehr besorgen, was? Pah! Ich krieg immer noch mehr zustande als Sie! Paulus! Den Hauptgang!«
Albert empfand die Situation als unendlich peinlich. Was war der Graf bloß für ein Mensch! Wie hatte Albert ihn je mit Roderick Usher, jenem gebildeten, feinen, überkultivierten Mann aus Poes Geschichte vergleichen können? Er wünschte sich nur noch, seine Arbeit mit diesem viehischen Individuum so schnell wie möglich abschließen und wieder nach Hause fahren zu können. Seine Träume und Fantasien waren zerstoben.
Der Hauptgang bestand aus einem vorzüglichen Wildschweinbraten und selbst gemachten Kartoffelkroketten. Paulus war in der Tat ein ausgezeichneter Koch. Doch so recht wollte Albert das Festessen nicht schmecken. Immer wieder spürte er die forschenden und saugenden Blicke der Gräfin auf sich ruhen. Die Gräfin … es gab keine Gespenster! Vor allem saß er in diesem Augenblick keinem Gespenst gegenüber, auch wenn die junge Frau sehr blass aussah und schwarze Ringe unter den Augen hatte wie von einer zu langen Nacht. Abgesehen davon war sie eine große Schönheit, jedoch mit einem winzigen Stich ins Gewöhnliche, wie er fand.
Er fasste sich ein Herz. »Es ist schön, dass Sie uns Gesellschaft leisten, gnädige Frau …«
»Was bilden Sie sich ein, unaufgefordert mit meiner Gattin zu reden, Sie Schnösel!«, giftete ihn der Graf an und schenkte ihm einen vernichtenden Blick. In diesem Moment hätte Albert eine Menge für den Panzer einer Schildkröte gegeben, in den er sich zurückziehen könnte. Was war dieser Mann doch für ein Ekel. Wie kam er nur zu einer so schönen, jungen Frau? Warum sagte sie kein Wort?
Ihre Bewegungen waren wie im Traum: langsam, fließend, unsicher. Je länger Albert sie ansah, desto verwirrter wurde er, desto stärker keimte in ihm der Wunsch, sie anzufassen, nur um festzustellen, ob sie wirklich aus Fleisch und Blut war.
Die junge Frau aß kaum etwas; sie legte das Besteck zur Seite und sah durch Albert hindurch. Und auch er hatte bald das Gefühl, als könne er durch sie hindurchsehen und hinter ihr verschwommen das Fenster und den Burghof erkennen. Er hielt den Atem an. Seine Hände zitterten. Aber war es nicht das, was er sich immer gewünscht hatte: einem Gespenst zu begegnen? Nein, nicht … nicht so.
Er hielt sich an der Nachspeise fest. Noch immer sagte die junge Frau kein Wort.
Da kam ihm ein Gedanke.
Er bemerkte, wie seine Hände ruhiger wurden und der Löffel nicht mehr zitterte, wenn er ihn mit Schokoladenpudding gefüllt an den Mund führte. Natürlich! Wie hatte er nur so närrisch sein und an ein leibhaftiges Gespenst glauben können! Selbstverständlich war die junge Dame ihm gegenüber die zweite Frau des Grafen. Er hatte nach dem Tod der ersten Gemahlin einfach wieder geheiratet! Bestimmt liebte die junge Gräfin das Leben in Luxus, auch wenn es hinsichtlich gewisser körperlicher Bedürfnisse offenbar Probleme gab, denn sonst hätte ihn der Graf nicht so angefahren. Nun, das ging Albert nichts an. Er lächelte breit.
»Warum grinsen Sie wie ein Honigkuchenpferd?«, raunzte ihn der Graf an.
»Oh, Verzeihung, mir war gerade ein Gedanke gekommen …«
»Das ist natürlich etwas anderes. Bei einem so seltenen Ereignis muss man ja einfach die Fassung verlieren«, meinte der Graf und grinste nun seinerseits den Anwalt an.
Nur weg von hier! Wie hatte ihm sein Bruder so etwas antun können? Albert hätte allerdings damit rechnen müssen, denn sein Bruder hatte ihm noch nie etwas Gutes erwiesen. Wenn doch nur das Testament schon aufgesetzt wäre.
»Ich sehe, Sie sind mit dem Essen fertig«, sagte der Graf grob. »Gehen Sie schon mal in die Bibliothek; sie liegt genau gegenüber dem Speisezimmer. Ich mache erst ein Nickerchen. Fühlen Sie sich zwischen den alten Scharteken ganz wie zu Hause. Nun gehen Sie schon!«
Albert stand auf; Wut und Erleichterung hielten sich bei ihm die Waage. Er schenkte der jungen Gräfin einen absichtlich langen Blick und verneigte sich vor ihr, sagte aber nichts. Dann drehte er sich um und verließ den Raum. Paulus, der diskret bei der Tür gewartet hatte, öffnete ihm und schloss dann das zweiflügelige Portal wieder. Albert hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Warum ließ sich der Graf im Speisezimmer einschließen?
Albert schüttelte den Kopf, schritt quer durch den Korridor und stieß die Tür gegenüber dem Speisezimmer auf.
Vergessen.
Vergessen waren alle Kränkungen durch den Grafen, all seine Widerwärtigkeiten und alle Rätsel, die seine junge Frau umgaben.
Vergessen war alles angesichts dieses Zimmers.
Die Bibliothek war genauso groß wie der angrenzende Salon. Jeder verfügbare Raum war von der Decke bis zum Fußboden mit eingebauten Regalen bedeckt; manche davon waren verglast, manche besaßen Gittertüren. Die Fenster waren mit Regalen umbaut; unendlich fern und tief kauerte das Dorf.
Das Heer der Bücher wartete geduldig. Lederrücken, Goldprägungen, Pergamentbände, Kostbarkeiten über Kostbarkeiten. Wahllos nahm Albert einige Bände aus den Regalen. Es waren reich illustrierte Kräuterbücher, Ansichtenwerke mit unzähligen Stahlstichen, Klassikerausgaben, kulturgeschichtliche und theologische Werke.
Bücher ohne Geheimnis.
Albert verspürte nach der ersten Atemlosigkeit eine gelinde Enttäuschung. Die Bibliotheken in den Büchern, die er so liebte, enthielten zumeist dunkle Rätsel: Bücher über zauberische Riten, Geisterbeschwörungen und Teufelsanbetungen. Solche Bücher waren seine große Leidenschaft. Er selbst besaß kein einziges dieser düsteren Gattung und wusste natürlich, dass es die meisten derartigen Werke, die in seinen geliebten fantastischen Erzählungen vorkamen, nicht wirklich gab, doch in seinen Fantasien stellte er sich oft vor, wie es sein mochte, wenn er irgendwo – nie dachte er sich dafür einen konkreten Ort aus – eine solche magische Bibliothek finden würde. Dies war ein Traum, in dem er stundenlang schwelgen konnte. Er durchblätterte die vor verbotenem Wissen strotzenden Folianten, zog geheime Kenntnisse aus ihnen, mit denen er seiner Umwelt die Stirn bieten konnte, rettete diese Bücher aus irgendeiner unterirdischen Halle, reihte sie in die heimische Bibliothek ein, katalogisierte sie und begann den Traum von Neuem. Er war unausträumbar.
Auf den ersten Blick hatte die Bibliothek des Grafen ihm jene Wunder versprochen, nach denen er sich schon immer gesehnt hatte. Warum konnte er nicht einmal für kurze Zeit der versponnene Wissenschaftler sein, der nach vergessenem Wissen forschte, so wie H. P. Lovecraft ihn unzählige Male beschrieben hatte? Warum fand er nicht das Mysterium Arcanum aus der Erzählung Das Grimoire des Reverend Montague Summers? Warum entdeckte er nie Bücherhorte wie jene, in denen das ungeheuerliche Werk Thomas Ligottis lauerte, das den Weg nach Vastarien eröffnete? Warum war diese Bibliothek nicht wie die des Roderick Usher mit all ihren Merkwürdigkeiten und Bizarrerien?
Goethe und Schiller, Herder und Wieland, Kotzebue und Raimund. Wo war das Geheimnis? Eine kindische Frage, natürlich.
Doch in einer unverschlossenen Vitrine entdeckte Albert nach kurzer Suche einige Bände, die sein Herz höher schlagen ließen. Es waren Bücher über Geistererscheinungen.
Das Nonnengespenst von Gehofen, anonym.
Die Gewissheit der Geister, von Baxter.
Das Gespenst von Annaberg, von Zobel.
De Spectribus, von Lavater.
Und vieles mehr.
Gespenster. Sofort stürmten alle Fragen, die Albert während des Essens gequält hatten, zurück. Hatte er tatsächlich einem Gespenst gegenübergesessen? Da hatte er vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben eine Berührung mit dem Unerklärlichen gehabt, und wie hatte er darauf reagiert? Er war geflohen. Aber sehnte er sich wirklich nach einer solchen Berührung? Sie war schließlich etwas völlig anderes als seine papiernen, ungefährlichen Träume. Und wenn die junge Gräfin nun doch …
Verunsichert durchblätterte er die kleinen Gespensterbüchlein. Dabei fiel ihm ein Umstand besonders auf. Nur äußerst selten waren die wiederkehrenden Toten mit der Gabe der Rede gesegnet; meistens blieben sie stumm.
Wie die Gräfin.
Sie hatte während des ganzen Essens kein Wort gesagt. Sie hatte bei der Begrüßung nicht einmal seine Hand ergriffen.
Albert fühlte sich, als werde ihm der Boden unter den Füßen fortgezogen. Er musste einfach Gewissheit haben. Mit einer entschiedenen Bewegung legte er das Buch, in dem er gerade gelesen hatte, aus der Hand und ging hinaus auf den Korridor. Gerade als er an die Tür zum Speisezimmer klopfen wollte, hörte er hinter ihr seltsame Geräusche herausdringen.
Es war ein Keuchen und Ächzen, das merkwürdig erstickt klang. Ganz eindeutig war es die Stimme des Grafen. Sonst war niemand zu hören. Schon hatte Albert die Hand auf die Klinke gelegt, denn er befürchtete, dass dem Grafen unwohl war und er der Hilfe bedurfte. Behutsam drückte er die Klinke herunter.
Die Tür war noch immer abgeschlossen.
Jetzt nahm das erstickte Keuchen an Intensität zu. Etwas daran verwirrte Albert. Es war kein angstvolles oder schmerzgeborenes, sondern ein höchst ekstatisches Keuchen. Angewidert ließ er die Klinke los und lief zurück in die Bibliothek. Er ließ sich in einen der ledernen Sessel fallen und hielt sich die Ohren zu. Was für schreckliche Laute! Aber wie … Der Graf war doch gelähmt … Nein, er musste sich verhört haben. Doch er wollte nicht noch einmal hinaus auf den Korridor gehen. War es überhaupt die Stimme des Grafen gewesen? Hätte es nicht jemand anderes sein können – oder etwas anderes?
Um sich abzulenken, durchwühlte er weiter die Bibliothek.
Schließlich entdeckte er einen Quartband, der in einer fernen Ecke des Raumes ein wenig aus der abgezirkelten Reihe der Buchrücken hervorstand, als warte er nur darauf, entdeckt zu werden. Albert nahm ihn mit zu seinem Sessel und schlug ihn auf.
Natürlich war es nur ein Zufall. Einer der vielen Zufälle, die seit gestern sein Leben durchzogen wie Krebs einen sterbenden Körper. Hatte er sich nicht sein ganzes, kümmerliches Leben lang nach solchen Zufällen gesehnt?
Es war ein lateinisches Buch und trug den Titel: Vigiliae mortuorum secundum eccl. Moguntiae …
Jenes unsagbar seltene und wertvolle Buch, das die Lieblingslektüre des Roderick Usher gewesen war.
In diesem Augenblick flog die Tür zur Bibliothek mit einem Knall auf und der Graf rollte in das Zimmer.