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1. Kapitel Der Fremde

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„Selbst ein Schwein würde quieckend aus deinem Zimmer laufen!", schimpfte die resolute Madame Perone, worauf sie auf die chronische Unordnung ihres 23-jährigen Sohnes Bernhard hinwies. Dennoch war sie stolz auf ihren Sohn, der sich gerade in seiner frisch gebügelten Polizeiuniform vor dem großen Flurspiegel inspizierte. Ein kurzer Kuss, eine Umarmung seinerseits beendete das allmorgendliche Genörgel seiner Mutter, und ehe sie sich versah, war er auch schon weg. Perone trat wie jeden Morgen seinen Dienst im kleinen beschaulichen Archile an. Er lebte noch bei seinen Eltern in der Rue Pasteur zusammen mit seinen zwei jüngeren Geschwistern. Nach seiner Ausbildung hatte er sich gleich nach Archile versetzen lassen, um sich weite Anfahrtswege zu ersparen und mit der leisen Hoffnung, den Posten des Revierführers zu bekommen, der in ein paar Jahre pensioniert werden sollte. Viel gab es für Perone nicht zu tun. Ein paar falsch parkende Touristen und hier und da mal ein kleiner Nachbarschaftsstreit. Archile war ein kleiner überschaubarer Ort an der Küste der Bretagne. Eingeschlossen in einer kleinen Bucht der Deltamündung der Morbihan-Finistere. Das Besondere war, dass sie zu den wenigen Buchten gehörte, die bei Ebbe noch eine Tiefe von 20 Meter vorweisen konnte und Anziehungspunkt vieler Sport- und Amateurtaucher war, die dem Wracktauchen nachgingen. Denn in jener Bucht, 500 Meter vom Ufer entfernt, lag ein Flugzeugwrack auf dem Grund des Atlantiks. Es wurde 1945 bei einem Anflug auf die deutsche U-Boot Basis in Lorient von einer Flak beschossen und schwer beschädigt. Die U-Boot-Bunker in Lorient stellten während des Zweiten Weltkrieges den größten deutschen U-Boot-Stützpunkt dar. Hier wurden sechs einzelne Bunker unterschiedlicher Größe mit Liege- und Dockplätze für die Boote gebaut und in Betrieb genommen. Ein Siebter blieb wegen der Kriegsumstände unvollendet. Um den Umgang mit dem Tauchretter intensiv zu üben, wurde ein weiterer spezieller Bunker errichtet und mit entsprechenden Einrichtungen zur Simulation von Notausstiegen ausgerüstet. Der "Tauchtopf" wurde später von den französischen Seeleuten in „Tour Davis“ umgetauft. Der Übungsstand war bis zur Aufgabe des Stützpunktes Ausbildungsort für U-Boot-Fahrer. Der Tauchtopf ist heute noch im Originalzustand zu besichtigen. Ein weiteres Detail der Anlagen in Lorient sind zwei Wracks im Hafenbecken, direkt vor den Bunkern. Diese wurden von den deutschen Truppen versenkt, um Torpedoflugzeuge daran zu hindern, die Schleusentore anzugreifen. Zwischen 1940 und 1942 befand sich dort die Dienststelle des Befehlshabers der U-Boote, Konteradmiral Karl Dönitz. Wie kaum eine andere Hafenstadt hatte Lorient unter dem Zweiten Weltkrieg zu leiden. Da die alliierten Luftangriffe den U-Boot-Bunker nicht zerstören konnten, wurden die Versorgungslinien zum U-Boot-Stützpunkt so heftig bombardiert, dass fast die ganze Stadt zerstört wurde. Die U-Boot-Bunker blieben zwar intakt, waren jedoch ohne Nachschub kaum mehr zu halten.

Im Allgemeinen wurde der kleine Sandstrand lediglich in den Sommermonaten von den Bewohnern aus Lorient benutzt, die mit Kind und Kegel die Bucht besetzten. Ausländische Touristen nutzten eher die Strände von Lamor Plage. Die seitlich ins Meer ragenden Felsen boten einen natürlichen Schutz vor Wind und Wellen und die Wassertiefe bescherte einigen Segelbooten mit langem Kiel eine Anlegestelle. Es war vermutlich dieser Begebenheit zu verdanken, dass sich ein paar Touristen hierher nach Archile einfanden, nachdem man emsig die Anlagen in Lorient fotografiert hatte. Der Ort selbst hatte mit seinen paar hundert Einwohnern nicht sonderlich viel zu bieten. Der Sandstrand, eine Handvoll Pensionen und dem besagten Flugzeugwrack, sonst war weiter nichts. Aus diesem Grund hatte sich dort auch vor ein paar Jahren eine kleine Tauchschule angesiedelt, die nebenbei auch ein paar Boote für Taucher, Angler oder Badende verlieh. Das Wrack war aber auch ohne Boot zu erreichen und so zogen es die meisten Taucher vor, direkt zum Wrack zu schwimmen. Eine schwarzgelbe Untiefentonne markierte die Absturzstelle.

Die Touristen und einige wenige Betriebe bescherten dem Ort eine bescheidene Einnahme. Die Tauchschule "Clemont", benannt nach dem jungen Ehepaar Albert und Claire Clemont, konnte sich über die Sommermonate damit etwas hinzuverdienen. Albert war hauptberuflich Koch in einem der hiesigen Restaurants und sie arbeitete halbtags als Aushilfskellnerin.

Die Tauchschule bestand aus einem ausrangierten zwanzig Fuß Container, in dem die Ausrüstungen und Getränkekisten lagerten. Daneben eine provisorische kleine Holzhütte, was als Büro genutzt wurde. Neben dem Container ein kleiner überdachter Imbiss, der nebenbei betrieben wurde. Dahinter ein altersschwacher, aber noch gut funktionierender Dieselmotor, der den Kompressor zur Füllung der Flaschen antrieb. Das kleine Büro hatte gerade mal einen Stuhl, einen Tisch und einen kleinen Schrank. An der Wand hing ein vergilbtes, DIN A3 großes, farbiges Plakat mit der Unterwasseraufnahme des abgestürzten Flugzeugs. Darunter der beschreibende Text des damaligen Unglücks.


"Am 30. April 1945 gegen 10 Uhr lag das Deutsche

U-Boot 296 aufgetaucht in der Bucht von Archile.

Es wurde von einem Torpedobomber der

Alliierten, was wegen eines Motorschadens

notlanden musste, angegriffen und schwer

beschädigt. Dennoch gelang es U 296 abzutau-

chen. Der Pilot vollzog eine Notlandung und

konnte sich selbst retten. Sein Flugzeug,

eine Avenger, versank und liegt noch heute auf

Grund in der Bucht von Archile. Weshalb sich

U 296 in der Bucht aufhielt, ist genauso

unbekannt, wie dessen Verbleib.

Man vermutet, dass die Beschädigung so schwer

war, dass es nicht mehr auftauchen konnte. Kein

Besatzungsmitglied hatte überlebt."


Perone's erster Auftrag an diesem warmen Augustmorgen war die Tauchschule "Clemont". Sie hatte einen Einbruch gemeldet, den Perone nachgehen sollte. Es war noch nicht sonderlich viel los in den Straßen von Archile. Ein paar Einheimische, die zur Arbeit gingen und ein halbes Duzend Anlieferer sorgten für ein bisschen Leben. Am Strand selbst hielt sich noch keiner auf. Die Sonnenschirme waren zugeklappt und die fünf Mietboote lagen hochgezogen am Strand. Der kühle Morgenwind wehte über den Strand und ließ Papier und achtlos weggeworfene Plastikbecher über Wege und Grünanlagen rollen. Der grauweiße Staub der festgewalzten Schotterstraße wirbelte über den Boden und legte sich gleichmäßig auf Pflanzen, Wege und Fenstersimsen nieder. Vor einigen Wochen hatte man damit begonnen, die altersschwache Uferstraße zu sanieren. Ohne Eile schritt Perone an den Häusern vorbei, dessen Rollläden teilweise noch heruntergezogen waren. Auf der Straße parkten diverse Baumaschinen, die zum Wochenende mit weiß-roten Absperrgittern eingefriedet wurden. Noch war an diesem Montagmorgen kein Arbeiter, die überwiegend aus Lorient kamen, zu sehen.

Perone wurde freundlich, aber auch sehr verhalten empfangen. Eher ein bisschen verunsichert. Man kannte sich und war per "Du". Ein Dorf eben, wo jeder jeden kannte und sich jedes, noch so kleines Ereignis, wie ein Lauffeuer verbreitete. Straftaten, wie Einbrüche oder Diebstähle waren hier eher selten. Perone ließ sich so gleich den aufgebrochenen Container zeigen und spähte neugierig hinein. Säuberlich geordnet standen Pressluftflaschen und andere Geräte an der Wand. Taucheranzüge und Zubehör hingen am Haken oder lagen geordnet in den Regalen. Es hatte den Anschein, als hätte hier nie ein Einbruch stattgefunden. Nur das aufgebrochene Vorhängeschloss, was noch an der Verriegelung hing, verriet das gewaltsame Eindringen. Schweigend stand das Ehepaar daneben und wartete auf Perone's Fragen. Dieser leuchtete mit seiner Taschenlampe den schummerigen Container aus und steckte sie anschließend wieder weg.

"Und?", fragte Perone, "was gestohlen worden?"

Das junge Paar druckste etwas verunsichert herum bis Albert sagte: "Nur eine komplette Tauchausrüstung. Flasche, Lungenautomat, Anzug, Brille, Bleigurt, Messer und Flossen."

"Mehr nicht?", wunderte sich Perone und zog wie nebenbei sein Notizblock heraus. Beide schüttelten einvernehmlich den Kopf. Dabei sahen sie sich immer wieder fragend und abwartend zugleich an. Denn sie hätten eher vermutet, dass man sich die teuren Lungenautomaten oder Anzüge unter den Nagel gerissen hätte. Für die Sachen hätte man locker einige Tausend Euro bekommen können. Aber nur eine komplette Ausrüstung empfanden beide recht ungewöhnlich. Zumal das orangefarben "Clemontlabel" sehr auffällig und nur schwer zu entfernen war. Im Umkreis von gut vierzig Kilometer war die Tauchschule Clemont die Einzige.

"Ich nehme an, ihr seid versichert, oder?", fragte Perone, während er sich die gestohlenen Sachen notierte. Wieder nickten beide gleichzeitig, doch der Blick verriet, dass sie etwas nicht behagte. Es hatte den Anschein, als wäre ihnen etwas unheimlich.

"Seid ihr unzufrieden mit der Ausbeute eures Einbrechers oder warum guckt ihr so?"

Erneut blickte sich das Paar an und war sich nicht im Klaren darüber, wer denn nun erzählen sollte. Nach ein paar Sekunden des Schweigens gab sich Claire einen Ruck und sagte: "Nun, die Sache ist etwas merkwürdig. Was uns da gestohlen wurde, gehörte uns eigentlich nicht."

"Die Sachen waren zwar alle mit unserem Namenslabel versehen, aber sie gehörten uns gar nicht, verstehst du?", fügte ihr Mann erklärend hinzu.

"Nein, verstehe ich nicht", antwortete Perone und steckte sein Notizblock in die Brustasche zurück. Albert rieb sich mit der Hand den Nacken, während sie beunruhigt von dem einen Bein auf das andere wippte.

"Läuft die eine Ausrüstung offiziell nicht über die Bücher, oder was?", fragte Perone schmunzelnd. Fast jeder hier im Ort versuchte mit kleinen unerlaubten Tricks die Steuer zu umgehen und im Regelfall wurde es auch von den hiesigen Beamten und Staatsdienern gern "übersehen". Eigentlich hätte er ja jetzt ein "na ja, du weißt ja, wie es ist" erwartet. Doch die krause Stirn und die zusammengezogenen Augenbrauen ließen etwas anderes vermuten.

"Ihr könntet ja eine andere Nummer eintragen, wenn es hilfreich ist", bot Perone ihnen die kleine unkorrekte Eintragung in ihrer Buchführung an. Doch so wie sie ihn ansahen, hatte es damit gar nichts zu tun.

"Sag du es ihm", forderte Claire ihren Mann auf und stieß ihn sanft gegen den Arm. Albert zögerte, als läge er sich die passenden Worte zurecht. Dabei kratzte er sich verlegen am Hinterkopf. Dann begann er zu erzählen: "Vor etwa einer Woche brachte uns ein Mann eine Ausrüstung zurück und wollte diesbezüglich seine zweihundert Euro Pfand und seine Sachen zurück."

Albert machte eine Pause und sah Claire hilfesuchend an. Daraufhin fuhr sie fort.

"An diesem Tag hatten wir, außer an zwei Engländer, gar keine Ausrüstung herausgegeben und auch keine weitere Eintragung im Buch. Was aber noch merkwürdiger war, die Ausrüstung trug zwar unser Namenslabel, doch die laufende Nummer haben wir noch nie besessen. Wir hatten weder Geld, Ausweis noch Kleidungstücke von diesem Mann. Wir haben ihn noch nie im Leben gesehen."

"Und was war dann?", fragte Perone interessiert. Albert räusperte sich kurz und sagte: "Es waren nicht nur die Sachen, die er uns zurückbrachte, sondern, dass er uns sehr gut kannte, wir angeblich schon mit ihm am Strand gesessen und Wein getrunken hatten. Er wusste allerhand über uns, aber wir überhaupt nichts über ihn. Er glaubte eher an einen Scherz, fragte ständig, wo wir eine Kamera versteckt hätten und so."

"Und weiter?", fragte Perone. Claire holte hörbar tief Luft und antwortete: "Als er merkte, dass wir uns keinen Spaß mit ihm erlaubten, hat er es wohl aufgegeben. Na ja, Albert hat ihn erst einmal was zum Anziehen geliehen, damit er wenigsten in seine Pension zurück konnte, in der er wohnte. Konnten ihn doch nicht nackt wegschicken."

"Welche Pension?", fragte Perone, "Und wie hieß der Mann?"

"Dirk Boregard ", antwortete Albert, "ein Deutscher. Gewohnt hat er in der Pension "Labarre", an der Rue de Sole."

"Kam er noch einmal zurück?", fragte Perone weiter. Beide verneinten die Frage. Unausgesprochen gingen aber alle davon aus, dass der vermeintliche Einbruch nicht unbedingt etwas mit diesem mysteriösen Boregard zu tun haben musste. Wenn auch gerade die Ausrüstung gestohlen wurde, die dieser Fremde zuvor zurückbrachte.

"Na gut", sagte Perone, "wenn ihr für die Versicherung ein Aktenzeichen braucht, könnt ihr ja Bescheid sagen. Kleiner Tipp, ihr lasst die Nummer einfach weg. Interessiert doch sowieso niemand."

Mit diesem Hinweis und einer kurzen Ehrenbezeigung drehte er sich um und machte sich auf den Weg zur Pension. Sie war nur zweihundert Meter weit vom Strand entfernt und war ein alter, renovierungsbedürftiger Bau, der sich von den übrigen Häusern kaum unterschied. Der Anstrich der Fassade lag schon einige Jahre zurück und die Begonien auf den Fenstersimsen lockerten das Ganze auch nicht gerade auf. Die verwitterte Holztür stand weit offen und wurde von einem Schild mit dem Menühinweis des heutigen Tages am Zufallen gehindert. Als er Minuten später vor dem Tresen der Pension stand, kam Phillip Labarre, der Inhaber direkt auf ihn zu und begrüßte ihn. Perone fragte ihn nach dem Namen Dirk Boregard und hoffte natürlich, dass dieser sich hier angemeldet hatte, wie das Ehepaar Clemont ihn berichtete. Automatisch zog er sein Notizbuch aus der Tasche und schlug es für eventuelle Eintragungen auf.

"Ein Dirk Boregard?", wiederholte Phillip nachdenklich und schien sich daran zu erinnern. "Ja, vor einer Woche tauchte hier so ein Typ auf. Ein Deutscher. Er behauptete hier zu wohnen. Aber wir hatten keinen Gast mit diesem Namen."

"Wissen Sie, wohin er gegangen ist?", fragte Perone weiter.

"Nein, es wurde nur kurz vor seinem Eintreffen ein Brief für ihn hinterlegt, den ich ihm überreichte."

"Und wer war der Bote des Briefes? Ich meine, kannten Sie ihn?" fragte Perone weiter.

Phillip schüttelte nur den Kopf und antwortete: "Ein älterer Herr, so um die 80. Er hatte sich mit Monsieur Thomsen vorgestellt. Gesehen hatte ich diesen Mann aber noch nie."

"Thomsen?", wiederholte Perone, "Hört sich auch nach einem deutschen Namen an."

"Schon möglich", antwortete Phillip tonlos, "er sprach fließend Französisch. Er hatte aber weiter keine Angaben über sich gemacht."

Perone nickte und fragte: "Sonst nichts weiter?"

"Nein …", antwortete er schulterzuckend, worauf Perone sich das Notizbuch wieder in die Jackentasche steckte. Sich bedankend und verabschiedend zugleich, verließ er die Pension "Labarre" und machte sich auf dem Weg. Wie von einer Vorahnung gesteuert hielt er auf den Strand zu. "Möglich", dachte er bei sich, "dass der vermeintliche Dieb sich dort aufhält."

Zu dieser frühen Tageszeit befand sich normalerweise noch niemand dort. Der Strand war leer gefegt und das kleine Strandcafé hatte noch geschlossen. Weit draußen war ein Fischerboot zu erkennen, dessen Schornstein ungewöhnlich tiefschwarze Wolken ausblies. Rechts und links vom Strand ragten die rotbraunen Felsen aus dem Wasser und leuchteten in der weißen Morgensonne. Zwischen zwei, mit Strandhafer bewachsenen Hügeln, führte ein schmaler Weg zu einem kleinen schmalen Strandabschnitt. Dieser wurde häufig von Nudisten benutzt, die sich hier unbeobachtet wähnten. Dort bemerkte Perone eine Person, die bis zu den Knien im Wasser stand und auf das Meer hinaus sah. Sie stand regungslos da, wie eine Statue. Neugierig holte Perone sein kleines Fernglas hervor und sah zu ihm hinüber. Es handelte sich um einen Mann, der mit voller Tauchermontur reglos dort verharrte. "Für diese Tageszeit etwas ungewöhnlich", dachte sich Perone. Dabei wurde er das Gefühl nicht los, dass jener Taucher da auch etwas mit dem Einbruch zu tun haben könnte. Wenn er es auch selber nicht so recht glauben wollte, so machte er sich doch auf dem Weg zu ihm. Dabei musste er kurz den Strand verlassen, ein Stück neben der Straße gehen, um dann den Weg zum Strand zwischen den Hügeln zu gelangen. Zwar führte auch ein direkter kleiner Pfad dorthin, aber für Leute mit Schuhwerk sehr unvorteilhaft. Der Sand war so weich und fein, dass man sich hätte, anschließend die Schuhe ausziehen müssen. Von einer Anhöhe, auf der sich ein kleines Aussichtsplateau und eine Bank befanden, konnte er den Fremden entdecken und er spähte erneut durch das Fernglas. Jetzt erkannte er deutlich das orangene Emblem auf der Pressluftflasche der Tauchschule "Clemont". "Na warte", dachte sich Perone und wollte sich gerade auf dem Weg machen, da wurde er von einer tiefen rauchigen Stimme namentlich gerufen. Perone blieb stehen und drehte sich um. Circa zwanzig Meter hinter ihm stand ein älterer, gepflegter Herr mit weißem, aber vollem Haar. Perone hatte diesen Mann noch nie gesehen und wunderte sich umso mehr, dass dieser ihn mit Namen anrief. Er trug eine beige Stoffhose und einen grünen Parka. Seine Hände hatte er in den Taschen vergraben und musterte Perone sehr genau. Dann trat er langsam näher und Perone sah deutlich sein Gesicht. Er war braugebrannt und hatte altersentsprechende Falten. Seine blauen Augen aber waren klar und wach. Sein Blick wechselte ständig zwischen dem stark rauchenden Kutter in der Ferne und dem Taucher dort unten am Strand, der sich offenbar immer noch nicht schlüssig war, ob er nun tauchen wollte oder nicht. Dann trat der Fremde noch etwas näher an Perone heran, ohne seinen Blick von dem Taucher zu lassen, der unbeweglich in die Ferne starrte.

"Sie sollten ihn an seinem Vorhaben nicht hindern", bat der Fremde höflich ohne Perone anzusehen. Dieser betrachtete den Fremden und versuchte ihn einem bestimmten Personenkreis zuzuordnen, mit denen er schon mal zu tun hatte. Seine Aussprache hatte den hiesigen Dialekt und daher konnte es sich kaum um einen Touristen handeln. Seine Kleidung und die Schuhe verrieten, dass er Geschmack bewies und scheinbar nicht zu den Ärmsten gehörte.

"Und warum nicht, wenn ich fragen darf?", wunderte sich Perone. Der Fremde sah ihn kurz an, dann ging sein Blick zu dem stark qualmenden Fischerboot, was sich langsam der Bucht näherte. Es schien zu brennen und hatte schon leichte Schlagseite. Dennoch hatte es immer noch gute Fahrt drauf und so wie es aussah, versuchte die Mannschaft ihren Kutter ins seichtere Gewässer zu bringen. Es war nicht nur der Schornstein, der rauchte. Auch aus dem Ruderhaus und der Ladeluke quoll grauweißer Rauch. Die Mannschaft war emsig damit beschäftigt, ihre Habseligkeiten zusammenzutragen und sich auf eine Evakuierung vorzubereiten. Ob sie das Feuer zu löschen versuchten, war nicht ersichtlich. Für Sekunden war Perone abgelenkt und deutete dem Fremden, dass die Besatzung möglicherweise Hilfe benötigt.

"Die sind nicht in Gefahr", sagte der Fremde mit ruhiger Stimme und besann sich wieder auf, den im Wasser stehendem, Taucher.

Perone spielte mit dem Gedanken, die Küstenwache anzurufen oder zumindest seinen Vorgesetzten über das sich scheinbar anbahnende Unglück zu informieren. Doch das Verhalten des Fremden brachte seine durchstrukturierte Denkweise durcheinander.

"Woher wollen Sie das wissen?", fragte Perone irritiert.

"Das erkläre ich ihnen, wenn er abgetaucht ist", entgegnete ihm der Fremde in der gleichen ruhigen Tonart. Perone entglitt ein amüsantes Lächeln.

"Monsieur, wenn er abtaucht, ist er weg und ich werde hier keine halbe Stunde warten, bis er wieder auftaucht. Also lassen Sie mich meinen Job machen", erklärte Perone und drehte sich von den Fremden weg, um den Taucher zu überprüfen oder gar festzunehmen.

"Er wird nicht auftauchen", sagte der Fremde, ohne seinen Blick von dem brennenden Kutter zu lassen. Perone stutzte und drehte sich erneut zu ihm um. Zwar verstand er nicht sonderlich viel vom Tauchen, aber länger als eine halbe Stunde war mit einer Pressluftflasche nicht möglich. Die Aussage, dass jener Taucher nicht wieder auftauchen sollte, ließ ihn glauben, dass es sich möglicherweise um einen Selbstmörder handeln könnte.

„Kennen sie den Mann?", fragte Perone. Der Fremde sah ihn an, schien einen Augenblick zu überlegen und antwortete dann: "Sein Name ist Dirk Boregard. Ein Deutscher. Er ist heute früh in die Tauchschule eingebrochen. Aber machen sie sich darüber keine Gedanken. Ich werde den Schaden begleichen."

Perone glaubte, sich verhört zu haben. Er nannte nicht nur den Namen, sondern staunte über die Aussage des Fremden. Offensichtlich nahm dieser den Einbruch als gegeben hin. Möglicherweise steckte er mit diesem Taucher unter einer Decke. Obwohl er nicht den Eindruck machte, ein Dieb oder Einbrecher zu sein. Perone besann sich auf seine Pflichten als Polizist und wollte sich erneut auf den Weg zum Strand machen.

"Bleiben Sie!", hörte er den Fremden sagen, wobei er sich zu ihm drehte. Sein Ton war zwar höflich, und doch hörte man eine energische Forderung heraus. Sein Gesichtsausdruck war abwartend, als wollte er seine Forderung untermalen. Nicht grimmig, aber auch nicht gerade freundlich. Perone aber ließ sich nicht beeindrucken und bestand darauf, etwas zu unternehmen.

"Tut mir leid Monsieur, aufgrund ihrer Aussage bleibt mir nichts anderes übrig, als diesen Mann sofort festzunehmen.“

"Bleiben sie stehen!", rief der Fremde nochmals. In seiner Stimme lag ein befehlerischer Ton, der Perone veranlasste, tatsächlich inne zu halten und sich langsam umzudrehen. Der Fremde hatte einen Revolver in der Hand, eine "Fünfundvierziger Magnum" und zielte auf den erschrockenen Polizisten, der instinktiv die Hände hob. Sein Herz fing wild an zu klopfen und Unbehagen machte sich breit. Es überraschte ihn doch mit so einer, theoretisch oft durchgespielten Situation, konfrontiert zu werden.

"Bitte Monsieur, nehmen Sie die Waffe herunter. Wir können über alles reden", versuchte Perone ihn zu beruhigen. Obwohl er Monate zuvor solche Situationen während der Ausbildung geprobt hatte, wurde ihm die Realität einer Bedrohung recht unheimlich. Der Fremde dagegen blieb erstaunlich ruhig und sein Blick wechselte zwischen Perone, dem sich nähernden Havaristen und dem Taucher hin und her. Er schien weder nervös noch hektisch. Eher ruhig und bedacht, wie jemand der entweder nichts zu verlieren hatte oder seiner Sache absolut sicher war. Perone versuchte sich einzureden, dass er es hier nicht mit einem durchgeknallten Psychopaten zu tun hatte. Eher hoffend auf dessen betagtes Alter und Besonnenheit. Auf keinen Fall wollte er den Mann provozieren.

"Im Moment gibt es nichts zu reden", antwortete der Fremde abwehrend, "Lassen Sie den Mann da unten wegtauchen. Danach werde ich ihnen alles erklären."

Perone nickte und glaubte sich ein wenig sicherer. Er erkannte weder Hektik noch Nervosität bei dem Fremden. Somit konnte er hoffen, dass sich der entspannte Gesichtsausdruck auch auf den Körper und dessen vegetatives Nervensystem auswirkte. Perone's Blick wanderte verunsichert zwischen dem Fremden und dem Taucher hin und her. Er verstand nicht, weshalb sich dieser Mann in diesem Moment einmischte. Der Einbruch und der Diebstahl waren doch eigentlich nur eine Bagatelle und wurde in diesem Moment erst ein richtig ernst zu nehmender Fall. Wortlos beobachtete der Fremde den Taucher, der in diesem Moment langsam in die Fluten stieg und nach wenigen Sekunden abtauchte. Außer ein paar Luftblasen, die sich schnell auf dem unruhigen Wasser verteilten, war nichts mehr von ihm zu sehen. Perone wartete geduldig und glaubte, dass der Fremde sich rasch entfernen würde, um sich damit der möglichen Festnahme zu entziehen. Doch dieser trat überraschend an ihm heran, drehte seine Waffe um und reichte sie ihm. Vorsichtig, eher zögerlich, nahm Perone die Hände herunter und nahm die Waffe entgegen und steckte sie in seine Jackentasche. Der Fremde starrte wortlos auf das Wasser und auf den herannahenden brennenden Kutter, der sich mit noch stärkerer Schlagseite der Bucht näherte. Auf Deck waren die Männer damit beschäftigt, ein kleines Rettungsboot zu Wasser zulassen. Offensichtlich gaben sie ihr brennendes Boot auf.

"Ich, ich muss Sie jetzt leider festnehmen, Monsieur", sagte Perone und machte sich daran seine Handschellen vom Gürtel zu nehmen.

"Einen Moment noch", bat der Fremde und stellte sich unmittelbar neben ihm, "Das Fischerboot wird gleich sinken."

Er sagte es wie eine vorausschauende Ansage. Als wüsste er genau, was passieren wird. Die Mannschaft des Kutters bestieg das kleine Boot, lud einige Taschen und Gegenstände ein und stieß sich dann mit dem Ruder ab. Der Kutter schien mehr und mehr Wasser aufzunehmen. Die Wellen überspülten bereits das Deck und die einlaufenden Wassermassen schienen sich ihren Weg ins Innere zu bahnen, wo plötzlich ein weißer zischender Qualm sich mit den schwarzen ölverbrenndem Rauch vermischte und aufstieg. Tiefer und tiefer sank der Kutter und machte dabei so gut wie keine Fahrt mehr. Wie von Geisterhand begann sich der Kutter langsam zu drehen. Dann versank er gurgelnd und zischend in den Fluten. Rundherum trieben einige undefinierbare Gegenstände auf dem Wasser, die sich durch Strömung und Wellen verteilten. Die Männer im Boot ruderten ohne Eile in Richtung Strand.

Perone bemerkte bei dem Fremden ein bestätigendes Nicken und es hatte den Anschein, dass dieser wesentlich entspannter war als zuvor. Dieser drehte sich Perone zu und entschuldigte sich höflich: "Es tut mir sehr leid, Monsieur. Es ist nicht meine Art die Arbeit der Polizei zu behindern. Aber ich musste so handeln. Sie können mich jetzt festnehmen, wenn sie wollen. Aber bitte ohne Handschellen. Ich habe nicht vor zu fliehen."

Perone steckte seine Handschellen wieder zurück an seinem Gürtel und zögerte noch eine Weile. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Alte einen Fluchtversuch unternehmen würde. Körperlich war er in der Lage ihn zu überwältigen und festzunehmen. Doch hinderte seine aufkeimende Neugier ihn daran, das zu tun. Etwas Geheimnisvolles ging von diesem Fremden aus, das Perone nicht so recht deuten konnte.

"Warum in aller Welt haben Sie das getan?", fragte Perone, "Und woher wussten Sie, dass das Boot hier in der Bucht kentern wird?"

Der Fremde sah ihn etwas teilnehmend an und es schien, als massierte er seine Unterlippe mit den Zähnen seines Oberkiefers. Sein Gesichtsausdruck aber wirkte zufrieden und erleichtert zugleich. Es war sogar ein schwaches Lächeln zu erkennen, was diesen Fremden wesentlich sympathischer wirken ließ. Noch einmal ließ er seinen zufriedenen Blick über das Wasser gleiten, dessen kleine Wellen das grelle Licht der aufgehenden Sonne reflektierten.

"Das, Monsieur, ist eine lange Geschichte, und wenn ich es Ihnen erzähle, würden Sie es mir ohnehin nicht glauben. Walten Sie also ihres Amtes und nehmen Sie mich fest."

Perone glaubte es mit einem verwirrten Mann zu tun zu haben, der möglicherweise aus der Psychiatrie entlaufen war. Er war sich sicher, dass wenn er ihn auf die Wache bringen würde, ein Krankenwagen oder Pfleger ihn abholte. Perone zögerte. Intuitiv verzichtete er auf eine Festnahme und wollte unbedingt mehr über diesen Mann und den soeben stattgefunden Vorfall erfahren. Dennoch versuchte er, diesen Fremden mit der Konsequenz seines Handelns zu konfrontieren. Gleich, so hatte er das Gefühl, dass es den Fremden weniger belastete, ja sogar gleichgültig war.

"Ihnen ist doch wohl klar, dass Sie sich soeben strafbar gemacht haben", erklärte Perone, „Behinderung und Bedrohung eines Polizeibeamten."

"Viel wird mir nicht passieren", erklärte der Fremde nahezu unberührt, "Ich bin ein unbescholtener Bürger ohne jegliche Vorstrafen. Man wird mir allenfalls ein paar Hundert Euro Strafe aufbrummen und es bei einer Bewährungsstrafe belassen."

Die Gleichgültigkeit, die der Fremde zum Ausdruck brachte, deutete Perone auf die Tatsache hin, dass dieser sich anscheinend mit dem Gesetz auskannte und er das Alter hatte, wo kaum ein Richter eine akute Gefahr für die Allgemeinheit sah. Perone's Blick ging zu dem kleinen Boot, was gerade den Strand erreichte. Die Männer waren nicht sonderlich darüber aufgebracht, dass ihr Kutter vor ihren Augen versank. Vereint zogen sie das kleine Rettungsboot auf den Strand. Seelenruhig nahmen sie einige Taschen und verließen das Boot.

"Woher wussten Sie, dass der Kutter hier sinken wird?", fragte Perone wiederholt, wobei er die Besatzung beobachtete, die langsam am Strand in Richtung Ort, entlang gingen. Sie blickten nicht einmal zurück.

"Ich konnte es mir denken", antwortete der Fremde und starrte immer noch auf das Wasser, wo Sekunden zuvor der Fischkutter versank und nur noch ein paar Utensilien der Decksausrüstung auf dem Wasser trieb. Wo sich Minuten zuvor noch ein Unglück ereignete, überzogen die Wellen das Ganze mit einem friedlichen Wasserteppich, als wäre nie zuvor etwas passiert.

"Was ist mit diesem Taucher, kannten Sie ihn?", fragte Perone weiter. Der Fremde nickte und antwortete: "Ja, das kann man so sagen."

Perone nickte zwar, glaubte aber immer noch, es möglicherweise mit einem verwirrten Alten zu tun zu haben. Er zog es sogar in Betracht, den Alten einfach laufen zu lassen. Doch einen Beamten mit der Waffe zu bedrohen und ihn in der Ausübung seines Amtes zu behindern, war schließlich kein Kavaliersdelikt. Unschlüssig stand er da und versuchte das Ganze zu deuten. Er nahm sogar an, dass der Taucher wieder auftauchen würde.

"Ich würde sagen, wir warten noch ein paar Minuten", schlug Perone vor, "Der Taucher wird ja irgendwann wieder auftauchen und dann kann ich Sie beide …"

"Ich sagte Ihnen doch, er wird nicht auftauchen", unterbrach ihn der Fremde ruhig.

"Ein Selbstmörder?", schlussfolgerte Perone und zog die Stirn kraus. Der Fremde schmunzelte kopfschüttelnd und antwortete: "Kein Selbstmörder. Er kehrt nur dahin zurück, wo ihn das Schicksal vor einer Woche hin verschlagen hatte."

Perone stutzte bei diesem Satz. Zwar interessierte er sich nicht für dessen Schicksal, sondern erinnerte er sich daran, dass vor einer Woche ein Fremder die Taucherausrüstung zurückgebracht hatte, von der die Eigentümer nichts wussten. In welchem Zusammenhang es stand, konnte er sich aber nicht vorstellen. Auch begriff er nicht, was der Fremde wirklich meinte. Für ihn ergab das Ganze keinen logischen Zusammenhang.

"Ich könnte die Rettungswacht informieren, damit …"

"Man wird ihn nicht finden", fiel der Fremde ihn ins Wort, "Dieser Mann existiert nicht mehr. Man wird weder ihn noch die Ausrüstung finden."

Perone sah den Fremden schweigend an. Dieser wiederum sah auf den Boden und schien nachzudenken. Dann erhob er den Kopf und lächelte Perone freundlich an. Ein Lächeln, was eher zu deuten war, wie, das kapierst du sowieso nicht.

"Ich würde es Ihnen gern erklären, Monsieur Perone. Aber ich befürchte, Sie werden es mir zum einen nicht glauben und zum anderen nicht verstehen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich möchte Ihre Intelligenz keineswegs infrage stellen. Aber es gibt nun mal Dinge zwischen Himmel und Erde, die geschehen, obwohl es wider jede Logik entspricht. Sie passieren und kein Mensch der Welt kann es erklären. Also verhaften Sie mich, nehmen mich mit auf das Revier und stellen Sie die üblichen Fragen oder lassen mich einfach gehen."

Der Fremde leierte es so phlegmatisch herunter, als wäre alles nur eine Routineangelegenheit. Was Perone nebenbei registrierte, war, dass der Fremde ihn immer mit Namen ansprach. Er war sich sicher, diesem Menschen nie begegnet zu sein. Dennoch spiegelte sich eine Art Vertrautheit wider, als kannte der Fremde ihn schon seit Jahren. Perone versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Erst einmal musste er diese Situation in den Griff bekommen. Denn so etwas hatte man ihm bei der Ausbildung nicht gelehrt.

"Ganz so einfach ist das nicht, Monsieur. Immerhin haben Sie mich mit einer Waffe bedroht. Widerstand gegen die Staatsgewalt. Und Sie haben mich davon abgehalten, einen Suizidgefährdeten an seinem Vorhaben zu hindern. Das ist unterlassene Hilfeleistung. Sind Sie sich überhaupt im Klaren darüber, was das für Konsequenzen für Sie hat?"

Der Fremde blickte in sich lächelnd auf den Boden und antwortete ruhig: "Sie waren zu keinem Zeitpunkt in Gefahr. Die Waffe ist nicht geladen."

Perone zog die Waffe aus der Tasche und sah sie sich noch einmal an. Dann drückte er die Trommel heraus und stellte fest, dass sich tatsächlich keine Patrone im Magazin befand. Konsterniert, aber auch mit einer gewissen Erleichterung, sah er den Fremden an und fragte: "Warum haben Sie das getan? Ich meine, ich hätte Sie doch überwältigen können, oder?"

"Auf einer Entfernung von zwei Metern?" lachte der Fremde, "ich glaube, das Risiko wären Sie nicht eingegangen. Hören Sie, Monsieur Perone, ich hatte nicht vor Sie in Gefahr zu bringen. Ich brauchte nur diese kleine Verzögerung. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn Sie den Taucher an seinem Vorhaben gehindert hätten."

"Was hätte passieren sollen?", fragte Perone, "Ich hätte ihn mitgenommen, eine Anzeige geschrieben und um den Rest hätten sich einige Psychiater im Krankenhaus gekümmert."

Der Fremde verschränkte seine Hände hinter dem Rücken und wippte andächtig seine Hüfte hin und her. Wieder ließ er seinen Blick über das Meer schweifen. "Die Frage ist nicht, was aus diesem Taucher geworden, sondern was mit mir passiert wäre." entgegnete der Fremde und Perone glaubte, eine innere Unruhe bei ihm zu entdecken. Wie jemand, der gerade an einem verhängnisvollen Unheil vorbeigeschlittert war. Verunsichert überlegte er, wie er weiter vorgehen sollte. Gleichzeitig versuchte er zu ergründen, was diesen Fremden dazu bewogen hatte, ihn bei seinem Vorhaben zu behindern. Alles, was er sagte, ergab keinen Sinn und wirkte umso rätselhafter. Er wurde das Gefühl nicht los, dass dieser Fremde sein ganzes Handeln plante. Als sehe er Dinge, die noch nicht stattgefunden haben. Zu dem nannte er Perone bei seinen Namen, obwohl Perone ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Vorsichtig trat er näher an den Fremden heran und sah ihm fest in die Augen. Sie wirkten klar und freundlich. Keine wässerigen Trübungen, wie sie bei alten Menschen häufig zu erkennen waren. Auch wich dieser Perone's Blick keineswegs aus. Es schien, als erwartete er weitere Nachfragen seitens des jungen Polizisten.

"Wer sind Sie? Wie heißen Sie? Und woher verdammt noch mal kennen Sie meinen Namen?", fragte Perone ungläubig und versuchte immer noch diesen Fremden einzuordnen. Sich die Hände in seinen Parker steckend, sah er Perone an und holte hörbar tief Luft. Dabei trat er noch einen Schritt näher und blickte über das Wasser, als genieße er den Anblick des Meeres.

"Wollen Sie es wirklich hören?", fragte er und kniff ein wenig die Augen zusammen, als würde ihn das reflektierende Licht blenden.

"Ich bitte darum, Monsieur", forderte Perone höflich, aber bestimmend. Innerlich aber machte er sich dafür bereit eine konfuse Geschichte aufgetischt zu bekommen. Doch überwog die Neugier, mehr über diesen Menschen zu erfahren. Der Fremde schnaubte kurz durch die Nase und nickte, als würde er sich erbarmen, Perone des Rätsels Lösung zu präsentieren.

"Mein Name ist Thomsen, Werner Thomsen. Geboren wurde ich 1920 in Strahlsund, Deutschland. 1943 kam ich zur Kriegsmarine hier nach Lorient. Nach kurzer Kriegsgefangenschaft 1948 hatte ich mich dazu entschlossen, in Frankreich zu bleiben und die französische Staatsbürgerschaft anzunehmen."

"Thomsen?", erinnerte sich Perone, "Dann haben Sie diesen Brief in der Pension "Labarre" für einen gewissen Monsieur Boregard abgegeben?"

"Ja", bestätigte Thomsen, "es war eine Nachricht, die sehr wichtig für mich war."

"Für Sie?", fragte Perone verwundert, "Der Brief war doch für diesen Boregard, oder nicht?"

"Das ist richtig", antwortete Thomsen ruhig, "aber es ging auch um meine Person."

Perone verlor allmählich den Faden und konnte keinen plausiblen Zusammenhang erkennen. Der Fremde schien ihn immer rätselhafter. Wiederum erweckte es auch ein gewisses Interesse. Perone versuchte nun, seine Fragen so zu stellen, um sich ein zusammenhängendes Bild zu machen. Wissensdurstig zu erfahren, wie all das zusammenpasste.

"Wer war dieser Taucher?", fragte er weiter. Denn es interessierte ihn, was diesen Mann dazu bewog, diesen Taucher entkommen zu lassen. Thomsen machte eine lange Pause, als lege er sich diese Aussage noch zurecht.

"Dieser Taucher und vermeintliche Einbrecher ist ein und dieselbe Person. Sein Name ist Dirk Boregard. 1981 in Hamburg geboren und Amateurtaucher. Seine Spezialität ist das Wracktauchen. Daher auch sein Aufenthalt hier in Archile."

"Der Boregard, der vor einer Woche die Tauchausrüstung an Clemont zurückgegeben hat?", fragte Perone erstaunt nach. Thomsen nickte bestätigend. Perone schüttelte verwundert den Kopf und fragte: "Der Mann wurde aber weder von dem Ehepaar Clemont wiedererkannt, noch hatten sie die Ausrüstung herausgegeben. Haben Sie eine Erklärung dafür?"

Der Fremde blickte erneut auf das Meer hinaus und sog entspannend die salzige kühle Luft ein. Sein kurzer seitlicher Blick zu Perone zeigte, dass er bereit war, ihm eine etwas längere Geschichte zu erzählen. Wie jemand, der aufgab, den ständigen Hinterfragungen auszuweichen.

"Dort ist eine Bank, Monsieur. Gestatten Sie, dass ich mich setze?"

Perone nickte zustimmend und begleitete ihn zu der verwitterten alten Bank, auf der sie Platz nahmen. Sich entspannt zurücklehnend, begann der Fremde zu erzählen: "Nun Monsieur Perone, was ich ihnen jetzt erzähle, ist die Wahrheit. Sie ist genauso unglaublich wie abenteuerlich. Und ich versichere Ihnen, ich würde niemandem so eine Geschichte abnehmen, wenn ich es nicht selbst erlebt hätte. Sie sind der erste Mensch, dem ich das erzähle. Die Frage ist nur, ob Sie es aus meiner Sicht hören wollen oder aus der Sicht des Dirk Boregard?"

Perone war es im Grunde genommen egal und doch entschied er sich für jenen Boregard, der vor wenigen Minuten abgetaucht war. Schon aufgrund dessen, was diesen Mann dazu bewog, den Freitod zu wählen. Sich das Leben mit voller Tauchermontur zu nehmen. Wo es doch zig humanere Möglichkeiten gab, sein Leben zu beenden. Hinzu kam sicher die Gleichaltrigkeit zwischen diesem Boregard und Perone. Thomsen stabilisierte noch einmal seine Sitzhaltung. Sein Blick haftete dabei unablöslich am Horizont des Atlantiks. Die Hände übereinandergelegt, atmete er noch einmal tief durch und begann zu erzählen.

"Nun dann", leitete er die ersten Worte ein, "betrachten Sie mich als den 23-jährigen Dirk Boregard".

Er sagte es mit einem verschmitzten Lächeln, als ahnte er, dass Perone ihm den Altersunterschied zwischen Dirk Boregard und Werner Thomsen nicht so recht abnahm. Perone versuchte diese Tatsache zu ignorieren und nickte nur bestätigend, worauf der Alte fortfuhr. Er sprach so fließend, als las er alles von einem Transponder ab, den man vor ihm aufgebaut hatte.











ZEITSPRUNG

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