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Kapitel 4: Demenzgeflüster

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Es war eine schreckliche Zeit nach dem Tod meines geliebten Onkels. Meine Tante verlor zunehmend an Lebensfreude, obwohl sie von ihrer Natur her ein Sonnenschein war und ist.

Ich hatte ja einen Großteil meiner Kindheit bei Onkel Heinz und Tante Elfriede verbracht, die die Schwester meines Vaters ist. Während mein Onkel mir das Kämpfen und sämtliche Spiele beibrachte, backte und kochte meine Tante, und immer wieder erzählte sie mir (wie auch meine Oma, also ihre Mama) von Jesus.

In schweren Lebenskrisen war sie, so wie Onkel Heinz, immer für mich da gewesen. Ihr herzhaftes Lachen war ansteckend, und oft konnte sie nur sehr schwer damit aufhören.

Sie ist Jahrgang 1933. Im Gegensatz zu Onkel Heinz, konnte sie über die Kriegszeiten offen sprechen und auch darüber, wie sehr ihr Jesus und ihre Mama eine Stütze waren. Ein intensives Erlebnis, über das ich hier nicht näher schreiben kann, hatte dazu geführt, dass ihre Beziehung zu Jesus unerschütterlich wurde. Gott hatte ihr in ihrer Not zur Seite gestanden, und das trägt sie fest in ihrem Herzen.

Kurze Zeit nach dem Tod ihres geliebten Mann tat sie sich immer schwerer damit, alles alleine zu bewältigen. So wurde das kleine Häuschen verkauft und Tante Elfriede ging in eine Einrichtung, welche sich „Betreutes Wohnen“ nennt. Schnell lebte sie sich hier ein; allerdings blieb die Sehnsucht nach ihrem Heinz und nach ihrem gemeinsamen Häuschen riesengroß.

Oft nahm ich sie einfach mit zu uns, zum Essen oder einfach nur so. Manchmal spielte ich ihr von meinem Handy Lieder aus uralten Zeiten vor. Sie liebte die Schlager der 70er- und 80er-Jahre und so manches Heimatlied. Und stets beteten wir gemeinsam. Ein Gebet trug sie mir immer und immer wieder vor:

Dich, o Jesus, bet ich an,

wie die Weisen es getan.

Gold und Schätze kann ich nicht

bringen vor dein Angesicht,

aber meines Herzens Gold

schenk ich dir, o Jesus hold.

Über alles lieb ich dich,

will dich lieben ewiglich!

So beteten und sangen wir fast immer, wenn wir zusammen waren bzw. sind. Der Montag wurde zu „unserem“ Tag. Ich holte sie am Nachmittag ab, dann gingen wir zum Friedhof und in die Kirche und zum Abschluss in unser geliebtes „Café Mayer“.

Zunehmend wurde sie vergesslicher und schwächer, bis der traurige Tag kam, an dem sie wieder umziehen musste. Das Altersheim ist nun zu ihrer letzten Wohnstätte geworden. Mehr und mehr verschwammen wohl ihre Lebensbilder bzw. fand sie die passenden Worte nicht mehr, oder beides. Dann kam die Zeit, in der sie weder meinen Namen noch mich kannte. Das war sehr schmerzlich; ich weiß nicht, ob auch für sie oder nur für mich. Selbst ihren geliebten Mann erkannte sie auf einem Foto nicht mehr und fragte mich, wer das denn sei. Doch eines blieb, war zutiefst in ihr verankert: Wenn ich ihr unser Gebet ins Ohr flüsterte, machte sie mit und wir flüsterten es gemeinsam.

Eines Tages, sie saß in einem Ohrensessel im Aufenthaltsraum des Heims, da kniete ich mich vor ihr hin und bat sie um Vergebung für all die Liebe, die ich ihr nicht gebracht hatte, und wo ich an ihr schuldig geworden war. Sie nahm mich behutsam in ihre Arme, küsste meine Tränen weg und sagte: „Ich hab’ dich lieb, mein Guter!“ Und dann fragte ich sie: „Weißt du, dass Jesus dich liebhat?“ „Ja, das habe ich nie vergessen!“, flüsterte sie liebevoll zurück.

Leider kam dann die Zeit, als wir auch nicht mehr gemeinsam weggehen konnten, nicht mehr auf den Friedhof, nicht in die Kirche, um gemeinsam zu beten, und nicht mehr zum Kaffeeplausch ins Café unseres kleinen Städtchens …

Vor Kurzem, bei einer gemeinsamen Fahrt durch unser Dörfchen zeigte sie liebevoll auf den kleinen Hügel, auf dem ihr Häuschen stand. Wortlos, mit feuchten Augen, zeigte sie mit ihrem Zeigefinger in Richtung des Hauses, in dem es so oft nach frisch gebackenem Kuchen, nach Rouladen oder heißem Kakao gerochen hatte. Ihr sehnsüchtiger Blick mit dem empor gehaltenen Finger erinnerte mich an „E.T.“, als der in einer Szene sagte: „Nach Hause gehen ...“

Ja, das ist es: Nach Hause gehen. So viele Sterbende flüsterten dies in mein Ohr – meine Oma, mein Papa und so viele andere auch.

Vor wenigen Wochen besuchte ich Tante Elfriede, und sie hielt gerade einen Mittagsschlaf. Süß, wie sie aufwachte; ein Lächeln verzauberte ihr Gesicht. Ich setzte mich an den Bettrand und hielt ihre Hände. Auf einmal erkannte sie mich: „Bist du es?“ „Ja, Dodo“, so nenne ich sie seit Kindheitstagen. „Ich bin es, Miggi!“ „Es ist gut, dass du da bist“, flüsterte sie leise mit einem kleinen Lächeln.

Ich legte meinen Kopf auf ihren Oberkörper und sagte ihr, wie sehr ich sie liebe. Und dann fing ich an, unser Gebet zu sprechen. Ganz sachte, fast schon zärtlich, flüsterte sie mit: „Dich, o Jesus, bet’ ich an … “ Dann flüsterten wir beide das Vaterunser, das Jesus uns selbst gelehrt hat. Sie sprach fast alles mit. Wenn auch das meiste andere vergessen schien oder die Worte irgendwo verschüttet waren, das Beten ging. Und gemeinsam sangen wir noch ein Lied. Es war ein Stück Himmel, mit ihr zum himmlischen Papa zu sprechen …

Bei jedem Besuch flüstere ich ihr meine Liebe ins Ohr und immer wieder: „Jesus liebt dich.“ Oft huscht dabei ein Lächeln über ihr Gesicht. Alles, was wir aus Liebe tun oder sagen, bleibt in Ewigkeit …

So verbringt sie ihre Tage in ihrem Altersheim, in dem sie liebevoll umsorgt wird. In ihrem Herzen ist eine große Sehnsucht, nach Hause zu gehen. Eines Tages wird sie ein letztes Mal umziehen, zu dem, der ihr versprochen hat, ihr eine Wohnung zu bereiten …1 Zu dem, der ihr ein Leben lang Halt und Trost gegeben hat. Sie wird nach Hause gehen, zu Heinz und zu Jesus, über den schon ihre Mama im Sterben flüsterte: „Sieh, wie schön er ist!“


1 Jesus sagte: „Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich! In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn's nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten? Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, auf dass auch ihr seid, wo ich bin“ (Joh 14,1-3 LUT).

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