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KAPITEL 3

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DONNERSTAG, 11:04 PM

DIE MUTATION

Gerade zog auf der Interstate wieder einer der schweren Tanklastzüge vorbei und Jeff drehte sich auf die andere Seite, als es heftig an der Tür klopfte.

“Jeffrey O´Bannion, bist du da drin?”, rief Shereen unnötig laut durch das dünne Holz.

Wer immer in dieser Familie ‚Jeffrey‘ zu Jeff sagte, der meinte es in dem Moment garantiert nicht gut mit ihm.

“Ja, was ist denn?” Jeff richtete sich im Bett halb auf und sah auf die Leuchtziffern des Weckers. Er hatte bestenfalls fünf Minuten geschlafen.

Die Tür öffnete sich, das Licht flammte auf und seine Schwester stand mit wutblitzenden Augen im Türrahmen. “Wenn das ein Scherz sein soll, dann verstehe ich ihn nicht!”, fauchte sie und hielt Jeff die offene Herzchenschachtel entgegen. “Ich bin ein Geschenk von Jeff!” las sie mit gerunzelter Stirn von dem post-it-Zettel ab. “Was bitte ist das hier? Was soll das?”

“Wie? Was?” Jeff blinzelte schlaftrunken in die Helligkeit. “Steht doch da! Ist ´n Geschenk von mir an dich. Jetzt freu dich und lass mich in Ruhe!”

“Freuen?” Shereen schüttelte verständnislos den Kopf. “Worüber bitte soll ich mich denn freuen?”

“Na über das Flattervieh mit den vielen Beinen!”, stöhnte Jeff über so viel Begriffsstutzigkeit. “Auf sowas bist du doch sonst ganz verrückt.”

“Auf sowas? Wohl kaum!” Shereen kam mit zwei raschen Schritten näher und hielt Jeff die Schachtel so hin, dass er hineinsehen konnte.

“Was ist das denn?” Jeff war schlagartig hellwach und richtete sich vollends auf. Im Bett sitzend beugte er sich vor und sah völlig fassungslos in die Schachtel hinein. Nicht die Spur eines insektenartigen Wesens war darin zu erkennen. Nur ein graubrauner, wabbeliger Schleimklumpen zitterte im Takt von Shereens Herzschlag vor Jeffs Augen. Das Zeug sah aus, als habe man es aus der Stirnhöhle eines todkranken Brontosauriers abgezapft und Jeff musste krampfhaft schlucken, damit sein Abendessen nicht plötzlich den Rückwärtsgang einlegte.

“Und? Erklärung!”, forderte Shereen und hatte die Güte, die Schachtel ein wenig zurückzuziehen.

“Es, es hat sich zersetzt”, stammelte Jeff.

“Was hat sich zersetzt?”

“Na, dieses Insekt doch, oder was immer das war.” Jeff beschrieb Shereen das Tier und wie er dazu gekommen war, es mitzunehmen. Als Beweis für die Richtigkeit seiner Story hielt er ihr die gelblichen Fingerspitzen vor die Nase und erzählte von dem Juckreiz, den der Kontakt mit dem Tier bei ihm und Paddy ausgelöst hatte.

“Na gut!” Shereen schien halbwegs besänftigt, als Jeff seinen Bericht beendet hatte. “War also kein blöder Scherz! Tja, dann danke für die gute Absicht, aber du hast doch sicher nichts dagegen, wenn ich dir das dalasse.” Sie klappte den Deckel der Schachtel zu und stellte sie auf Jeffs Schreibtisch. “Dann gute Nacht und träum was Schönes!” Sie löschte das Licht und Jeff ließ sich in sein Kissen zurücksinken. “Gute Nacht!”, sagte er, bevor sich die Tür hinter seiner Schwester schloss. “Gute Träume auch für dich.”

Jetzt dauerte es ein Weilchen, bis Jeff wieder einschlafen konnte. – Irgendwie schien es, als würde dieses komische Tier ihm kein Glück bringen. Zuerst war der Vater leicht angesäuert gewesen, dann die Mutter blitzböse und jetzt hatte Shereen sich auch noch darüber geärgert! Na ja, jetzt, wo es nur noch ein Matschhaufen war, würde es ja wohl keinen Schaden mehr anrichten können.

Auf dem Highway dröhnte ein schwerer Diesel auf und ein schwacher, gelblicher Lichtfinger streifte kurz Jeffs Fenster. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er zu seinem Schreibtisch hinüber, aber die Schachtel war nicht zu erkennen. - Zu schade, dass es mit der Überraschung nicht geklappt hatte! Jeff gähnte, ruckelte sich bequem zurecht und schloss die Augen. Der Tanklaster erreichte die Interstate und nahm Geschwindigkeit auf. Jeff drehte sich auf die Seite und schlief ein.

“Acht Beine und gleichzeitig Flügel?” Der Lehrer zog eine Augenbraue hoch. “Da kann ich dir ganz genau erklären, was passiert ist. – Du hast dich verzählt!”

Jemand in der Klasse kicherte und andere fielen ein.

Jeff saß an seinem Tisch und sah den Lehrer an, der jetzt auch noch einen Mundwinkel nach unten gezogen hatte, was ihn aussehen ließ, wie einen alten, ironisch – bösartigen Gnom.

“Nein, Mister Hoodson”, sagte Jeff mit fester Stimme in das schiefe Grinsen hinein. “Vier Beinpaare und zwei Fühlerpaare. Ganz bestimmt!”

“Na, das ist ja reichlich!”, stellte Hoodson fest und es war ihm deutlich anzumerken, dass er Jeff kein Wort glaubte. “Aber nur nochmals zur Auffrischung für alle, die es schon wieder vergessen haben: Insekten sind keine Spinnen und Spinnen sind keine Insekten! Kreuzungen zwischen den Spezies sind nicht möglich!” Er hatte zur ganzen Klasse gesprochen und wandte sich nun wieder Jeff zu. “Alles klar? Du hast dich eben geirrt. – Wie wäre es mit einem kleinen Auffrischungskurs in Mathe? Sechs sind so viel!” Er hielt die rechte Hand und einen Finger der linken hoch und grinste Jeff höhnisch an.

Wieder kam Gekicher in der Klasse auf.

“Und acht sind so viel!” Jeff wurde langsam ärgerlich. Er klappte die Daumen ein und hielt beide Hände hoch. “Und genau so viele Beine hatte das Tier!”

“Ach!” Hoodson machte eine unwillige Handbewegung. “Und wo ist sie, diese wunderliche Mutation?”

“Verwest und leider nicht mehr zu erkennen!” Jeff wurde immer wütender, aber er hielt sich unter Kontrolle und gab sachlich und ruhig die gewünschten Auskünfte. Es war ein Fehler gewesen, Hoodson gegenüber das Thema überhaupt anzusprechen, das war ihm jetzt klar. Jeder in der Schule wusste, dass gerade dieser Lehrer dazu neigte, seine Schüler mit einer gewissen Herablassung zu behandeln. Trotzdem hatte Jeff gedacht, dass er auf eine vernünftige Frage eine sachliche Antwort bekommen würde.

“Verweeest!”, zog Hoodson das Wort in die Länge und hob in gespielter Erkenntnis die Hand an die Stirn. “Natürlich! Dass ich darauf nicht gekommen bin. – Insekten verwesen ja immer so schnell!”

Ein paar laute Lacher durchschnitten die Luft und Hoodson nickte beifällig dazu.

“Eigentlich trocknen sie ja eher aus!”, korrigierte Jeff die ironische Bemerkung. “Das ist wohl auch so eine Besonderheit des Tieres, das ich gefunden habe.

“Alles klar!” Hoodson schüttelte den Kopf. “Nur bedauerlich, dass wir jetzt alle unsere teuren Lehrbücher wegwerfen können. – Die Eckdaten der Biologie müssen jetzt nämlich in wesentlichen Teilen neu ermittelt werden!”

Ein paar Witzbolde kramten sofort in ihren Taschen herum und holten ihre Biologiebücher heraus.

“Wir warten aber noch damit, bis unser junger Darwin hier einen schlüssigen Beweis für die Existenz eines solchen Tieres geliefert hat!”

Ein lang gezogenes “Oooch!” klang in der Klasse auf und die Bücher verschwanden wieder in den Taschen.

“Also”, der Lehrer wandte sich jetzt wieder direkt an Jeff. “Können wir das Thema damit beenden?”

“Ja, Sir!”, nickte Jeff. “Nach den Ferien bringe ich Ihnen so ein Tier mit!”

In Mister Hoodsons Augen blitzte einen Augenblick lang die nackte Wut auf. Widerspruch mochte er überhaupt nicht, das war allgemein bekannt. Aber er beherrschte sich und warf Jeff nur noch einen seltsamen Blick zu, bevor er sich abwandte und mit dem normalen Unterricht begann.

“Warum haste dich denn bloß mit dem alten Hoodson angelegt?”, wollte Billybob Mayers nach Schulschluss von Jeff wissen. “Is´ doch völlig Brause, was so´n Vieh für Beine hat! Warum guckste dir sowas überhaupt an?”

“Weiß auch nicht, - Nur so!”, meinte Jeff und hob die Schultern ein wenig. Billybob war ein ziemlicher Idiot, aber gerissen genug, immer gerade noch ausreichende Noten zu bekommen. Obwohl er redete wie ein Depp, war er in der Klasse ziemlich beliebt und Jeff hatte keine Lust, es sich mit ihm zu verderben. Es reichte schon, dass er jetzt den alten Hoodson gegen sich aufgebracht hatte, da konnte er weiteren Ärger nicht gebrauchen.

“Darwin, das war doch der, der irgendwas mit `nem Beagle gemacht hat”, quasselte Billybob weiter. “Warum hat Hoodson Darwin zu dir gesagt? Du hast doch gar keinen Hund, oder?”

“Die ‚Beagle‘ war das Schiff, mit dem Darwin gereist ist, um die Natur zu erforschen.”

“Ach ja?” Ganz offensichtlich fehlte Billybob jede Erinnerung. “´n Schiff, das heißt, wie´n Hund? Warum das denn?”

“Keine Ahnung.” Jeff versuchte sich unauffällig in Richtung Ausgang zu schieben.

“Beagle!” Billybob schüttelte den Kopf. “Verrückter Name für´n Schiff!” – Und dann sagte er etwas, das Jeff nie erwartet hätte: “Dass du sowas alles weißt, is schon Klasse! Bist ganz schön helle, was? - So, ich muss jetzt los. Na, denn mach´s man gut. Bis nach den Ferien dann.” Mit einen kräftigen Schlag auf Jeffs Schulter verabschiedete er sich und ließ seinen leicht verdutzten Klassenkameraden einfach stehen.

“Verrückt!”, murmelte Jeff und ging zum Ausgang. Es geschah nicht oft, dass jemand ihm gegenüber seiner Bewunderung Ausdruck verlieh, und von Billybob hätte er es am wenigsten erwartet.

Als Jeff die Schule verließ, hatte Billybob schon etliche Schritte Vorsprung und steuerte auf sein altes Mustang-Cabrio zu, das auf dem Parkplatz in der Sonne stand. Zwei Mädchen und ein Junge saßen schon im Wagen und warteten darauf, dass die Fahrt endlich losging. Das sah ganz nach einem vergnügten Start in die Ferien aus, den die vier sich jetzt machen würden, und Jeff spürte einen Anflug von Neid. Der ließ aber schnell nach, als er sah, wer sich da alles zu einer Spritztour versammelt hatte: Alles Leute, für die „Phoenix“ nur der Name eines Weltraum-Abfangjägers war und die den Orinoco wahrscheinlich für einen Halbbruder von Godzilla hielten. Jeff wusste genau, dass er in so einer Gesellschaft nach spätestens einer halben Stunde Schreikrämpfe gekriegt hätte, und so registrierte er kaum noch, wie Billybob elegant hinter das Steuer jumpte und der Mustang mit wimmernden Reifen vom Hof kurvte.

Dank der neuen Zündkerze sprang der Scooter schon beim ersten Knopfdruck an und Jeff nutzte die Heimfahrt durch den warmen Nordtexas-Wind, um sich ein paar Gedanken zu machen:

Hoodson hatte seine Ehre angegriffen, und das war etwas, das Jeff sehr schlecht vertrug. Es hatte all seine Kraft gekostet, um sachlich zu bleiben. Aber darüber hinaus hatte Hoodson auch noch versucht, ihn vor der ganzen Klasse lächerlich zu machen; und Jeff hatte sich vorgenommen, diesem Ekel zu beweisen, dass es solche Tiere tatsächlich gab.

Sie hatten über ihn gelacht! - Irgendwie musste er es schaffen, in den Ferien an so ein Pseudo-Insekt zu kommen und es dann einfrieren, um es Hoodson und der ganzen Klasse zu zeigen. Vielleicht wusste sein Vater ja etwas über diese Art von Tier.

Je länger Jeff nachdachte, um so überzeugter war er davon, dass sein Dad diese Biester kannte – und zwar von seiner Arbeit bei der Moulder-Oil-Company. Mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit hatte sich das Biest dort in den Wagen verirrt und er hatte es unabsichtlich mit in die Stadt gebracht.

Jeff beschloss, seinen Vater danach zu fragen. Vielleicht konnte er ja noch so ein Tier mitbringen. – Diesmal mit Absicht.

Und wenn das nicht gelang? Wenn er sich nicht darauf einließ? Dann blieb Jeff nur der Trost, dass das heute der letzte Schultag gewesen war und dass die Klasse den Vorfall nach den Sommerferien vielleicht vergessen hatte.

Was das Vergessen anging, da hatte Jeff allerdings selbst so seine Schwierigkeiten, aber es war nicht der Ärger über die ungerechte Behandlung durch Mister Hoodson, der ihn nicht zur Ruhe kommen ließ. Der Lehrer hatte etwas gesagt, das sich immer wieder in Jeffs Bewusstsein drängte und in seinen Gedanken herumschwirrte, wie ein großer, fetter schwarzer Brummer. Es war nur ein einziges Wort gewesen, aber das hatte Jeffs Gedanken in völlig neue Bahnen gelenkt. Dieses eine Wort lautete: ‚Mutation‘.

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