Читать книгу Gedanken an der Orgelbank - Michael Voigt - Страница 5

Die Ameise

Оглавление

„Auf dem ga-han-zen E-her-denkreis, loben Gro-ho-se u-hund auch Kleine...“ singt die Gemeinde aus voller Kehle, denn dieses Lied kennt sie. Ich kann mich also entspannt zurücklehnen, obwohl die Sitzbank keine Rückenlehne hat. Aber du weißt sicher, was ich meine. Jedenfalls sind bei diesem Lied keine musikalischen Katastrophen zu erwarten.

Mein Blick schweift vom Notenblatt ab und verfängt sich an einem riesigen, prächtigen Blumenstrauß. Er steht direkt neben dem Harmonium, so dass einige Blütenblätter sogar das Instrument berühren. Genau das ist mein Pech. Denn gerade so, als hätte es den Liedtext verstanden, krabbelt plötzlich ein winziges Lebewesen zu mir herüber: Eine Ameise. Offenbar interessiert sich das Tier stark für die vielen weißen und schwarzen Tasten, denn ohne Umstände marschiert es schnurstracks darauf zu. Nun sind die Tasten einer Klaviatur in der Regel dafür da, um bewegt zu werden. Genau dies passiert soeben, denn (falls es jemand vergessen haben sollte) ich begleite ja gerade den Gemeindegesang. Für die Ameise jedoch bedeutet dies höchste Gefahr. Doch nicht nur das kleine Geschöpf gerät dadurch in Bedrängnis. Auch ich habe nun plötzlich ein Problem. Als Tierfreund und mitfühlender Zeitgenosse bringe ich es nicht übers Herz, den Winzling zu ignorieren. Immerhin könnte die Ameise durch meine Schuld tot gequetscht werden oder zwischen zwei Tasten geraten.

Ich stehe also plötzlich vor der fast unlösbaren Aufgabe, ein Tierleben zu retten und gleichzeitig dem Harmonium die richtigen Töne zu entlocken. Eine Weile geht die Sache gut, denn die Ameise und meine Finger meiden einander. Doch als vorausschauender Organist weiß ich, dass die Katastrophe naht. Das Lied nähert sich seinem Ende. Dort muss ich die mittlere F-Taste drücken, sonst klingt der Schlussakkord nicht. Genau auf jener Taste verharrt jedoch die Ameise. Zu meinem Entsetzen bemerke ich, das der Winzling nicht mehr allein ist. Mittlerweile haben sich noch mehr Ameisen auf der Taste eingefunden. Vielleicht ein Familientreffen? Dann käme der näher rückende Schlusston einem Massaker gleich. Ich überlege fieberhaft: Einfach eine Oktave höher spielen? Die Gemeinde den Schluss a capella singen lassen? Solche Extravaganzen klingen manchmal ganz gut, aber nicht unbedingt bei diesem Lied.

Der letzte Takt ist da! Ich muss schnell etwas improvisieren. Also drücke ich den Schlussakkord ohne die bewusste F-Taste und verberge den etwas dünnen Klang hinter einem kurzen Hustenanfall. Wie es scheint, hat keiner etwas bemerkt. Außer das vorwitzige Insekt samt seiner Verwandtschaft vielleicht. Ich schwöre: Falls Ameisen blinzeln können, dann hat diese mir soeben vielsagend zugezwinkert...

Gedanken an der Orgelbank

Подняться наверх