Читать книгу Oliver Hell - Todesklang - Michael Wagner J. - Страница 4

Donnerstag, 21.08.2014

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Sa Rapita, Mallorca

Oliver Hell trat auf die Straße vor dem kleinen ‚Hostal Bris‘, in dem er schon seit ein paar Wochen wohnte. Wie jeden Morgen empfand er die modernen Fenster des Hauses gegenüber als störend. Nein, eigentlich empfand er diesen Neubau als störend. Ein großes Wohngebäude in rostrot mit weiß abgesetzten Fensterlaibungen und dunklen Schlagläden. Wenn er es genau betrachtete, waren es diese dunkel gestrichenen Fensterläden, die nicht in den farbenfrohen Kanon der Nachbarschaft passen wollten. Diese Häuser waren alt, weiß getüncht, aber die Fensterläden erstrahlten in hellblauem, sonnengelbem und mediterranem Grün. Sie gehörten zum alten Ortskern von Sa Rapita, waren typisch mallorquinisch. Das Haus gegenüber passte nicht hierher, es sah eher deutsch aus. Vielleicht war es das, was ihn störte. Alles, was ihn momentan an seine Heimat erinnerte, wollte er so weit von sich schieben wie nur möglich. Seinen Beruf, die Mörder, Psychopathen und Irren, die ihm in seiner Tätigkeit als Kriminalhauptkommissar fast tagtäglich begegneten. Von denen hatte er die Nase voll.

Mit einem ‚Hola‘, das schon sehr spanisch klang, begrüßte er den Besitzer des kleinen Tabakladens neben dem Hotel. Dann ging er ohne Eile hinunter zur Avenida de Miramar. Langsam überquerte er die Küstenstraße, die parallel zum felsigen Strand verlief, lief über den holprigen Parkplatz und trat an die Klippe heran. Die Brandung klatschte gegen die zerklüfteten Steine. Auf dem Parkplatz standen nur ein paar Autos und hinter ihm donnerte ein Kühllaster vorbei, hielt ein paar Meter weiter vor einem der kleinen Restaurants mit Meerblick oder dem Spar-Markt. Oliver Hell interessierte das nicht. Er spürte nur die sanfte Brise, betrachtete die kleinen Schönwetter-Wölkchen am Horizont. Um nichts auf der Welt hätte er sich an einen anderen Ort gewünscht. Während auf dem Rest der Insel der touristische Sommertrubel tobte, war es hier ruhig. Es gab keine Hotelbunker oder Resorts, nur ein paar kleine Hotels und Pensionen. Carola Pütz hatte ihm das ‚Hostal Bris‘ empfohlen und er war nur zu gerne ihrer Empfehlung nachgekommen.

Der Wind hatte sich gelegt und schon morgens um halb zehn zeigte das Thermometer 25° Grad an. Er sah in Richtung Westen zu der Landzunge hinüber, deren Namen er nicht kannte und überlegte, wie lange er wohl zu Fuß dorthin brauchen würde. Wandern. Eine Tätigkeit, die er in all den Jahren in Bonn nie ausgeführt hatte. Hier nutzte er die Zeit, um zu sich zu finden. Um seine Pläne zu konkretisieren. Daheim in seinem neu angemieteten Haus standen unausgepackte Umzugskisten, Möbel mussten aufgebaut werden. Doch daran verschwendete er keinen Gedanken.

Ein Lächeln flog über sein Gesicht. „Ist doch völlig egal, wie lange du dafür brauchst, der Weg ist das Ziel“, murmelte er vor sich hin und ging los.

*

Bonn, Polizeipräsidium

Mit den Fingernägeln von Zeigefinger und Daumen versuchte Jan-Phillip Wendt ein Haar von seinem Nasenrücken zu zupfen. Nach drei Versuchen klappte es und er betrachtete nachdenklich das Haar, das an seinem Fingernagel klebte. Er schnippte es weg und seufzte. Mit einer eleganten Bewegung schwang er die Füße von Oliver Hells Schreibtisch. Mittlerweile fühlte er sich dort fast heimisch. Das war nicht von Anfang an so gewesen. Nachdem ihm Staatsanwalt Pavel Retzar die kommissarische Leitung der Abteilung übertragen hatte, dauerte es gut eine Woche, bis er seinen Arbeitsplatz gegen den seines Chefs tauschte. Es verging kein Tag, an dem er sich nicht wünschte, sein Freund und Mentor Oliver Hell würde seine selbstgewählte Auszeit beenden. Alle vermissten ihn. Die Kollegen im Team, die Rechtsmedizin, selbst die Mitarbeiter der Spurensicherung – sie alle atmeten schwer, wenn der Name Oliver Hell fiel.

Als Wendt es sich in seinem Sessel, den er Hells protzigem Sitzmöbel vorzog, gemütlich gemacht hatte, riss aus irgendeinem Grund plötzlich der Himmel auf. Die Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg und landeten auf Wendts unausgeschlafen wirkenden Gesichtszügen. Er beeilte sich, die Jalousie zu schließen. Er war tatsächlich unausgeschlafen, wie so oft in der letzten Zeit. Der Grund war sehr einfach: Er und Julia verbrachten zurzeit die Abende bei ihr in Asbach, weil es in ihrem Garten viel angenehmer war als auf Wendts kleiner Terrasse. Von Asbach bis ins Polizeipräsidium in der Königswinterer Straße in Bonn-Oberwinter fuhr er morgens mindestens eine halbe Stunde, oft länger. Mit zu wenig Schlaf quälte er sich auf die Arbeit und war froh, dass die Verbrechen in diesem Jahr in einem Sommerloch verschwanden. Wendt fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppeln und gähnte ausgiebig. Er schloss die müden Augen und schüttelte leicht den Kopf. Noch alleine im Büro, Klauk, Rosin und Christina Meinhold waren noch nicht eingetroffen, überlegte er, ob er sich für ein paar Minuten in den Sessel setzen und die Augen geschlossen halten sollte. Er stieß die Luft aus, als er sich daran erinnerte, dass Oliver Hell bei einer solchen Gelegenheit von dem ehemaligen Staatsanwalt Überthür beim Schlafen fotografiert worden war. Mitten in diese zögerliche Entscheidungsfindung hinein klingelte das Telefon.

Das wär’s dann, dachte Wendt, ließ sich in den Sessel fallen und nahm nach dem vierten Klingeln das Gespräch an. Während er zuerst noch entspannt zuhörte, straffte sich plötzlich sein Rücken und sein Polizistengehirn wurde von einer Sekunde zur nächsten in Alarm versetzt.

„Wie konnte das passieren?“, fragte er. Der Anrufer atmete schwer durch, blieb zunächst eine Antwort schuldig. „Wir sind dabei, das herauszufinden. Wenn wir genaue Details erfahren haben, geben wir Ihnen Bescheid, Herr Kriminaloberkommissar Wendt“, sprach die Stimme aus dem Telefonhörer mit einem schuldbewussten Tonfall.

„In Ordnung, ist die Fahndung raus?“, fragte Wendt barsch.

„Selbstredend“, antwortete der Mann jetzt ein wenig sicherer.

Wendt drückte das Gespräch weg und senkte den Kopf.

„Verdammte Idioten“, fluchte er laut vor sich hin und produzierte einige heftige Sorgenfalten auf seiner Stirn. Er schaute auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach halb zehn. Trotz der Sonne, die von der Jalousie nur lückenhaft abgehalten wurde, legte sich eine Dunkelheit über die Stadt. Plötzlich kam ihm das Büro kalt und feindselig vor. Ein Schauer fuhr ihm über den Rücken und als er seinen Unterarm betrachtete, sah er die Härchen darauf aufrecht stehen. Wendt schluckte. Langsam, wie in Zeitlupe, griff er zum Telefon und wählte eine interne Nummer.

„Hallo, hier ist Wendt. Frau Oberstaatsanwältin Hansen, ich habe soeben erfahren, dass Ron Baum aus der Klinik in Weißenthurm geflohen ist“, sagte er mit demselben schuldbewussten Tonfall, mit dem kurz zuvor der Mitarbeiter der psychiatrischen Klinik dieses gebeichtet hatte. Brigitta Hansen schwieg. Er hörte sie atmen.

„Ist Hell informiert?“, presste sie hervor.

„Noch nicht. Ich wollte zuerst Sie in Kenntnis setzen.“

„So lange, wie er auf der Insel bleibt, ist der Kommissar in Sicherheit“, antwortete sie sorgenvoll. „Fahndungsfotos von Ron Baum sofort an alle Bahnhöfe und Flughäfen schicken, auch ins Ausland. Er kann auch von den Niederlanden aus nach Mallorca fliegen. Wir müssen diesen Psychopathen so schnell wie möglich wieder dingfest machen.“

Wendt nickte. „Sehe ich auch so. Ich werde Hell informieren, Frau Oberstaatsanwältin.“

„Das übernehme ich. Trommeln Sie Ihre Leute zusammen und leiten die Fahndung nach Baum ein. Ich will, dass jeder Kollege auf der Straße sein verdammtes Gesicht kennt!“

„Okay“, seufzte Wendt. Und er erkannte: Brigitta Hansens Wortwahl war außergewöhnlich. Für sie, die sonst vornehme Zurückhaltung lebte. Das Wort ‚verdammt‘ gehörte nicht zu ihrem Wortschatz.

Das noch eben als angenehm empfundene Sommerloch wurde mit einer längst als erledigt angesehenen Geschichte gefüllt. Ein Doppelmörder war auf der Flucht. Wendt musste versuchen, seinen persönlichen Zorn unter Kontrolle zu bringen, sonst würde er ihm nur im Weg stehen. Er musste auf Distanz zu diesem Ereignis gehen. Wie auch immer er das bewerkstelligen konnte. Dieser Mann, der jetzt auf der Flucht war, dieser Mann war dafür verantwortlich, dass Oliver Hell seit Monaten auf Mallorca in selbstgewählter Klausur lebte. Mallorca war für ihn eine Art Exil. Was ja nur sein gutes Recht war, schließlich hatte Ron Baum versucht, ihn und Franziska zu töten.

In diesem Moment bemerkte er, dass Christina Meinhold leise das Büro betreten hatte. Sofort erkannte sie, dass etwas vorgefallen war.

„Morgen Jan-Phillip, was ist passiert?“

Wendt hob den Kopf. „Ron Baum ist aus dem psychiatrischen Krankenhaus geflüchtet. Sie gehen davon aus, dass er versteckt in einem Wäschekorb aus der Klinik geflohen ist.“

Meinhold verharrte einen Augenblick lang in der Tür, dann setzte sie sich.

„Und der Chef?“

„Hansen informiert ihn.“

„Und wir bilden ein Fahndungsteam?“

„Sofort, Christina, sofort“, antwortete Wendt und schluckte. Sie schwiegen einen Augenblick, während Wendt nach weiteren Worten suchte. „Mach dir keine Sorgen, Jan-Phillip. Wir werden den Kerl kriegen, bevor er das Land verlassen kann.“

„Du gehst auch davon aus, dass er darüber Bescheid weiß?“

„Natürlich, er hat sicher auch die Nachrichten gelesen. Hells – nennen wir es Flucht – nach Mallorca war lange genug in den Schlagzeilen.“

Wendt brummte unwirsch. Meinholds Nasenflügel bebten. Sie hatte für ihre Abschlussarbeit als Profiler die unglaublichen Taten von Gregor Quade, dem ‚Siegsteig-Killer‘, analysiert. Um Ron Baums Profil musste sie sich jetzt sehr schnell kümmern. Herausfinden, was er als nächstes plante.

„Bis Sebi und Lea hier sind, kümmere ich mich um unseren Flüchtling. Ich meine … du weißt schon“, sagte sie und drehte einen Zeigefinger neben ihrer Schläfe.

„Schon klar“, gab Wendt zurück.

*

Siegburg

Ron Baum duckte sich. Auf dem Waldweg raste ein Mountainbiker vorbei. Als das Geräusch verklungen war, erhob er sich und tastete den Waldboden ab. Irgendwo hier hatte er ein Versteck angelegt. Seine Hände flogen über die verwitterten Blätter, dann begann er zu graben, bis er auf einen blauen Müllsack stieß und diesen eilig aus dem Boden zog. Nachdem er seine Klinikkleidung gegen die ihm vertraute Kleidung getauscht hatte, vergrub er den Sack an derselben Stelle. Aus einem mit braunem Band wasserdicht verklebten Beutel zog er einen Ausweis, einen Führerschein und einen Reisepass. Er betrachtete das Foto auf dem Ausweis. Lächelnd. Daneben stand sein neuer Name. Diesen Namen hatte er sich in den letzten Monaten eingeprägt, ebenso wie seine neue Lebensgeschichte. Er war sicher, dass er darauf sein neues Leben aufbauen konnte. Nachdem er seinen Racheplan ausgeführt hatte. Wenn Hell endlich tot war. Alexander Geißler. So hieß er ab jetzt. Alexander Geißler würde das ausführen, was Ron Baum nicht geglückt war. Ganz sicher.

*

Bonn

„Wir müssen ihn aufhalten, bevor er Hell irgendetwas antun kann“, presste Lea Rosin betroffen hervor. Wendt stand hinter Klauk, der wie ein Häufchen Elend auf den Bericht des Krankenhauses starrte.

„Was sind das nur für grausame Amateure dort?“, fluchte Klauk los. Wütend schob er den Bericht über den Tisch, er landete vor Christina Meinhold, die das Blatt Papier mit dem Zeigefinger stoppte. Ihr bezauberndes Lächeln, das jeder, der sie kannte, an ihr liebte, war verblasst wie ein Sonnenuntergang.

„Lea hat Recht. Wir können nicht warten, bis er einer Polizeistreife in die Hände fällt. Wir müssen handeln. Ich kann nicht warten, bis irgendjemand unsere Arbeit erledigt. Wir sind Hells Team und unser Chef erwartet von uns, dass wir unseren Job erledigen“, flüsterte sie und ihre Worte hatten eine Schärfe, die keiner im Team jemals von ihr gehört, geschweige denn von ihr erwartet hatte.

„Und wie stellst du dir das vor?“, fragte Klauk und sah Meinhold fest in die Augen.

„Indem ich ein Profil erstelle und wir dementsprechend handeln“, erwiderte sie kühl.

„Und das ist für dich so einfach?“

„Ja, ich habe mich in den letzten Jahren mit nichts anderem befasst. In der Theorie. Und ich brenne darauf, es endlich in die Tat umzusetzen. Welche Gelegenheit ist besser, als ein Profil von einem Mann zu erstellen, den ihr verfolgt habt? Wir kennen Ron Baum, wissen, dass er ein schwerwiegendes gesundheitliches Problem hat. Wir wissen außerdem, dass er Hell töten wollte. Wir wissen, dass er ein Psycho-Problem hat, das können wir uns zunutze machen … nein, das müssen wir uns zunutze machen.“

„Psycho-Problem? Du nennst es ein Psycho-Problem? Fällt dir denn keine genauere Definition ein?“, fragte Wendt.

„Doch, Jan-Phillip, diese Definition kann ich dir sogar sehr gerne erläutern!“

„Ich höre!“

Meinhold schickte ihm einen durchdringenden Blick zu, dann fing sie an mit ihrer Erklärung. „Also, wenn ich mich richtig erinnere, dann leidet Ron Baum unter Narkolepsie und zwar unter der verschärften Variante mit Kataplexien, wie wir alle wissen. Daher muss er Tabletten nehmen. Über die Klinik erfahren wir, welche sie ihm verabreicht haben. Diese Tabletten braucht er je nach Dosierung bis zu zweimal am Tag. Wenn er keine Tabletten aus der Klinik gestohlen hat, muss er sich welche besorgen, wenn er nicht irgendwo auf der Straße einpennen will. Und aufzufallen kann er sich nicht leisten.“

„Ich muss keinem von uns erklären, was bei dieser Sache auf dem Spiel steht“, sagte Wendt. Meinhold drehte ihm den Kopf zu. Sie hatte verstanden. Ihm fehlte die Analyse.

„Wir vier sind Hells Schutzengel“, sagte jetzt Klauk und starrte vor sich hin, „also müssen wir verdammt gute Arbeit leisten.“

„Das werden wir, Sebi. Scheiße, wir werden ihn davon abhalten unserem Chef noch mehr Leid zuzufügen, als er ihm bisher schon zugefügt hat!“ Wendt bekam erneut einen Seitenblick von Meinhold zugeworfen.

„So, jetzt noch das versprochene Profil. Was ich jetzt sage, ist eine Hypothese: Baum leidet unter der Erwachsenen-Version von ADHS. Ja, das was mittlerweile jedes dritte Kind hat, weil es vielfach überfrachtet und überfordert ist. Und wenn ihr euch jetzt fragt, ob ich noch richtig ticke, dann hört erst einmal zu. Alle Symptome, die bei den Kindern auftauchen, können in einer abgemilderten Variante auch bei Erwachsenen beobachtet werden. Schwierigkeiten mit Planung und Organisation sind zum Beispiel typische ADHS-Symptome. Erwachsene erreichen daher im Berufs- und im Privatleben oft nicht die Ziele, die sie sich ursprünglich gesteckt hatten. Ron Baum war der Mann einer erfolgreichen Beamtin, jedenfalls war sie das, bevor sie an Depression erkrankte. Er hat sich im Glanz seiner Ehefrau eingerichtet, da fiel es nicht so auf, dass er nur ein kleines Licht war. ADHS bei Erwachsenen äußert sich häufig in Verhaltensweisen, die auf die Umwelt befremdend und nachlässig wirken können. Ron Baum galt als kauzig, aber ungefährlich. Bis zum Tod seiner Frau jedenfalls.“ Meinhold machte eine kurze Pause.

„Problematisch sind zum Beispiel die fehlende Ausdauer sowie Verspätungen und Unordnung. Die Unfähigkeit, sich längere Zeit auf eine Sache zu konzentrieren, hat zur Folge, dass die Betroffenen Aufgaben vergessen oder nur teilweise erledigen. Daher sind die Betroffenen häufig selbstständig, können so ihre Launen mit ins Leben einplanen, ohne dass es dem Umfeld auffällt. Können sie sich aber für ein Thema begeistern, können sie sich mit großer Ausdauer darauf fokussieren. Baum war Spezialist für Fälschungen aller Art. Das war sein Metier, da kannte er sich aus. Erwachsene mit ADHS handeln häufig impulsiv. Sie treffen Entscheidungen spontan aus dem Bauch heraus. Auch ihre Stimmung kann schnell umschlagen.“

„Das klingt für mich alles schlüssig. Warum war Baum deswegen nicht in Behandlung?“

„Eine berechtigte Frage, Sebi“, antwortete Christina Meinhold. „Ich gehe davon aus, dass er es entweder geschickt verbergen konnte oder völlig ahnungslos war. Es kann sein, dass man mit ADHS durchs Leben kommt, ohne auch nur zu wissen, dass man es hat.“

„Was ich mich jetzt allerdings frage, ist, wie kommt denn diese Erkrankung mit seinem Gemütszustand zusammen? Um es ganz gelinde auszudrücken, Baum hat doch mächtig einen neben sich gehen.“

Christina Meinhold nickte und kratzte sich hinter dem Ohr. Hier lag zugegeben die Schwachstelle ihres Profils.

„Wie ich schon gesagt habe, Erwachsene mit ADHS sind manchmal recht schwierige Zeitgenossen. Auf Kritik reagieren sie äußerst sensibel und sind schnell verletzt. Gleichzeitig sind sie nicht zurückhaltend, wenn sie anderen gegenüber richtig deftig austeilen können. Sie haben eine geringe Stress- und Frustrationstoleranz, sind oft aggressiv. Die verminderte Fähigkeit, Impulse zu steuern, wirkt sich vor allem in Kombination mit Stress negativ aus. Neue Situationen und Aufgaben sind daher eine große Herausforderung für sie. Neues erzeugt Stress, den sie aufgrund ihrer mangelnden Organisationsfähigkeit nur schlecht bewältigen können. Laufen dann die Dinge nicht wie erhofft, sind sie oft stark frustriert. Baum ist sicher komplett ausgerastet, als er von der Schwärmerei seiner Frau für Oliver Hell erfuhr. ADHS-Symptome sind häufig Gereiztheit und Jähzorn. Was uns aber mehr interessiert, ist das Auftreten weiterer psychischer Störungen im Zusammenhang mit ADHS. Symptome, wie zum Beispiel starke Ängstlichkeit oder Niedergeschlagenheit, können ein Hinweis auf eine Angststörung oder Depression sein. Ein erhöhtes Risiko für Depressionen und Ängste besteht immer, ebenso leiden sie auch häufiger unter Persönlichkeitsstörungen. Ein mit Medikamenten gut eingestellter ADHS-Patient kann aber völlig unauffällig leben. Das muss uns jetzt erst einmal reichen. Wir wissen, wen wir suchen und wenn wir den Kollegen zu viel Informationen an die Hand geben, verwirrt sie das nur.“

„Wenn ich dich richtig verstehe, dann kann es sein, dass er versucht, illegal an seine Pillen zu gelangen, damit er nicht auffällt?“

„Ja, das kann sein. Frage bitte in der Klinik nach, was er für Medikamente erhalten hat und ob sie einen Diebstahl dieses Präparats bemerkt haben“, antwortete Meinhold und Klauk griff sofort nach dem Zettel, den er zuvor so achtlos über den Tisch geschubst hatte. „Wird sofort erledigt!“

„Lernt man das alles in den Profiler-Lehrgängen?“, fragte Lea Rosin.

„Nein, ADHS ist ein Steckenpferd von mir“, antwortete Meinhold und alle außer Rosin erinnerten sich sofort an den Disput, den sie vor Jahren mit Dr. Franziska Leck hatte, als diese noch nicht Hells Partnerin war. Wendt grinste und war insgeheim froh, dass Meinhold wieder zurück im Team war. Und wenn ihn sein Gefühl nicht trog, war sie besser als jemals zuvor. Früher war es ihre Stärke, menschliche Schwächen zu erkennen und um die Ecke zu denken. Jetzt wusste sie noch mehr über diese Schwächen und wann es sich lohnte, um die Ecke zu denken. Ohne stur auf ihrem Standpunkt zu beharren. Es konnte nur besser sein als zuvor mit ihr zusammen zu arbeiten.

„Wir sind gut aufgestellt“, sagte Wendt und rang sich ein Lächeln ab.

„Das müssen wir sein“, antwortete Meinhold.

„Wir sind es, Chrissie, wir sind es!“

Das Team funktionierte prima. Die Bonner Mordkommission konnte sich mit einer der höchsten Aufklärungsraten in Nordrhein-Westfalen rühmen und im Bundesschnitt standen sie auch hervorragend da. Und warum war das so? Weil Sie mit Brigitta Hansen eine erfolgreiche Staatsanwältin als Vorgesetzte hatten, die sich auf dieses Experiment eingelassen hatte. Die Idee, mit Meinhold einen der Bonner Kriminalisten zum Profiler ausbilden zu lassen, war bei vielen anderen Dienststellen auf Neid gestoßen. Was sie aber nicht davon abgehalten hatte, Hell und sein Team in dieser Zeit so gut es ging zu unterstützen. Und mit Farai G. Akuda hatten sie einen weiteren Spezialisten aus dem hohen Norden nach Bonn geholt, der seine Qualitäten mittlerweile auch schon unter Beweis stellen durfte. Das Konzept war anfangs sehr umstritten, doch mittlerweile verstummten die Stimmen der Skeptiker immer mehr.

„Wir sind das beste Team im Rheinland, schon vergessen, Chrissie?“, fragte Wendt.

„Aber ich bin jetzt schon eine Weile aus dem Geschäft. Hoffentlich klappt alles so wie früher.“ Ihre Skepsis schien ernst gemeint, kein fishing for compliments.

„Du bist jetzt die große Leuchte hier im Team. Es ist jetzt deine Aufgabe, die Psychos zu entlarven. Baum ist deine erste Bewährungsprobe“, sagte Wendt und grinste.

„Eben, genau das ist es.“

Wendt stand auf und klopfte Meinhold auf die Schulter. „Ich bin wie immer einen Schritt hinter dir, Chrissie. Ganz nebenbei, wie sieht es eigentlich mit deinem Schießtraining aus? Du bist doch nicht etwa in der Profiler-Schule komplett verweichlicht und triffst keinen Schurken mehr, der auf dich zukommt?“

Meinhold warf keck den Kopf in den Nacken. „Finde es heraus. Nachher unten auf dem Schießstand?“

„Stets zu Ihren Diensten, Frau Profiler!“

Meinhold strahlte, als Wendt den Besprechungsraum verließ. Das hatte sie vermisst. Die Neckerei unter den Kollegen, den Zusammenhalt. Auch wenn es oft gefährlich war und sie nicht immer einer Meinung waren. Auf diese Leute konnte sie sich blind verlassen. Wie wichtig das in den nächsten Tagen sein sollte, konnte Christina Meinhold in diesem Moment noch nicht ahnen. Sie seufzte und nahm an ihrem angestammten Schreibtisch Platz. Nachdem sie den PC hochgefahren hatte, öffnete sie den Browser und surfte durch die internen Nachrichten der Bonner Polizei.

„Sie haben ihm verschiedene Mittel verabreicht“, sagte in diesem Moment Sebastian Klauk vom Nebentisch. Meinhold erschrak fast, weil sie so tief ins Lesen vertieft gewesen war.

„Hmh, lass hören.“

Klauk betrachtete die Großbuchstaben, die er auf dem Zettel notiert hatte. Wie ein Erstklässler las er vor: „Natriumoxybat und Modafinil. Sagt dir das was?“

„Ja, das tut es Sebi. Das eine ist gegen die Kataplexien, das andere gegen die Tagesschläfrigkeit. Haben sie Diebstähle zu verzeichnen?“

Klauk zuckte mit den Schultern, setzte seine Brille mit einer linkischen Bewegung zurück auf die schmale Nase. „Sie müssen erst die Bestände nachprüfen. Die Ärztin meldet sich bei mir.“

Meinhold stand schnell auf und trat zu Klauk an den Schreibtisch.

„Das dauert zu lange. Wir müssen die Apotheken verständigen. Baum ist ein Fälscher. Für ihn ist es kein großes Problem, auch ein Rezept zu fälschen.“

Klauk schien diese Möglichkeit bisher nicht in Erwägung gezogen zu haben. Er sog die Luft durch gespitzte Lippen ein.

„Mist, du hast Recht“, stieß er hervor.

Meinhold sah ihn mit einem Blick aus ihren alles durchdringenden Opalaugen an.

„Ich hätte gerne Unrecht.“

*

Bonn

Brigitta Hansen hatte die erste Begegnung mit der neuen Bonner Polizeipräsidentin vor sich. Ihr Name war Bettina Keller-Schmitz und sie galt als eine kompromisslose Pragmatikerin. Genau nach Hansens Geschmack – ironisch gesehen. Einen Vorgeschmack über ihre Arbeitsweise hatte schon Karl-Heinz Überthür gegeben, der mittlerweile geschasste ehemalige Staatsanwalt. Als eine Art Vorhut hatte er versucht, der neuen Chefin den Acker zu bereiten – in ihrem Sinne. Er hatte die Arbeit von Oliver Hell und seinem Team sabotiert, versucht, den Kommissar zu diskreditieren, ihn aus dem Polizeidienst zu entfernen. Hansen hatte dies verhindert. Keller-Schmitz Credo war, bestehende Strukturen zu zerschlagen, einen schlanken Polizeiapparat zu schaffen, der nach ihren Vorstellungen zu funktionieren hatte. Hansen war gespannt. Das alles klang nach einigen Reibungspunkten. Die Dezernate, die sie leitete, funktionierten tadellos und sie wollte sich auch nicht in ihre Belange hineinreden lassen.

*

Ron Baum, der jetzt Alexander Geißler hieß, stieg an der S-Bahn-Haltestelle Oberkassel aus und zögerte einen Moment. Sollte er erst einen Spaziergang am Rhein machen? Oder sollte er sofort zum Polizeipräsidium an der Königswinterer Straße 500 hinübergehen? Er verspürte keine Eile. Oliver Hell hielt sich im Ausland auf, das wusste er aus der Presse. War geflohen, der Feigling. Doch Hell würde zurückkommen. Wenn er seinen Plan in die Tat umgesetzt hatte, würde er aus seinem Versteck gekrochen kommen. Der Mistkerl konnte gar nicht anders. Dafür würde er sorgen. Baum verließ die Haltestelle. Er lächelte, ließ einer älteren Dame den Vortritt und erhielt für sein zuvorkommendes Verhalten ein Lob von der Frau.

Wenn du wüsstest, Alte!

Nachdem sein falsches Lächeln wieder von seinem Gesicht verschwunden war, trat an dessen Stelle wieder diese grimmige Entschlossenheit.

Wenn ich mit dir fertig bin, nutzt dir auch keine Flucht mehr etwas!

Er verzog sein Gesicht zu einem spöttischen Grinsen und überquerte die Königswinterer Straße. Baum hatte Erfahrung damit, sich selbst neu zu erfinden. Jetzt bewegte er sich auf das Polizeipräsidium zu wie ein Archäologe, der im Geist eine Ausgrabungsstelle aufteilt. Ruhig und bedacht. Ohne möglichen Fehlerquellen eine Chance zu geben. Wie ein Grabungsplan in der Archäologie musste auch ein Mordplan gut durchdacht werden. Sein Plan hatte lange Zeit zum Reifen gehabt. Eines stand für Ron Baum felsenfest: Einer der Mitarbeiter Hells würde sterben. Dann musste Hell zurückkehren, um ihn zu jagen. Wie herrlich. In seinem Magen machte sich ein Gefühl breit, wie kurz vor dem Abflug in den Urlaub. Mordlust. Er ließ dieses Gefühl Besitz von ihm ergreifen. Völlig. Bis es jede Faser seines Körpers durchdrang. Ein wohliger Schauer lief ihm den Rücken herunter, als er vor dem Präsidium ankam.

*

Bad Godesberg

Nachdem der wuchtige Ford Mustang mit dem Shelby-Emblem auf den Kotflügeln die ganze Nacht über an derselben Stelle geparkt stand, rief einer der Mitarbeiter des Annaberger Hofs bei der Polizei an. Ein Streifenwagen mit zwei Beamten wurde losgeschickt. Die Beamten Lars Bonnermann und Uwe Redecker kamen um 9:34 Uhr an. „Wenn das mal kein Zuhälterschlitten ist“, sagte Redecker abfällig, als der VW Passat in dem Weg zum Annaberger Hof ausrollte.

„Das ist ein Shelby Mustang, wahrscheinlich sogar ein GT 350. Siehst du nicht die aufgerichtete Cobra auf dem Kotflügelemblem?“, protestierte der jüngere Kollege Bonnermann und blickte mit verklärtem Blick zu dem Auto hinüber.

„Zuhälterschlitten. Das riecht nach Ärger. Wahrscheinlich ist die Karre geklaut worden und hier ist ihm der Sprit ausgegangen. Machst du die Halterabfrage, ich schaue mir deine Shelby-Cobra mal an.“

„Shelby Mustang, nicht Shelby Cobra. Eine AC Cobra ist ein ganz anderes Auto, Uwe! Du hast echt keine Ahnung, oder?“

Uwe Redecker machte sich nichts aus Sportwagen und winkte ab. „Mir doch egal, Hauptsache, wir haben das Ding bald von der Backe.“ Der Beamte stieg aus und zog sich als erstes die Uniformhose zurecht.

„Banause“, meckerte Bonnermann ihm hinterher und griff zum Funkgerät. „Hier Wagen 34, wir haben eine Halterabfrage: Ein dunkelblauer Ford Mustang mit dem Bonner Kennzeichen BN-MJ 1.“

Eine halbe Minute später kannte er den Namen des Fahrers. Mit einem flauen Gefühl machte er sich auf den Weg zu seinem Kollegen. Die Freundin des Mannes hatte ihn am gestrigen Abend noch als vermisst gemeldet. Das war es aber nicht, was ihn so irritierte. Es war eher die Tatsache, wem der Mustang gehört, oder besser gesagt, was dieser Besitzer für einen Beruf hatte. Wenn man es Beruf nennen konnte.

Redecker leuchtete den Innenraum des Ford Mustang ab. Als Bonnermann neben seinen Kollegen trat, räusperte er sich. „Hattest Recht, Uwe. Es ist zwar kein Zuhälterschlitten, aber du lagst schon recht nah dran.“

Redecker knipste die Taschenlampe aus, warf seinem Kollegen einen auffordernden Blick aus seinen stahlblauen Augen zu. „Sag schon!“

„Der Name des Besitzers ist Janko Mladic und er ist Mitglied der kroatischen Drogendealer-Bande, die sich mit den Albanern um die Vorherrschaft auf dem Drogenmarkt streiten.“

„Scheiße. Ich habe doch gesagt, das riecht nach Ärger, Lars! Die Karre ist abgeschlossen. Also kann es kein Diebstahl sein. Wenn einer dieses Monstrum von Auto geklaut hat, dann hätte er sie kurzgeschlossen, also hätte er keinen Schlüssel, um abzuschließen. Hier ist was faul, das sagt mir mein Bullen-Riecher!“ Dabei tippte er sich gegen seine Nase und wieder funkelten die blauen Augen. Bonnermann schluckte. „Dann sollten wir die Spurensicherung hinzuziehen, was denkst du?“

Redecker zog die linke Augenbraue herunter. „Klar, setz eine Meldung ab.“

*

Sa Rapita, Mallorca

Oliver Hell hatte mit allen Kollegen und Freunden, wie Carola Pütz und Reto Winterhalter, die er auf der Insel regelmäßig traf, vereinbart, tagsüber nicht anzurufen. Als trotzdem sein Handy klingelte, als er gerade über eine Klippe kletterte, ahnte er nichts Gutes. Es war glitschig, er versuchte, so gut es ging, nicht auszugleiten. Als er wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, fischte er das Handy aus der Außentasche der Trekkinghose. Auf dem Display stand ‚Hansen ruft an‘. Ungläubig betrachtete er das Telefon, dann nahm er das Gespräch an.

„Hell, wer stört?“, fragte er.

„Wir haben keine Zeit für Scherze, Kommissar Hell. Ron Baum ist aus der forensischen Klinik entkommen und ist auf der Flucht. Ich dachte, Sie sollten das wissen!“

Sofort hatte er folgendes Bild vor sich: Ron Baum liegt auf dem Boden vor ihm, getroffen von zwei Kugeln aus seiner Dienstwaffe. Er selbst steht mit gezogener Waffe über ihm. Da hatte er gedacht, es sei vorüber, dieser Psychopath sei für immer ausgeschaltet und würde hinter Gitter vermodern. Falsch.

„Wie konnte das denn passieren, Frau Oberstaatsanwältin?“, brachte er hervor. Räusperte sich.

„Er ist nach aktuellem Inforationsstand in einem Wäschekorb aus der Klinik entkommen. Ihre Kollegen sind informiert und die Fahndung nach ihm läuft auf Hochtouren. Es tut mir leid, ich hätte Ihnen gerne eine angenehmere Nachricht überbracht, Herr Kommissar“, sagte Brigitta Hansen. Hell konnte die ehrlich gemeinte Anteilnahme in ihrer Stimme wahrnehmen. Doch das half ihm nichts. Die Tatsache blieb: Baum war auf der Flucht.

Hell seufzte vernehmlich. „Vielen Dank, Frau Oberstaatsanwältin Hansen. Sind auch die Einsatzkräfte auf dem Flughafen von Palma und der anderen Balearen-Inseln informiert?“

„Selbstverständlich, Herr Kommissar.“

„Danke, ich werde auf mich aufpassen. Richten Sie meinen Leuten aus, sie sollen dasselbe tun!“

„Sicher.“

Dann war das Gespräch beendet. Er schaute auf die Uhr. Es war halb elf. Die kleine Wolke, die sich jetzt vor die Sonne schob, kam ihm plötzlich feindselig vor. Ein kalter Schauer lief über seinen Rücken. Er stand immer noch am selben Ufer, roch noch immer dieselbe würzige Meeresluft, hatte noch immer dieselbe scheinbare Unendlichkeit vor sich, die sich durch die unsichtbare Krümmung der Erde ergab. Doch von einem Moment zum nächsten hatte sich alles verändert. Sein altes Leben riss ihn mit Macht zurück. Ob er wollte oder nicht. Er fühlte, dass er nicht mehr hierher gehörte. Dass er sofort nach Bonn zurückkehren musste. Hell stand auf der Klippe und starrte hinaus aufs Meer. Warum auch immer mischten sich Schuldgefühle in den irren Mix aus Gefühlen, die sich ihm gerade aufdrängten. Seine Kollegen befanden sich in Gefahr, weil sie nach Baum fahndeten. Er war dessen Ziel gewesen. Dessen krankes Ziel. Doch Baum konnte nicht ahnen, wo er sich zurzeit befand. Also richtete sich der Fokus des Psychopathen auf diejenigen, die für ihn und seine Rache verfügbar waren. Hells Team und die Bonner Staatsanwaltschaft. Dieser Mann war zu allem fähig. Auch zu einem weiteren Mord. Wenn Hell sich auch immer eingebildet hatte, seinem bisherigen Leben Adieu sagen zu können, das Leben zeigte ihm gerade den ausgestreckten Mittelfinger. Es war lange her, seit er zuletzt eine solche Verkettung von Ereignissen erlebt hatte. Aber es sollte noch viel schlimmer kommen. Viel schlimmer als er es vermutete, als er auf der immer noch namenlosen Klippe stand und Franziska anrief.

*

Bonn

Christina Meinhold wünschte sich einen Lichtpunkt in der Dunkelheit. Nur einen klitzekleinen. Ein kleines Fünkchen hätte ihr schon gereicht. Doch als das Telefon klingelte und Heike Böhm ihnen mitteilte, dass sie einen toten Drogendealer in seinem Sportwagen gefunden hatten, erlosch diese Hoffnung sofort. Wendt hatte das Telefon auf laut gestellt und alle hatten mitgehört. Der Anruf kam genau in diesem Moment, als Wendt die Aufgaben verteilt hatte. Und genau zwei Stunden und eine Minute nach der Nachricht von der Flucht Baums.

Wendts Züge verdunkelten sich, er legte das Mobilteil auf den Schreibtisch, gab ihm einen ärgerlichen Schubs.

„Es geht nicht anders, wir müssen uns aufteilen. Zwei von uns fahren nach Bad Godesberg, dort treffen wir uns mit einem Beamten der Drogenfahndung. Wer fährt?“ Klauk schob sich die Brille auf die Stirn und rieb sich den Nasenrücken mit zwei Fingern. „Wir zwei, Christina? Das hatten wir schon lange nicht mehr. Es wäre mir eine Ehre!“

Meinhold lächelte gequält. „Ja, lieber Sebi, es wäre mir auch eine Ehre.“

„Ich fahre. Dann lernst du auch endlich meinen Kleinen kennen“, sagte Klauk spontan, rieb sich die Hände.

Meinhold gluckste. „Was?“

Klauk bemerkte in diesem Moment, was er gesagt hatte.

„Ich meine meinen neuen Mini! Mensch, ihr könnt einem aber auch das Wort im Mund herumdrehen“, protestierte er. Auch über Rosins Gesicht flog ein kleines Schmunzeln. Klauk hielt seine Brille zum Licht und fing an, sie zu putzen.

„Steilvorlage, Kollege“, sagte Wendt lächelnd, wandte sich dann an Meinhold: „Der Kollege von der Drogenfahndung, den ihr dort treffen werdet, heißt Julian Vandenbrink.“

„Okay, noch nie gehört. Ist der neu im Dezernat?“

„Kriminalkommissariat 21, Organisierte Kriminalität“, antwortete Wendt, „Du bist lange weg gewesen, Chrissie!“ Er kniff ihr ein Auge zu.

„Stimmt, wird Zeit, dass ich wieder ordentlich arbeiten kann.“

Sie stand auf, band sich ihr Haar zu einem Zopf zusammen und nahm die kurz geschnittene Lederjacke vom Stuhl. Zu ihrer engen Jeans trug sie heute eine weiße Bluse, die dann und wann freie Sicht auf ihren Bauchnabel erlaubte.

„Können wir?“, fragte sie Klauk, der noch immer mit seiner Brille beschäftigt war. „Ich brenne doch darauf, deinen Kleinen endlich zu sehen.“

„Haha.“ Klauk dehnte die Vokale. Meinhold fasste ihn mit beiden Händen von hinten auf die Schultern. „Ich habe dich auch lieb, Sebi.“

*

Baum blieb vor dem Präsidium in der Königswinterer Straße stehen, spähte zum Eingang hinüber und strich sich über das graumelierte Haar an der linken Schläfe. Dann fiel sein Blick auf das Bündel in seiner Einkaufstasche. Die Metamorphose war noch nicht vollzogen. Aber es würde nicht mehr lange dauern. Was würde passieren, wenn er erneut hierher kam? Was würde aus ihm hervorbrechen? Welcher Hass? Welche Wut?

Vor dem Eingang zum Präsidium standen ein VW-Passat und zwei VW-Golf. Genau in diesem Moment fuhr ein roter Mini-Countryman an ihm vorbei und im Augenwinkel bemerkte Ron Baum eine Person, die er kannte. Er erinnerte sich nicht an ihren Namen, doch war er sicher, sie schon einmal gesehen zu haben. Sie gehörte zu Oliver Hells Team. Als er dem Fahrzeug hinterherblickte, verfinsterte sich seine Miene wie im Zeitraffer.

„Okay, du wirst es also sein“, flüsterte er und es klang wie ein Schwur.

*

Bad Godesberg

„Gib ‚Annaberger Hof‘ in das Navi ein, dann findet ihr die Stelle sofort“, hatte Heike Böhm ihnen noch geraten. Doch kannte sie allem Anschein nach Klauks Auto nicht. Klauk hatte so lange ohne Ergebnis an dem Navigationsgerät in seinem Mini Cooper Countryman herumgefummelt, dass Meinhold den Routenplaner in ihrem Handy aktivieren musste.

„Dein Kleiner mag ja ein süßes Auto sein, aber das Navi taucht nichts“, beklagte sich Meinhold. Klauk war die Sache offenbar peinlich. „Hast du’s?“, fragte er sichtlich genervt.

„Ja. Auf die 562, über den Rhein und dann Richtung Haribo fahren. Vor dem Werksverkauf auf die Pionierstraße und dann in den Wald bis zur Kreuzung mit dem Rheinhöhenweg. Da biegen wir dann rechts ab.“

„Das ist ja auch am Arsch der Welt, wie soll das Navi das kennen?“

„Mein Handy findet es ja auch“, antwortete Meinhold, sichtlich amüsiert über Klauks schlechte Laune.

„Ist ja schon gut, demnächst fordern wir einen Polizeihubschrauber an, um zu solchen Orten zu gelangen“, meckerte Klauk weiter und fuhr auf die A562 auf. „Können die ihre Leichen nicht in der Rheinaue ablegen? Da wäre es näher und das würde auch mein Navi sicher besser finden.“ Er blickte in den Seitenspiegel und fuhr vor einem Audi A8 mit Bonner Nummer auf die Überholspur. Der Fahrer fühlte sich belästigt und machte Klauk seinen Unmut deutlich, indem er mehrfach auf die Lichthupe drückte. Klauk hieb mit der Hand auf das Lenkrad. „Nä, is klar. Telekom, wenn ich das Kennzeichen sehe: BN-PY. Wahrscheinlich haben wir den sauberen Herrn Obermann auf dem Weg in seine Zentrale an der freien Fahrt in den Telekom-Stau gehindert!“

„Bist du schlecht gelaunt, Sebi? Wegen dem doofen Navi?“

„Nein, diese Rabauken in ihren Protzkisten gehen mir gehörig auf die Eier“, antwortete Klauk. Mit einer schnellen Handbewegung ließ er das Fenster heruntergleiten und setzte das Blaulicht auf das Dach. Ohne es einzuschalten. Sofort hörte der schwere Audi A8 auf zu drängeln. „Siehste, Arschloch, geht doch!“, jubelte Klauk zufrieden.

„Du bist manchmal ein richtiger Kindskopf. Aber genau das macht dich so liebenswert. Apropos liebenswert: Was macht eigentlich der Geschlechterkampf zwischen dir und Lea? Läuft da jetzt endlich mal was?“, fragte Meinhold neugierig. Klauk atmete schwer und ließ den Kopf hängen. „Anderes Thema, Chrissie, bitte!“

„Guck auf die Straße, wir müssen Richtung Godesberg.“

„Zu Befehl, Frau Meinhold“, sagte Klauk und riss das Steuer nach rechts herum. Mit quietschenden Reifen bekam er noch so eben die Kurve, um die Godesberger Ausfahrt zu erwischen.

„Du fährst wie ein Henker, Sebi, und beschwerst dich über drängelnde Audi-Fahrer“, brummte Meinhold unwirsch.

„Das sind zwei Paar Schuhe. Sportliches Fahren und Drängeln haben nichts miteinander zu tun!“, erklärte er mit einem Fingerwink und stieg vor der nächsten Ampel auf die Bremse. Meinhold wurde in den Gurt gepresst.

„Fahr jetzt bitte ordentlich!“

Sebastian Klauk nickte und grinste. „Yep!“

Als die Ampel auf Grün sprang, fuhr Klauk langsam an. „Was ist jetzt mit dir und Lea?“, fing Meinhold erneut an.

„Wir haben uns seit Wochen nicht mehr getroffen und sehen uns nur im Dienst. Mehr gibt es nicht zu sagen“, antwortete Klauk knapp mit zusammengekniffenen Lippen.

„Und? Geht es dir gut damit?“

„Weiß ich nicht, Chrissie. Ich denke nicht daran, oder ich versuche, nicht daran zu denken. Auch jetzt nicht.“

Kurz vor dem Bad Godesberger Straßentunnel bog Klauk rechts ab. Bald kurbelten sie den Pionierweg hinauf und bis sie die Abzweigung in Richtung des Rheinhöhenweges erreichten, schwiegen die beiden Beamten. Meinhold respektierte die Ansage ihres Kollegen. Sie konnte es auch nicht leiden, wenn Lea Rosin sie auf ihr nicht vorhandenes Liebesleben ansprach. Das tat sie häufig, wenn die beiden abends am Fenster noch ein paar WhatsApp-Nachrichten schrieben. Als Nachbarinnen, die in derselben Straße und auch noch genau vis á vis wohnten, war das beiden eine liebe Gewohnheit geworden. Sie träumten von einem Mann, der sie mit ihrem Job akzeptierte. Doch der Polizeidienst war ein Beziehungskiller, oder besser gesagt, er ließ erst gar keine Beziehungen entstehen. Klauk war Single, Rosin und sie ebenfalls. Einzig Hell und Wendt waren in festen Händen, Wendt auch erst seit einigen Monaten. Meinhold konnte Klauk sehr gut verstehen. Sie wusste, dass er sich nichts sehnlicher wünschte als eine Beziehung zu führen. Ob nun mit Lea Rosin oder einer anderen Frau. Wobei eine Beziehung unter Kollegen einer Abteilung gleichbedeutend damit war, dass einer das Team verlassen musste. Vielleicht kamen sie deshalb nicht zueinander. Sie wusste von Lea, dass sie Klauk auch sehr gern hatte. Aber er war ihr zu zögerlich. Sendete nie klare Signale aus.

„Sag bloß, steht da vorne ein Shelby Mustang?“, holte Klauk sie aus ihren Gedanken.

„Was?“

„Das ist ein Shelby Mustang, tatsächlich! Diese Drogenheinis haben echt Geschmack“, fuhr Klauk fort und ließ den Mini Countryman auf dem Seitenstreifen kurz vor dem weiß-roten Absperrband ausrollen. Meinhold sah zu dem Fahrzeug hinüber, doch nicht dieses protzige Gefährt fesselte sie plötzlich. Neben den weißen Ganzkörper-Anzügen der KTU-Mitarbeiter erregte ein großgewachsener Mann mit einer Biker-Lederjacke ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie starrte zu ihm hinüber. Klauk drückte auf den Start/Stopp-Knopf des Mini und ließ den Sicherheitsgurt zurückgleiten. Dabei trafen sich ihre Blicke. Klauk legte die Stirn kraus, folgte Meinholds Blick. Als er erkannte, wen sie so anstarrte, blickte er sie entgeistert an. „Chrissie, nein, sag jetzt nicht, dass du auf diesen Cowboy stehst!“, rief er entsetzt. Meinhold schlug ihm auf den Oberschenkel. „Unsinn, was du so alles vermutest, Sebi!“, protestierte sie.

„Ich kenne diesen Blick. Er bedeutet nichts Gutes.“ Er nickte bekräftigend.

„Quatschkopf.“

Meinhold öffnete den Gurt, ließ ihn zurückschnallen. „Aufpassen! Das mag mein Kleiner überhaupt nicht!“, tadelte sie Klauk.

„Spinner!“

„Quatschkopf. Spinner. Musst dich schon entscheiden“, sagte er grinsend.

„Liegt nicht so weit auseinander, Sebi.“

„Okay, lassen wir das. Der tote Dealer wartet … und der Cowboy obendrein. Aber ich muss dich waren, dieser Vandenbrink gilt nicht als Kostverächter!“

„Sebi, lass die Dinge geschehen, wie sie geschehen sollen.“

Was meinte sie jetzt schon wieder damit?

Egal. Mit einem Ruck öffnete er die Tür des Countryman und stieg aus. Hauptkommissar Vandenbrink, der schon neben dem Mustang auf die Ankommenden wartete, kam auf ihn zu.

„Hallo Kollege Klauk, wie ich sehe, haben Sie eine neue Kollegin dabei. Charmant, charmant!“

„Keine neue Kollegin, eine alte Kollegin. Darf ich Ihnen Frau Christina Meinhold vorstellen“, säuselte Klauk nonchalant.

„Sehr erfreut, Frau Kollegin, wie konnten Sie mir denn all die Jahre vorenthalten werden?“, fragte Vandenbrink, und Meinhold verstand mit einem Mal, was Klauk meinte. Der Mann deutete einen Handkuss an und Meinhold zog die Hand viel zu schnell wieder zurück. Der Drogenfahnder quittierte ihre Zurückhaltung mit einem Blitzen aus seinen grün-blauen Huskys-Augen.

Schade, dachte Meinhold, eigentlich ist der genau mein Typ. Aber auf solche Schleimer stand sie überhaupt nicht. Vandenbrink war groß, nicht so groß und schlaksig wie Klauk, dessen Körper dann und wann noch etwas von einem pubertierenden Jungen hatte, stattdessen hatte er den trockenen Körper eines Marathonläufers und offensichtlich auch dessen Energie. Er trug mehrere Silberringe an seiner linken Hand und die Lederjacke hatte schon bessere Zeiten gesehen. Nach der Begrüßung kam er schnell zum Thema.

„Die Botschaft scheint eindeutig: ein toter kroatischer Drogendealer in einem Mustang, der genau auf der Grenze der beiden Territorien steht. Hier wollen die Albaner ein Zeichen setzen.“

Sie traten an den Kofferraum des amerikanischen Sportwagens heran. Der Mitarbeiter der KTU, denn Meinhold nicht kannte, unterbrach seine Arbeit, trat zur Seite und gab den Blick ins Innere frei.

„Ein einziger Schuss. Ich vermute, aus nächster Nähe abgefeuert. Der hat nicht mehr viel dazu gesagt“, murmelte Vandenbrink lakonisch. Der Mann heißt übrigens Janko Mladic und ist einer der großen Köpfe in der Bande. Das gibt Ärger …“

Klauk und Meinhold betrachteten den Kerl, der diesen Ärger auslösen sollte. Sie sahen einen sportlich gekleideten jungen Mann mit Jeans und Marken-Turnschuhen, auf dessen Brust das Logo auf dem T-Shirt eines ebenso teuren wie exklusiven Designers ein wenig zerknautscht daherkam. Mit diesem Outfit hätte man ihm in jeder Nobel-Diskothek Einlass gewährt. Einzig die unnormale Blässe und das hässliche Loch in seiner Stirn hätten ihm dabei in die Quere kommen können. Meinhold wandte sich von dem Toten ab.

„Wie meinen Sie das mit der Grenze?“, fragte sie.

„Die Bosse der beiden Clans haben eine Grenze ausgehandelt. Innerhalb dieser Grenzen haben die Mitglieder des jeweils anderen Clans nichts zu suchen, dürfen keine Drogen verkaufen und lassen sich auch besser dort nicht zu mehreren blicken. Sonst gibt es Ärger.“

„Und diese Grenze verläuft hier?“, fragte sie weiter und deutete auf den Boden vor ihnen.

„Exakt genau hier. Der Rheinhöhenweg ist die Grenze zwischen den beiden Gebieten. Die Albaner beherrschen Bad Godesberg und einen Teil der anderen Rheinseite, die Kroaten den Rest, unter anderem die lukrative Innenstadt und die Außenbezirke. Es ist jetzt eine Weile ruhig gewesen … bis jetzt“, sagte Vandenbrink mit einem besorgten Blick auf die Leiche, „jetzt wird es Krieg geben. Wenn sich herausstellt, dass die Albaner Mladic auf dem Gewissen haben.“

„Also ist dieser Ort hier mit Bedacht gewählt worden? Denken Sie, dass hier ist auch der Tatort?“, wollte jetzt Klauk wissen. „Das müssen uns die Herrschaften in Weiß beantworten“, sagte Vandenbrink und gab dem Tatortermittler ein Zeichen, weiterzuarbeiten. Sie traten ein paar Meter zurück.

„Und wenn es nicht die Albaner waren?“, fragte Meinhold. Vandenbrink presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. „Dann waren es die Jungs von der Motorrad-Fraktion. Das wäre auch eine Möglichkeit. Sie machen einen kalt, sehen zu, wie sich die Banden bekriegen und sahnen dann ab. Aber die sind hier in Bonn noch nicht so breit aufgestellt, dass sie sich mit den großen Banden anlegen könnten.“

„Aber nach einem Bandenkrieg wären sie es?“, fragte Klauk.

„Ja, das wären sie wohl. Wenn diese beiden Clans aufeinandertreffen, dann fliegen die Fetzen“, versetzte jetzt der Drogenfahnder, dessen Stimme auf einmal viel düsterer klang. Diese Möglichkeit schien auch ihm plausibel.

Meinhold sah sich um. Die Gegend war ideal, um einen Mord zu begehen. In zweihundert Meter Entfernung lag der ‚Annaberger Hof‘. Die Straße von Friesdorf aus, die dorthin führte, war für den Durchgangsverkehr gesperrt. Einzig diejenigen, die zum Gestüt ‚Annaberger Hof‘ wollen, durften die ‚Durchfahrt verboten‘-Schilder ignorieren. Die Annaberger Straße kreuzte den Rheinhöhenweg. Dieser Weg war ein beliebter Wanderweg, in der näheren Umgebung lagen eine Klinik und das ‚Annaberger Haus‘.

„Was hat dieser Mladic hier gewollt? Oder denken Sie, dass der Mord woanders verübt wurde und man den Wagen hier platziert hat?“

Vandenbrink lächelte Meinhold an. „Daher seid ihr beiden hier. Ich kann euch nur die Hintergrundinformationen liefern.“

„In Ordnung“, sagte Meinhold, und an Klauk gewandt, sagte sie: „Wir müssen die Leute von diesem Gestüt befragen, ob sie etwas beobachtet haben, wissen, seit wann der Mustang hier steht. Außerdem sollten wir eine Verlautbarung an die Presse herausgeben mit einer Frage an die Bevölkerung: Wer hat gestern zur möglichen Tatzeit hier etwas beobachtet?“

„Dafür müssen wir erst wissen, wann unser Mustang-Fahrer hier das Zeitliche gesegnet hat. Wo bleibt eigentlich die Rechtsmedizin? Die wissen doch Bescheid?“, wandte sich Klauk an den Drogenfahnder. Vandenbrink nickte.

„Es passieren eine Menge schlimmer Dinge in Bonn und ich denke, wir stehen am Anfang einer neuen Welle der Gewalt. Die ganz schlimmen Dinge hinterlassen einen Abdruck in der Geschichte der Stadt. Wenn wir nicht aufpassen, dann stehen wir am Rand und schauen hilflos zu.“

Meinhold sah zum ihm hinüber. „Klingt fast philosophisch.“

„Die Betrachtung der Welt in all ihren Facetten ist mein Hobby. Wenn man den Sumpf der Gesellschaft ständig vor Augen hat, dann ist man froh, wenn man mal ein wenig Erhebendes lesen kann. Ich lese gerne philosophische Texte, vielleicht färbt das etwas ab.“

„Ein Philosoph und eine Profilerin, wenn das kein geniales Team ist“, spottete Klauk.

Vandenbrink riss die Augen auf. „Profilerin? Sie sind das? Von der im Präsidium hinter vorgehaltener Hand getuschelt wird?“

„So! Ist das so?“, fragte Meinhold verstimmt mit einem kurzen Blick in seine unglaublich kalten Augen.

„Naja, ist vielleicht meine persönliche Interpretation. Aber in aller Munde sind Sie schon, Frau Meinhold.“

Meinhold sah ihn erst ungläubig an, dann fand sie ihre Haltung wieder. „Ich bin nur eine Spezialistin, ansonsten bin ich eine ganz normale Kriminalbeamtin.“

Ohne seine Antwort abzuwarten, machte sie eine energische Kopfbewegung und deutete Klauk damit an, ihr zu folgen. „Wir kümmern uns um die Leute auf dem Gestüt, es dauert ja anscheinend noch, bis die Rechtsmedizin hier aufschlägt. Wenn es so ist, dass wir wenig Zeit zu verlieren haben, dann sollten wir schnell arbeiten.“

Vandenbrink blieb wortlos zurück und sah den beiden Beamten nach.

*

Bonn

„Du bist der Boss“, sagte Rosin gleichmütig.

„Was? Denkst du, wir sollten uns anders aufstellen? Haben wir etwas vergessen?“, erwiderte Wendt und ließ ein Räuspern hören.

„Die Personenfahndung ist raus, wir haben die Flughäfen und größeren Bahnhöfe informiert, die Kollegen von der Bundespolizei sind im Bilde. Uniformierte Kollegen sind unterwegs und befragen die ehemaligen Nachbarn der Baums. Mehr können wir im Moment nicht tun“, resümierte Rosin und trat an die Glaswand heran, an der das Fahndungsfoto von Ron Baum klebte. Das Foto war in der Klinik aufgenommen und zeigte ihn in Anstaltskleidung.

„Ich dachte, dieses Arschloch sehen wir nie wieder!“ Ihre Worte klangen bitter.

„Ja, allerdings. Aber wir werden ihn schnappen, bevor er etwas anrichten kann.“ Sein Mienenspiel ließ keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit aufkommen.

„Aber irgendetwas gefällt dir doch nicht, Lea. Raus damit!“

„Mir gefällt es nicht, dass wir unseren Job machen und einen Psychopathen hinter Gitter bringen und diese Pappnasen in der Klinik lassen ihn bei der nächsten Gelegenheit flitzen. Das gefällt mir ganz und gar nicht.“

Mit einer schnellen Bewegung drehte sie sich um. „Und wenn er Hilfe in der Klinik gehabt hat? Wenn er einen der Wärter dort bestochen hat? Wie kann einer in einer Wäschekiste entkommen? Wer hat ihn dort eingeteilt? Wir müssen uns dort umsehen und die Klinikleitung sowie die Angestellten befragen. Und seinen Zellenkollegen ebenfalls, falls er einen hatte. Was meinst du? Bevor wir hier herumsitzen?“

„Wie, jetzt gleich auf der Stelle?“, fragte Wendt überrascht.

„Ja, ich kann auch alleine fahren, aber vier Ohren hören mehr als zwei, oder?“

„Guter Plan. Ich werde Hansen und Retzar informieren“, sagte Wendt und griff zum Telefon.

*

Geistesabwesend schaute Oberstaatsanwältin Brigitta Hansen aus dem Fenster ihres Büros hinaus, dorthin, wo hinter den vielen Neubauten, die in der letzten Zeit aus dem Boden geschossen waren, der Rhein ruhig in seinem Bett dahinfloss. Ruhe. Das wünschte sie sich an diesem Morgen ebenfalls. Sie hätte ohne mit der Wimper zu zucken diesen Tag nicht weiter in ihrem Büro verbracht. Doch sie konnte nicht. Stattdessen drehte sie sich langsam herum und widmete sich wieder der Polizeipräsidentin Bettina Keller-Schmitz.

„Es geht hier um Wichtiges, Frau Polizeipräsidentin. Es geht um Strukturen, die seit Jahren gewachsen sind. Es geht um Teams, die eingespielt sind und die ganz hervorragende Arbeit leisten. Es geht um Menschen, die miteinander arbeiten und es so gewöhnt sind.“

Bettina Keller-Schmitz betrachtete sie argwöhnisch. „Gewohnheit ist die schlimmste aller Sünden, jedenfalls, wenn es um moderne Polizeiarbeit geht. Wir leben in einer Zeit, die alle diejenigen, die sich allzu sehr in ihren Wohlfühl-Areas eingerichtet haben, aufrütteln wird. Und eben genau deshalb bin ich jetzt hier. Alte Strukturen sind gut, aber woher will man wissen, dass neue Strukturen nicht viel besser funktionieren? Können Sie das bestreiten, Frau Hansen?“

„Nein, sicherlich nicht. Unsere Zeit ist in einem stetigen Wandel.“

Die Polizeipräsidentin schob ihr eine Akte zu, die sie die ganze Zeit vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte. „Hier, schauen Sie bitte.“

Hansen näherte sich dem Schreibtisch und las den in einer feinen und akkuraten Handschrift auf dem Deckblatt vermerkten Namen. Versuchte ihren Schrecken zu verbergen. Sie glaubte, es würde ihr gut gelingen. Keller-Schmitz sah sie forschend an. In ihren Augen blitzte etwas Gefährliches auf.

„Dieser Kommissar Hell ist seit mehreren Monaten außer Dienst. Er treibt sich irgendwo im Ausland herum und kuriert eine ominöse Krankheit aus. Er soll an eine Depression leiden, ausgelöst durch ein nicht ordentlich auskuriertes Burn-out. Es gibt einen ärztlichen Befund. Und diesen Befund hat eine Frau mit dem Namen Dr. Franziska Leck ausgestellt, die meinem Wissen nach die Geliebte dieses Kommissars ist. Ich sehe das so: hier ruht sich ein Staatsdiener auf Kosten des Staates aus und führt dieses Präsidium an der Nase herum. Und wenn ich weiterhin richtig informiert bin, dann geschieht das mit Ihrem Wissen und Gutdünken, Frau Oberstaatsanwältin Hansen. Ich hätte gerne Ihre Stellungnahme dazu. Hier und jetzt.“

Das alles sagte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Kalt. Brigitta Hansen hatte es geahnt. Und sie verfluchte diesen Emporkömmling Überthür. Von ihm hatte diese Frau aller Voraussicht nach ihr Wissen. Wahrscheinlich war es sogar seine Schrift auf der Aktenmappe. Jedenfalls glaubte sie sich an die exakt gezirkelten Buchstaben zu erinnern. Der nächste Gedanke, der sich ihr aufdrängte, war ein logischer Schluss aus den Vorhergehenden: ihr Stuhl wackelte. Und zwar gehörig. Überthürs Rache. Ausgeführt durch die mächtigste Polizeibeamtin in Bonn. Sie durfte jetzt eins nicht tun – Keller-Schmitz‘ Spiel mitspielen. Der Teint ihrer Gegenspielerin – als solche sah sie die Polizeipräsidentin von diesem Moment an – strahlte vor Gesundheit. Hansen dagegen fühlte sich elend. Doch auch das sollte diese Frau nicht bemerken.

Sie ging zum Fenster und ließ mit einer großen Bewegung die Lamellen-Jalousie zur Seite gleiten, der Blick auf die Neubauten in der Nachbarschaft wurde frei.

„Es hat sich viel verändert in Bonn. Viel Neues entstand. Viel Interessantes. Es hat das Gesicht der Stadt verändert. Hat es für Außenstehende attraktiv gemacht. Aber nicht alle Bonner finden das ebenso attraktiv. Seit Jahren streitet man sich um den Neubau eines Beethoven-Festspielhauses. Sie wissen vielleicht, Beethoven ist der bekannteste Sohn der Stadt … aber das brauche ich Ihnen sicher nicht zu erläutern. Sie haben ja Ihre Hausaufgaben gemacht. Die einen wollen das Festspielhaus, die anderen scheuen die immensen Kosten und sagen, dass man einfach die Beethoven-Halle umbauen solle. Der Streit geht nun schon seit Jahren und nichts passiert.“

Hansen drehte sich langsam um, trat ins Büro zurück.

„Wissen Sie, Frau Polizeipräsidentin, diese Stadt ist schon immer etwas Besonderes gewesen. Etwas ganz Besonderes. Wer nicht hier geboren ist, der versteht diese Stadt nicht. Er versteht nicht, wie sie tickt. Er kennt ihre Menschen nicht, weiß nicht um ihre Ängste und Nöte.“

„Was hat das mit Kommissar Hell zu tun?“

„Viel, Frau Polizeipräsidentin. Er ist hier geboren, er ist hier Polizist geworden, er ist hier zum besten Kriminalkommissar in beiden Bonner Polizeiinspektionen geworden. Er wurde entführt, wurde fast zu Tode geprügelt, er hat sein daraus resultierendes Burn-out-Syndrom erfolgreich bekämpft, kam zurück in den Polizeidienst. War wieder völlig hergestellt, bis er von einem Irren auf offener Straße angegriffen wurde. Er und seine Partnerin haben diesen Angriff nur durch die Geistesgegenwart von Kommissar Hell überlebt. Seine Partnerin, Dr. Franziska Leck, die ihn wie kein anderer auf der Welt kennt, hat ihn dazu überredet, eine Auszeit zu nehmen. Und ja, ich unterstütze ihn bei seiner Gesundung, weil ich meinen besten Kriminalermittler wieder zurück an seine Wirkungsstätte holen möchte. Wiederhergestellt. Wieder im Dienst für diese Stadt, die ihm so viel Leid angetan hat, die er aber so sehr liebt, dass ihm das alles egal ist.“

„Hinter Ihren Worten könnte fast Liebe stecken, Frau Oberstaatsanwältin Hansen. Ich hoffe, dass es nicht so ist.“

Dieses Mal lächelte Hansen. „Nein, das Gefühl, das ich versuche, Ihnen zu beschreiben, ist Ehrfurcht und Dankbarkeit. Dankbarkeit für einen Mann, der mit aller Energie seinen Job macht und allen Grund hätte, dieser Stadt den Rücken zuzukehren.“

„Was er ja auch seit Monaten tut …“, sagte Keller-Schmitz, doch Hansen unterbrach sie.

„Er wird zurückkommen. Da bin ich mir sicher. Ich kann Ihnen auch genau sagen, warum. Heute Morgen ist der Irre, wegen dem er seine Auszeit genommen hat, aus der psychiatrischen Klinik in Weißenthurm geflohen und ist auf der Flucht. Er hat während des Prozesses üble Drohungen gegen Hell und die Staatsanwaltschaft ausgestoßen.“

„Ich bin darüber informiert“, erklärte Keller-Schmitz pikiert.

„Über die Flucht?“

„Nein, über diese Drohungen. Ich hoffe, Sie haben die geeigneten Schritte in die Wege geleitet?“

„Aber sicher, Frau Polizeipräsidentin.“

Obwohl Keller-Schmitz keinen Grund sah, ihr zu widersprechen, fragte sie dennoch skeptisch: „Ist dieser Kommissar informiert? Und was sagt er?“

„Ich habe vor einer Stunde mit ihm telefoniert. Er leitet umgehend seine Rückkehr nach Deutschland in die Wege.“ Mit diesen Worten log Hansen. Sie wusste nicht, was Hell vorhatte.

„Das erscheint mir alles sehr simpel“, entgegnete Keller-Schmitz.

„Polizeiarbeit ist oft sehr simpel.“

„Ich werde mit diesem Kommissar Hell persönlich sprechen, wenn er zurück im Dienst ist. Wenn Sie das arrangieren würden?“

Hansen nickte und erhob sich von ihrem Stuhl. Ein Zeichen, dass für sie diese Unterredung beendet war.

Bettina Keller-Schmitz erhob sich ebenfalls und ließ elegant ihren Rock nach unten gleiten. Kam auf Hansen zu und streckte ihr die Hand entgegen. „Auf gute Zusammenarbeit, Frau Oberstaatsanwältin, Hansen.“

„Ja, das wünsche ich uns beiden auch von ganzem Herzen, Frau Polizeipräsidentin.“

Die neue Vorgesetzte verließ das Büro mit schwungvollen Schritten und als die schwere Holztür hinter ihr ins Schloss fiel, atmete Hansen erleichtert auf.

„Ich hätte eher ‚auf teuflische Zusammenarbeit‘ sagen sollen“, murmelte sie vor sich hin und ließ sich ernüchtert in ihren Sessel fallen. Sie sah aus dem Fenster und überlegte, was Hell wohl tun würde.

*

Bad Godesberg

„Du hattest übrigens Recht, der Typ ist sehr von sich eingenommen“, sagte Meinhold auf dem Weg zu den ersten Häusern des Hofes.

Klauk nickte bestätigend. „Kannst mir vertrauen, Chrissie. Er ist ein guter Fahnder, aber menschlich hat der nix drauf. Auch seinen Kollegen gegenüber hängt er schon mal den Oberarsch raus.“

Meinhold sprang geschickt über eines der heftigen Schlaglöcher. Sie blieb stehen und sah sich um. Auf den weitläufigen Weiden standen einige Pferde in Gruppen. Der Boden auf einer der Weiden war von den Hufen der Pferde aufgerissen. „Wunderschöne Gegend hier“, wechselte sie geschickt das Thema.

Klauk nickte. „Sehr idyllisch hier oben. Sollte ich mir merken, um hier zu joggen. Die haben auch sehr viele Tiere hier, schade, dass wir die nicht als Zeugen befragen können“, antwortete Klauk.

„Die nicht, aber vielleicht können wir den Herrn dort fragen“, sagte Meinhold und deutete auf einen Mann, der sich ihnen mit einem weißen Hund näherte.

„Ein Dalmatiner. Ich liebe Dalmatiner“, rief Klauk begeistert.

„Kannst ihn ja als Zeugen befragen!“

Klauks Augenbrauen zuckten kurz als Antwort.

Die beiden Beamten warteten auf den sportlich gekleideten Herrn, bis dieser sich mit seinem Hund genähert hatte.

„Schönen guten Tag, Klauk von der Kripo Bonn, das ist meine Kollegin Meinhold“, sagte er und sie zückten ihre Dienstausweise. Neugierig näherte sich der Hund und schnüffelte mit gesenktem Kopf an Klauks Hand. „Na, wer bist du denn?“, fragte Klauk und ging in die Knie.

„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“, fragte der Mann, der sich trotz der Wärme einen dünnen Schal um den Hals gelegt hatte. Meinhold hatte den Eindruck, einen Künstler oder Schriftsteller vor sich zu haben. Der Mann lächelte und sah seinem Hund zu, der sich sehr für Klauk interessierte.

„Gehen Sie hier oft spazieren? Vielleicht auch gestern?“, fragte Meinhold und beobachtete ihren Kollegen, wie er den Hund zum Spielen animierte.

„Ja, täglich. Der Jerry muss raus, bei Wind und Wetter.“

„Ist Ihnen gestern hier etwas aufgefallen? Es geht vor allem um den Sportwagen, den Sie vielleicht dort hinten erkennen. War der gestern auch da, als Sie hier hergegangen sind?“, fragte sie und zeigte in Richtung der Baumreihen, wo der Ford Mustang stand. Der Mann fasste sich an seinen wild wuchernden Dreitagebart, rieb sich nachdenklich darüber.

„Nein, dort stand nur ein Fahrzeug, aber es war kein Ford. Es war ein anderes Fabrikat, das stand aber weiter in diese Richtung“, erklärte er und zeigte auf den angrenzenden Wald. „Der gehörte sicher zu einem Mann, der dort auf dem Feld mit so einen Fluggerät gespielt hat.“

Meinhold horchte auf. Klauk knuddelte weiter den Dalmatiner. Sie bewertete seine Unaufmerksamkeit mit einem leichten Kopfschütteln.

„Fluggerät? Was für ein Fluggerät?“

„So eine Drohne, kennen Sie doch sicher. Die Leute vom Pferdehof sehen das ja nicht gerne, wenn die Leute hier über die Zäune klettern und die Pferde mit ihren Fluggeräten verschrecken. Die Tiere bekommen dann immer Panik, wenn so ein Ding im Sturzflug über ihre Köpfe hinwegsaust!“

„Kann ich verstehen. Haben Sie den Mann näher gesehen? Könnten Sie ihn beschreiben?“

Der Mann schüttelte den Kopf. „Der war zu weit weg. Könnte jeder gewesen sein. Ich hatte erst gedacht, dass es vielleicht einer der Leute von Hof selbst ist, der sein Gelände mit einer Drohne von oben fotografiert. Aber die kenne ich vom Ansehen, auch auf Entfernung. Es war ein normaler Mann mit T-Shirt und Jeans“, sagte er kopfschüttelnd. „Tut mir leid. Aber um was geht es denn eigentlich?“

„In dem Ford Mustang liegt ein Toter.“

„Oh, mein Gott!“ Der Mann schluckte trocken. „Das ist ja der Megahorror!“

„Haben Sie das Fahrzeug hier zuvor schon einmal gesehen?“

„Dafür müsste ich ihn mir genauer ansehen. Wollen wir hinübergehen? Ich fasse es ja nicht, ein Mord hier oben in unserer Idylle.“

Schon wieder dieses Wort, dachte Meinhold.

„Wir gehen zurück zum Fundort. Kommst du mit, Sebastian oder befragst du weiter den Hund?“, frotzelte Meinhold. Klauk reagierte nicht.

„Lassen Sie ihn, Jerry kommt sofort nach, wenn er bemerkt, dass ich mich entferne. Der ist sehr auf sein Herrchen fixiert“, flüsterte der Künstlertyp lächelnd.

„Mein Kollege ist momentan nicht so sehr auf die Arbeit fixiert, wie mir scheint.“

Es klang wie eine Erkenntnis, die sie nicht erst in diesem Moment äußerte. Doch dem Mann war es egal.

„Wer ist denn der Tote?“, fragte der Mann jetzt wieder mit ernstem Tonfall.

„Da muss ich Sie enttäuschen, ich darf nicht über laufende Ermittlungen sprechen!“

„Schon klar, habe ich mir fast gedacht, kennt man ja … aus den Krimis im Fernsehen“, antwortete der Mann schlagfertig und kniff Meinhold ein Auge zu. „Mein Gott, ein Mord auf dem Annaberger Hof!“, murmelte er dann vor sich hin. Meinhold drehte sich um und sah den Dalmatiner auf sich zu rennen. Klauk folgte im Trab. „Ich brauche einen Hund, Chrissie, ich brauche wieder einen Hund“, sagte er, als er neben seiner Kollegin austrudelte.

„Du kannst keinen Hund halten, weil wir keine Zeit für ein Tier haben. Wir haben nicht einmal Zeit für einen Partner.“

*

Bonn

Seit Jahren konnte man im Hause Mladic gut von dem leben, was Janko Mladic mit seinen Drogengeschäften verdiente. Sein Vater, Ivan Mladic, war als Gastarbeiter in den Siebzigerjahren nach Deutschland übersiedelt und hatte bis zu seinem schweren Unfall bei den Ford-Werken in Köln gearbeitet. Trotz einer Reha-Maßnahme blieb die rechte Hand von Ivan Mladic nur bedingt einsetzbar. Der Vater verlor die Anstellung bei dem Autobauer, die Rentenversicherung zahlte dem Mann eine knappe Rente. Die Familie war kurz davor, wieder nach Kroatien zurückzukehren. Die Verwandtschaft, die im Land geblieben war, versprach, sich um sie kümmern. Das war Anfang der Neunzigerjahre, im ehemaligen Jugoslawien tobte noch der Bürgerkrieg. Aus Angst, dass ihre Söhne zum Militär eingezogen würden, bestand Jankos Mutter Darija darauf, in Deutschland zu bleiben. Janko legte eine für viele ausländische Jugendliche typische Karriere hin, scheiterte in der Schule, konnte sich nicht anpassen, geriet auf die schiefe Bahn. Bald dealte er an seiner Schule, wurde dabei erwischt, wurde von der Schule verwiesen. Der Schritt in die organisierte Kriminalität war nur eine Frage der Zeit. Trotzdem erreichte ein Streetworker, dass er wenigstens seinen Schulabschluss machte. Als dann der Vater starb, als er 18 Jahre alt war, verlor der junge Mann völlig die Richtung und schloss sich einer kroatischen Bande an, die von einem entfernten Cousin geleitet wurde. Die Mutter kränkelte ebenfalls und wurde bettlägerig, wurde aufopfernd von seiner Schwester Jasna gepflegt. Ohne die illegalen Geschäfte wäre die Familie auseinandergebrochen. Janko ersetzte den Vater und war mit 25 Jahren bald die rechte Hand seines Cousins Stipe Secovic. Bis zu der Nachricht von seiner Ermordung. Seit Stunden lag über dem Hause Mladic tiefe Trauer. Stipe Secovic saß zusammen mit Jankos Bruder Neven im Wohnzimmer.

„Es gibt zurzeit noch keine bestimmten Anhaltspunkte. Unsere Jungs sind auf der Straße und haben ihre Ohren offen!“, sagte Secovic. Auf seine Worte folgte ein langes Schweigen, sodass er glaubte, Neven Mladic sei von der Trauer überwältigt. Doch dann legte sich seine Hand auf Secovics Knie.

„Stipe ...?, sagte Neven endlich. „Wer kann das gewesen sein?“

Seine Worte klange eher wie ein Seufzen.

„Keine Ahnung, Neven. Ich wünschte, ich könnte es dir sagen. Und ich würde dir garantieren, dass derjenige danach keine fünf Minuten mehr auf dieser Welt verbringt. Dafür würde ich persönlich sorgen.“

„Das würde ich gerne selber übernehmen“, antwortete Neven Mladic. Er wusste, dass es nach den Regeln der Clans an Secovic gewesen wäre, die Rache auszuüben. Doch in diesem Fall konnte er eine Ausnahme machen, weil es sich um Blutrache handelte. Der Bandenchef sah den jungen Mann streng an.

„Du hast bisher nichts mit unseren Geschäften zu tun gehabt, Neven. Ich würde dir auch nicht raten, dieses zu ändern. Kümmere dich um dein Studium. Mord ist nicht dein Geschäft.“

Neven Mladic fuhr hoch. „Janko ist mein Bruder gewesen. Ich will wissen, wer ihm das angetan hat. Wenn es diese albanischen Schweine gewesen sind, dann sollen sie dafür büßen.“

„Wir werden es herausfinden. Das verspreche ich dir. Wir können es nicht sagen, ob es die Albaner gewesen sind. Janko hatte viele Neider, die ihm seinen Lebensstil nicht gönnten.“

„Was? Du denkst, dass es einer von uns gewesen sein könnte?“

„Neven, halt den Ball flach. Das habe ich nicht gesagt. Neider gibt es überall, bei den Albanern, aber auch bei irgendwelchen Typen, die dein Bruder kannte.“

Mladic stand auf und lief aufgeregt auf und ab.

„Was ist mit den Bullen? Die werden doch sicher auch nach dem Mörder suchen. Wir müssen schneller sein, Stipe!“

„Lass das mein Probem sein. Die Bullen werden sich überschlagen, weil sie einen Bandenkrieg verhindern wollen und schnell einen Verdächtigen präsentieren. Ob der es dann auch wirklich war, das bleibt offen.“

„Dann schnappen die einen, der es nicht war und der sitzt dann im Knast und der wahre Mörder läuft weiter frei herum. So läuft das hier?“, regte sich Neven auf. Wütend schlug er mit der Hand gegen die Türlaibung.

„Bruder, pass auf!“, sagte Secovic und fasste den Bruder seines besten Mannes am Arm, „du musst dich auf dein Studium konzentrieren, du musst für deine Schwester und für Mladens Verlobte da sein. Und du musst aufpassen, dass du bei den Bullen keinen Scheiß redest, hörst du? Wenn die dich auf dem Kieker haben, dann wirst du observiert und wenn sie dich observieren, dann tun sie das auch bei uns und wer weiß, ob sie dann nicht einen Verdächtigen aus unseren Reihen präsentieren, der mit der Sache so viel zu tun hat wie du?“

Neven Mladic ließ den Kopf hängen, doch dann riss er sich los, fuhr umso heftiger hoch: „Er ist mein Bruder, den ich geliebt habe. Jetzt ist er tot und ich soll nichts tun? Gleich kommt Velina Palajsic. Was soll ich ihr sagen? Dass es mir nichts ausmacht, dass mein Bruder, der ihr Verlobter ist, tot in seinem Wagen liegt? Dass ich keinen Finger rühre, um seinem Mörder zu finden? Was denkst du, was sie von ihrem Schwager verlangen würde? Was würde passieren, wenn wir noch in der alten Heimat wären? Würdest du dann auch so reden? Sicher nicht ...“, schrie er.

„Neven, ich gebe dir mein Wort, dass wir den Mörder deines Bruders finden. Scheiß drauf, was die Bullen tun. Wir finden ihn und dann geht es ihm an den Kragen!“

„Du hast gut reden, Stipe. Dein Bruder ist nicht tot!“, stieß Neven Mladic hervor.

„Janko war wie ein Bruder für mich, das weißt du genau“, antwortete Secovic und fuhr sich mit der Hand durch das schwarze Haar. Dabei blitzte für einen Moment die Pistole unter seinem Hemd hervor. Mladic starrte auf die Waffe.

„Und warum ist er dann jetzt tot? Hmh? Warum liegt er in seinem Ford und ist tot? Warum habt ihr dann nicht auf ihn aufgepasst?“

Secovic wandte sich ab. Auf diese Frage wusste er keine Antwort.

*

In einem Nebenraum saß Jasna Mladic am Krankenbett ihrer Mutter. Sie hatte es bisher nicht über das Herz gebracht, ihr die Nachricht vom Tod ihres Sohnes zu übermitteln. Die Frau, die noch nicht einmal die sechzig Jahre erreicht hatte, würde diese Botschaft nicht verkraften. Sie war zu krank. Ihre Augen waren geschlossen, doch als aus dem Wohnzimmer laute Stimmen zu hören waren, öffnete sie die Lider.

„Janko …?“, fragte sie mit leiser Stimme.

„Nein, Mama, es ist nur Neven. Der hört sicher wieder zu laut Musik. Ich werde ihm Bescheid sagen.“ Jasna Mladic wollte sich erheben. Ihre Mutter tastete kraftlos nach ihrer Hand. Drückte sie.

„Nein, lass ihn. Er hat ja sonst keine Freude. Bei all der Arbeit, die das Studium ihm bereitet.“

Dann war sie wieder still.

Mein Gott, wenn sie es erfährt, überlebt sie es nicht, dachte Jasna Mladic.

„Jasna“, sagte die Mutter nach langer Zeit. Ihre Augen waren noch geschlossen, doch um ihre Lippen spielte ein zufriedener Zug.

„Ja, Mama.“

„Ich bin so froh, dass ihr beiden nichts mit den Drogen zu tun habt … du und Neven.“

Sie seufzte laut.

„Ich weiß, Mama“, antwortete Jasna Mladic, „ich bin auch froh, dass es so ist, wie es ist …“

Weiter konnte sie nicht sprechen, ohne in Tränen auszubrechen. Das musste sie verhindern. Sie kannte das phänomenale Vermögen ihrer Mutter, Dinge aufzuspüren, die im Verborgenen gehalten werden sollten. Das hatte die Geschwister schon im Kindesalter zur Verzweiflung gebracht. Immer kam sie hinter die gut gehüteten Geheimnisse. Und sie beherrschte es auch heute noch. Diesmal durfte sie es nicht schaffen, durfte nicht die wahren Gedanken ihrer Tochter erahnen.

Die Hand ihrer Mutter lag noch immer in ihrer. So sehr sie auch nachdachte, ihr wollte nicht einfallen, wie sie ihr die Todesnachricht hätte überbringen können. Sie wusste nicht, wie die alte Frau von ihrem Sohn hätte Abschied nehmen können. So alt und krank wie sie war, konnte sie das Bett nicht verlassen. So geschwächt, wie sie war, hätte sie an einer Trauerfeier nicht mehr teilnehmen können. Das hätte ihr die Seele geraubt.

Jasna traf eine Entscheidung. Ihre Mutter durfte von Jankos Tod nichts erfahren. Sie mussten ihr etwas vorspielen. Eine Lüge leben. Die Frau, vor der man keine Geheimnisse haben konnte, mussten sie hinters Licht führen. Einen größeren Liebesbeweis konnten sie ihr nicht geben.

Jasna Mladic seufzte leise und betrachtete im fahlen Licht des abgedunkelten Zimmers die Züge ihrer Mutter. Über ihrem Gesicht lag Frieden. Die Hand der Mutter war wieder erschlafft, lag weiter in ihrer Hand. Langsam ließ die Tochter sie auf die Bettdecke gleiten.

Schlaf Mama, das ist das Beste für uns.

*

Bad Godesberg

Amar Kadiu hatte Sinan Shkodra zu einem Gespräch in sein Haus bestellt, nachdem er von dem Tod des Kroaten erfahren hatte. Kadiu stand am Kamin und betrachtete scheinbar angestrengt das Foto seines Großvaters, das dort stand. Shkodra hatte es sich auf einem Ledersofa gemütlich gemacht. In der Luft hing noch der Geruch von verbranntem Holz. Shkodra nahm es nicht wahr, er hatte ganz andere Sorgen. Trug er doch ein Geheimnis mit sich herum. Ein sehr Explosives.

„So sollte das auf keinen Fall laufen! Niemals!“, sagte Amar Kadiu und beobachtete Sinan Shkodra argwöhnisch.

„Nein Boss, das ist wirklich sehr tragisch mit dem Kroaten.“

„Tragisch? Du nennst das tragisch? Es ist eine Katastrophe. Wenn die Gang von Stipe Secovic eins und eins addiert, dann kommen sie sofort auf uns.“

„Aber wir haben doch nichts mit dem Tod von Janko Mladic zu tun. Da bin ich mir sicher“, antwortete Shkodra angespannt.

„Bist du dir wirklich sicher?“, versetzte Kadiu. „Und wo warst du zum Beispiel?“

Shkodra wurde heiß und kalt. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Kadiu durfte nicht erfahren, dass er sich exakt dort aufgehalten hatte, wo Janko Mladics Leiche gefunden worden war. Jetzt keinen Fehler machen, dachte er und antwortete: „Ich habe einen Probeflug mit der Drohne gemacht, Chef. Wüsste ich sonst, wie gut das funktioniert?“

Shkodra sah seinem Boss in die Augen. Kadiu schien diese Erklärung zu genügen. Trotzdem beharrte er auf seinem Misstrauen.

„Das mag ja sein, aber weißt du, wo die anderen Jungs die letzten Stunden verbracht haben? Hmh? Bist du dir sicher?“

„Das können wir herausfinden, in dem wir jeden befragen. Ganz einfach“, antwortete er schulterzuckend. Die Härchen auf seinen Armen legten sich wieder.

Kadiu zögerte. „Dann machen wir das sofort. Trommel alle zusammen. Wenn die Kroaten kommen, dann können wir ihnen sagen, dass wir mit den Mord an ihrem Mann nichts zu tun haben.“

„Denkst du, die kommen hier vorbei? Trauen die sich das?“

Kadiu zuckte mit den Schultern. „Wenn einer von uns erschossen würde, was würdest du tun?“

„Ich würde bei den Albanern aufschlagen“, antwortete Shkodra und verzog den Mund.

„Also, müssen wir auf deren Besuch vorbereitet sein.“

Jemand klopfte leise an der Tür, und Lui Uka steckte seinen Kopf ins Zimmer.

„Darf ich stören?“

Die beiden Männer starrten den Mann ungläubig an. „Da ist ein Paket für Sinan angekommen. Ich weiß nicht, was es ist. Ein Riesending von einem Paket“, sagte der Mann entschuldigend und öffnete die Tür weiter. Shkodra schlug begeistert die Hände zusammen.

„Bring es rein“, befahl Shkodra sofort und an Kadiu gewandt, erklärte er: „Das wird die Drohne sein. Ich habe dir doch erklärt, dass ich ein paar Tests mit der kleinen Drohne gemacht habe. Diese, die jetzt angekommen ist, ist größer und leistungsstärker. Das wird die Revolution, Amar, ich garantiere es dir!“ Die Begeisterung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Der albanische Drogenboss starrte Shkodra fassungslos an.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, die Kroaten werden gleich hier aufschlagen und du willst mit Drohnen spielen? Hast du sie noch alle?“

Uka zog es vor, zu verschwinden. Die Luft war ihm zu plötzlich zu dick.

„Ich will nicht mit Drohnen spielen. Ich habe die erste Drohne gekauft, die unsere Geschäfte absichern wird. Keine Junkies mehr, die mit den Lieferungen abgefangen werden. Das Teil fliegt ferngesteuert und kehrt automatisch wieder an den Startpunkt zurück. Ich gebe ja zu, dass wir uns erst um die Kroaten kümmern müssen, aber ich dachte, du seist auf meiner Seite“, sagte er enttäuscht.

„Das müssen wir alles erst testen. Wer weiß, ob das Teil nicht unterwegs runterfällt, Sinan, das ist mir alles zu unsicher.“

„Boss, das fällt nicht runter!“

„Schluss jetzt, erst kümmern wir uns um die Leute. Trommel alle zusammen, damit wir sie befragen können.“

Shkodra seufzte und begab sich außer Hörweite seines Bosses. „Alles klar. Wie du denkst“, sagte er laut und fluchte dann leise vor sich hin. Er öffnete die Tür und schrie Lui Uka an: „Ruf alle Leute an, sie sollen sich gefälligst in einer Stunde hier einfinden und tritt ihnen in den Arsch. Ich will keine Ausflüchte hören, verstanden?“

„Alles klar, dann will ich mal sehen, was ich tun kann“, sagte Lui Uka.

*

Bonn

Nachdem sie zusammen mit dem Herrchen des Dalmatiners Jerry den Shelby Mustang begutachtet hatten – der Mann konnte ihnen glaubhaft versichern, dass er ein solches Fahrzeug hier noch nie gesehen hatte – gingen Meinhold und Klauk wieder zum Annaberger Hof hinüber.

„Was man nicht alles von einem Mann mit einem Hund erfahren kann“, sagte Klauk und kniff Meinhold ein Auge zu. Sie antwortete mit einem Augenaufschlag. Hätte nie gedacht, dass der Mann, den sie für einen Künstlertyp gehalten hatte, sich als ein fanatischer Autonarr entpuppt hatte.

„Das neue Herzstück des neuen Ford Mustang Shelby GT 350 ist das völlig neu konzipierte V8-Triebwerk: Der Achtender leistet aus einem Hubraum von 5,2 Litern eine Leistung von 500 PS sowie ein maximales Drehmoment von 540 Newtonmeter“, wiederholte er die Worte des Mannes. „Wow! 540 Newtonmeter. Das Teil ist eine Rakete.“

„Ach ja, ich habe es eben gehört. Männer und ihre Spielzeuge. Autos sind doch nur Fortbewegungsmittel!“

Klauk wedelte mit seinem Finger vor ihrem Gesicht herum. „Aber je nachdem, wie sie aussehen und was sie leisten, sind sie entweder total normal oder total genial!“

„Ist ja gut, du kannst ja darum betteln, dass du die Rakete in die KTU fahren darfst“, sagte Meinhold und zog ihre Nase kraus.

„Quatsch, du weißt ganz genau, dass die den Mustang auf den Tieflader stellen“, widersprach Klauk und bemerkte erst jetzt, dass er in Meinholds Falle getappt war.

„Ja, ich nun wieder …“, sagte er, schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel.

„Entspann dich und konzentrier dich bitte mal wieder auf die Arbeit. Erst spielst du mit dem Hund und dann fachsimpelst du die ganze Zeit mit diesem Mann über amerikanische Sportwagen. Wir sind hier, um den Mörder von diesem Mladic zu finden und zwar fix. Sonst haben wir bald den schönsten Drogenkrieg hier in der Stadt.“

„Alles klar, Chrissie, ich bin dabei. Konzentriere mich, bin ganz bei dir“, sagte er kleinlaut. Meinhold seufzte.

„Okay, dann lass uns jetzt die Leute auf dem Hof befragen. Ist natürlich nicht sehr hilfreich, dass uns Beisiegel noch nichts Genaues zu dem Todeszeitpunkt sagen kann“, sagte sie enttäuscht. Als Klauk sich mit dem Dalmatiner-Herrchen über die Autos unterhielt, hatte wenigstens sie der Rechtsmedizinerin zugehört. Dr. Stephanie Beisiegel bat sich aus, noch keine endgültigen Angaben zum Zeitpunkt des Todes zu machen.

„Hast doch gehört, dass durch die Hitze kein genauer Todeszeitpunkt festgestellt werden kann. Jedenfalls nicht vor der Obduktion. Die Leichenstarre ist voll ausgeprägt, das sagt uns, dass er mindestens vor dem gestrigen Abend gestorben ist“, versuchte Klauk ihre Laune aufzubessern.

„Also können wir die Leute nur fragen, ob ihnen gestern Nachmittag oder Abend etwas aufgefallen ist. Eine genauere Eingrenzung wäre schon besser.“

Klauk blieb stehen und breitete die Arme aus.

„Wir könnten auch abwarten, bis Stephanie Beisiegel ein eindeutiges Obduktionsergebnis hat und dann die Leute auf dem Hof befragen“, schlug Klauk vor. Meinhold winkte ab.

„Ist auch Blödsinn, Sebi. Was ist, wenn einer eine bahnbrechende Beobachtung gemacht hat und wir ihn zu spät befragen? Denk an den Drogenkrieg, Sebi!“

„Also los, gehen wir.“

„Ja, gehen wir“, sagte er und nahm seine Kollegin in den Arm.

*

Bonn

Ron Baum war zufrieden. Es war alles glatt gelaufen. Die Anmeldung in dem kleinen Hotel war problemlos vonstattengegangen. Der Mann hinter dem Tresen hatte sich überhaupt nicht für seinen Ausweis interessiert. Das Ausweisdokument war eben eine gut gemachte Fälschung. Er konnte ein inneres Grinsen nicht verkneifen, weil er sich noch die Zeit genommen hatte, diese Vorbereitungen für die Zeit nach dem geplanten Mord an Oliver Hell zu treffen. Dem Mordversuch, der so schief gelaufen war. Die Tatsache, dass der Portier sein Gesicht nicht erkannt hatte, machte Baum sicherer. Die Fahndung nach ihm war noch nicht auf das Fernsehen ausgeweitet worden, sonst hätte der Kerl ihn sicher erkannt. Auch lief die Fahndung sicher nach Ron Baum und nicht nach Alexander Geißler. Das war sein Vorteil, er konnte sich hinter dem neuen Namen verbergen, jedenfalls für eine Weile. Das Zimmer war nichts Besonderes, aber darauf kam es auch nicht an. Es lag in der Nähe des Bonner Polizeipräsidiums. Das zählte. Im Schutz der Dunkelheit konnte er die Gegend noch ein wenig auskundschaften.

Baum ging ins Bad und duschte sich. Nicht lange gönnte er sich den Luxus, obwohl er es sich in der Klinik immer gewünscht hatte, ausgiebig zu duschen. Nach ein paar Minuten trat er aus der Dusche und trocknete sich ab. Plötzlich war es wieder da. Das Gefühl. Das Gefühl, dass er nicht alleine war. Baum erstarrte. Da musste etwas sein! Die aufgerichteten Nackenhaare sprachen eine deutliche Sprache. Langsam näherte er sich der Badezimmertür, setzte langsam einen Fuß vor den anderen. An der Tür horchte er. Mit dem Zeigefinger öffnete er sie einen Spalt, zog sie auf und war mit einem Sprung auf dem kleinen Flur. Die Hotelzimmertür war geschlossen. Blitzschnell war er im angrenzenden Wohnraum und als er noch austrudelte, bemerkte er, dass ihm seine Sinne etwas vorgegaukelt hatte. Das Zimmer war leer. Zögernd ging er zurück ins Badezimmer und trat vor den Spiegel. Baum betrachtete sein Spiegelbild und grübelte weiter. Er war absolut sicher, sich das nicht eingebildet zu haben. Schließlich seufzte er und die Anspannung fiel von ihm ab. Bislang war alles nach Plan gelaufen. Wieso sollte sich das ändern? Keiner würde Alexander Geißler mit dem aus der Klinik geflohenen Insassen in Verbindung bringen. Warum sollte man auch? Der Plan, direkt neben dem Polizeipräsidium ein Hotelzimmer zu beziehen war verwegen. Einem kasernierten Irren würde das keiner zutrauen. Langsam kam er zur Ruhe. Daher streckte er sich auf dem Bett aus und schlief nach kurzer Zeit ein.

*

Sa Rapita

Der Anruf von Oberstaatsanwältin Hansen hatte Hell aufgeschreckt. Die Nachricht von der Flucht Baums ließ ihn nicht mehr zur Ruhe kommen. In die würzige Luft der Mittelmeerinsel mischte sich der eklige Muff der Heimat, den er so gern hinter sich lassen würde. Es roch nach Schuld, nach Tod und nach Versagen. Wieder tauchten die Bilder auf. Baum auf der Straße liegend. Hells Pistole, die auf ihn zielte. Wieso hatte der Kerl keine unbedachte Bewegung gemacht? Dann hätte Hell die Chance gehabt, erneut zu schießen. Doch so war es nicht gekommen. Jetzt war der Psychopath wieder im Spiel und hielt erneut die Fäden in der Hand. Wie damals, als er die toten Vögel auf der Terrasse platziert hatte.

Hell, der auf dem Weg nach Hause war, blickte dann und wann zerstreut auf das Meer. Er hatte in diesem Moment nichts anderes vor, als nach Hause ins Hotel zu kommen und sich unter eine kalte Dusche zu stellen. Die Küstenstraße zwischen S'Estanyol de Migjorn und Sa Rapita zog sich in der Mittagshitze besonders. Als er an den ersten Häusern des Ortes vorbeikam, musste er dringend auf die Toilette. Er betrat eines der Straßencafés und bestellte sich einen Kaffee, damit er dort die Toilette benutzen konnte. Bald saß er an einem der kleinen Tische, den Kaffee vor sich, den er eigentlich gar nicht wollte und starrte hinaus aufs Meer. Die Schönwetterwölkchen hatten sich verzogen und die Sonne brannte vom Himmel. Er zog seine Sonnenbrille auf und nahm sein Handy zur Hand. Wählte sofort Franziskas Nummer, doch außer der vertrauten Stimme auf dem Anrufbeantworter, die ihn freundlich aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen, erreichte er nichts. Er seufzte einmal und beendete dieses einseitige Telefonat. Diese Nachricht konnte er ihr nur persönlich übermitteln. Wegen der Tragweite hatte sie nichts auf einen Anrufbeantworter zu suchen. Er nippte an seinem Kaffee, schob die Tasse angewidert beiseite und stand auf.

Für die letzten paar hundert Meter brauchte er eine gefühlte Ewigkeit. Geistesabwesend wanderte Hell an der Küste entlang und hoffte, dass er in dem später folgenden Gespräch die richtigen Worte finden würde. War auch sie in Gefahr? Dieser Gedanke ließ ihn erschaudern. Natürlich. Diesem Baum war alles zuzutrauen. Auge um Auge. Zahn um Zahn. Du nimmst mir meine Frau, ich nehme dir deine Frau. Fast schwindelig vor Angst erreichte er sein Hotel, stieg die Treppen hinauf. Wie von einem bösen Dämon verfolgt, riss er die Zimmertür auf und warf sich aufs Bett.

„Oh Gott, das darf doch alles gar nicht wahr sein“, seufzte er laut. Plötzlich hörte er von links ein Geräusch und eine vertraute Stimme: „Was ist denn so schlimm, mein Schatz? Kann ich dir helfen?“

Hell fuhr herum und das Herz schlug ihm bis zum Hals, obwohl er die Stimme seiner Partnerin sofort erkannt hatte. Sie stand in der Tür zum Badezimmer und trotz des Dämmerlichts konnte er sie lächeln sehen. Hell fasste sich und begann zu stammeln: „Wie kommst du denn hier rein und vor allem, wo kommst du her?“ Seine Stimme klang dünn und furchtsam. Er wuchtete sich vom Bett und umarmte Franziska. Presste seinen Mund in ihr duftendes Haar und konnte für einen Moment lang nichts sagen.

„Ich habe die früheste Maschine von Bern aus genommen. Und ob ich nach Frankfurt fliege oder hierher, um ein paar Tage mit dir zu verbringen, das ist doch keine Frage, oder?“

Nach einem Kuss sah er sie fragend an. In ihren Augen blitzte der Schalk. „Du weißt es noch nicht?“, flüsterte er. Das Blitzen verwandelte sich in Wachsamkeit. Hell fasste Franziska bei den Schultern und zögerte einen Moment. Dann sah er ihr in die Augen. „Ron Baum ist aus der psychiatrischen Klinik entflohen und befindet sich auf der Flucht.“

Er hätte sie gerne mit einer anderen Nachricht begrüßt, doch es gab in diesem Moment keinen Platz für andere Dinge in seinem Kopf. Nicht einmal seiner Freunde, Franziska zu sehen, konnte er gebührend Ausdruck verleihen. Zum dritten Mal innerhalb weniger Augenblicke veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Jetzt wurde er hart und anstelle der Freude trat Sorge. Sie strich ihm mit der Hand übers Haar. Nach eine Weile fragte sie: „Was wird er tun und vor allem, was willst du jetzt tun?“

Hell ließ seine Hände von ihrer Taille sinken und wandte sich ab. Erneut hob er die Arme, um sie resigniert sinken zu lassen.

„Was kann ich schon tun? Ich muss nach Hause fliegen!“

Franziska trat auf ihn zu. „Musst du nicht. Du bist noch nicht wieder im Dienst, Oliver. Wir können hier abwarten, was passiert. Vielleicht wird er ja auch sofort wieder gefasst und du machst dir ganz umsonst so einen Stress.“

Hell schüttelte heftig den Kopf, blickte sie lange an. „Ich kann doch die Kollegen nicht meine Arbeit machen lassen, Franzi!“

„Es ist nicht deine Arbeit. Du bist nicht im Urlaub, du bist von Dienst freigestellt. Und du weißt ebenso wie ich, dass man dich nicht sofort wieder ran lässt. Wenn du jetzt Hals über Kopf nach Hause fliegst, bringt dir das überhaupt nichts.“

Aus ihren Worten konnte Hell ihre Sorge heraushören. Sie trat auf ihn zu und nahm ihn in den Arm.

„Schatz, bleib bitte ruhig“, sagte sie leise und tätschelte seinen Rücken. Wie gut, dass er so ihren besorgten Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. Als sie ihn losließ, war schon wieder Zuversicht in ihren Blick zurückgekehrt.

„Lass uns bitte etwas essen gehen, ich sterbe vor Hunger!“

Sie ging zurück ins Bad, sagte über die Schulter hinweg zu ihm: „Wir gehen essen und du erzählst mir genau, was passiert ist. Dann bin ich nicht mehr ausgehungert und du kannst dir alles von der Seele reden!“

Eine halbe Stunde später saßen sie gemeinsam in einem kleinen Restaurant an der Straße und Hell hatte ihr schon alles berichtet, was er über die Flucht von Ron Baum wusste. Noch immer herrschte keine Klarheit über das weitere Vorgehen. Beide waren sich nicht einig über die Motive des Ausbrechers. Hell war felsenfest davon überzeugt, dass Baum sich an ihm rächen würde. Franziska dagegen war nicht davon überzeugt. Jedenfalls tat sie so.

„Wenn ich wüsste, was ich tun soll, wäre ich schlauer“, sagte Hell.

„Hinter dem Warum muss nicht zwangsläufig der Racheplan stecken. Er könnte sich auch ins Ausland absetzen und sich dort verkriechen.“

Obwohl Hell keinen Grund hatte, ihr zu widersprechen, fragte er dennoch skeptisch: „Du denkst, wir müssen nur so lange warten, bis er einem Kollegen in die Arme läuft? Denkst du das?“

Franziska zuckte nur mit den Schultern und schob sich einen Bissen in den Mund. Ihr Schweigen beflügelte Hell. „Ist das nicht alles ein wenig zu simpel? Warum sollte er sich diese Mühe machen? Was sagt denn dein Profiler-Gehirn dazu?“

Franziska kaute ruhig weiter und mit einem langen Blick auf das Weinglas vor sich antwortete sie: „Baum ist schwer einzuschätzen. Er hat aus Rache sein Leben weggeworfen. Das wird er vermutlich auch dir ankreiden. So verrückt, wie er denkt, macht es für ihn Sinn. Er sitzt nicht umsonst in der psychiatrischen Klinik ein … ich meine, er saß nicht umsonst dort ein. Und es deutet vieles darauf hin, dass er seine Rachepläne wieder aufnehmen wird. Doch das ist momentan alles zweitrangig. Du bist hier auf Mallorca und damit in Sicherheit. Wärst du in Bonn, was glaubst du, was Hansen und Retzar tun würden? Sie würden dich aus der Schusslinie nehmen und womöglich sogar an einen sicheren Ort bringen lassen. Das hier ist dein sicherer Ort. Hier findet er dich nicht!“

Sie saß da und sah ihm zu, wie er nach einer Antwort suchte. Schließlich antwortete er: „Ist meine Sicherheit hier wichtiger als die der Kollegen in Bonn? Könnte ich damit leben, wenn einer aus meinem Team verletzt würde oder gar getötet? Ist mein Leben wichtiger als das von Wendt, Klauk, Rosin oder Meinhold?“

In seinen Augen konnte sie sehen, wie er auf eine Antwort drängte. Oliver Hell legte das Besteck ab und stützte seine Unterarme auf dem Tisch ab.

„Willst du mit mir eine moralische Diskussion führen?“, fragte Franziska.

„Ja, wenn du mit meiner Sicherheit argumentierst.“

„Oliver, du bist in den Fokus eines Psychopathen geraten. Der Mann hat ein Feindbild aufgebaut, das nur er selbst versteht und nach dem er lebt. Dich trifft keine Schuld an dem Selbstmord seiner Frau. Daher hast du ihm gegenüber auch keine Verpflichtung, vor allem nicht die, dich ihm quasi auszuliefern.“

„Ich war nie ein Feigling.“

„Das wirft dir auch keiner vor. Ich kenne dich jetzt seit langer Zeit und wenn man dir Sturheit und Dienstversessenheit vorwerfen kann, sowie viele andere Attribute, Feigheit gehört sicher nicht dazu“, antwortete sie gedankenvoll.

Hell war damit nicht zufrieden. Daher setzte sie lächelnd hinzu: „Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Dich diesem Psychopathen ausliefern, indem ich eine Beurteilung schreibe, in der steht, dass es deiner Seele gut tut, wenn du Ron Baum selbst zur Strecke bringen kannst? Das werde ich nicht tun!“

„Erklär mir doch, was du tun wirst, Franziska!

Sie lachte, keineswegs gekränkt, und fuhr fort: „Ich bin mir sicher, dass dir der Blick auf die Realität durch deine Sorge um die Kollegen verstellt ist. Das ehrt dich, aber ich sehe auch, dass diese Sorge dich zu einer Handlung treibt, die dich in Gefahr bringt. Als deine Psychologin kann ich dem nicht zustimmen und werde alles tun, dich hier auf der Insel zu halten. Und zwar so lange, bis man diesen Baum wieder eingefangen hat, tot oder lebendig!“

Als er die Pause, die sie machte, nicht nutzte, um ihr zu widersprechen, fuhr sie fort: „Es überrascht mich nicht, dass du einen Mörder wieder einfangen willst, aber ich stelle mich dagegen, dass jemand sich in Gefahr begibt, nur um Gefahr von anderen abzuwenden. Das ist moralisch sicher zu begrüßen, aber du bist derjenige, um den es geht. Ich setze nicht meine Liebe aufs Spiel, um deine moralischen Bedenken zu unterstützen.“

Sie stützte ihren Arm auf dem Tisch ab, wischte sich mit der Serviette über den Mund, schloss kurz die Augen, bevor sie weitersprach: „Es gibt ehrenvolle Ziele, die man als Polizist verfolgen kann und ich kann wirklich nur sagen, dass ich dich dafür noch mehr liebe als vorher. Aber ich kann nicht anders. Ich werde Hansen und Retzar informieren, mit der Anweisung, dich sofort am Kölner Flughafen abzufangen, sobald dein Flugzeug dort gelandet ist!“

Hell wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Was wog schwerer? Ihr Liebesgeständnis und ihre Sorge um ihn oder die Tatsache, dass sie ihre Stellung als Psychologin ausnutzen würde, um ihn bei seinen Vorgesetzten zu diskreditieren?

Er sah sie nur an, tauchte in ihre Augen ein und sog die Liebe darin auf. Franziska sagte in sein Schweigen hinein: „Erinnere dich daran, was du immer sagst, Oliver!“

„Und was sage ich immer?“, sagte er sanft.

„Das man bei jedem Einsatz sein Leben in die Waagschale wirft und dass es darauf ankommt, das Risiko so klein wie möglich zu halten, und seinen Arsch nicht zu riskieren, wenn es nicht nötig ist.“

Sie zitiert ihn fast wortwörtlich. „Nun, wenn ich dich und deine Worte richtig verstehe, liebst du mich sehr und möchtest nicht, dass ich mein Leben riskiere. Habe ich Recht?“

Er konnte ihr nicht nachtragen, dass sie ihre Macht als Psychologin einsetzte, um sein Leben zu schützen. Franziska lächelte und griff über den Tisch hinweg nach seiner Hand. „Und? Wirst du mich jetzt als deine Psychologin feuern und dir ein willfähriges anderes Weib suchen, dass dir nach dem Mund redet?“

Er schüttelte den Kopf und sie schloss die Diskussion mit der Frage: „Also?“

*

Bonn

Auf dem Nachhauseweg hatten Klauk und Meinhold noch bei der Familie des Toten vorbeigeschaut. Hatten sie vermutet, dass sie dort eine Todesnachricht zu überbringen hatten, öffnete ihnen eine junge Frau mit verweintem Gesicht die Türe. Die Nachricht war schon angekommen. Die Beamten hielten wortlos ihre Dienstausweise hoch. Die junge Frau nickte und wischte sich eine Träne von der Wange. Sie ließ die Tür offen stehen und gebot den beiden Beamten hereinzukommen. Meinhold schloss die Tür und folgte Klauk. Der drehte sich um und raunte Meinhold zu: „Die wissen schon Bescheid. Die Nachrichtenübermittlung klappt sehr gut.“

Meinhold nickte und schob ihn weiter. Die junge Frau wartete an einer Tür, die auf der rechten Seite des Flurs lag. Das helle Licht ließ ihr Gesicht noch trauriger wirken. Sie trat vor ihnen ein. An einem Tisch in der geräumigen Küche saß eine andere Frau, blickte sie an.

„Die beiden Herrschaften sind von der Polizei, Jasna, Kriminalpolizei“, sagte Velina Palajsic zu ihrer Schwägerin. „Wir haben Sie bereits erwartet. Wollen Sie sich setzen?“, fragte Jasna Mladic. Sie sah schlecht aus und die dunklen Ringe unter ihren Augen sprachen eine deutliche Sprache, zeugten von ihrer Trauer. Klauk warf Meinhold einen betrübten Blick zu.

„Danke, wir wollen Sie nicht lange stören. Darf ich fragen, wer Sie beide sind?“, fragte er.

Die junge Frau erinnerte ihn ein wenig an Lea Rosin, war aber kleiner und pummeliger. Sie trug schon schwarze Kleidung, ebenso wie die andere.

„Mein Name ist Velina Palajsic und Mladen ist mein Verlobter“, sagte die junge Frau tapfer und wieder lief ihr eine Träne über die Wange. Die anderer Frau trat zu ihr und lagte ihr die Hand auf die Schulter. „Ich bin Jankos Schwester Jasna“, sagte sie und beugte sich neben ihre Schwägerin. Frau Palajsic vergrub ihr Gesicht in der Schulter ihrer Schwägerin, begann zu schluchtern. Von Vandenbrink hatten sie bereits gehört, dass die anderen Mitglieder der Familie Mladic bisher nicht polizeilich aufgefallen waren. Auch spürten sie nicht diesen Argwohn, die sie bei den Mitgliedern anderer Banden gewohnt waren, die alles, was mit der Polizei zu tun hatte, zutiefst ablehnten.

„Woher wissen Sie von Tod ihres Bruders?“, fragte Meinhold Jasna Mladic.

„Unser Freund Stipe Secovic hat uns die Nachricht überbracht. Woher er es weiß, kann ich Ihnen nicht sagen. Da müssen Sie ihn schon selber fragen“, antwortete sie, zuckte kurz mit der freien Schulter und tätschelte ihrer Schwägerin das Haar. Sie sagte leise etwas in ihrer Muttersprache, was so klang, als würde eine Mutter ihr weinendes Kind trösten.

„Wo ist Ihr Bruder Neven?“

„Kann ich Ihnen nicht sagen. Er ist mit Stipe Secovic weggegangen“, sagte die Frau mit weit aufgerissenen Augen.

„Und Sie? Können Sie sich denken, wer Ihren Bruder ermordet hat?“, fragte Klauk nicht gerade sehr taktvoll.

Jasna Mladics Blick wurde feindselig. „Sie wissen doch, was mein Bruder getan hat, wie er sein Geld verdient hat. Also wissen Sie doch auch, wem er auf die Füße getreten sein könnte. Ist es nicht ihr Job, diese Frage zu beantworten?“

Klauk trat einen Schritt nach vorne. Seine Kollegin Meinhold bemerkte, dass Klauk kurz davor war, eine dumme Antwort zu geben.

„Wann haben Sie Janko Mladic das letzte Mal gesehen?“, fragte Meinhold und schob Klauk etwas zur Seite. „Ich war gestern arbeiten, das wird am Vortag gewesen sein“, antwortete sie.

„Ich weiß, dass es schwer für Sie ist, aber ich muss auch Ihre Schwägerin diese Frage stellen“, erläuterte Meinhold gedämpft. Jasna flüsterte etwas und Velina Palajsic antwortete unter Tränen.

„Sie sagt, dass sie gestern nachmittag noch zusammen Kaffee trinken waren in der Stadt. Danach wollte Janko noch ein wenig rumfahren“, übersetzte sie die erstickten Worte ihrer Schwägerin.

„Kann sie uns genauer sagen, wann sie sich verabschiedet haben? Ich möchte sie nicht quälen, aber wir müssen ein Bewegungsprofil erstellen, damit wir sehen, wann Janko am Annaberger Hof ankam“, erklärte Meinhold.

Kurz drauf erhielt sie die Antwort. „So gegen halb vier. Würden Sie uns jetzt bitte alleine lassen? Sie sehen ja, ihr geht es nicht gut. Außerdem muss ich mich jetzt gleich um meine Mutter kümmern. Sie ist bettlägerig und braucht ihr Mittagessen.“

„Ihre Mutter?“, fragte Klauk und wollte nachhaken.

„Ja, wir haben jetzt keine Fragen mehr“, fuhr ihm Meinhold dazwischen, wofür sie einen skeptischen Blick erhielt. Doch dann begriff er, dass es nicht die Zeit war, die alte Frau zu befragen. Vandenbrink hatte ihnen kurz die Familienhistorie skizziert und er hatte gehört, dass sie seit Jahren ihr Bett nicht mehr verließ. Hier war eine Befragung sicherlich nicht zum jetzigen Zeitpunkt notwendig.

Jasna Mladic verabschiedete sich mit müden Augen. Als Klauk schließlich leise die Tür ins Schloss zog, sagte Meinhold mit zusammengekniffenen Lippen: „Wer sagt, dass diese Familien der ausländischen Drogendealer alle gleich sind, der sollte mal diese Szene eben erlebt haben. Dann würde er seine Schnauze halten ...“

Klauk nickte und ging schweigend hinter ihr die Treppe hinunter. Die Kritik seiner Kollegin an seiner Art der Befragung überhörte er. Oder nahm sie gar nicht als Kritik wahr.

*

Bad Godesberg

Die Stimmung im Hauptquartier der Albaner war gedrückt. Ihr Quartier lag in einer der ehemaligen Werkshallen in Bad Godesberg-Nord. Godesberg-Nord war die amtliche Bezeichnung eines Ortsteils im Stadtbezirk von Bad Godesberg auf dem Gebiet der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn. Die alten Bad Godesberger nennen den Ortsteil liebevoll „Bendel“. Das Bendel war mal ein reines Arbeiterviertel - und natürlich tief rot. Die Menschen arbeiteten bei Boge oder Stolle, jede Woche gab es die Lohntüte in die Hand. Doch das war lange her und die Albaner wussten es sicher nicht. Umgeben von den weiteren Bad Godesberger Ortsteilen Schweinheim im Südwesten, Friesdorf im Nordwesten, Plittersdorf im Nordosten und Alt-Godesberg im Südosten leben dort etwa 1.800 Einwohner. Im Nordosten bildet die Grenze zu Plittersdorf die Trasse der Linken Rheinstrecke. Godesberg-Nord ist insgesamt einer der wenigen Bonner Ortsteile, die eher gewerblich geprägt sind. Für manchen macht dies gerade den besonderen Reiz aus. Auch die Immobilien- und Mietpreise sind hier etwas günstiger als etwa in dem vornehmeren Villenviertel in Bad Godesberg.

Der Tod des kroatischen Bandenmitglieds lastete auf ihren Schultern. Alle wussten, dass ein Mord in den Reihen einer der Organisationen schlecht für alle Beteiligten war. Am liebsten war allen Banden, wenn man ruhig und ungestört seinen Geschäften nachgehen konnte. Ohne von der Polizei dabei argwöhnisch beäugt zu werden. Sicher, die Drogenfahnder der Polizei und des Landeskriminalamtes waren immer präsent. Doch ließen sich die Organisationen von deren Aktivitäten nicht abhalten. Sie verdienten ja nicht nur durch das Geschäft mit den Drogen, sondern kassierten auch eifrig in allen anderen kriminellen Sparten mit. Die Organisierte Kriminalität in Bonn hatte viele Gesichter. Und ein Mord schreckte alle auf. Die gegnerischen Gangs und vor allem die Polizei.

„Wartet ihr darauf, dass wir den Fall für die Polizei lösen?“, fragte Sinan Shkodra in die Runde seiner Gangmitglieder.

„Red keinen Müll, Sinan. Wir müssen herausfinden, wer den Kroaten ausgeblasen hat“, antwortete Rion Dibra und strich sich über seinen Oberlippenbart, der wie ein Strich aussah. Shkodra fuhr nicht hoch, wie er es sich erhofft hatte.

„Die Kroaten werden der Polizei schon Beine machen. Da bin ich mir sicher. Und die werden schnell ermitteln, wer den Kerl auf dem Gewissen hat“, antwortete Shkodra kühl.

„Und wenn es einer aus unserem Dunstkreis war?“, sagte in diesem Moment Amar Kadiu und blickte finster in die Runde.

„Was? Wer sollte denn so doof sein?“, fragte Levent Hasani, der neben Rion Dibra saß, was nicht nur räumlich seine Freundschaft dokumentierte.

„Kannst du es ausschließen, Levent?“, fragte Kadiu.

Der Angesprochene hob die Arme. „Wir sind doch nicht bescheuert, Boss. Keiner von uns klatscht einen Kroaten weg!“

„Einer hat es getan, und wenn ich herausfinde, dass einer in diesem Raum dafür verantwortlich ist …“, sagte Kadiu, doch konnte er die Drohung, die er an seine Bandenmitglieder richten wollte, nicht zu Ende formulieren. Denn in diesem Moment wurde die Tür zur Halle aufgerissen. Mit einer Waffe an der Schläfe wurde Loan Dibra an der Spitze von sechs Männern in den Raum geschoben. Vier der anderen Männer trugen automatische Waffen, die auf die Albaner gerichtet waren. Keiner der Männer zuckte auch nur mit den Wimpern, denn Amar Kadiu hob seinen rechten Arm. „Ruhe, Männer! Das war zu erwarten“, zischte er leise in seiner Muttersprache. Dann stand er auf und trat den Kroaten entgegen.

„Wir hätten euch gerne auf einen Tee eingeladen, um über den Mord an Janko zu sprechen“, richtete er seine Worte direkt an den Bandenchef Stipe Secovic, „aber ihr kommt mit Waffen. Ist das euer neuer Stil?“

Secovic, der als einziger keine Waffe trug, blieb ein paar Meter vor seinem albanischen Pendant stehen. Er gab dem Mann, der Loan Dibra immer noch in Schach hielt, ein Zeichen. Der Albaner wurde grob nach vorne gestoßen und der Kroate richtete seine Waffe auf die immer noch wie betäubt dasitzenden Albaner.

„Wir richten uns ganz nach euren Stil. Wer von euch war es?“, zischte Secovic.

Kadiu trat gelassen einen Schritt auf ihn zu. „Von uns tötet keiner einen Mann aus deiner Gang“, antwortete Kadiu.

„Dir bleibt nichts anderes übrig, als das jetzt zu sagen. Meine Männer hier sind ganz gierig darauf, ihre Finger krumm zu machen“, sagte Secovic düster.

„Manchmal ist es anders, als es zu sein scheint. Wenn du dein Augenmerk auf die Galerie dort oben legen würdest, dann könntest du sehen, dass auch wir nicht ganz wehrlos sind“, sagte Kadiu und deutete hinauf zur Decke der Halle. Die Blicke der Albaner flogen herum und die Männer mit den Maschinenpistolen rissen die Augen auf. Auf der Galerie lag ein Albaner, der ein riesiges Maschinengewehr vor sich aufgebaut hatte, dessen Mündung genau auf die Eindringlinge gerichtet war. Es ging ein Raunen durch den Raum, die Kroaten suchten Blickkontakt zu ihrem Bandenchef. Doch der war ebenso überrascht wie die Albaner, die nicht wussten, dass einer von ihnen von dort oben die Halle sicherte. Kadiu hatte seinen Mann dahingehen instruiert, ohne das Wissen der Gang. Sie hätten sich anders verhalten, wenn sie gewusst hätte, dass Nimon Pevolli ihren Arsch mit einem M240 schützte.

„Wir haben mit eurem Auftauchen hier gerechnet, Stipe. Wenn ihr jetzt die Waffen herunternehmt, dann können wir wie vernünftige Männer miteinander sprechen“, sagte Kadiu und ein Lächeln flog über sein Gesicht. Der Mann auf der Galerie hielt humorlos die Gruppe Albaner im Visier. Er brauchte eine Weile, doch dann hob Secovic den Arm, die Läufe der Maschinenpistolen senkten sich. Als letzter ließ Dražen Adzovic seine Waffe sinken.

„Okay, wenn das so ist, dann reden wir miteinander.“

Kadiu nickte kurz und machte eine einladende Geste. „Lasst uns sprechen.“

Secovic zögerte. „Und dein Mann dort oben?“, fragte er leise.

Eine Geste reichte und der Albaner auf der Galerie sicherte das Maschinengewehr, blieb aber weiter in Deckung liegen.

„War nicht die Rede von einem waffenlosen Gespräch?“, entgegnete Secovic.

„Mein Mann da oben? Der bleibt in Habacht-Stellung. Wer weiß, wer uns heute noch alles besucht.“

*

Bonn

Als Klauk und Meinhold zurück ins Präsidium kamen, war dort dicke Luft. Wendt und Rosin saßen an ihren Plätzen und brüteten jeweils über immens großen Aktenbergen. Rosin hob kurz den Kopf zu einem Gruß und versenkte sich sofort wieder in die Arbeit.

„Was habt ihr denn vor?“, fragte Klauk verwundert.

„Arbeiten, was sonst?“, antwortete Rosin ohne aufzuschauen.

„Ich meine, was sind das für Akten? Ich denke, ihr kümmert euch um Ron Baum. Stattdessen sitzt ihr hier und seht einfach nur … unglücklich aus.“

„Wir haben die Akten aus dem Archiv holen lassen, um alles noch einmal durchzugehen. Die Geschichte mit dem Selbstmord von Baums Frau, dann die Protokolle der Vernehmungen und dies und das … wir müssen alles noch einmal durchgehen, das sagt jedenfalls Wendt, und … Retzar wohl auch“, sagte Rosin genervt und kaute auf dem Ende ihres Bleistifts.

„Wir dachten, ihr kümmert euch eher um die Ausweitung der Fahndung. Wie steht es denn damit?“, fragte Meinhold verdutzt und blickte zu Wendt herüber. Doch der sah nicht einmal, dass die Kollegen mittlerweile im Besprechungsraum aufgetaucht waren.

„Alles ist angelaufen, hier, bundesweit und auch im Ausland, Interpol weiß Bescheid. Mehr können wir momentan nicht tun. Die Besatzungen aller Streifenwagen im Rhein-Sieg-Kreis haben das Bild Baums auf dem Schirm. Und das bildlich gesprochen, Retzar hat sein Konterfei tausendmal ausdrucken lassen und lässt es überall verteilen. Ich sitze hier über den Unterlagen über die Aussagen während des Prozesses, Wendt kümmert sich um die Aussagen der Freunde und Bekannte Baums. Mehr können wir momentan nicht tun. Außer zu hoffen, dass der Kerl nichts Blödes anstellt und Menschen in Gefahr bringt.“

„Und was ist mit einem Profil?“, fragte Meinhold.

„Davon hat keiner etwas erwähnt“, sagte Rosin und hob entschuldigend die Arme.

Meinhold konnte nicht umhin, ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck zu bringen, doch sie sagte nichts. Rosin bemerkte sofort die Enttäuschung ihrer Kollegin. Überlegte kurz, ob sie noch etwas sagen sollte, doch dann klopfte sie mit dem Bleistift rhythmisch auf die Tischplatte. „Und was ist mit dem Mord an Mladic? Habt ihr etwas ermitteln können? Mensch, was für eine blöde Situation. Anstatt das wir uns gemeinsam um diese Sache kümmern können, müssen wir uns aufteilen und unsere Kräfte vergeuden.“

„Wenn ihr wollt, können wir gemeinsam mit euch durchgehen, was wir bis jetzt zusammengetragen haben“, sagte Klauk und schob die Glaswand aus der Ecke in die Mitte vor die Glasscheibe zu Hells Büro. Jetzt erst wurde Wendt auf die Kollegen aufmerksam, erhob sich und kam gähnend an die Tür.

„Na, was hab ihr? Schon den Mörder überführt?“, fragte er und rieb sich die müden Augen.

„Ja, er sitzt schon in der Verhörzelle. Wenn du mitkommen magst …“, antwortete Klauk schlagfertig und pappte das Foto des Toten auf die Glaswand. „Rosin kommt auch mit.“

Wendt brauchte ein, zwei Sekunden, bis er verstand. „Guter Konter, Sebi!“

Die beiden Frauen ließen ein leises Lachen hören.

„Also“, forderte Wendt die Kollegen auf und trat an die Glaswand.

„Der Tote heißt Janko Mladic, ist eine heiße Nummer bei den Kroaten und lag in dem Kofferraum seines ebenfalls heißen Ford Mustang mit einem hässlichen Loch in der Stirn. Doktor Beisiegel lässt sich noch nicht in die Karten schauen, sie vermutet die Todeszeit am gestrigen Abend. Wir haben die Bewohner des Annaberger Hofes befragt, Fehlanzeige. Keiner hat etwas gesehen. Wir haben einen Zeugen mit einem Dalmatiner ermittelt, der dort jeden Tag spazieren geht. Auch diesem Mann ist kein Ford Mustang aufgefallen. Er war wie jeden Tag so gegen 18 Uhr dort. Also kam der Tote … ähm … ich meine, der Kroate, erst später dort an, oder der Wagen wurde dort vom Mörder abgestellt.“

„Und was sagt Vandenbrink?“

„Er hält es für möglich, dass es wegen des Mordes zu einem Bandenkrieg kommt. Er kann allerdings auch nicht ausschließen, dass jemand die beiden verfeindeten Gruppen, also die Kroaten und die Albaner, aufeinanderhetzen möchte. Er denkt da an die Outlaw Motorcycle Gangs. Aber Beweise hat er natürlich auch keine, wie auch so schnell.“

„Rockerbanden? Hier in Bonn? Die haben doch noch keine Territorien erobert? Oder lebe ich bei dem Thema hinter dem Mond?“, fragte Wendt überrascht.

„Nein, das stimmt. Aber die Jungs sind in ganz NRW auf dem aufsteigenden Ast, das sagt jedenfalls Vandenbrink. In Düsseldorf, Duisburg, Köln und Essen sind sie schon gut aufgestellt und haben sich schon beachtliche Marktanteile gesichert“, antwortete Klauk und zuckte kurz mit den Schultern.

„Wann bekommen wir die Ergebnisse von der Rechtsmedizin?“, fragte Wendt. Klauk wiederholte sein Schulterzucken. „Sie wollte sich nicht hetzen lassen.“

Wendt hob schnell die Augenbrauen und schob die Lippen zu einer Schnute zusammen. „Wie immer“, sagte Wendt und versuchte sich an einem Lächeln. „Was sagt die KTU über die Waffe?“

„Ebenfalls noch nicht viel, ein Schuss aus nächster Nähe in die Stirn“, antwortete diesmal Meinhold, damit Klauk aus dem Verhör seines Kollegen herauskam. Dann lenkte sie ihre Ausführungen in eine andere Richtung.

„Wir haben bereits die Familie des Toten aufgesucht, seine Schwester und seine Verlobte waren anwesend. Der Bruder war außer Haus, den werden wir später befragen oder ihn hier ins Präsidium zitieren, je nachdem, was du für angemessen hältst, Jan-Phillip.“

„Habt ihr etwas erfahren?“

Meinhold hob bedauernd die Schultern. „Nicht wirklich, die beiden Frauen waren überwältigt von der Trauer. Da war nicht viel zu erfahren.“

„Okay, wir werden den Mann verhören, sobald er verfügbar ist. Vielleicht kann er uns sagen, wer seinen Bruder so lieb hatte, ihm das Lichtlein auszublasen“, sagte Wendt und an Rosin gewandt: „Was denkst du? Sollten wir jetzt fahren, um den Leuten in der Klinik-Nette-Gut auf den Zahn zu fühlen? Ich freue mich schon auf die dummen Gesichter derjenigen, die Baum haben laufen lassen! Ganz ehrlich!“

Rosin blickte wie gehetzt auf die Uhr, dann auf den Stapel vor sich auf dem Tisch. „Fährst du alleine? Oder nimmst du Christina mit? Die kann dir sicher als Profilerin besser zur Seite stehen bei den Psychos dort“, bat ihn Rosin. „Natürlich nur, wenn dir das Recht ist, Chrissie?“

Meinhold sah zögernd zu Wendt hinüber, und nach einem Moment des Innehaltens willigte sie ein. „Klar, wenn wir die Befragungen hier im Präsidium machen wollen, kann ich sicher für die zwei Stunden mal das Team wechseln.“

„In Ordnung, dann lass uns fahren. Umso schneller sind wir wieder zurück“, sagte Wendt, nahm sein Jackett vom Kleiderständer und Rosin und Klauk sahen die beiden keine zwanzig Sekunden draußen auf dem Gang verschwinden.

„Schön, dass sie wieder bei uns ist“, sagte Rosin und sah ihrer Freundin versonnen hinterher.

„Stimmt, und ich finde es gut, dass du ihr den Vortritt lässt, Lea.“

Lea sah ihn verwundert an. „So habe ich das jetzt gar nicht gemeint. Ich dachte wirklich, dass sie dort besser mitfährt, weil sie die Aussagen der Klinikinsassen besser einschätzen kann!“

Klauk hielt eine Tasse in der Hand und brauchte ziemlich lange, bis er antworte. Er prüfte noch einmal nachdenklich die Füllmenge der Kaffeebohnen in der Maschine, dann drückte er auf die Start-Taste. „Ja, in Ordnung. Aber einer fehlt noch immer. Magst du auch einen Kaffee haben, Lea?“

Lea Rosin ließ sich wie ein nasser Sack auf den nächsten Stuhl sinken. Nickte unmerklich. Sie seufzte, dann warf sie Klauk einen beinahe flehenden Blick zu.

„Und wie er fehlt. Jan-Phillip ist ein toller Kollege, aber der Chef ist eben der Chef. Und er fehlt mir. Seine Erfahrung und seine Ruhe. Bei Jan-Phillip habe ich immer ein Gefühl, dass er eine latente Unsicherheit ausstrahlt. Nein, das trifft es nicht, er ist nicht unsicher, das zu sagen, wäre ungerecht. Bei Hell sind die Anordnungen wie aus dem Fels gemeißelt, unumstößlich richtig. Bei Jan-Phillip spüre ich immer ein Zögern. Kannst du mir folgen?“

Klauk nickte unwirsch. „Milch?“

„Ja.“

Er stellte vor Rosin die Tasse auf den Tisch, warf erneut die Maschine an. Dann setzte er sich mit dem Kaffee neben seine Kollegin.

„Ich kenne Wendt jetzt schon seit mehreren Jahren“, begann er und bohrte sich den Zeigefinger ins Ohr. „Er hat sich in den letzten Monaten verändert, sehr sogar. Seitdem er die Verantwortung tragen muss, ist er ruhiger geworden. Früher war er ein Hallodri, der alles andere ernster nahm als seinen Beruf. Das hat sich geändert, seitdem er mit Julia zusammen ist. Er ist ernsthafter geworden. Vielleicht ist es das, was du meinst. Früher hat er alles mit einem flapsigen Spruch abgetan, jetzt wirkt er ruhiger, nachdenklicher. Vielleicht ist es das, was du als zögerlich empfindest.“

Er nippte an seinem Kaffee, verzog das Gesicht und holte sich noch eines von den kleinen Milchportionen, deren Inhalt so gerne auf der Hose landete. Doch es ging gut, die Milch fand ohne Unfall ihren Weg in den Kaffee. Umständlich klopfte er das Plastikschälchen gegen die Kaffeetasse, dann sah er Rosin an. Sie lächelte unsicher.

„Ich mag ihn wirklich, den Jan-Phillip, du sollst mich bitte nicht falsch verstehen. Vielleicht ist es das, was du sagst. Seis drum, mir fehlt der Chef und ich hätte ihn lieber heute als morgen wieder hier im Präsidium.“

Wie schnell sich ihr Wunsch erfüllen sollte, konnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Auch ihre Rolle hätte sie sich nicht so vorgestellt.

*

Auf dem Weg nach Weißenthurm wurden sie von einem leichten Regenschauer überrascht. Sie brauchten eine Weile, bis sie das Klinikum gefunden hatten. Als Meinhold aus dem BMW stieg, wechselte sie über das Autodach hinweg einen Blick mit Wendt. Dachte daran, dass ihr die Insassen der Klinik aller Voraussicht leidtun würden. Das war ein Aspekt, den sie während der Ausbildung zur Profilerin nie ganz abstellen konnte – das Mitleid.

Wendt schien ihre trüben Gedanken zu erraten, doch wusste er nicht, in welche Richtung sie gingen. „Wirst du eigentlich irgendwann zur OFA wechseln? Ich meine, da sind die doch alle irgendwie organisiert.“

Meinhold sah ihm fest in die Augen. „Nein, das habe ich nicht vor. Ich bleibe lieber in Bonn, was dagegen? Es kann durchaus sein, dass ich anderen Dezernaten bei der Aufklärung behilflich sein werde. Aber ich bleibe schon hier in Bonn.“

„Schön zu wissen“, antwortete Wendt und schloss die Autotür.

„Ist das alles?“

„Warum? Ich dachte, du freust dich.“

„Das tu ich, Chrissie“, antwortete Wendt und sie gingen gemeinsam auf das Gebäude zu.

„Gibt es einen besonderen Grund für deine Frage?“

Wendt verlangsamte seinen Schritt. „Sicher, den gibt es. Ich habe heute kurz mit Hansen gesprochen. Sie bekommt mächtig Druck von der neuen Polizeipräsidentin. Die möchte unter anderem die Zusammensetzung der Teams zur Disposition stellen oder gegebenenfalls ändern. Und in diesem Zusammenhang fällt natürlich auch der Name Oliver Hell. Diese Frau scheint eine Bürokratin durch und durch zu sein. Hell ist unproduktiv und bezieht trotzdem sein Gehalt weiter. Das stinkt ihr und sie möchte den Chef in den vorzeitigen Ruhestand abschieben. Wenn sie damit durchkommt, muss ich wissen, wer hier noch in Bonn bleibt, sonst stelle ich einen Antrag auf Versetzung. Julia und ich sind eh dabei, einen Umzug zu planen. Vielleicht wird es dann auch eine andere Stadt. Daher meine Frage.“

Meinhold blieb wie angewurzelt stehen, kniff die Augenbrauen zusammen. „Das ist nicht dein Ernst? Sie will Hell abschieben? So eine blöde Kuh, sie kennt ihn doch gar nicht!“

Wendt zuckte mit den Schultern. „So ist die Situation. Je länger der Chef in Spanien bleibt, desto wahrscheinlicher ist dieses Szenario.“

„Hast du mit ihm gesprochen? Wir müssen ihn darüber informieren“, stieß Meinhold hervor. Wendt machte einen Schritt nach vorne, wollte weitergehen, sie hielt ihn am Ärmel fest. „Hörst du? Weiß er Bescheid?“

Wendt hielt erneut inne. „Hansen hat mit ihm telefoniert, als sie ihn über Baums Ausbruch informierte.“

Der Oberkommissar blickte unwirsch auf die Hand, die den Ärmel seines Jacketts fest um klammert hielt.

„Und du? Willst du ihn nicht anrufen?“

„Doch, das werde ich. Aber erst müssen wir diese Befragung hinter uns bringen.“ Für Meinhold klang das nicht überzeugend, er sah ihr mit einem fahrigen Blick in die Augen. Dann ging er weiter, weil auch Meinhold ihren Griff gelöst hatte. Sie fing augenblicklich an zu zweifeln. Konnte das sein? Würde Wendt, um seine Karriere voranzutreiben, Hell ins offene Messer laufen lassen? Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend beeilte sie sich, ihrem Kollegen zu folgen. War Wendt wirklich dazu in der Lage? Bis zur Eingangstür der Klinik hatte sie keine Antwort auf diese Frage gefunden.

*

„Wie konnte es dazu kommen? Warum hat man die Insassen nicht besser unter Kontrolle?“, fragte Wendt gereizt. Der Angesprochene wich seinem direkten Blick aus, fuhr sich nervös mit der Hand über das Kinn.

„Wir können es uns auch nicht erklären, wie Baum es geschafft hat, die Klinik zu verlassen“, antwortete er schließlich. Er spürte die Ungeduld der beiden Ermittler, die ihm gegenübersaßen. Doktor Ralph Ohnesorge machte seinem Name alle Ehre. Er schien sich nicht darüber im Klaren zu sein, dass diese Flucht sich nicht gut in seiner Akte machen würde. Seine Aufgabe war unter anderem, die Insassen in einem Zustand zu halten, die sie für die anderen Klinikinsassen und die Angestellten ungefährlich machte. Dazu gehört auch eine entsprechende Medikation. Viele der gefährlichen Verbrecher, die dort einsaßen, wurden mit Medikamenten ruhig gestellt. Was nicht heißt, dass man sie komplett weggebeamt hätte, nein, sie waren nur soweit ruhiggestellt, dass sie für keinen zur Gefahr werden konnten.

„Hat er seine Medikamente bekommen? Ich meine die, die er für die Narkolepsie verabreicht bekommt“, fragte Meinhold.

„Ja, die hat er erhalten“, antwortete Ohnesorge verhalten, in dem Wissen, dass Meinhold sofort nachhaken würde. So kam es auch.

„Und? Hat er die Medikamente auch am Fluchttag erhalten und wenn ja, welche?“

„Er hat sein Modafinil morgens erhalten, so wie jeden Tag“, sagte Ohnesorge kleinlaut.

„Wir hatten angefragt, ob sie Kontingente dieses Medikaments vermissen. Hat Baum dieses Modafinil gestohlen?“, klinkte sich Wendt wieder ein.

Ohnesorge ließ den Blick sinken, dann antwortete er kleinlaut: „Wir vermissen drei Packungen des Medikaments.“

„Drei Packungen? Wie lange kommt er damit aus, wenn er seine normale Dosis erhält?“, hakte Wendt sofort nach.

„Wenn er sich strikt an die Medikation hält, dann circa drei Wochen.“

„Und wenn er überdosiert?“, fragte Meinhold skeptisch.

„Warum sollte er das tun?“

„Weil er auf der Flucht ist und weil er krampfhaft versuchen wird, wach zu bleiben. Er hat einen Plan, den er umsetzen will. Daher …“

„Das kann er nicht tun, das ist gesundheitsgefährdend, wenn er zum Beispiel nur die doppelte Dosis nimmt“, gab Ohnesorge zu bedenken. Wendt zog verächtlich die Augenbrauen hoch. Hatte dieser Arzt überhaupt eine Ahnung, wen er in seiner Klinik behandelte? Er wollte schon loswettern, doch Meinhold blieb sachlich.

„Dieses Risiko muss er eingehen, er kann es nicht riskieren, irgendwo einzuschlafen und deshalb aufzufallen.“

„Das bedeutet, wenn du Recht hast, Christina, dann kann er zwischen einer Woche und zehn Tagen mit den gestohlenen Medikamenten auskommen“, sagte Wendt mit einem Seitenblick zu seiner Kollegin.

„Die empfohlene Tagesdosis beträgt 200 mg bis 400 mg, beginnend mit 200 mg und entsprechend dem klinischen Ansprechen titriert. Modafinil kann, je nach ärztlicher Einschätzung des Patienten und dessen Ansprechen, in zwei geteilten Dosen am Morgen und zu Mittag oder als Einzeldosis am Morgen eingenommen werden“, zitierte Ohnesorge, und es klang, als würde er vom Beipackzettel ablesen.

„Was hat Baum bekommen? Wie viele Pillen?“, fragte Wendt genervt.

„Er hat morgens und abends jeweils zwei Tabletten erhalten, das macht eine Medikation von 400 mg pro Tag.“

„Und wenn er sich mehr von dem Zeug reinhaut, wie lange kommt er dann damit aus, was er geklaut hat? Wir müssen wissen, wann der Kerl sich neuen Stoff besorgen muss, damit er nicht mitten in seinem Racheplan einschläft“, sagte Wendt. „Die drei Packungen beinhalten 60 Tabletten. Wenn er …“, wollte Ohnesorge erläutern, doch Wendt unterbrach ihn. „Damit käme er also 15 Tage aus, wenn er sich die doppelte Dröhnung gibt, nur die Hälfte der Zeit. Wir haben also nach einer Woche eine tickende Zeitbombe hier in Bonn herumlaufen, die jederzeit eine Apotheke oder ein Krankenhaus überfallen kann, um sich neuen Stoff zu besorgen. Na, vielen Dank dafür, Herr Doktor“, versetzte Wendt und der Arzt wollte schon zu einer Widerrede ansetzen, doch dazu kam er nicht. Mit offenem Mund musste er sich die nächste Schelte des Polizisten anhören. „Die Staatsanwaltschaft ist sicher sehr daran interessiert, Ron Baums Flucht aufzuklären. Dazu kommt noch die Möglichkeit, sich in Ihrer Klinik jederzeit frei am Medikamentenschrank zu bedienen. An Ihrer Stelle würde ich schon einmal die Anwälte der Klinik antanzen lassen. Die werden Sie benötigen.“

Meinhold war die Angriffslust ihres Kollegen peinlich. „Jan-Phillip, lass gut sein!“

Doch Wendt war wieder ganz Krieger und undiplomatisch wie eh und je.

„Was? Lass gut sein? Wenn die hier nicht in der Lage sind, ihren Job ordentlich zu machen, dann müssen sie es sich gefallen lassen, das man es ihnen sagt, oder? Wenn einer unschuldigen Seele auch nur ein Haar gekrümmt wird, dann sehen wir uns persönlich wieder, Herr Doktor!“

„Drohen Sie mir? Das wird die Bonner Staatsanwaltschaft sicher auch gerne hören“, zischte Ohnesorge zurück und krallte sich wütend mit den Fingern in die Lehne seines Sessels.

„Hmh, sehen Sie das so, wie Sie es sehen möchten. Fragt sich, was schwerer wiegt, Ihre Inkompetenz oder meine Aufgebrachtheit darüber. Die Antwort darauf dürfen Sie sich selber geben“, sagte er und stand auf. Der Arzt funkelte ihn gefährlich an.

„Ich bin hier fertig, kommst du mit? Mir wird sonst schlecht, wenn ich noch länger diese Luft hier einatme“, rief er und war schon auf dem halben Weg zur Tür. Meinhold sah keine Chance, Wendt zu beruhigen, und, obwohl sie dem Arzt noch gerne ein paar Fragen gestellt hätte, stand auch sie auf. Warf Ohnesorge einen entschuldigenden Blick zu und ging ihrem Kollegen hinterher. Draußen vor der Tür atmete sie gegen ihren eigenen Groll an. Sie hatte gehofft, dass Wendt mit zunehmendem Alter ruhiger bei solchen Vernehmungen geworden wäre. Doch das war ein Trugschluss. Und ihr war bewusst, dass sie jetzt besser kein Streitgespräch mit ihm begann. Doch nach ein paar Metern blieb Wendt stehen, sah sie herausfordernd an. „Jetzt sag auch mal was dazu“, forderte er sie auf. Meinhold zögerte mit einer Antwort. Wendt witterte sofort Kritik, schob die Augenbrauen zusammen. „Was? Denkst du etwa, dass die Weißkittel für den Bockmist, den sie verzapft haben, nicht mal einen Anschiss verdient haben?“

Meinhold schüttelte energisch den Kopf.

„Darum geht es nicht, Jan-Phillip. Wir sind hier, um Informationen über Baum zu erhalten. Wie er sich während der Zeit in dieser Klinik entwickelt hat. Was er mit den Ärzten gesprochen hat, was er den anderen Insassen gegenüber geäußert hat. Das wollten wir wissen und durch deine Unbeherrschtheit haben wir jetzt keinen Schimmer, ob der einem der anderen Patienten gegenüber seine Pläne offenbart hat. Das hast du echt gut hinbekommen!“, antwortete sie und ließ ihn stehen.

„Geh doch zurück zu deinem Doktor und plaudere mit ihm über dein Psychogelaber“, rief Wendt ihr nach. Meinhold drehte sich auf dem Absatz um, kam auf ihn zu. Mit einem gefährlichen Funkeln in ihren bernsteinfarbenen Augen erwiderte sie: „Weißt du was, das werde ich auch tun. Und du wartest schön beim Auto auf mich. Und wehe dir, du bist nachher verschwunden!“, sagte sie bestimmt und tippte dem verwunderten Wendt mit zwei Fingern auf die Brust.

*

Reichlich zerknirscht fand sie eine Stunde später den Kollegen neben dem Dienstwagen vor.

„Tut mir echt leid, das war nicht so gemeint“, sagte Wendt und blinzelte zu ihr herüber. Die Regenwolken hatten sich wieder komplett verzogen, der Himmel war strahlend blau.

„Was denn? Das Psychogelaber oder deine unverschämte Art mit dem Arzt zu reden?“

„Beides. Machst du jetzt ein großes Fass auf deswegen?“

Meinhold drückte auf die Funkfernbedienung und die Türen des BMW öffneten sich mit einem Klick. Sie stieg ein und wartete, bis Wendt neben ihr saß.

„Weißt du was? Ich habe mich sehr darauf gefreut, wieder ins Team zurückzukehren. Ich habe euch alle vermisst. Aber jetzt frage ich mich allerdings, ob ich da einer romantischen Verklärung aufgesessen bin. Du benimmst dich wie Rambo und Klauk spielt mit einem Dalmatiner, anstatt eine ordentliche Befragung eines Zeugen abzuliefern. Was ist mit euch los? Fehlt euch der Chef oder habt ihr alle einen Koller?“

Meinhold startete den Motor und wartete gar nicht lange auf eine Antwort. Wendt starrte eine Weile vor sich hin.

„Hell fehlt mir, keine Frage, und was mit Klauk los ist, weiß ich nicht. Es ist mir ebenfalls aufgefallen, dass er teilweise merkwürdig abwesend wirkt. Aber das ist jetzt nicht so wichtig, was hat der Arzt gesagt?“

Meinhold saß da, ihm das Gesicht zugewandt und musterte ihn.

„Ich habe kurz mit einem der Insassen sprechen dürfen. Er hat mir interessante Dinge berichtet. Er beobachtete, wie sich Ron Baum mit einem der Leute aus der Wäscherei angefreundet hat. Außerdem sagt er, dass Baum ständig Selbstgespräche geführt hat. Hat Drohungen vor sich hingemurmelt, sich von den anderen Inhaftierten abgeschottet, alleine gegessen und auch nie an den Fernsehabenden teilgenommen. Daher kam es ihm umso merkwürdiger vor, wie er sich an den Angestellten aus der Wäscherei herangeworfen hat.“

„Wie glaubwürdig ist dieser Zeuge?“, fragte Wendt interessiert.

„Ziemlich. Er ist einer der wenigen, die nicht ständig unter Medikamenten stehen. Es wäre sicher auch für dich interessant geworden, Jan-Phillip. Er hat mich sogar nach dir gefragt.“

„Was? Er kennt mich? Wer ist dein Zeuge?“ Die Überraschung stand Wendt ins Gesicht geschrieben.

„Einer, an den du dich sicher nicht so gerne erinnerst.“

„Sag schon!“

„Ingo Adelberg.“

Wendt erstarrte. Meinhold meinte, einen Film in seinen Augen ablaufen zu sehen. Wut. Angst. Trauer.

„Was? Der sitzt hier ein?“, sagte er schließlich nach einem langen Seufzer. Ingo Adelberg hatte das Team über mehrere Tage an der Nase herumgeführt, ihnen ständig neue Hinweise und GPS-Koordinaten übermittelt. Trotzdem hatten sie seinen Rachefeldzug nicht stoppen können. Für Wendt war es besonders emotional, weil er an einem der Tatorte eine der tödlichen Fallen des Mannes ausgelöst hatte. Lange hatte er damit zu kämpfen, bis er schließlich zu der Erkenntnis kam, dass niemand den Tod des Mannes hätte verhindern können.

Wendt biss sich auf die Unterlippe. „Den Kerl hatte ich schon fast vergessen“, log er.

„Tatsächlich?“

Wendt sah aus dem Seitenfenster. „Nein, nicht wirklich. Aber das er jetzt hier als Zeuge auftaucht, ist ein Wink des Schicksals. Es sagt mir, dass wir höllisch aufpassen müssen.“ Mit einem Ausdruck in den Augen, den Meinhold noch nie bei ihrem Kollegen gesehen hatte, blickte er sie an.

„Warst du damals eigentlich beim Polizeipsychologen?“

Wendt schüttelte langsam den Kopf. Sie legte ihm sanft die Hand auf das Knie. Dann suchten sie sich einen Weg aus dem Ort.

*

Cala Llombards

„Das verstehe ich“, sagte Carola Pütz und schenkte Wein nach. Oliver Hell und Franziska saßen mit ihrer Freundin Carola auf deren Dachterrasse an der Cala Llombards. „Aber du kannst dir nie sicher sein, dass du das Richtige tust. Das erfährt man immer erst im Nachgang.“ Ihre Augen strahlten die menschliche Wärme aus, die Hell an der ehemaligen plastischen Forensikerin so mochte. Sein Blick fiel auf Marie, Carolas Hund, der eingeringelt zu ihren Füßen lag und leise schnarchte.

„Du hast es gut Marie“, sagte Hell leise. Er starrte in den Abendhimmel und versuchte erneut, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Als er eingesehen hatte, dass er an diesem Abend keine Antwort auf diese Frage finden würde, nahm er sein Glas vom Tisch und prostete den beiden Frauen zu.

„Wenn du dich gut fühlst, dann fliege zurück. Aber wenn dein Gefühl dir sagt, dass du besser hier aufgehoben bist, musst du bleiben. Es hilft deinen Leuten in Bonn überhaupt nichts, wenn sie einen Oliver Hell mit gebremstem Schaum antreffen. Entweder bist du wieder diensttauglich, oder aber du brauchst noch eine Weile. Das kannst aber nur du selbst herausfinden“, sagte Carola Pütz langsam.

Hell murmelte eine Bemerkung, die keiner verstand. Doch dann räusperte er sich und formulierte ein Geständnis.

„Ich hätte nach Dänemark schon eine Auszeit nehmen müssen. Ich schleppe seit der Entführung diesen emotionalen Ballast mit mir herum. Aber ich war ja der festen Überzeugung, dass es mir wieder gut geht“, sagte Hell und ergriff Franziskas Hand. Sie streichelte sie sanft. „Wie gut, dass du es endlich zugibst, Oliver.“

„Ja, man kann sich eine ganze Weile selber betrügen. Aber irgendwann geht es nicht mehr. Ich habe die letzten Monate lange darüber nachdenken können – man kann hier auf der Insel sehr gut zu sich finden.“

„Das kann ich nur bestätigen. Wenn man sich von dem ganzen Urlaubstrubel fernhält, ist Mallorca der perfekte Platz zum Entschleunigen“, bestätigte Carola Pütz.

Oliver Hell strich sich über die Narbe auf der Stirn, die ihn immer an die in Todesangst verbrachten Stunden erinnerte, als er sich in der Gewalt von Mashad Rahman Agayer befunden hatte. Dort hatte ihn einer der Männer aus der Bande beinahe totgeschlagen. Hell hatte nur überlebt, weil Lea Rosin ihn aus der Gewalt der Gangsterbande befreite. Dabei brachte sie sich selbst in Lebensgefahr. Das Schicksal hatte zwischen ihm und der jungen Kommissarin ein unsichtbares Band geknüpft.

„Wendt hat sich heute bei mir gemeldet und mir berichtet, dass es eine neue Polizeipräsidentin in Bonn gibt. Die Dame hat sich schon mit Brigitta Hansen angelegt. Unter anderem stört sie ganz gewaltig, dass ich hier auf der Insel hocke und weiter meine vollen Bezüge erhalte. Sie möchte, dass ich mich erneut von der Polizeipsychologin untersuchen lasse. Entweder werde ich dann in den vorzeitigen Ruhestand geschickt oder ich bin wieder diensttauglich“, berichtete Hell bedrückt und hob den Kopf. Franziska vermutete, dass er gegen die Tränen ankämpfte, drückte seine Hand.

„Also ist deine Zeit hier bald abgelaufen?“, fragte Carola.

„Ja, die Tatsache, dass Ron Baum in Bonn herumläuft und mein Team alleine mit ihm fertig werden muss, ist ja schon belastend genug. Jetzt kommt auch noch diese neue Tusse dazu und macht Stress. Als wäre das alles nicht schon genug.“

Dann schwieg er eine Weile.

Carola stieß ein kleines Lachen aus. „Ist doch alles ganz einfach. Du musst diese Tusse …“, dabei stieß sie ein weiteres Lachen aus, „wenn man sie so nennen darf, nur davon überzeugen, dass deine innere und äußere Landschaft wieder in Einklang sind. Dann ist wieder alles in Ordnung.“

„Auf die inneren und äußeren Landschaften“, antwortete Hell und hob spontan sein Glas. „Heute werden wir keine Lösung mehr finden, aber vielleicht doch, wenn wir noch mehr von diesem köstlichen Wein trinken.“

Carola lachte herzlich. „Der Weinkeller ist gut gefüllt. Und die Nacht kann lang werden, wenn ihr beiden wollt!“

*

Bonn

Das Zimmer war in gespenstisches Dunkel gehüllt. Auf der Kommode, auf dem das Foto ihres Vaters Ivan Mladic stand, brannten jetzt unzählige Kerzen. Zu Ehren von Janko. Daneben stand ein Foto des jungen Mannes. Davor hockte Neven und betete. Für seinen toten Bruder. Für die Rache. Hinter ihm im Halbdunkel saßen seine Schwester und seine Schwägerin auf dem Sofa. Ihre verheulten Gesichter waren geschwollen, ihre Augen sahen ungefähr dreimal so verheult aus wie am frühen Mittag, als er sie zuletzt gesehen hatte. Neven war vor ein paar Minuten erst wieder nachhause gekommen. Seine Schwester wollte von ihm wissen, wo er gewesen war. Neven schwieg.

„Wir haben den ganzen Nachmittag auf dich gewartet, Neven. Wo warst du? Wir müssen alles für Jankos Beerdigung regeln und du bist nicht zu erreichen. Was soll das?“, rief sie ihm zu, als er sich nach dem Gebet bekreuzigte.

„Wir hatten etwas zu erledigen. Das duldete keinen Aufschub, Schwester.“

„Etwas zu erledigen? Was gibt es denn momentan Wichtigeres als Jankos Beerdigung? Ich verstehe dich nicht. Du lässt uns hier alleine, drüben liegt Mutter und fragt nach Janko. Ich weiß nicht, was ich ihr noch sagen soll“, antwortete sie beinahe flehend.

„Wir müssen ihr bald die Wahrheit sagen. Spätestens, wenn wir unseren Bruder zu Grabe tragen, wird sie es erfahren“, stieß Neven bitter hervor.

„Du weißt, dass Mutter das nicht überlebt.“

„Und wenn wir es ihr heute gesagt hätten, was denkst du, was dann passiert wäre? Glaubst du, es wäre besser, wenn wir zwei Beerdigungen auf einmal hinter uns bringen müssten!“

Jasna Mladic atmete gegen ihre wieder aufsteigenden Tränen an.

„Neven, du bist so herzlos! Wie kannst du das nur sagen? Was ist los mit dir?“

Ihr Bruder trat an das Sofa heran, registrierte die Tränen in den Augen der beiden Frauen. Doch das schien ihm nichts auszumachen. „Du fragst mich allen Ernstes, was mit mir los ist? Janko ist auch … mein Bruder … gewesen“, sagte er stockend, jetzt selbst den Tränen nah, und als er sich wieder gefangen hatte, fügte er an: „Jetzt liegt er in einer kalten Röhre in der Rechtsmedizin und sein Mörder läuft frei herum. Das ist es, was mir den ganzen Tag im Kopf herumgegangen ist. Aber dafür wird es bald eine Lösung geben“, versetzte Neven Mladic und die beiden Frauen bemerkten ein merkwürdig zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht.

„Neven? Was willst du damit sagen? Was habt ihr vor? Wo ist Stipe? Sag es, Bruder, sag es! Bitte!“

„Das kann ich dir nicht sagen, ihr werdet es erfahren.“ Neven presste seine Lippen zusammen.

„Neven, bitte!“

„Ich kann nicht darüber sprechen.“

„Was plant ihr? Wollt ihr einen Albaner töten? Neven! Das könnt ihr doch nicht tun. Ihr wisst nicht, wer Janko …“, presste sie noch hervor, dann brach sie vollends in Tränen aus. Ihre Willenskraft schien gebrochen. Neven war hin und hergerissen. Ein Teil von ihm wollte seine Schwester in die Arme nehmen und sie trösten. So wie damals, als der Vater gestorben war. Doch er konnte es nicht. Sie hätte ihn ohne Zweifel dazu gebracht, zu verraten, was er wusste, und das konnte er auf keinen Fall riskieren.

„Red keinen Unsinn, Jasna. Ich muss noch einmal weg. Wartet nicht auf mich und gib Mutter einen Kuss von mir“, sagte er mit sanftem Ton und verließ das Wohnzimmer.

*

Als sie ein Geräusch im Treppenhaus hörte, war Jasna bereits an der Tür, bevor ihr Bruder Neven den Schlüssel in das Schloss gesteckt hatte. Sie hatte kurz zuvor auf die Uhr gesehen, es war fast elf Uhr nachts.

„Wo kommst du jetzt her?“, fragte sie besorgt, aber gleichzeitig in einem vorwurfsvollen Ton; alles noch bevor sie erkannte, in welchem Zustand ihr Bruder sich befand. Sonst immer adrett gekleidet und frisiert, stand er mit blutverschmiertem und zerrissenem T-Shirt vor ihr, das Haar hing ihm wirr in die Stirn. Im gelblichen Licht der Treppenhausbeleuchtung konnte sie nicht alle Details erkennen. Auf der Wange hatte er mehrere blutige Striemen, die aussahen, als hätte er es mit einer Raubkatze zu tun gehabt. Sein Blick schien sie gar nicht wahrzunehmen.

„Wo warst du, Neven? Was ist mit dir passiert?“, flüsterte sie erschrocken. Neven Mladic schob seine Schwester mit sanfter Gewalt in den Flur. Jasna tastete nach dem Lichtschalter und schrie vor Schreck auf, als sie die Wunden im Gesicht ihres Bruders im Hellen sah.

„Mein Gott“, stammelte sie. Neven schien erst jetzt wie aus einem bösen Traum zu erwachen, starrte sie verzweifelt an. „Jasna, es geht mir gut. Wir hatten etwas zu erledigen“, antwortete er langsam. Wollte sich an ihr vorbeidrängen. Sie hielt ihn an der Schulter zurück, sah ihm ins Gesicht.

„Neven, hast du etwas Dummes getan? Woher stammen diese Kratzer? Mein Gott, ich muss dir diese Wunden säubern, sonst entzündet sich das“, sagte sie und umfasste mit der Hand das Kinn ihres Bruders, drehte sein Gesicht so ins Licht der Lampe, dass sie die Blessuren besser sehen konnte. Sie öffnete mit der linken Hand die Tür zum großzügigen Badezimmer und drängte Neven hinein, der aber keine nennenswerte Gegenwehr leistete. Die Lampen über dem großen Badezimmerspiegel verdeutlichten bald das ganze Ausmaß der Verletzungen. Sie schob ihren Bruder wortlos weiter, ließ ihn auf einem der Rattan-Stühle Platznehmen, zuvor streifte er noch seine schwarze Lederjacke ab und ließ sie achtlos auf den Fußboden fallen. Jasna beeilte sich, aus dem Arzneimittelschrank die passenden Hilfsmittel zu suchen und baute sie neben Neven auf dem kleinen Tischchen auf. Sie träufelte ein antiseptisches Mittel auf eine Kompresse und begann Nevens Gesicht damit zu säubern. Der junge Mann zuckte zusammen und unterdrückte nur mühsam einen Aufschrei. „Pass doch auf“, beschwerte er sich und zog die Luft ein.

„Spiel jetzt bloß nicht die Memme, wer sich prügeln kann, der verträgt auch das bisschen hier!“, konterte Jasna, die den ersten Schreck über den Zustand ihres Bruders verwunden hatte. Sie hatte ebenfalls die blutigen Fingerknöchel ihres Bruders entdeckt und eins und eins zusammengezählt. Ihr Bruder musste in eine üble Schlägerei geraten sein. Mit geübten Bewegungen säuberte sie Nevens Gesicht von dem Blut.

„Zieh dein T-Shirt aus, das kommt direkt in den Müll“, ordnete sie an und Neven streifte sich artig das Shirt über den Kopf, ließ es neben sich auf den Boden gleiten.

„Ich frage dich jetzt ein letztes Mal: Was ist passiert und woher hast du diese Verletzungen?“, fragte Jasna und wusch jetzt das Blut von Nevens Hals. Ihre Stimme klang jetzt schon fest und nicht mehr so weinerlich wie zuvor. Sie hatte ihre Selbstsicherheit wiedergefunden. Jetzt wollte Jasna wissen, warum ihr Bruder um diese Zeit und in diesem Zustand nachhause kam. Neven sah sie lange durchdringend an, bemühte sich auch nicht mehr zu zucken, als sie ein weiteres Mal die blutende Schramme säuberte. Dann antwortete er langsam. „Es ist besser, wenn du nicht weißt, wo ich gewesen bin. Dann kommst du auch nicht in die Verlegenheit, lügen zu müssen, wenn man dich fragt.“ Neven stand auf und schob Jasna beiseite. Er drehte sich noch zu ihr und lächelte gequält. „Danke fürs Verarzten. Ich lege mich jetzt hin und versuche zu schlafen“, sagte er und verließ das Badezimmer. Zurück blieb Jasna mit der blutigen Kompresse in der Hand. Langsam traten ihr Tränen in die Augen. Sie ließ die Kompresse in den Mülleimer fallen und begrub ihr Gesicht in den Händen. Ihre Vorstellungskraft reichte völlig aus, die Antwort zu finden, die Neven ihr verweigert hatte. Neven hatte etwas Schlimmes getan oder er war zumindest daran beteiligt. Immerhin hatte er den Plural ‚wir‘ benutzt. Jasna weinte jetzt bitterlich. Hatte ihr Bruder Rache für den Mord an Janko genommen? Ihr sanfter Neven, den sie zuvor so noch nie erlebt hatte. War er dazu überhaupt fähig? Die Antwort, die sie sich auf diese Frage gab, machte sie nur noch verzweifelter.

*

Oliver Hell - Todesklang

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