Читать книгу Oliver Hell - Stirb, mein Kind - Michael Wagner J. - Страница 4
Drei Jahre später. Freitag, 15.07.2016
ОглавлениеBonn, Hells Garten
Niemand trachtete in diesen Tagen jemand anderen nach dem Leben. Man hätte von einem mörderischen Sommerloch sprechen können. Das Fachkommissariat für Tötungsdelikte hatte keine aktuellen Fälle zu bearbeiten, daher hatte Oberstaatsanwältin Brigitta Hansen darauf gedrängt, dass Hells Team seinen alten Urlaub nahm. Ihm selber standen noch zwei Wochen Urlaub aus dem Jahr 2015 zu. Ein paar Tage davon feierte er gerade ab. Hell lag auf der Liege auf der Terrasse, im Schatten eines Sonnenschirmes. Sein Hund Bond lag unter einem Busch und döste. Der belgische Schäferhund war vor mehr als einem Jahr bei ihm eingezogen. Als ehemaliger Polizeihund auf vorgezogener Rente nahm sich der Kriminalhauptkommissar des Tieres an und war glücklich, diese Entscheidung getroffen zu haben. Hinter der Sonnenbrille zog der Bonner Kriminalbeamte die Augenbrauen zusammen. Er blätterte in einem Magazin und dessen Inhalte waren in diesem Sommer wahrlich kein Genuss. Die Briten hatten sich vor kurzer Zeit entschlossen, die europäische Union zu verlassen. Dabei standen sich die Gegner und Befürworter so unversöhnlich gegenüber, dass sogar eine junge britische Labour-Abgeordnete ermordet wurde. Der offenbar psychisch gestörte 52-jährige Attentäter, rief bei der Tat „Britain first!“ Nicht nur die Briten traten für den Austritt aus der EU ein, auch einige der Balkan-Staaten dachten mehr oder weniger laut nach. Nachdem seit dem September 2015 die Grenzen der europäischen Staaten von Tausenden von Flüchtlingen aus Syrien und anderen Staaten bestürmt wurden, stand die Union vor einer Zerreißprobe. Innerhalb von kurzer Zeit hatte Deutschland fast eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Die Kanzlerin sah sich mit ihrem Kurs einem harten Gegenwind gegenüber. Die Protest-Partei, die noch vor kurzer Zeit als Anti-Euro-Partei Schlagzeilen gemacht hatte, heftete sich jetzt dieses Thema auf die Fahnen und mutierte zur Anti-Flüchtlings-Partei. Alles, was die Koalition aus SPD und CDU in dieser äußerst schwierigen Zeit auf den Weg brachte, die Opposition schrie auf. Hätte man für jeden dieser Flüchtlinge sofort einen Arbeitsplatz gefunden, die Opposition hätte erneut geschrien und gefordert, dass man Flüchtlinge nicht bevorzugen dürfe. Man konnte als Regierungspolitiker nur einen miesen Job machen. Hell hatte sich seine Meinung über all das bereits gebildet. Er sah sich auf der Seite der Kanzlerin, was er selber nie gedacht hätte, da er diese Frau nicht gewählt hatte.
Er blätterte weiter bis zum Leitartikel des Focus-Magazins. Die Frage war wirklich weltbewegend: Was und wie sollte man denn essen? Vegan, vegetarisch oder doch lieber alt hergebracht? Gottseidank blieb ihm die Antwort auf diese Frage erspart, denn in diesem Moment kam Bond vorbei und legte ihm die Pfote auf das Bein. Er legte das Magazin auf den Boden neben der Liege. „Du hast es gut, Bond. Brauchst nicht wählen, hast immer etwas zu fressen im Napf und auch sonst geht es dir doch hervorragend!“
Bond bellte, als hätte er ihn verstanden. Hell füllte etwas Trockenfutter in den Napf und hörte in diesem Moment erfreut, dass Franziska die Haustür aufschloss. Vor zwei Monaten hatten sie ein gemeinsames Experiment gestartet – seine Lebensgefährtin lebte seitdem bei ihm in Bonn. Ihre Wohnung in Frankfurt hatte sie noch nicht aufgegeben, doch sollte das Zusammenleben weiterhin so aufregend sein, würde sie diesen Schritt gehen. Ohne Wehmut, wie sie ihm mitgeteilt hatte.
„Es war kein Anschlag des IS“, rief Franziska schon aus der Diele, „das steht definitiv fest!“
Hells gute Laune und seine Mundwinkel sanken schlagartig. Bei einem Anschlag in Nizza am Vorabend war ein Attentäter auf der Promenade des Anglais mit einem LKW durch eine Menschenmenge gefahren. Mindestens achtzig Personen wurden dabei getötet und mehr als vierhundert zum Teil schwer verletzt. Der Attentäter wurde von Sicherheitskräften erschossen. Die französische Polizei ging von einem Anschlag des Islamischen Staates aus, doch hatte sich die Terrororganisation noch nicht dazu bekannt.
Hell trat in den Flur. „Wer sagt das?“
„Der IS hat noch keine Bekennerschreiben im Internet veröffentlicht. Der Amaq, das Sprachrohr für die Propaganda der Terrormiliz Islamischer Staat, schweigt.“
„Woher weißt du das?“
„Aus dem Radio. Wo lebst du denn heute?“ Sie klang fast tadelnd.
„Unter dem Sonnenschirm auf der Terrasse!“
„Und du hast kein Radio?“
„Bei einem Kaffee kannst du mich bestimmt auf den neuesten Stand bringen, Schatz“, sagte Hell und gab Franziska einen Kuss auf die Wange. Sie runzelte die Stirn, als könne sie sein scheinbares Desinteresse nicht billigen. Dabei war Hell alles andere als desinteressiert. Er hatte sogar auf dem Präsidium angerufen, um sich dort nach den neuesten Erkenntnissen zu erkundigen. Doch die Kollegen dort nannten ihm ebenfalls nur das, was in der Presse bestätigt wurde. Er schob sich die Sonnenbrille auf die Nase und ging zurück in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine ein.
„Was sagte die Meldung im Radio?“, fragte er zehn Minuten später mit einem hohlen Gefühl in der Magengegend, nippte an seinem Latte.
„Dass der IS keine Verantwortung für den Anschlag übernimmt. Sie gehen davon aus, dass es sich um einen einsamen Wolf handelt, der der Terrororganisation die Treue geschworen hat.“
„Und wo ist die Sensation?“
„Hör mal, da fährt ein Kerl mit einem LKW in eine riesige Gruppe feiernder Menschen und du fragst, wo die Sensation ist? Seit wann bist du denn so elend zynisch, Oliver?“
Hell stellte sein Kaffeeglas auf dem Tisch ab und legte die Sonnenbrille daneben. „Ich bin keinesfalls zynisch, die Franzosen haben ihn geradezu eingeladen, so etwas zu tun. Keine Sperren an dieser Strandpromenade, keine verstärkte Polizeipräsenz und das an einem Nationalfeiertag. Jeder kann sich denken, dass ein solcher Tag zu einem Anschlag einlädt.“
„Es ist nur dort etwas passiert!“, protestierte Franziska vehement.
„Gottseidank! Es wäre nicht auszudenken, wenn die Logistik des IS besser strukturiert wäre. Dann hätten wir nicht nur achtzig Tote, sondern mehr. So wie in Paris, wie im Bataclan.“
Franziska starrte ihn an, als sei er von einem anderen Stern. Mehrere Male stieß sie verächtlich die Luft aus. „Und das nennst du nicht zynisch?“
„Nein, das ist nicht zynisch. Das ist zutreffend und wenn du deine Anteilnahme beiseitelegst, dann wirst du mir recht geben“, sagte er teilnahmslos.
„Ich bin aber stolz auf meine Anteilnahme, Oliver!“
„Und ich bin stolz auf meine nüchterne Sicht der Dinge“, äußerte Hell und zog die Augenbrauen hoch. „Ich sage nicht, dass mir die Toten nicht leid tun, aber es wäre vermeidbar gewesen, dass ein Attentäter mit einem LKW über eine so lange Strecke unbehelligt Menschen überfahren kann. Mit ein paar simplem Betonsperren oder ein paar schwerer LKW, die auf der Straße geparkt waren“, sagte er und trank seinen Latte in einem Zug aus.
„Aber so ist es nicht gewesen.“
„Eben.“
„Bekommt dir die Sonne nicht?“, fragte Franziska provokant.
„Wieso?“
„Weil du im Moment ziemlich unausstehlich bist. Liegt es daran, dass du nichts zu tun hast?“
Hell schürzte die Lippen. „Nein.“
„Gibt es etwas anderes, von dem ich nichts weiß?“
„Ebenfalls nein.“
„Dann ist dir nicht zu helfen“, sagte Franziska und stand auf. Er spürte, dass er eine Erklärung abgeben musste, sonst würde aus diesem Geplänkel ein Streit entstehen. „Vielleicht bin ich so mies drauf, weil so viel passiert“, sagte er und sie hielt in der Bewegung inne. Wartete auf mehr.
„Vielleicht liegt es daran, dass die ganze Welt im Moment aus den Fugen gerät und wir hier einfach tatenlos zusehen müssen, wie es passiert. Das geht mir auf den Geist. Alles, woran ich in den letzten Jahren geglaubt habe, geht den Bach hinunter. Unsere Demokratie, unsere Freiheit. Die EU zerfällt, der Euro steht auf der Kippe, in den Ostblockländern erstarkt der Nationalismus, ebenfalls in Österreich und Frankreich feiern die Rechten Erfolge. Kannst du mir erklären, was da passiert? Haben die alle nichts kapiert? Brauchen sie einen neuen Krieg? Ist es das, was auf uns zukommt?“
„Ich teile deine Besorgnis, Oliver. Die Melodie hat sich verändert, sie hat mehr Moll-Töne als Dur-Akkorde.“ Sie kam auf ihn zu und er vergrub seinen Kopf in ihrem Schoß. „Aber wir sind noch am Leben, dieses Privileg steht uns noch zu.“
*
Bonn, Innenstadt
„Hallo-ho, Süße, schön dich zu sehen“, flötete Lara Siemons und umarmte ihre Freundin Janine. Sie tat dies so überschwänglich, als hätten sie sich schon Wochen lang nicht gesehen, doch es war erst am Morgen gewesen, in der Schule. Lara küsste ihre Freundin rechts und links auf die Wange, fasste sie bei den Schultern.
„Komm, lass uns sofort ins TK-Maxx gehen, ich brauche unbedingt ein neues Oberteil“, sagte Lara und zog ihre Freundin schon über den Münsterplatz in Richtung des Kaufhauses davon. Neben dem Reiterstandbild hatte sich eine Gruppe Jugendlicher versammelt. Janine erkannte sofort einige ihrer Klassenkameraden. „Och, nein, diese Spakkos und Gehirnamputierten brauche ich nicht auch noch nachmittags“, fluchte Janine. Sie wechselte auf die andere Seite, hakte sich bei ihrer Freundin ein. Doch zu spät. Einer der Jungs hatte sie bereits bemerkt, schlug seinem Freund auf die Schulter. „Wenn das nicht unsere liebe kleine Janine ist. Sieh mal, sollte sie nicht lieber daheim sitzen und Englisch pauken“, tönte er und trat ihnen breitbeinig in den Weg. Der Freund drehte sich ebenfalls herum und ließ ein breites Grinsen auf seinem Gesicht erscheinen. „Stimmt, die dürfte nicht mehr auf die Straße. Frau Oberstein war not amused über ihre pronounciation today!“, stimmte er seinem Kumpel zu.
„Oh, nein, die Vollpfosten-Armee“, zickte Janine und zog genervt die Augenbrauen hoch“, „komm schnell weiter, die Doofheit dieser Kerlchen steckt an. Weißt du, Idioten-Viren verbreiten sich auch ohne Körperkontakt!“
Der Junge, der sie entdeckte hatte, verzog verärgert das Gesicht. „Zieh Leine, Scha-nine! Deine scharfe Freundin kannst du aber gerne hierlassen.“
Lara verlangsamte ihren Schritt, zog Janine gegen deren Willen auf den Jungen zu. „Scharf, ja, ich bin scharf. Aber im Gegenteil zu dir stehe ich auf Männer!“
Er fasste sich an den Schritt und grinste.
„Hör mal, solche Typen wie du kotzen mich an. Geh und verschimmle hinter deinem Pubertätsgemüse. Soll das etwa ein Bart sein, das du da im Gesicht trägst? Lächerlich!“ Lara lachte laut und gekünstelt auf. Sie war in ihrem Freundeskreis für ihre spitze Zunge berüchtigt.
„Pass ma auf, Schlampe!“, protestierte der Junge, kam einen Schritt auf sie zu. Blitzschnell langte sie in ihre Tasche und holte ihr Pfefferspray hervor. „Komm, Sackratte! Trau dich!“, drohte sie ihm.
„Hey, wie kommst du denn daher?“, fragte er.
„Zieh Leine, du Vollhorst! Ich vergesse mich sonst!“, rief sie und warf keck den Kopf in den Nacken. Der Junge starrte fassungslos auf das Spray in ihrer Hand. Um nicht als uncool zu gelten, verzog er nur arrogant das Gesicht. In Wahrheit hatte er mächtig Muffe vor einer Portion Reizgas, doch das sollten seine Kumpels nicht bemerken.
„Mach mal keine krassen Aktionen, Mädchen! Du hast sie doch nicht alle!“, rief er ihr zu und verbarg seine Furcht hinter einer unflätigen Handbewegung. Janine zog Lara am Arm, sagte beinahe beschwörend: „Komm Lara, lass sie stehen. Die haben es nicht besser verdient!“ Lara ließ das Spray zurück in ihre Tasche gleiten und lächelte mild. „Hast recht, komm lass uns shoppen gehen. Das würde euch auch mal gut stehen, eure Klamotten sind sowas von out, ihr Looser!“, gab sie den Jungs noch als Ratschlag mit. Dann hängte sie sich bei ihrer Freundin ein und nach ein paar Metern hatte sie die Situation schon vergessen. „Ich habe gestern dort ein D&G-Shirt gesehen. Hoffentlich ist das noch da! Und wenn nicht, dann kratze ich der Schlampe die Augen aus, die es gekauft hat!“, flötete sie. Janine stimmte sofort in die affektierte Fröhlichkeit ihrer besten Freundin ein, obwohl sie es manchmal nicht nachvollziehen konnte, wie schnell Lara umschalten konnte. Von total sauer auf hyperfreundlich. Oder zurück. Aber so war sie eben. Kapriziös. Ein wenig so, wie die Models, die sie so verehrte.
Neben der Filiale der Postbank am Münsterplatz, die in unmittelbarer Nähe zu dem Eingang von TK-Maxx lag, stand ein Mann mit einer Kamera. Er betrachtete die Fotos, die er in den letzten Minuten geschossen hatte. Der Fotograf betätigte das Wählrad und blieb bei einem Bild hängen, das ihn besonders faszinierte.
Blaue Augen, braunes Haar. Schmales Gesicht und volle Lippen. Er zoomte auf die Augen, atmete einmal tief durch und packte mit zitternden Fingern die Kamera in seine Umhängetasche. Kurz drauf betrat er den Eingang zu TK-Maxx und ließ betont unauffällig seinen Blick schweifen.
*
Bonn
Das Schweigen währte sehr lange. Der Fahrer des blauen Seat Ibiza starrte leer vor sich hin. Ebenso sein bärtiger Kompagnon auf dem Beifahrersitz.
„Fahrzeugpapiere und Führerschein!“, forderte der junge Polizeibeamte ihn erneut auf. Wahrscheinlich hatte diese wiederholte Aufforderung des Polizisten die kleinen grauen Zellen des Mannes erst jetzt in Schwung versetzt, denn plötzlich stieß er einen schrillen Fluch aus und gab Gas. Der blaue Kleinwagen schoss nach vorne, direkt auf den zweiten Beamten zu, der sich gerade das Kennzeichen gemerkt hatte und auf dem Weg zum Einsatzwagen war. Halterabfrage. Business as usual. Mit einem beherzten Sprung entging er der Kühlerhaube des Seat und landete dennoch unsanft hinter seinem VW-Passat. Der Seat rauschte davon.
„Heilige Scheiße, was ist denn in die gefahren?“, fragte er noch auf dem Boden liegend seinen jungen Kollegen. Der streckte ihm die Hand entgegen.
„Los komm! Diese beiden Ärsche schnappen wir uns. Kannst sagen was du willst. Fahrer mit Bart und offensichtlichem Migrationshintergrund sind mir suspekt. Sehr suspekt sogar, und seit der Silvesternacht in Köln noch viel suspekter als jemals zuvor“, rief der junge Polizist. Sein Kollege brummte eine Antwort, wuchtete sich hinter das Lenkrad des Einsatzfahrzeuges und hörte zu, wie sein junger Kollege eine Eisatzmeldung absetzte: „Luna 17 für Zentrale. Verfolgen ein blaues KFZ Marke Seat Ibiza Fahrtrichtung Medinghoven. Kennzeichen SU-RZ 257. Standort Bonn B56 Rochusstraße kurz vor der Straßenmeisterei. Erbitten Unterstützung.“ Mit Blaulicht und Martinshorn rasten die beiden Polizeibeamten los und nahmen die Verfolgung auf.
*
Bonn, Innenstadt
Laras schriller Entzückensschrei hallte durch die obere Etage des TK-Maxx. Janine sah sich nach den anderen Kundinnen um, die über ihr Verhalten bereits die Nase rümpften. „Geht doch auch leiser, Lara“, riet sie ihrer Freundin.
„Voll das Zalando-Feeling, das geht nicht leise. Die Tussen sollen sich um ihren eigenen Kram scheren“, rief sie und steckte einer Frau, die neben ihr im Gang stand, die Zunge raus. Diese Frau schüttelte den Kopf, zischte eine Beleidigung und ging einen Gang weiter.
„So ist es brav, du olle Schrulle!“, rief ihr Lara noch halblaut hinterher. Dann hielt sie sich erneut das D&G-Shirt vor die Brust und hüpfte vor Freude wie eine Dreijährige auf und ab. „Sehe ich damit nicht aus wie Milly? Sag! Sieht doch aus wie Milly auf ihrem Instagram-Account!“
Sie legte das Shirt spontan auf der Kleiderstange ab und zog sich ihr T-Shirt aus. Noch bevor ihre Freundin etwas sagen konnte, warf sie ihr das getragene Kleidungsstück zu und streifte sich das teure Shirt über.
Gottseidank trägt sie wenigstens einen BH, dachte Janine. Sonst hätte es sicher keine Minute gedauert, bis jemand kam und sie vor die Tür setzte. „Du hättest damit schon in die Umkleide gehen können“, tadelte sie halbherzig ihre Freundin.
„Spießerin!“
„Na, wie steht es mir? Sag jetzt bloß nichts Falsches, Janine.“ Sie blitzte ihre beste Freundin an. Natürlich stand ihr das Shirt hervorragend. So schlank und trotzdem weiblich ihre Figur mit fünfzehn schon war. Wo sie selbst doch hier und da etwas an ihrem Körper auszusetzen hatte. „Na?“
„Siehst toll aus, wirklich …“, sagte sie, doch den Rest des Satzes verschluckte sie, denn hinter Lara stand plötzlich ein Mann mit einer Lederjacke. „Vorsicht!“, raunte sie Lara noch zu. Die fuhr herum und erstarrte.
„Ihr braucht keine Angst zu haben“, sagte der Mann mit der Lederjacke und setzte ein gewinnendes Lächeln auf, „Ich bin nicht vom Haus.“ Er nahm die Sonnenbrille ab und seine hellblauen Augen verfingen sich in Laras Antlitz.
„Hast du eben Milly Simmonds gemeint?“, fragte er mit einer sonoren Stimme, die zu einem Mann passte, der selbstbewusst durchs Leben schritt.
„Was … wann?“, stotterte Lara mit offenem Mund. Sie erhielt ein mildes Lächeln seinerseits.
„Du fragtest sie: Sehe ich damit nicht aus wie Milly? Und ich denke, die korrekte Antwort lautet: Ja, du siehst aus wie Milly Simmonds. Ich muss es wissen, ich habe sie noch vor drei Wochen in England fotografiert.“
Der Mann mit der Lederjacke und den stahlblauen Augen wartete auf eine Reaktion.
Lara Siemons riss die Augen weit auf. „Sie haben was? Sie kennen Milly? Wie ist sie? Ist ihr Hund wirklich so niedlich?“, bombardierte Lara ihn mit Fragen.
Er strich sich betont langsam durch das Haar, suchte den Blick von Janine und saugte sich daran fest. Dann wechselte er wieder zu Lara.
„Wenn ihr beiden Zeit habt, dann lade ich euch auf einen Kaffee ein … ihr trinkt doch Kaffee, oder?“, sagte er nonchalant.
„Sicher haben wir Zeit, haben wir doch!“, sagte Lara und warf ihrer Freundin einen bittenden Blick zu.
„Ich muss um halb drei den Bus bekommen, sonst warte ich eine halbe Stunde auf den nächsten“, antwortete sie.
„Okay, dann gehen wir ins Café Pendel und von dort aus kannst du den Bus sehen, wenn er kommt. Du musst doch von dort aus losfahren?“, wollte der Mann wissen.
Janine nickte, aber sie sah nicht wirklich glücklich aus bei dem Gedanken. Eine Befürchtung, die mehr als das war, kam in ihr auf. Woher wusste der Mann, von wo ihr Bus abfuhr?
„Los komm, wir bezahlen das Shirt und dann gehen wir sofort los“, rief Lara aufgeregt, und dann an den Mann gewandt: „Bitte warten Sie auf uns, nicht weg gehen!“
Er hob wie abwehrend beide Hände, ein Lächeln flog über sein Gesicht. „Natürlich warte ich“, sagte er mit Nachdruck. Dann schob er sich die Sonnenbrille wieder vor die Augen, damit er unbeobachtet den beiden Mädchen hinterherschauen konnte. Sein Blick heftete sich auf den Popo von Lara Siemons und ganz automatisch fuhr seine Zunge über die Lippen.
*
Bonn, Präsidium
Staatsanwalt Pavel Retzar lächelte maliziös. „Dann bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als Oliver Hell aus seinem wohlverdienten Urlaub zu holen“, sagte er und konnte ein fieses Grinsen nicht verbergen.
„Wenn Sie das so sehen, dann überlasse ich Ihnen gerne die Aufgabe, Kriminalhauptkommissar Hell persönlich anzurufen!“, antwortete Oberstaatsanwältin Brigitta Hansen ohne mit einer Wimper zu zucken. Retzar schluckte.
„Wenn Sie das so anordnen.“ Er wirkte plötzlich vergrätzt. Hansen trug weiter ihr Pokergesicht. Staatsanwalt Retzar war dagegen gewesen, dem gesamten Team von Oliver Hell Urlaub zu gewähren. Warum auch immer. Und jetzt hätte er es zu gerne gesehen, wenn Brigitta Hansen Hell persönlich aus dem Urlaub ins Präsidium oder besser noch, direkt nach Witterschlick in die alte Kiesgrube bestellt hätte. Er machte eine schnelle Bewegung nach vorne und wollte das Telefon Hansens für den Anruf nutzen. Doch sie legte mit einer unschuldigen Geste ihre Hand auf den Hörer, zog ihre linke Augenbraue hoch.
„Nutzen Sie doch bitte Ihren Apparat, ich muss die Polizeipräsidentin informieren, dass das Sommerloch beendet ist und wir eine weibliche Leiche in einer Kiesgrube haben.“ Retzar zog die Hand so schnell zurück, als wäre er Gefahr gelaufen, von einer Tarantel gestochen zu werden.
„Wie Sie meinen, Frau Oberstaatsanwältin“, murmelte er und machte auf dem Absatz kehrt. Hansen nahm den Telefonhörer in die Hand, wartete, bis Retzar die schwere Holztür hinter sich geschlossen hatte, dann legte sie es wieder zurück. Der Hauch eines Lächelns war auf ihren Lippen zu sehen.
Ein Anruf bei der Polizeichefin hatte Zeit. Stattdessen nahm sie ihr Handy zur Hand, tippte eine Kurzwahl ein und hielt es sich ans Ohr. Als der Angerufene das Gespräch annahm, seufzte sie. „Oliver, es tut mir fürchterlich leid. Aber du erhältst gleich einen Anruf von Retzar, der dich aus dem Urlaub zurückordert.“
Sie strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn und wartete gespannt auf die Antwort. Zu ihrer großen Verwunderung kam kein Protest.
„Gottseidank, ich dachte schon, ich müsste wirklich die ganzen zwei Wochen hier absitzen. Was ist passiert? Wo?“, wollte Oliver Hell wissen, schien sofort bei der Sache zu sein.
„Man hat eine Tote in einem gestohlenen PKW gefunden, der sich kurz zuvor eine Verfolgungsjagd mit einer Polizeistreife geliefert hatte. Näheres erfährst du gleich von Retzar. Aber tu bitte überrascht, Oliver“, bat sie ihn. Sie hörte Hell lachen.
„Keine Angst, Brigitta. Ich lasse ihn auflaufen“, vernahm sie. „Es klopft an. Das wird Retzar sein.“ Dann war das Telefonat beendet.
*
Bonn
Lara Siemons stand auf der Toilette des Café Pendel vor dem Spiegel und betrachtete sich kritisch. Oben im Café saß ihre Freundin Janine mit dem Mann, der ganz offensichtlich ein Promi-Fotograf war. Was für ein Glücksgriff. Er hatte ihnen auf dem Weg ins Café berichtet, dass er in Bonn sei, um sich hier mit einem Kollegen für ein gemeinsames Shooting zu treffen. Und es sei Zufall, dass er auf dem Münsterplatz gewesen sei, der Kollege hätte ihm kurz zuvor eine App geschickt, mit der Bitte, das Shooting um zwei Stunden zu verschieben. Daher hätte er auch Zeit für einen Kaffee mit den Mädels. Übermorgen sei er schon wieder auf dem Weg nach New York.
Sie schob ihre Lippen nach vorne und zog sie mit einem roten Lippenstift nach. Sie nahm sich ein Papier aus dem Spender und nahm es vorsichtig zwischen die Lippen. Du siehst toll aus, dachte sie. Du siehst heute wirklich Milly Simmonds sehr ähnlich. Lara verehrte Models, und die Britin Milly Simmonds ganz besonders. Sie war hübsch, unglaublich hübsch sogar. Ihre Aufnahmen sahen so aus, als seien sie Schnappschüsse, keine gestellten Bilder. An ihrer Wand in ihrem Zimmer hingen viele Fotos, die das junge Model zeigten. Daneben ein Foto von Lara zusammen mit ihrem Hund, das sie einem bekannten Schnappschuss von Milly nachempfunden hatte. Lara schloss die Augen und begann zu träumen. Was hatte der Mann kurz zuvor gesagt?
„Ich mache Fotos von dir, dann haben wir schon die Grundlage für eine Set-Karte. Die benötigst du für eine Anstellung als Model. Aber so wie du aussiehst und wie du dich bewegst, ist das kein Problem. Die Agenturen reißen sich nach jungen Dingern, die so aussehen wie du.“
Junge Dinger wie ich, dachte sie. Deine großen blauen Augen, deine schmale Taille und deine langen Beine hat dir Gott gegeben. Nutze sie!
Lara ging mit klopfendem Herzen die schmale Treppe hinauf und sah, wie der Fotograf und Janine sich vor dem Display der Digitalkamera drängten.
„Das musst du sehen, Lara, er hat sogar Fotos von Milly und ihrem Hund auf der Kamera.“
Lara ließ sich schnell auf dem Stuhl neben dem kleinen Tisch vor der Theke nieder.
„Zeig!“
Der Fotograf hielt ihr lächelnd die Kamera hin.
„Wie süß!“, kreischte sie verzückt.
„Magst du Hunde?“
„Ja, ich habe selber einen Hund. Willst du ihn sehen?“, fragte sie aufgekratzt.
„Gerne.“
Sie holte ihr Handy aus der Tasche und tippte darauf, hielt ihm kurz drauf ein Foto von ihrem Hund hin. „Das ist Lucy. Sie ist ein Doodle, wie der von Milly.“
Der Mann betrachtete das Foto, dann ließ er sich auf seinem Stuhl zurückfallen. „Ihr beiden könntet beinahe Schwestern sein“, seufzte er.
„Ehrlich?“
„Kein Scheiß. Wir machen morgen die Fotos und dann sehen wir weiter. Aber wenn ich so nachdenke …“, sagte er langsam, sah an ihr hinab und wiegte den Kopf hin und her.
Lara ballte die Hände zu Fäusten, kniff die Augen zusammen und kreischte leise vor sich hin.
„Jajajajajajaja!“
Eine Viertelstunde später bestieg sie den Bus, ließ sich auf eine der Bänke fallen. Sie streckte die Beine aus und schloss die Augen. Sie würde es schaffen. Model sein. Und so bekannt sein wie Milly.
*
Bonn, Kiesgrube Flerzheim
Franziska war nicht erfreut gewesen, dass Hell sofort nach dem Anruf von Staatsanwalt Retzar das Haus verlassen hatte. Im Schlafzimmer hatte sie ihm deutlich gemacht, wie sie zu dem plötzlichen Abbruch des Urlaubs stand. Doch schließlich hatte sie sich damit abfinden müssen. Während er sich ankleidete, versuchte er sie weiter zu besänftigen, versprach ihr, nur den Tatort zu besuchen und dann den Fall an Kollegen abzugeben. Völlig unüblich trug er allerdings keine lange Hose, sondern hatte direkt die Shorts anbehalten, die er im Garten getragen hatte. Immerhin gab ihm ein helles Hemd eine gewisse Seriosität. Zu den brauen Sneakers hatte er ebenfalls helle Socken gewählt. Als er so gekleidet am Fundort der Leiche auf dem Gelände der Kiesgrube Flerzheim auftauchte, fragten ihn die beiden Beamten, die dort die Absperrung sicherten, nach seinem Dienstausweis. Missvergnügt hielt er ihnen die Plastikkarte hin und erhielt eine halbherzig gemurmelte Entschuldigung wenigstens von einem der beiden. Die KTU hatte schon die Arbeit aufgenommen. Ein Einsatzfahrzeug stand etwas außerhalb, in Fahrtrichtung der Kiesgrube. Ein weiß gekleideter Tatortermittler kniete auf der Ladefläche des Spezialfahrzeugs, das pickepacke voll mit Spezialutensilien beladen war. Hell konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte, nur die Form des wohlgeformten Gesäßes ließ auf eine Frau schließen. Unter der weit nach oben aufragenden Heckklappe des Seat Ibiza machte ein anderer Ermittler Fotos von der Leiche.
Hell trat zu ihm hin. „Urlaub beendet?“, fragte dieser knapp, ohne das Display der Kamera aus dem Auge zu nehmen. Hell antwortete nicht direkt, weil er den Mann nicht sofort erkannte. Hell blickte in den Kofferraum und konnte sich einen Fluch nicht verkneifen. „Verdammte Scheiße, das ist ja noch ein Kind!“, brummte er ärgerlich.
„Dachte mir schon, dass Retzar dich deshalb haben wollte“, antwortete der Tatortermittler und senkte die Kamera. „Ja, das ist noch ein Kind. Und wenn du mich fragst, dann ist die offensichtliche Herkunft des Opfers an sich schon eine Bombe. Hallo Oliver“, sagte Tim Wrobel, der Leiter der Bonner KTU. Für einen Moment wunderte sich Hell darüber, dass er seinen Freund Tim nicht unter dem weißen Overall erkannt hatte. Doch dies hatte nur für ein zwei Sekunden Priorität. Dann war er wieder ganz gefesselt von der sehr jungen Toten. Die braunen Augen der Toten starrten ins Leere. Sie war ein hübsches Mädchen, mit langem dunkelbraunem, fast schwarzem lockigen Haar. Er beugte sich in den Kofferraum hinein und betrachtete die Würgemale am Hals den Kindes.
„Wo sind die Typen, die das Auto gefahren haben?“, fragte er, sicher neugierig, aber mehr, um sich selbst von dem flauen Gefühl in seinem Magen abzulenken. Wrobel verzog das Gesicht.
„Weg, die sind filmreif flitzen gegangen.“
Hell hörte gar nicht richtig hin. Die junge Frau hatte massive Würgemale an der vorderseitigen Halshaut, es waren auch halbmondförmige Abdrücke der Fingernägel des Mörders zu sehen. Hell schluckte, achtete darauf, mit dem Kopf nicht gegen die Heckklappe zu stoßen, als er sich aufrichtete.
„Was meintest du?“, fragte er erneut nach.
„Wozu?“
„Entschuldigung, ich bin etwas geschockt. Ich hätte nicht gedacht, hier eine junge Türkin zu finden. Oder was denkst du, woher sie stammt?“, fragte er und heftete seinen Blick auf Tim Wrobel. Auch dessen Gesichtsausdruck sprach Bände.
„Du liegst damit sicher richtig, ich würde auch sagen, dass unser Opfer aus der Türkei, Syrien oder dem Irak stammt. Was Näheres kann sicher Stephanie beisteuern. Sie kommt übrigens etwas später, weil sie noch einen Suizid vor der Brust hat“, informierte ihn der Tatortermittler.
„Um Gottes willen! Die himmlische Ruhe ist vorbei, wie mir scheint.“
„Ja, wir kommen eben von dort. Ein älterer Mann, kein Vergleich zu dem hier“, sagte Wrobel mit einer Kopfbewegung hin zu der Toten.
„Kinder sollten nie vor ihren Eltern gehen. Und sie sollten nie so elend sterben müssen, wie dieses Kind hier!“, fügte Hell an. Beide seufzten.
„Ja, das ist übel“, sagte Wrobel hart.
„Was für ein Mädchen ist sie wohl gewesen?“
Hell fuhr herum. Neben ihm stand die weibliche Tatortermittlerin, deren Hinterteil er im Fahrzeug der Ermittler schon heimlich bewundert hatte.
„Ein sehr hübsches“, antwortete Hell und sah die junge Frau fragend an. Sie hielt dem stand. Unter der Kapuze quoll keck eine blonde Strähne hervor. Knapp dreißig Jahre alt, eins sechzig groß und schlank, lustige Lachfältchen um den Mund herum. Ihre blauen Augen wirkten riesig in dem schmal geschnittenen Gesicht.
„Ach ja, ich bin die Neue. Mein Name ist Constance Nimmermann. Sie müssen Kommissar Hell sein, stimmt’s?“ Sie hielt ihm ihre Hand hin. Hell schlug ein. „Ja, Oliver Hell, sehr angenehm, Frau Nimmermann.“ Ihr Händedruck war für eine Frau sehr fest.
„Julian Kirsch hat sich eine Auszeit genommen. Er tourt mit einem Freund für ein halbes Jahr durch Neuseeland. Frau Nimmermann ergänzt unser Team in dieser Zeit“, erläuterte ihm Wrobel nebenbei. Die junge Frau hatte aber schon die Freundlichkeiten abgehakt und widmete sich wieder der Toten.
„Türkin? “
„Vielleicht. Diese Frage haben wir uns auch eben gestellt“, gab Hell zu. Frau Nimmermann trat einen Schritt nach vorne. Sie holte einen länglichen Gegenstand aus ihrem Ermittlerkoffer und kniete sich auf die hintere Prallfläche des Seat. Mit einer schnellen Bewegung hob sie damit den Rock des Mädchens hoch.
„Upps! Eine junge Türkin, die Strapse trägt. Gewöhnungsbedürftig“, stieß sie überrascht aus und sah über die Schulter hinweg zu den beiden Männern herüber. Beide Männer vergewisserten sich, dass sie zweifellos richtig lag, sie wurde dafür mit anerkennenden Blicken bedacht.
„Allerdings“, sagte Hell, „wir müssen die Kollegen von der Sitte befragen, ob sie die Tote kennen.“
„Klar.“
„Die Strapse sind übrigens keine aus dem Angebot von C&A oder so, die kommen aus einem speziellen Milieu“, sagte sie ohne die Augen schamvoll niederzuschlagen. Sie schien sich damit auszukennen. Wrobel nahm es ebenso schweigend hin wie Hell.
„Schon klar, was die Herren jetzt denken. Aber ich darf Sie dahingehend beruhigen. Meine Vorlieben für Unterwäsche liegen woanders. Ich war ein paar Jahre bei der Sitte, bevor ich zur KTU wechselte. Da lernt man sein Metier von der Pike auf.“
Hell interessierte sich nicht für ihre Geständnisse. Er fuhr sich mit der Hand über den Mund und überlegte. Innerhalb von ein paar Sekunden war aus diesem bedauernswerten jungen Opfer möglicherweise eine Prostituierte geworden. So schnell veränderten sich in der Polizeiarbeit die Perspektiven.
„Gute Arbeit, Frau Nimmermann“, sagte er anerkennend.
„Danke, Herr Kommissar“, sagte sie und lächelte.
*
Bonn, Ministerium des Innern
„Schönen guten Tag, Herr Doktor Matheissen“, grüßte die Büroleiterin freundlich. Matheissen nickte seiner Angestellten nur kurz zu und ging direkt weiter in sein Büro.
Solche Arbeitszeiten hätte ich auch gerne, dachte sie und seufzte. Matheissen hatte angegeben, den Morgen über Termine zu haben, doch sie kannte seinen Terminkalender und wusste, dass er sich einen freien Vormittag gegönnt hatte. Bei seinem sonst prall gefüllten Terminkalender tat er das von Zeit zu Zeit. Mit einer Tasse dampfendem Kaffee betrat sie kurze Zeit drauf sein Büro und stellte die Tasse auf seinem ausladenden Schreibtisch ab.
„Wie erbeten liegt die wichtige Korrespondenz in den Wiedervorlagemappen“, erwähnte sie noch, war es allerdings klar, dass sie dafür gesorgt hatte, dass alles so arrangiert war, wie der Herr Doktor es wünschte. Matheissen konnte da sehr ungehalten sein, wenn es nicht so war. Doch diesmal nickte er nur konziliant und rang sich sogar ein Lächeln ab. „Ihr Kaffee, Herr Doktor, schwarz und mit zwei Stück Zucker.“
„Danke. Wann erwarten wir den Besuch aus den Niederlanden noch? Am 18.oder 19. Juli?“, fragte er und vertiefte sich in seinen Outlook-Kalender.
„Am 18. Juli, morgens um 10 Uhr, Herr Doktor“, antwortete sie wie gewohnt gut informiert.
„Dann habe ich das ja richtig im Kopf“, antwortete er beiläufig. „Aber trotzdem Danke, wenn ich Sie nicht hätte, Frau Joachim, ich wüsste manchmal nicht, was ich tun würde!“
„Das ist meine Aufgabe, Herr Minister“, antwortete sie und lächelte geschmeichelt. Doch schnell war sie wieder professionell und verließ den Raum. Matheissen sah ihr nach. Ihre Figur war nach wie vor tadellos, drall und an den richtigen Stellen gut proportioniert. Doch über kurz oder lang würde er sich eine jüngere Büroleiterin suchen. Eine mit weniger Falten im Gesicht. Frau Joachim tat zwar alles, um ihr fortgeschrittenes Alter zu verbergen, aber das gelang ihr nur noch mit großen Mühen.
*
Bonn, Präsidium
„Weg!“
Diese Antwort gefiel Hell überhaupt nicht. Er hatte die beiden Beamten vor sich stehen, denen die Verfolgung so gründlich missglückt war. Bedröppelt. Mit gesenkten Köpfen.
„Und die Personenbeschreibung? Wie sieht es damit aus?“
Hell musterte die beiden kritisch. Während einer der beiden Beamten über das wenig zufriedenstellende Ergebnis des Fahndungsaufrufes referierte, rührte Hell in seinem Kaffee. Obwohl dieser schon kalt sein musste.
Was war bloß los mit dem Polizeinachwuchs? Warum begangen so viele junge Kollegen solche Fehler? Er machte sich ernsthafte Sorgen. Nicht nur um diese beiden, sondern auch um seinen Sohn Christoph, der in der kommenden Woche seinen Dienst bei der Einsatzzentrale in Bonn antreten würde. Als Frischling direkt von der Polizeischule in Münster.
„Die beiden sind bisher nicht polizeilich aufgefallen, daher haben wir keine Chance, sie zu identifizieren“, sagte der junge Beamte zerknirscht. Hell seufzte innerlich. „Ist in Ordnung, Sie können Ihren Dienst wieder aufnehmen!“
Die beiden verabschiedeten sich mit dünnen Stimmen und er war alleine in der Abteilung. Er hatte die Kollegen zusammengetrommelt, die sich wie er offiziell im Urlaub befanden. Daher würde es eine Weile dauern, bis sie gemeinsam loslegen konnten. Hell starrte aus dem Fenster, dorthin, wo auf der anderen Rheinseite sich die Höhen sanft gegen den blauen Himmel abhoben.
Wer hatte diese junge Frau getötet? Und warum? War sie tatsächlich eine Prostituierte? Oder hatte man sie womöglich sogar unter Drogen gesetzt, um sie zu sexuellen Handlungen zu zwingen? Die Obduktion der Leiche würde darüber Klarheit bringen. Doktor Stephanie Beisiegel, die Chefin der Bonner Rechtsmedizin, hatte ihm versprochen, schnell Ergebnisse zu präsentieren. Was er schon jetzt allerdings spürte, war, dass ihm diese Sache hier schon gewaltig an die Nieren ging. War sie ein Opfer der Umstände geworden? Was hatten diese beiden Männer mit Migrationshintergrund mit ihrem Tod zu tun? Waren sie die Mörder? Hatte man sie nur engagiert, um die Leiche loszuwerden? Wohin wollten sie das Mädchen bringen? Man konnte davon ausgehen, dass sie aus der Not heraus die Kiesgrube ausgewählt hatten, um vor der Polizei zu flüchten. Oder war dies zuvor schon der Plan? Es gab nichts Definitives in diesem Mord. Er holte tief Luft und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Ein Mord brachte immer eine Menge von Dingen ans Tageslicht. Auch Dinge, die eigentlich unter einem Mantel des Schweigens verborgen bleiben sollten. Würde es auch hier so sein? Die Polizei fuhr für die Fahndung nach den beiden Flüchtigen alles auf, was ihr zur Verfügung stand. Und wenn alles seinen normalen Gang ging, dann verfügte man bald über die ersten Ergebnisse. Wenn.
Kurz drauf traf der erste der Kollegen ein. Vergnügt kommentierte Wendt den Kleidungsstil seines Chefs.
„Es scheint ja ein leichter Fall zu werden, Chef, wenn man Ihren lockeren Style anschaut“, feixte er lächelnd.
„Wenn ich vorher gewusst hätte, was mich da in der Kiesgrube erwartet, hätte ich vorher was Dunkles angezogen“, bremste er die gute Laune seines Kollegen.
„Aha“, sagte Wendt und hängte seine Jeansjacke auf den Stuhl an seinem Platz, dann trat er vor die Tafel, an der Hell zwei Tatortfotos angeheftet hatte. Mehr noch nicht.
„Eine Ausländerin? Was weiß die Presse?“, fragte er skeptisch.
„Es herrscht eine Mitteilungssperre, so lange, bis wir überhaupt etwas sagen können. Sonst haben wir direkt alle auf dem Hals: Die Presse, das Auswärtige Amt, die Vertreter der ausländischen Gruppierungen und den Ditib. Erst wenn wir wissen, um wen es sich handelt, können wir eine Mitteilung formulieren.“
Wendt nickte. Bonn war als ehemalige Bundeshauptstadt noch immer ein heißes Pflaster. Einige Länder hatten noch immer ihre Botschaften hier. Als UN-Standort, der immer mehr ausländische Mitarbeiter anzog, stand man im internationalen Fokus. Da war der Mord an einer jungen Ausländerin nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.
„Was hat die Halterabfrage ergeben?“, wollte Wendt wissen, nachdem er die Begutachtung der Tatortfotos abgeschlossen hatte. „Der Seat Ibiza ist vorgestern von einem Parkplatz gestohlen worden. Die junge Frau war völlig geschockt, als man ihr mitteilte, dass man darin eine Leiche gefunden hätte. Sie möchte ihr Fahrzeug nicht zurück“, sagte Hell.
Wendt stieß ein Glucksen aus. „Verständlich.“
„Was denkst du, Chef?“, fragte er mit einem Wink auf die noch fast leere Glastafel.
Hell wäre es lieb gewesen, um die Antwort auf diese Frage herumzukommen. Wendt bemerkte das. „Ich muss jetzt etwas tun, was sonst nicht mein Ding ist. Ich kann dir ein Gefühl nennen. Ich weiß, das ist normalerweise Chrissis Ding, aber ich habe eine ganz dumme Vorahnung. Ich kann es dir nicht präzisieren, aber ich glaube, wir haben per Zufall die Spitze eines Eisberges entdeckt. Da kommt noch was nach.“
‚Titanic-Feeling‘ “, meinte Wendt, senkte seinen Blick und schürzte seine Lippen. Diesen Begriff hatte seine Freundin Julia Deutsch geprägt, die als Fachanwältin für Scheidungsrecht tätig war. Sie wollte damit ausdrücken, dass es Ehen gab, deren offensichtliche Probleme nur die Spitze eines Eisbergs war. Darunter gärte es oft noch weitaus schlimmer. Das war für sie das ‚Titanic-Feeling‘.
„Nenn es, wie du magst, Jan-Philipp. Ich habe dieses Bauchgefühl und du kannst mich meinetwegen auslachen.“
Wendt hob seine linke Augenbraue. „Warum sollte ich. Wenn ich in all den Jahren, die wir zusammenarbeiten eins gelernt habe, dann das: Vertraue auf das Bauchgefühl deiner Kollegen!“
Hell warf ihm einen dankbaren Blick zu.
Eine Viertelstunde später war das Team vollständig um den Besprechungstisch versammelt. Recht schnell hatte Hell den Rest seiner Leute mit dem schmalen Ermittlungsstand vertraut gemacht. Schon wurde der Stand der Ermittlungen kontrovers diskutiert.
„Sie ist eine Frau mit Migrationshintergrund? Und zwei Männer ebenfalls mit Migrationshintergrund transportieren ihre Leiche munter mit einem Auto durch Bonn? Denke ich alleine da an einen Ehrenmord, der vertuscht werden soll?“, fragte Lea Rosin, die Jüngste im Team. In der Runde blieb es still; alle sahen sie an.
„Ich finde es zu früh, von einem solchen Rahmen auszugehen“, antwortete Christina Meinhold und Lea runzelte die Stirn. Die Ältere der beiden Frauen im Team hatte ihre Ausbildung zum Analytischen Fallermittler vor geraumer Zeit abgeschlossen, und anstatt in einem Team von Profilern zu arbeiten, hatte sie es vorgezogen, wieder in das Team von Oliver Hell zurückzukehren. Dort wurde sie mit offenen Armen wieder aufgenommen.
„Sie wurde erwürgt, sie trägt Strapse, wie sie von Prostituierten getragen werden und kommt allem Anschein nach aus einem Land des Nahen Ostens. Mehr wissen wir nicht, daher finde auch ich diese Annahme als verfrüht“, antwortete Jan-Philipp Wendt, Oliver Hells Stellvertreter. Lea Rosin verschränkte die Arme vor der Brust und schmollte. Sie warf einen kurzen Seitenblick auf ihren Freund Sebastian Klauk. Doch auch von ihm erhielt sie nicht die erhoffte Unterstützung.
„Es ist noch zu früh, um solche Schlüsse zu ziehen, Lea“, sagte Hell besänftigend zu ihr.
„Schon gut, ihr seht es anders. Punkt!“
Alle sahen, dass sie mit Hells Worten nicht zufrieden war. Vor allem von Sebastians Seite hatte sie sich Unterstützung erhofft. Immerhin war er ihr Freund.
„Solange wir nicht wissen, wer das Opfer ist, können wir nichts tun“, analysierte Klauk nüchtern. „Diese Strapse beweisen nichts. Man kann sie ihr angezogen haben, nachdem man sie getötet hat, um eine falsche Spur zu legen.“
„Stimmt. So kann es auch gewesen sein“, stimmte ihm Hell zu.
„Von welcher Annahme gehen wir also jetzt erst einmal aus?“, fragte Wendt kühl.
„Von der Annahme, dass wir eine junge Tote mit Migrationshintergrund haben, ebenso zwei Männer mit Migrationshintergrund, die beim Transport der Leiche semigeschickt gewesen sind und seitdem auf der Flucht sind. Haben wir diese beiden an der Angel, kennen wir auch den Namen der Toten.“
Wendts Worte waren klar und sicher.
„Einverstanden. Wir müssen die Kollegen von der Sitte befragen, ob die Tote bei ihnen bekannt war. Und natürlich auch die Kollegen von der Vermisstenstelle ins Boot holen.“
Wendt hatte dies vor dem Eintreffen der Kollegen bereits telefonisch erledigt, nannte den Kollegen jetzt die Namen der Ansprechpartner. „Sie haben die entsprechenden Fotos schon erhalten, besser wäre allerdings ein persönlicher Kontakt. Wer weiß, vielleicht brauchen wir die Kollegen später noch“, erläuterte er.
„Ich kümmere mich um den Kontakt zu den Kollegen von der Vermisstenstelle“, sagte Lea.
„Ich mich um die von der Sitte!“, hielt Klauk dagegen. Sie nickte, stand auf, um zu ihrem Schreibtisch zu gehen. Holte sich ihre Schultertasche und trat hinter Klauk. „Gehen wir?“
Klauk warf ihr einen unsicheren Blick zu. Er ahnte bereits, was jetzt kommen würde. Lea würde ihn kritisieren, weil er ihre These mit dem Ehrenmord nicht unterstützt hatte. So war es immer in der letzten Zeit. Seitdem sie zusammen waren, fuhr Lea bei jeder kleinen Gelegenheit aus der Haut. Ihre Beziehung musste geheim bleiben, eine Beziehung unter Kollegen war in den Dezernaten der Polizei nicht gerne gesehen. Die Vorgesetzten wussten es nicht, die Kollegen aus Hells Team hielten die Verschwiegenheit hoch. Sebastian Klauk seufzte und erhob sich.
„Wir müssen doch in verschiedene Richtungen, magst du nicht vorgehen?“, fragte er.
„Kommst du jetzt bitte, Sebastian?“ herrschte sie ihn an, ihr Blick ließ keinen Zweifel offen, dass sie ein Hühnchen mit ihm zu rupfen hatte. Klauk rollte mit den Augen. „Zu Befehl“, sagte er und folgte Lea zur Tür.
Als die Glastür ins Schloss gefallen war, begann vor der Tür direkt die Standpauke. „Du könntest mir ruhig mal zur Seite stehen, Sebastian Klauk!“, zischte sie und ihre braunen Augen funkelten.
„Warum sollte ich dir zustimmen, wenn ich nicht deiner Meinung bin?“
„Damit ich mir nicht so vorkomme, als sei ich die kleine Dumme, die von Kriminalistik keine Ahnung hat!“
Klauk ließ die Kinnlade fallen. „Was? Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun, Lea.“
„Hat es sehr wohl. Ich bin die jüngste im Team und habe keine Ausbildung wie ihr. Wenn euch das stört, dann müsst ihr es mir sagen.“
Lea geriet jetzt erst richtig in Fahrt.
„Du bildest dir zu viel ein. Keiner aus dem Team schaut auf dich herab. Wer sollte das denn tun? Chrissi? Ihr seid Freundinnen. Wendt? Der hält große Stücke auf dich. Hell? Dem hast du das Leben gerettet, schon vergessen?“
Leas Finger kreiste gefährlich vor Klauks Gesicht. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. „Aber du! Du könntest mir zur Seite stehen!“
„Lea, Schatz. Sei bitte nicht albern. Wenn ich mich nicht so früh in einer Ermittlung festlegen mag und an einen Ehrenmord glaube, dann hat das doch nichts mit dir zu tun. Wenn Christina diese These aufgestellt hätte, dann hätte ich ihr auch nicht zugestimmt.“
„Aber du hast gar nichts dazu gesagt, das ist es ja!“, fuhr sie ihn jetzt an. Weibliche Logik, dachte er, doch das konnte er in diesem Moment nicht sagen.
„Keiner hat etwas gesagt, wenn du dich genau erinnerst“, führte Klauk als Verteidigung an. „Eben! Weil ihr mich alle für ungeeignet haltet!“
Klauk atmete tief durch. „Wenn du dich wieder beruhigt hast, Schatz, dann reden wir erneut darüber. Ich gehe jetzt zu den Kollegen von der Sitte. Bis später“, sagte er, wollte sich umdrehen, doch sie hielt ihn am Arm fest.
„Wenn du jetzt gehst, dann war‘s das!“, sagte sie ganz leise, aber diese Drohung bekam dadurch noch mehr Gewicht. Sebastian löste ihren Griff, sah sie verständnislos an.
„Was?“
„Du kannst mich nicht hier auf dem Flur stehen lassen wie ein kleines Mädchen“, stieß sie hervor. Klauk spürte, dass er in dieser Situation nur verlieren konnte. Lea war bereit, ihre Beziehung aufs Spiel zu setzen. Wegen einer solchen Kleinigkeit. Langsam verdrängte der Zorn über diese Albernheiten seine schwächer werdende Gelassenheit. Noch schaffte er es, sein Entsetzen hinter einem Nicken zu verbergen.
„Lea, schade, dass ich das hier nicht mit dem Handy aufgezeichnet habe. Du müsstest dich hören. Ehrlich, das ist albern!“
Klauk war fast einen Meter neunzig groß, Lea gut zehn Zentimeter kleiner, doch plötzlich schien sie mit ihm auf einer Augenhöhe zu sein.
„Albern? Ich bin also albern? Okay, wenn das so ist, dann kannst du sicher auf meine weitere Gesellschaft verzichten!“, drohte sie wild entschlossen, „entscheide dich!“
Klauk widerstand dem Impuls, ihr die Hand auf die Schulter zu legen. Sie würde es auch gar nicht zulassen. Stattdessen wartete er ein paar Sekunden, dann fragte er: „Wofür soll ich mich entscheiden?“
„Ob du mich als Partnerin haben willst mit allen Konsequenzen oder nicht?“
Klauk schüttelte den Kopf. „Du stellst ernsthaft unsere Beziehung in Frage, weil ich mit dir nicht einer Meinung bin? Lea, hörst du dich selbst sprechen?“
Sie sagte nichts, ihre Mundwinkel zuckten; sie blieb weiter vor ihm stehen und wartete darauf, dass Klauk einknickte. Doch das sah er überhaupt nicht ein.
„Wenn du willst, dass ich dich als Polizistin ernst nehme, dann musst du professionell und abgeklärt sein und andere Meinungen zulassen …“, sagte er, doch weiter kam er nicht.
„Okay, das war jetzt die Bestätigung für meine Befürchtung. Ich bin ein Dummchen und du bist der Super-Bulle!“ Drehte sich herum und ging in die andere Richtung davon. Klauk blieb wie versteinert zurück. Er fasste sich an den Mund und schüttelte sich innerlich, sah Lea hinterher, die mit in den Nacken geworfenem Kopf um die nächste Ecke bog. Er versuchte, das Gewicht ihrer Worte abzuwägen. Sie meinte das alles zweifellos ernst. Monatelang hatte er gebraucht, bis sie ein Paar geworden waren, hatte sich zuvor nicht getraut, ihr seine Liebe zu gestehen. Und jetzt das! Er biss die Zähne aufeinander, drehte sich herum und versuchte, seine eigene Professionalität nicht zu vergessen. Es galt einen Fall in die Gänge zu bringen. Da zählte die persönliche Befindlichkeit nichts.
*
Bonn-Beuel
Vor der kleinen Doppelhaushälfte wuchsen Hortensien. Auf den Ziegelstufen, die von der Straße hinauf zur Terrasse führten, wuchsen Rosen und Lavendel in Töpfen. Der Lavendel gegen die Blattläuse, die oft die Rosen heimsuchten. Beschaulich. Für Lara roch es nach Muff und Spießertum. Ihr Hund erwartete sie, ihre Mutter nicht. Die war noch auf der Arbeit. Alleinerziehend. Der Vater hatte sich schon lange nicht mehr sehen lassen. Und mit den Alimenten war er auch schon lange im Verzug. Daher lag es allein in den Händen der Mutter, sie und ihre Tochter Lara zu ernähren. In der Vorstellung ihrer Tochter war das aber alles nicht genug. Sie wollte mehr. Mehr Geld, mehr Mode, mehr Luxus. Wie sehr sich ihre Mutter bemühte, das Haus zu halten und ihrer Tochter täglich etwas zu essen auf den Tisch zu bringen, Lara hatte immer etwas daran auszusetzen.
Ihr Hund sprang aufgeregt an ihr hoch, Lara warf achtlos ihren Rucksack in die Diele, legte die Sonnenbrille auf der weißen Ikea-Kommode ab. Sie nahm die Hundeleine vom Haken und streifte Lucy ihr Halsband über. Sie hatte noch zwei Stunden Zeit, bis ihre Mutter von der Arbeit nachhause kam. Bis dahin würde sie mit Lucy spazieren gehen. Und sich auf das Foto-shooting freuen. Doodle Lucy war es egal, ob sie reich oder arm war. Sie liebte Lara und sie liebte ihre Hündin abgöttisch.
Die Unterhaltung mit dem gutaussehenden Mann im Café Pendel ging ihr noch einmal durch den Kopf, während sie mit dem Hund an der Leine durch die Straße in Bonn-Beuel ging.
Bald bin ich hier weg, dachte sie. Für das Leben hier in dem kleinen Stadtteil von Bonn hatte sie mittlerweile nur noch Verachtung übrig. Auch für die Menschen, die hier lebten. Dabei störte sie auch nicht, dass sie Janine zurücklassen würde. Wenn sie erst der neue Star am Modelhimmel war. Eine Nachbarin begegnete ihr, grüßte freundlich. Lara ließ wie üblich alle Höflichkeitsfloskeln aus. Sie warf ihren Kopf in den Nacken und ging wortlos an der Frau vorbei. Was diese dann zu ihr sagte, machte sie sprachlos. Und legte in ihrem Hirn den Wutschalter um.
*
Bonn-Beuel
„Du hast sie eine ‚dumme Mistkuh‘ genannt? Bist du noch bei Trost? Sie ist eine Nachbarin, wir müssen mit den Menschen hier in der Nachbarschaft auskommen!“, schrie Frau Siemons ihre Tochter an. Lara zögerte keine Sekunde, bevor sie zurückschrie.
„Was gehen mich diese Arschkrampen hier in der Gegend an? Was sind das alles für elende Loser? Was bist du für ein Loser? Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben. Bald fängt für mich ein besseres Leben an, du wirst es sehen!“ Keck reckte sie ihr zierliches Kinn hoch und Frau Siemons musste sich zurücknehmen, um ihr nicht eine ordentliche Backpfeife zu geben. Ihre Hand zuckte, doch sie tat es nicht. Sie hatte Lara noch nie geschlagen.
„Was meinst du damit?“
Lara bemerkte, dass sie mit dieser Äußerung einen Schritt zu weit gegangen war. Sie durfte die Neugier ihrer Mutter nicht wecken. Also versuchte sie, einen Schritt zurückzurudern.
„Ich habe diese Frau so satt. Du müsstest manchmal hören, was sie für einen Müll erzählt. Ich konnte mich einfach nicht beherrschen. Sie meinte, ich hätte keine Erziehung! Ich! Dieses asoziale Pack sollte sich an die eigene Nase packen. Ich grüße, wen ich grüßen will und die will ich nicht grüßen“, begann sie plötzlich einen ganz anderen Ton anzuschlagen. Doch ihre Mutter hatte bereits Lunte gerochen.
„Und du findest, dass ich genau zu diesen Sozialhilfeempfängern passe oder warum bist du so gemein zu mir?“
Lara riss den Blick von ihrer Mutter los. „Nein, natürlich nicht, Mama!“
„Und was meinst du mit dem besseren Leben, das du bald führen wirst? Ist das wieder deine Spinnerei von dem Model-Vertrag, den du bald haben wirst? Lara, bleib auf dem Boden. Du bist ein hübsches Mädchen, ein verdammt hübsches sogar. Aber du kannst mit einer vernünftigen Ausbildung mehr erreichen, als mit einem Model-Vertrag. Willst du auch so ein Hungerhaken sein? Willst du jede Kalorie zählen, damit du in die Kleider-Größe 30 passt? Mensch, mach die Augen auf! Das Model-Geschäft ist knallhart. Wer da nicht kuscht, der ist draußen. Und so ein rebellischer Geist wie du, der kommt da gar nicht weit.“
Lara rollte mit den Augen. „Mama, du kennst dich auch so toll aus. Milly Simmonds ist kein Hungerhaken, sie hat die Maße 88-62-90. Die habe ich auch. Bin ich ein Hungerhaken?“ Frau Siemons sah ihre Tochter jetzt an, als wäre sie ein Boxer und hätte einen leichten Treffer am Kinn erhalten. Sie war nicht zu dünn. Lara konnte Unmengen vertilgen, nahm allerdings kein Gramm zu.
„Milly Simmonds! Immer nur diese Milly Simmonds! Du redest von dieser Frau, als sei sie eine Schulfreundin. Du kennst sie doch gar nicht!“
Aber ich werde sie bald kennenlernen, dachte Lara.
„Nein, ich kenne sie nicht. Aber wer Google und Instagram kennt, der kann das alles nachlesen, Mama.“
Die Tatsache, dass sie sich mittlerweile über das Model und nicht mehr über diese dämliche Nachbarin unterhielten, verriet Lara, dass der Zorn ihrer Mutter beinahe verraucht war. Daher setzte sie sogar noch einen drauf. „Was hat sie eigentlich gesagt, die alte Krähe?“
„Das habe ich dir doch schon gesagt. Sie behauptet, du hättest sie eine ‚dumme Mistkuh‘ genannt und sie hätte Angst gehabt, dass du sie schlagen würdest“, wiederholte Frau Siemons die Worte der Nachbarin. Sie musste sich eingestehen, die Einschätzung ihrer Tochter deckte sich im Großen und Ganzen mit ihrer eigenen. Doch das konnte sie ihr gegenüber nicht zugeben.
Lara lächelte verschlagen. Genauso war es gewesen. Sie hatte sich soeben beherrschen können. Hätte Lucy sie nicht weitergezogen, weil sie ganz dringend an einem Busch riechen wollte, sie hätte ihr eine geklatscht.
„Das stimmt so alles nicht. Sie hat sich uns in den Weg gestellt und Lucy war schon fast vorbei, da habe ich sie gefragt, was das soll; warum sie uns nicht passieren lässt. Da hat sie gleich angefangen rumzuzetern, die Jugend hätte keine Erziehung mehr und so einen Müll. Da ist mir der Kragen geplatzt und ich habe sie eine Mistkuh genannt. Das ‚dumm‘ hat sie erfunden“, log Lara.
Der Blick ihrer Mutter wurde milder. Eine Provokation der Nachbarin. Wie beinahe schon von ihr vermutet.
„Lara, du musst dich zusammennehmen. Solange, wie wir hier wohnen, müssen wir uns mit den Leuten hier arrangieren. Wenn ich meine Beförderung bekommen habe, dann können wir vielleicht in ein anderes Haus ziehen“, mahnte sie und gab damit gleichzeitig ein Geheimnis preis, dass sie für sich behalten wollte, bis alles in trockenen Tüchern war.
Lara musste jetzt reagieren, um den lieben Frieden wieder herzustellen.
„Was? Du bekommst eine Beförderung? Mama, das wäre ja toll.“ Ihr Gesicht strahlte plötzlich.
„Ja, noch ist alles noch nicht durch, aber die Personalabteilung ist schon informiert. Wenn alles glatt geht, dann bekomme ich nächsten Monat die stellvertretende Leitung der Abteilung.“
Der Stolz in ihren Augen war nicht zu übersehen.
„Echt toll, Mama“, wiederholte Lara und nahm ihre Mutter in die Arme.
Wenn ich das morgige Shooting hinter mir habe, dann ist mir deine Scheiß-Beförderung total egal, dachte sie insgeheim.
Ihre Mutter sah ihr falsches Lächeln nicht.
*
Bonn, Präsidium
Die Fahndung nach den beiden Flüchtigen lief auf Hochtouren. Alle Streifenwagenbesatzungen hatten das Phantombild der beiden Männer auf dem Schirm. Aber der Erfolg war gleich Null. Die Flüchtigen blieben das, was diesen Begriff ausmachte: Flüchtig. Keiner hatte jemanden gesehen, der sich von der Kiesgrube entfernt hatte. Was kein gutes Licht auf die Polizei und die ebenfalls involvierten Zivilfahnder warf. Hell wiederum sah sich in seinen schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Bei einem Mord im Familienmilieu hätte es keine solche Unterstützung gegeben. Diese Morde geschahen oft im Affekt oder sie wurden auf offener Straße ausgeführt. Selten wurden die Opfer beseitigt. Und diese Morde geschahen innerhalb eines Familienverbands. Hier hätte es dagegen bedeutet, dass es mehrere Helfer gab, die den ersten beiden sofort zur Seite standen und sie an der Kiesgrube aufsammelten. Dies wollte er nicht glauben. Er vermutete vielmehr, dass sich exklusiv jemand um diese beiden Männer gekümmert hatte. Wer konnte mit Bestimmtheit sagen, dass sie nicht ihre Kontakte genutzt hatten, um von dort unerkannt wegzukommen. Das aber bedeutete, dass sie diese Unterstützung genossen. Was eindeutig gegen Leas These vom Ehrenmord sprach. Oliver Hell hatte nichts als sein Gefühl, dass ihn bisher nie im Stich gelassen hatte. Er hatte eine Idee. Wenn es auch wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen war, so barg es immerhin eine Chance, die sie ohne diese Möglichkeit nicht hätten. Er rief Matthias Seltge, von der Informationsabteilung an. Der Spezialist für Telefonüberwachungen sollte herausfinden, welche Handys zur fraglichen Zeit in der Nähe der Kiesgrube eingeloggt waren. Wenn sie jemand von dort abgeholt hatte, dann mussten die beiden Männer sich bemerkbar gemacht haben. Eine Chance. Und ein erster Ermittlungsansatz.
*
Bonn, Rechtsmedizin
Das kalte Licht im Sektionssaal der Bonner Rechtsmedizin beleuchtete nüchtern die Szenerie. Auf benachbarten Sektionstischen lagen das Suizidopfer und die junge Tote aus dem PKW. Um den alten Mann kümmerte sich Dr. Felix Plasshöhler, während sich Dr. Beisiegel bemühte, die Obduktion der Frau so schnell wie möglich zu beenden. Beide Rechtsmediziner arbeiteten still und konzentriert, ihre Assistenten begleiteten ihre Handgriffe schweigend. Was Beisiegel bisher an Ergebnissen vorzuweisen hatte, gefiel ihr nicht, beziehungsweise es bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Die junge Frau war nicht länger als neun Stunden tot. Die Totenstarre war noch nicht vollständig ausgeprägt, die Totenflecke korrespondierten nicht mit der Auffindesituation, was bestätigte, dass der Sterbeort nicht der Fundort war. Der Todeszeitpunkt lag irgendwann am frühen Morgen, zwischen fünf und sechs Uhr. Das Opfer schätzte sie auf vierzehn, höchstens fünfzehn Jahre. Frauen aus dem Nahen Osten waren häufig noch sehr jung, wenn sie ihren ersten Geschlechtsverkehr hatten. Nach den Sitten des Islam durften viel ältere Männer auch Mädchen ehelichen, die nach westlichem Recht noch minderjährig waren und unter dem Schutz des Gesetzes standen. Diese junge Frau hatte Sex gehabt. Beisiegel vermutete sogar, dass sie regelmäßigen Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Und über einen längeren Zeitraum hin. Sie hatte ihre Jungfräulichkeit schon vor längerer Zeit verloren. Die Deflorationsverletzungen sprachen eine deutliche Sprache, sie waren schon älter und vernarbt. Die Abstriche an Vagina, Mundschleimhaut und am After hatten dagegen frische Spermaspuren zutage gebracht. Ob dieser Sex einvernehmlich gewesen war, konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen. Die Hand- und Fußgelenke wiesen keinerlei Fesselspuren auf. Vielleicht stand die junge Frau unter Drogen. Um einen Suchtmittelmissbrauch auszuschließen, hatte sie eine Blutprobe an das Labor geschickt. Das Ergebnis stand noch aus.
Die Todesart dagegen stand fraglos fest. Die Stauungsblutungen um die Augenlider herum sprachen eine klare Sprache. Die Würgemale am Hals hatte sie besonders sorgfältig mit ihrer Kamera dokumentiert. Die tiefen Eindrücke der Daumennägel des Mörders lagen nahe dem Kehlkopf, was auch einen autoerotischen Todesfall nicht ganz ausschließen ließ. Es konnte also sein, dass der Mörder sie beim Sex zu stark gewürgt hatte und ihren Tod gar nicht absichtlich herbeiführen wollte. Die eilige Entsorgung ihrer Leiche war ein mögliches Indiz in diese Richtung. Panik. Die kopflose Handlungsweise, sie unabgedeckt im Kofferraum des Seat zu transportieren und die Flucht vor der Polizei ließen diese Vermutung zu. Was allerdings keine Erklärung dafür war, wieso eine Vierzehnjährige hier auf dem Sektionstisch lag. Woher kam sie? Wo waren ihre Eltern? Warum musste sie sterben? Stephanie Beisiegel fühlte sich elend, betrachtete die Nadel und den groben Faden, der schon bereit lag, um den Y-Schnitt auf dem Oberkörper des Mädchens wieder zu schließen. Bei Kindern brachte sie oft nicht die übliche Distanz auf, die in ihren Beruf so dringend notwendig war. Sie übergab die Tote an ihren Assistenten, brachte nicht die Kraft auf, den jungen schlanken Körper des Mädchens nach den Gepflogenheiten der Rechtsmedizin zu versorgen. Der Kollege übernahm schweigend.
„Das ist mal wieder eine Leichenschau, die mehr Fragen als Antworten aufwirft“, sagte sie, als sie neben ihren Kollegen Plasshöhler getreten war. Dabei sprach sie nicht aus, was sie eigentlich fühlte. Der Doktor hatte die Obduktion des alten Mannes beendet. Dennoch stand er aber noch über den Körper gebeugt da und betrachtete offenbar seine gleichmäßigen Stiche, mit denen er den Oberkörper des Toten wieder zugenäht hatte.
„Muss man sich in diesem Alter noch umbringen … mit 69 Jahren, meine ich? Er war in einem guten Zustand, für einen fast Siebzigjährigen“, murmelte er leise, deutete hin zu der Flasche mit dem Mageninhalt, die auf einem Sektionswagen stand.
„Mit der Menge an Zopiclon hätte er eine Elefantenherde schlafenlegen können.“
„Manchmal erscheint alles sinnlos. Doch für ihn war es sicher schlüssig, sich das Leben zu nehmen“, antwortete Beisiegel. Er sah sie kurz mit einem prüfenden Blick an. Verstand, dass seine Kollegin bei all ihrer Professionalität von der Situation angegriffen war. Er streifte sich die grüne Mütze von der Stirn, riss sich die Handschuhe mit einem ploppenden Geräusch von den Händen und ließ beides in einen Mülleimer gleiten. Er signalisierte dem Assistenten, dass er mit der Leichenschau fertig war.
„Lust auf einen Kaffee, Frau Kollegin?“ Stephanie Beisiegel nickte eifrig. „Aber sowas von.“
Als sie erneut an dem Tisch mit der jungen Toten vorbeikam, warf sie einen langen Blick auf den Asservatenbeutel mit der Reizwäsche. Irgendetwas an diesem Kleidungsstück erschien ihr nicht passend. Was es war, konnte sie nicht sagen.
*
Bonn
„Kniet euch hin!“ Daniel Reeks Flüstern war ein Befehl. Da die beiden Männer nicht sofort gehorchten, hob er die Hand. Sofort stürzten aus dem Dunkel des Raumes zwei Gestalten nach vorne. Einer der Männer wurde brutal am Kragen gepackt und zu Boden gedrückt, der andere erhielt einen Schlag in den Nacken und sank in sich zusammen.
„Hey, was soll das? Was haben wir getan?“, schrie Argun Bassajew und beugte sich zu seinem Freund Mansur Kadyrow hinüber. Sofort wurde er zurückgerissen und der Kerl hinter ihm schlug ihn mit einem Gegenstand auf den Kopf. Bassajew schrie auf und taumelte nach vorne. Der Kerl riss ihn wieder hoch, hielt seinen Hals von hinten mit einem eisernen Griff gepackt. Die riesige Hand des brutalen Kerls umfasste ihn beinahe völlig. Mit der anderen griff er in den dunklen Haarschopf Bassajews und zwang ihn, Daniel Reek anzusehen. Das Gesicht Bassajews war kreidebleich vor Angst, Blut lief ihm über die Stirn. Mansur Kadyrow rappelte sich langsam hoch, stöhnte. Reek gab dem Mann, der ihn zu Boden geschlagen hatte, einen Wink. Er griff ihm ebenfalls ins Haar und überstreckte seinen Kopf so, dass er Reek ansehen musste. Doch seine Augen flatterten, er sank in die Ohnmacht zurück. Reek stand breitbeinig vor den beiden Männern und nahm seine Sonnenbrille ab und steckte sie sich in die Tasche seines Hemds. Dann führte er die linke Hand an den Mund, hielt inne, als müsse er angestrengt nachdenken. Das dämmrige Licht der alten, verstaubten Neonröhren in der Lagerhalle beleuchtete die Szenerie nur mäßig. Die beiden Männer knieten in der Mitte einer alten LKW-Plane. Was das für sie bedeutete, ahnten sie offensichtlich nicht. Reek ließ seinen Arm sinken und atmete einmal tief durch. Er schüttelte den Kopf. „Was soll ich auf eine solche Frage nur antworten?“, fragte er beinahe schwülstig. Seine beiden Helfer ließen ihre Zähne aufblitzen.
„Wir haben die Kleine zurückbringen wollen“, stieß Bassajew gepresst hervor.
Reek riss die Augen auf. „So, ihr habt sie zurückbringen wollen? Und? Wo ist sie jetzt? Die Bullen haben sie. Warum haben die Bullen das Mädchen? Kannst du mir das sagen?“ Er beugte sich zu dem Mann hinunter und legte seinen Zeigefinger auf die Lippen.
Der Kerl hinter Bassajew forcierte dessen Antwort mit einem brutalen Ruck. Die Angst jagte Bassajew den Puls hoch, Schweißperlen mischten sich in das Blut auf seiner Stirn.
„Die Bullen haben uns angehalten. Was hätten wir denn tun sollen?“, versuchte er eine klägliche Ausrede zu platzieren. Reek nahm den Zeigefinger von den Lippen und ließ ihn vor Bassajews Gesicht kreisen.
„Und warum haben euch die Bullen angehalten?“
Bassajew zuckte mit den Schultern.
„Du bist gefahren. Du musst wissen, warum sie dich angehalten haben.“
„Nein, das weiß ich nicht.“ Sein Protest wirkt schwach.
„Ihr habt eure wertvolle Fracht verloren, die Bullen haben sie jetzt und ihr hockt hier vor mir und wollt mir verklickern, dass niemand die Schuld daran hat? Vor allem ihr beiden nicht?“ Er erhob sich, streckte die Arme weit nach hinten aus, als hätte ihm das Hocken große Schmerzen bereitet. Er drehte langsam einen langen Kreis, spähte hinauf zu der dämmrigen Neonlampe. Nahm die Sonnenbrille aus der Tasche und setzte sie auf, begann leise ein Lied zu pfeifen.
Auch nach einer halben Minute erhielt er keine Antwort. „Wisst ihr, worauf ihr da kniet?“, fragte er und drehte sich schnell zu der Gruppe um, beeilte sich, zu ihnen zurückzukehren. Bassajew senkte seinen Blick. Sah es und verstand sofort.
„Nein!“, schrie er und wollte sich aufbäumen, doch der eiserne Griff in seinem Nacken zwang ihn zurück. „Wir haben alles so gemacht, wie es abgesprochen war. Wir wollten sie an den abgesprochenen Platz bringen, hatten noch etwas Zeit und da haben wir in der Stadt etwas gegessen … dann kamen die Bullen. Wir haben nichts getan!“, jammerte Bassajew.
Reek strich sich mit dem Finger unter der Nase entlang. „Etwas gegessen. Erst ficken, die Kleine umbringen und dann etwas essen. Ihr seid schon ganz abgekochte Gangster, was?“, fragte er listig, lächelte Bassajew teuflisch an. Der verzog sein Gesicht. Wusste nicht, was er tun sollte. Seine Mundwinkel zuckten, als wolle er ebenfalls lächeln. Neben ihm stöhnte Mansur Kadyrow auf und langsam öffnete er sie Augen. „Wer von euch ist gefahren?“, fuhr ihn Reek sofort an. Kadyrow stöhnte erneut. Reeks Hand fuhr nach vorne und schlug dem Mann ins Gesicht. „Aufwachen, Arschloch! Wer ist gefahren?“
Kadyrow drehte den Kopf und sah seinem Freund ins Gesicht. Seine Augenlider flackerten erneut, sein Kopf taumelte zurück. Ein erneuter Schlag holte ihn ins Hier und Jetzt zurück. „Ich nicht!“, presste er hervor. Er öffnete nur halb benommen ein Auge und schielte Reek an.
„Stimmt das? Bist du gefahren?“, fragte Reek jetzt Bassajew. Dessen Mundwinkel zuckten. „Du?“
„Ja, Scheiße, ich bin gefahren!“, stieß Bassajew gepresst aus. Speichel floss aus seinem Mund. Er bemerkte es, leckte sich schlürfend über die Lippen.
Reek verzog angewidert sein Gesicht, atmete einmal schnell durch, griff nach hinten an seinen Hosenbund. Blitzschnell zog er seine Waffe aus dem Gürtel und machte einen Schritt auf Bassajew zu. Noch bevor sich dessen Augen vor Schreck weiten konnten, bellte ein Schuss auf und Bassajews Körper wurde von der Wucht nach hinten gerissen.
Dann nahm er Kadyrow ins Visier. Der wollte zurückweichen, doch er wurde in einem tödlichen Griff gehalten. „Nein! Ich will nicht sterben!“, jammerte er. Reek reckte den Kopf hoch und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
„Was? Warum sollte ich dich am Leben lassen“, fragte er und fuchtelte mit der Waffe vor Kadyrows Gesicht herum.
„Weil ich nicht gefahren bin. Argun ist gefahren. Er wollte essen gehen, ich wollte sofort weiterfahren, aber er musste sich noch einen Döner reinwerfen. Ich hätte es anders gemacht!“
„Steh auf!“, befahl Reek. Der Mann hinter Kadyrow zerrte an dem Gefesselten, bis er aufrecht vor seinem Boss stand. So aufrecht, wie er konnte. Kadyrow schwankte bedenklich, doch die Furcht vor der erhobenen Waffe hielt ihn aufrecht. Reek trat dicht an ihn heran, hielt die Waffe vor Kadyrow mit nach oben gerichtetem Lauf in der Schwebe. Plötzlich drückte er sie dem Mann auf das rechte Auge.
„Peng!“, ahmte er den Schuss nach, der noch nicht erfolgt war. Kadyrow verzog seinen Mund, begann zu schluchzen. Die Waffe drückte sich weiter auf sein rechtes Auge.
„Memmen sterben! Bist du eine Memme?“, fragte Reek diabolisch lächelnd. Kadyrow wagte nicht, sich zu bewegen. „Was?“, fragte Reek und legte seine linke Hand ans Ohr, bewegte den Kopf in Richtung des Mannes. Wartete mit geöffnetem Mund auf einen Antwort.
„Ich bin keine Memme!“, presste Kadyrow hervor.
„Okay“, sagte Reek und zog die Vokale lang. „Er sagt, er sei keine Memme. Wollen wir ihm das glauben?“ Dies fragte er keineswegs den Kerl hinter Kadyrow, sondern wandte sich an einen imaginären Zuhörer. Mit einem großen Schwung nahm er die Waffe vom Auge des Mannes, aber nur um sie direkt wieder auf ihn zu richten. Kadyrow erstarrte sofort wieder, nachdem er kurz aufgeatmet hatte.
„Okay, wir wollen es ihm also glauben. Aber wenn du erneut versagst, dann endest du wie dein Kollege dort“, sagte er und deutete auf den Toten. Für den Kerl hinter Kadyrow war das das Signal, ihn loszulassen. Er sackte nach vorne auf die LKW-Plane. Das Blut seines Freundes drang in den Stoff seiner Hose ein. Er sah dessen Mörder ins Gesicht und schluckte. Dessen Augen wiederum blieben hinter der verspiegelten Brille verborgen.
„Schafft das weg“, befahl Reek angewidert und deutete auf die Leiche. Langsam steckte er seine Waffe zurück in den Hosenbund. Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er los und begann wieder das Lied zu pfeifen, das er zuvor schon angestimmt hatte. ‚I’m singing in the rain‘ klang durch die Stille der Halle. Kadyrow sah ihm verbittert hinterher und verstand nicht, warum Reek plötzlich einen seltsamen Hüpfer machte. Dann noch einen und plötzlich drehte er sich mit ausgebreiteten Armen um sich selbst.
*
Bonn, Präsidium
Oliver Hell sah seine Freundin Stephanie an. Ihr Gesicht wirkte kantig und verkrampft. So kannte er sie nicht. Das heißt, so hatte er sie seit den Vorfällen in Dänemark nicht mehr erlebt, als zwischen den Freunden eine Zeitlang Funkstille herrschte. Jetzt war allerdings nicht das Verschwinden ihrer Freundin Sarah, für das Hell die Schuld trug, weil er sich dort in polizeiliche Ermittlungen eingemischt hatte, das Thema, sondern es ging um die jugendliche Tote. Beisiegel saß vor Hells Schreibtisch, reckte den Kopf hoch und sah aus dem Fenster, als wolle sie dem Gespräch aus dem Weg gehen.
„Was ist deine Meinung?“, fragte er sie trotzdem, legte den vorläufigen Obduktionsbericht vor sich auf dem Tisch ab und versenkte sich in seinem bequemen Drehstuhl mit der hohen Lehne. Wollte beruhigend wirken, als könne seine entspannte Körperhaltung dazu beitragen, dass auch sein Gegenüber entspannte. Langsam drehte sie ihren Kopf und sah Hell in die Augen.
„Steht im Bericht“, sagte sie langsam. Von Entspannung war keine Spur.
Vielleicht sollte ich es lassen, sie weiter zu bedrängen, dachte Hell.
„Du kannst also einen Unfall nicht ausschließen?“, hakte er trotzdem nach. Er konnte nicht anders. „Ich kann dir erst mehr sagen, wenn das Ergebnis vom Tox-Screen und die Blutanalyse vorliegen“, antwortete sie hastig und sah wieder aus dem Fenster hinaus. Schlang die Arme umeinander und barg sie in ihrem Schoß.
Hell kannte seine Freundin, die Rechtsmedizinerin nun schon seit mehreren Jahren. Ermordete Kinder versetzten ein Präsidium immer in Alarmstimmung, es glich dann einem Ameisenhaufen. Auch die Mediziner konnte man da nicht ausschließen. Und die forsche Stephanie erst recht nicht. Sicher hatte sie die Obduktion der Toten hinter sich und es auch ihm gegenüber schon bestätigt, dass es sie arg mitgenommen hatte. Nachdem sie Hell die Ergebnisse vorbeigebracht hatte, würde sie sich den Rest des Tages freinehmen und nachhause fahren. Doch er spürte, dass seine Freundin nicht nur ihre Betroffenheit zu schaffen machte. Da war noch mehr.
„Was ist noch?“, fragte er sanft.
„Nichts. Was soll sein?“, fragte sie und ihr Kopf flog herum.
„Weil ich dich kenne und bemerke, dass da noch etwas ist, dass dich beschäftigt. Raus damit.“
Wenn Hell Pfeife geraucht hätte, was er vor zwanzig Jahren einmal ausprobiert hatte, so würde er sich jetzt ruhig und gelassen eine Pfeife stopfen. Frauen empfanden Pfeifenraucher als angenehm. Früher jedenfalls. Ob das heute noch immer so war, konnte er nicht sagen. Er rauchte seit Jahren nicht mehr und fühlte sich seitdem besser. Manchmal empfand er sogar Mitleid mit den Rauchern, die heutzutage von Schockbildern auf den Zigarettenpackungen gequält, von der Gesundheitswelle überrollt, ihr Dasein in elenden Raucherecken fristen mussten. In Hells Jugend gab es kaum etwas schöneres, als in verräucherten Kneipen mit Freunden am Abend eine Packung Kippen durchzuziehen. Im Geiste stopfte er sich jetzt eine Pfeife und setzte den entspanntesten Gesichtsausdruck auf, zu dem er überhaupt imstande war.
„Was du so alles bemerkst“, sagte sie und ihr Blick signalisierte ihm, dass er recht hatte. Als Aufforderung reichte jetzt nur noch ein Augenzwinkern und Stephanie begann zu sprechen. Erzählte ihm, dass ihr Freund die Beziehung beendet hatte. Sie waren erst seit ein paar Monaten zusammen gewesen und jetzt kam das Aus für sie völlig überraschend. Er beantwortete ihre Anrufe nicht und ließ sich auch in der Firma verleugnen. Oliver Hell nahm Anteil an ihren Gefühlen. Auch wenn er diese Beziehung – sie hängte ihr Gefühlsleben nie an die große Glocke – nur am Rande mitbekommen hatte, so war ihm aufgefallen, dass sie in letzter Zeit ausgeglichener und fröhlicher wirkte. Und jetzt saß sie wie ein Häufchen Elend vor ihm.
„Du hättest mir früher davon erzählen sollen“, sagte er sanft, nachdem sie aufgehört hatte zu sprechen. „Das hätte geholfen.“
„Naja, vielleicht“, gab sie zu und drehte den Kopf wieder zur Seite. „Wenn er mir wenigstens einen Grund nennen würde, aber dieses Schweigen macht mir zu schaffen. Wenn es etwas mit meinem Beruf zu tun hat, dann kann er es mir doch sagen.“
„Warum sollte es etwas mit deinem Beruf zu tun haben?“
„Er hat immer gesagt, dass ich ihm gegenüber besser verschweige, was ich tagsüber so erlebe. Als Manager lebt er natürlich in einer heilen Welt ohne Leichen und Mordopfer.“
Hell stieß die Luft aus. „Auch Manager gehen über Leichen, wenn sie erfolgreich sein wollen.“ Auf ihrem Gesicht erschien ein flüchtiges Lächeln. „Ich verstehe das nicht.“
„Stephanie, wir sind so in unserem Trott gefangen, dass wir vielleicht nicht mehr objektiv sind. Zerstückelte Leichen, irre Mörder und Psychopathen gehören zu unserem täglichen Erleben, so wie bei ihm Terminhetze, Meetings und Erfolgsdruck. Vielleicht verpackt er das nicht, wenn seine Partnerin täglich damit umgeht und sich austauschen möchte. Ich habe bei Franziska das große Glück, dass sie ebenfalls aus dem Metier stammt und versteht, was ich in meinem Beruf erlebe.“
„Aber er hätte es mir doch sagen können, ich hätte mich dann zurückgehalten“, begann sie erneut.
„Ist es denn das, was wir von einem Partner erwarten? Komm her, küss mich, aber erzähl mir nichts von deiner Arbeit?“
Stephanie entkrampfte etwas, sie rieb sich die Hände und machte Anstalten aufzustehen. Ihr Lächeln war jetzt gequält, als sie sagte: „Wenn es so unerträglich für ihn war, dann ist es sicher auch besser so, wie es gekommen ist.“ Sie stieß sich von der Lehne ab und stand auf, seufzte. „Ich hätte ja auch mal ein kleines bisschen Glück haben können, Oliver.“
Hell beeilte sich, aufzustehen und trat an sie heran, fasste sie bei den Oberarmen und rieb sie. „Lass den Kopf nicht hängen, bitte!“
„Sie hob erst die Augenbrauen, dann den Kopf. „Ich doch nicht, Indianer kennen keinen Schmerz“, sagte sie und presste die Lippen zusammen.
„Weiser Spruch von dir, Squaw ‚Schnelles Messer‘“, scherzte Hell und nahm sie in den Arm. Beisiegel ließ es bereitwillig geschehen, drückte sich fest an ihn. Er spürte, wie ihre Brust sich hob und senkte.
Zwischen Lea Rosin und Sebastian Klauk herrschte noch immer Eiszeit. Nacheinander betraten sie den Besprechungsraum, in Hells Büro standen ihr Chef und Stephanie Beisiegel eng umschlungen vor Hells Schreibtisch. Klauk warf seiner Freundin einen vielsagenden Blick zu, zog die linke Augenbraue hoch und sah Lea über den Rand seiner Brille an. „Aha“, sagte er leise und bedeutungsvoll, als hätte er ein Pärchen beim verbotenen Knutschen erwischt.
„Lass sie doch“, zischte sie zurück, doch auch sie konnte den Blick nicht von dieser ungewöhnlichen Szene lassen. Hell und Beisiegel. Die Doktorin löste den Griff, dann küsste sie Hell auf die Wange. Er tätschelte ihr Gesicht und dann bemerkten die beiden die neu Angekommenen. Die Doktorin fuhr zusammen. Sofort änderte sich der Gesichtsausdruck der Kollegin, sie verließ Hells Büro und kam schnell auf sie zugelaufen.
„Ich habe es eilig, Guten Tag und Auf Wiedersehen“, sagte sie im Vorbeigehen ohne ihnen einen Blick zuzuwerfen; schon war sie auf dem Flur. Mit schnellen Schritten entfernte sie sich.
Gemeinsam traten beide an die Tür zu Hells Büro, das nur mit einer Glaswand von den anderen Arbeitsplätzen und dem großen Teil des Büros, in dem der Besprechungstisch stand, getrennt war. „Haben wir gestört?“, fragte Klauk offensiv.
Hell musste schlucken. Er sah überrascht aus. „Nein, überhaupt nicht. Stephanie hat Liebeskummer. Was habt ihr beiden erfahren?“, fragte er und wechselte damit sofort und endgültig das Thema. Chance vertan, dachte Klauk, sah zu Lea hinüber und begann mit seinem Bericht.
*
Bornheim, Springer-Hof
Josefina Springer stand mit vor der Brust verschränkten Armen im Hof. Mit gespitzten Lippen begutachtete sie die Arbeit der Fensterputzer, die im Obergeschoss die Sprossenfenster von außen putzten. Drei Männer einer Reinigungsfirma waren damit beschäftigt, das Gut für den Mittelalter-Markt, der am 21. des Monats auf dem Gutshof der Familie Springer stattfinden sollte, auf Vordermann zu bringen. Neben der Hausherrin stand Floria von Matussek, die Hausdame. Das grau eingedeckte Haupthaus mit dem Krüppelwalmdach wurde von zwei großen ehemaligen Stallungen flankiert, die mittlerweile um- und ausgebaut, das ohnehin schon üppige Raumangebot des Haupthauses noch vergrößerten. Den linken Flügel bewohnten die Kinder Bertram und Undine, auf der rechten Seite lagen die Wohnung der Hausdame, sowie zwei kleine Gästeappartements. Viel zu tun für die Männer der Reinigungsfirma. Hinter der Hausherrin werkelten die Gärtner, die sich um die Blumenrabatten und den Schnitt des Rasens kümmerten.
„Wenn die Herren weiter solch eine faszinierende Geschwindigkeit an den Tag legen, sind wir vielleicht gegen Ende des Sommers soweit“, rief sie dem Mann auf dem Steiger zu. Der Mann nickte und gab seinen Kollegen eine Anweisung, sich zu beeilen. Auf Russisch. Die Fensterputzer mussten die Reinigungsarbeiten von draußen erledigen. Josefina Springer duldete keine Menschen in ihrem Haus, die sich nicht persönlich kannte. Dazu zählten auch die Angestellten der Reinigungsfirma. „Das ist doch alles zwielichtiges Gesindel! Wer putzt schon freiwillig die Fenster anderer Menschen? Kurz drauf gibt es einen Einbruch auf dem Hof, weil die vorher alles ausgekundschaftet haben. Dem kann man mit Vorsicht entgegentreten“, hatte sie behauptet, als vor Jahresfrist das erste Mal der Auftrag an eine externe Firma vergeben wurde. Seitdem hatte die Familie Springer schon mehrere Firmen getestet, diese hier war die Vierte in drei Jahren.
„Ich werde ein Auge darauf haben, Frau Springer“, versicherte ihr Floria von Matussek. Die resolute Endvierzigerin war seit fast zehn Jahren im Haus der Familie tätig. Die Tatsache, dass sie einen Adelstitel trug, gefiel vor allem der Hausherrin. Sie trug ihr blondes Haar zu einem strengen Knoten gebunden. Ihren klugen forschenden Augen entging nichts, sie war loyal. Daher war sie die absolute Vertrauensperson ihrer Chefin.
„Ich weiß, Frau Springer, Sie können sich wie immer auf mich verlassen.“
„Um halb vier kommt mein Mann vom Flughafen, bis dahin will ich keinen von denen mehr hier sehen. Sagen Sie denen das. Wenn nicht, kürze ich die Rechnung um die Hälfte“, drohte sie Ressentiments an.
„Verlassen Sie sich auf mich!“, wiederholte die Hausdame und drückte beide Augen zur Bestätigung fest zu. Sie wusste, wie energisch die Besitzerin des Hofes sein konnte. Sie hatte zwei Kinder der Springers aufwachsen sehen, kannte sie, seitdem sie acht und zwölf Jahre alt waren. Der Sohn, Bertram, war der mittlere der Springer-Kinder. Seine vier Jahre jüngere Schwester Undine war das Nesthäkchen und der Liebling ihres Vaters. Sie sah ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Man hätte vermuten können, dass sie sich deshalb auch gut verstanden. Doch stimmte die Chemie zwischen Tochter und Mutter oft nicht.
Josefine Springer schob ihr Kinn energisch nach vorne und ließ Frau von Matussek am Fuß der großen Freitreppe stehen. Es war alles gesagt zwischen Chefin und Angestellter. Die Hausdame drehte sich herum und sah prüfend zu den Gärtnern hinüber. „Könntet ihr euch etwas beeilen?“, herrschte sie den am nächsten stehenden an. Der Angesprochene nickte und ließ sich aber nicht beirren, machte weiter in seinem Arbeitstempo. Dafür war Friedrich Grundmann schon zu lange Gärtner bei den Springers, hatte viele Hausdamen kommen und gehen sehen. Von dem Gequengel dieser Frau ließ er sich nicht mehr einschüchtern. Bis zur Rente hatte er noch zwei Jahre. Also gab es keinen Grund, sich noch über die Maßen zu beeilen. Als von Matussek ihrer Chefin ins Haus gefolgt war, erhob er sich und streckte sein schmerzendes Kreuz durch. Die Arthrose in seinen Gelenken behinderte ihn zusehends mehr. Doch er biss die Zähne zusammen und sah zu seinem Kollegen hinüber. Der junge Russland-Deutsche hatte sich prächtig entwickelt. Benedict Springer hatte ihn eines Tages mitgebracht und befohlen, dass er ab jetzt im Garten der Springers arbeiten solle. Was der Gutsbesitzer befahl, stellte niemand in Frage. Auch wenn sich nach kurzer Zeit herausstellte, dass der junge Mann keine Ahnung von Gartenarbeit hatte. Er konnte eine Rose nicht von einem Gänseblümchen unterscheiden. Grundmann hatte sich des schweigsamen Mannes angenommen und schon bald hatte er ihm die Grundlagen des Gärtnerns beigebracht. Fleißig und duldsam war er ohnehin, Eigenschaften, die auf einem solchen Gutshof ganz oben standen. Wer hier nicht spurte, konnte ganz schnell wieder auf der Straße sitzen. Sergej Dunst hatte es geschafft, die Straße blieb ihm erspart. Nach ein paar Wochen begann er zu erzählen, Grundmann erfuhr, dass er zuvor in der Fleischfabrik von Edgar Vilmers tätig war. Vilmers war der größte Fleischproduzent im ganzen Rhein-Sieg-Kreis und der beste Freund von Benedict Springer. Die beiden Männer waren schon von Kindesbeinen an Freunde, gingen zusammen auf die Jagd und richteten auch gemeinsam das Fest aus, das am 21. Juli hier auf dem Hof stattfinden sollte. Mit Ochsen am Spieß, selbstverständlich gesponsert von Vilmers und allerlei mittelalterlichem Treiben. Dazu reiste eigens eine riesige Gaukler-Truppe an, die mit ihrem altertümlichen Markt und passenden Kostümen den Hof ein paar Jahrhunderte in seine Vergangenheit zurückversetzte. Grundmann wuchtete eine Mistgabel in die Schubkarre und schob sie über den Kiesweg hin zu Sergej. „Wir müssen noch die Rosenstauden mit Pferdeäpfeln versorgen. Hör hiermit auf, das kannst du auch morgen noch machen“, ordnete er an und schenkte dem jungen Russen ein mildes Lächeln. Er mochte diesen schweigsamen Kerl, doch manchmal hatte er das Gefühl, dass sich tief in dessen Seele etwas eingegraben hatte, das er nicht nach außen lassen konnte. Etwas Dunkles, Unheimliches. Manchmal blitzte etwas auf in seinen Augen. In der Fleischfabrik hatte er mit seinen großen Händen im Akkord Tiere zerteilt. Jemand, der dazu imstande war, besaß keine Empathie anderen Lebewesen gegenüber. So dachte Grundmann eine Zeitlang, bis er sah, wie Sergej mit den Hunden und Pferden umging, wie er mit den Welpen der Hofhündin spielte, sie behutsam in seinen riesigen Pranken hielt und etwas auf Russisch murmelte. Sergej war kein schlechter Kerl. Grob, aber mit der Seele eines Kindes.
Gemeinsam gingen die beiden Männer zwischen Haupthaus und linkem Nebengebäude hindurch, dorthin wo sich jetzt die modernen Stallungen befanden. Der Kies der Auffahrt knirschte unter ihren Stiefeln, als sie schweigend den Innenhof verließen.
Josefine Springer schob die kleine Spitzengardine zur Seite, beobachtete wiederum ihre Angestellten; verborgen hinter der großen schweren Eingangstür des Haupthauses, stand sie da. Man musste immer alles überprüfen. Wenn der Schlendrian unter den Angestellten einmal eingezogen war, bekam man ihn nur sehr schwer wieder bekämpft. Doch auf Frau von Matussek konnte sie sich verlassen. Sie ließ die Gardine nach unten gleiten und überlegte, ob die Köchin mit dem Essen für ihren Mann schon fertig war. Sie atmete einmal aus und machte sich auf dem Weg in die Küche des Hauses.
*
Bonn, Präsidium
Lea hatte erfolglos die Kollegen von der Bonner Vermisstenstelle befragt, die Sitte hatte für Klauk leider auch nur ein Kopfschütteln parat gehabt. Dementsprechend wenig motiviert fiel auch ihr Bericht aus.
„Ich kann nur sagen, dass sie sich an ihre Kollegen in anderen Regionen wenden wollen, um zu hören, ob dort eine junge Frau vermisst wird. Mehr können wir von da nicht erwarten“, schloss er mit einem Achselzucken. Vermied es, Lea anzusehen. Christina Meinhold blieb dies nicht verborgen, sie vermutete, dass sie an einem geheimen Kummer litt. Dessen Grund sicher Klauk war. Mal wieder. Innerlich stieß sie einen Seufzer aus und dankte Gott dafür, dass sie von solchem Beziehungsstress verschont blieb. Auch wenn die Abende und Nächte oft sehr einsam waren, aber auch das überlebte sie.
„Wie sieht es mit den Flüchtlingslagern aus? Hat schon mal einer darüber nachgedacht, ob die junge Frau vielleicht ein Flüchtling sein könnte?“, fragte sie jetzt und schob den Gedanken in den Vordergrund, der ihr gerade spontan gekommen war.
„Flüchtling?“ Wendts Augen wurden schmal. „Und wie sollen wir das herausfinden? Du hast sicher gehört, dass tausende von Flüchtlingskindern in Deutschland spurlos verschwunden sind. Wie auch immer, ob es doppelte Anmeldungen sind oder schlicht und innig ein Fehler der völlig überforderten Ämter ist.“
Oliver Hell hörte dem Gespräch seiner Kollegen interessiert zu, hielt aber seinen Blick auf Bond gerichtet, der friedlich neben Rosins Schreibtisch auf dem Boden schlummerte.
„Ja, habe ich. Und auch wenn ein großer Teil von ihnen sicher an einem anderen Ort wieder auftaucht, so bleibt ein Teil von ihnen sicher wirklich verschwunden. Sie wurden auf der Flucht von ihren Eltern getrennt, erinnere dich an die Berichterstattung im Fernsehen und an die dramatischen Ereignisse an den Grenzen im Osten. Das war ja menschenunwürdig“, brachte Meinhold mit einem Klos im Hals hervor.
Wendt betrachtete sie nachdenklich. „Und wo willst du da ansetzen? Ich meine, wenn wir die ganzen Listen mit verschwundenen Kindern abarbeiten wollen, dann finden wir den Mörder erst, wenn alle Flüchtlingslager längst wieder leer sind!“
„War auch nur so eine Idee, das ‚Bonner Bundesamt für Migration und Flüchtlinge‘ können wir auf jeden Fall einschalten oder?“
Hell löste den Blick von seinem Hund und sprach Meinhold direkt an. „Kümmere du dich bitte darum, der Ansatz ist so gut, dass man ihm nachgehen sollte.“
Meinhold nickte und verbuchte es gedanklich als Erfolg.
„Wir müssen sonst eingestehen, dass wir rein gar nichts haben“, sagte er dann und ließ den Blick durch die Reihe gehen.
„Es ist allerdings auch noch recht früh, wir dürfen nicht vergessen, dass wir keinen herkömmlichen Fall vor uns haben, keine Leiche in einem Haus gefunden haben und nicht im Umfeld nach einem möglichen Täter suchen können, sondern wir haben noch nicht einmal einen Namen“, wandte Klauk ein.
„Richtig“, stimmte ihm Hell zu.
„Was sollen wir tun? Ein Bild veröffentlichen? Und Gefahr laufen, dass sich die Medien auf das Thema stürzen und Gott weiß was draus konstruieren? Tenor: Jetzt bringen sich die Flüchtlinge schon gegenseitig um. Danke, Mutti Merkel!“
Hell schüttelte den Kopf. „Nein, wir halten uns das noch in der Hinterhand. Sollten wir keine heiße Spur bekommen, können wir das Bild noch immer der Presse überlassen. Apropos Bild: Hat die Fahndung nach den beiden Flüchtigen schon etwas ergeben?“
Klauk fühlte sich angesprochen und verneinte die Frage. „Leider nein.“
Als sich plötzlich die Tür zum Besprechungsraum öffnete, erhielt der Auftritt von Constanze Nimmermann die nötige Beachtung.
„Hallo zusammen, ich bin die Neue in der KTU und dort die Ersatzfrau für Julian Kirsch. Mein Name ist Constanze Nimmermann“, sagte sie und lächelte. Hell hätte sie ohne den weißen Overall nicht erkannt und grüßte als erster zurück. Die widerspenstige Locke, die ihm schon bei Untersuchung bei der Kiesgrube aufgefallen war, gehört zu einem blonden Wuschelkopf.
„Hallo, Sie haben Ergebnisse für uns? Hoffentlich ist etwas Außergewöhnliches dabei“, wollte er wissen. Die Neue hörte sich erst die freundliche Begrüßung aller an, bevor sie antwortete. „Leider habe ich nichts wirklich Bahnbrechendes für Sie, Kommissar Hell“, antwortete sie in die Runde, ihr Blick fing sich bei Klauk. Es war, als schenkte sie ihm ein besonderes Lächeln.
„Das ist genauso viel, wie wir bereits haben“, stellte Hell ernüchtert fest. Nimmermann kam jetzt zu ihm an den Tisch und gab ihm einen schmalen Aktenordner in die Hand.
„Sorry, die Abdrücke im Auto stammen von der Besitzerin, die anderen, die wir am Lenkrad, den Türen und auf dem Kofferraumdeckel gefunden haben, sind nicht im System. Unsere beiden Verdächtigen sind bislang nicht polizeilich aufgefallen.“
Wieder sah sie zu Klauk hinüber. Lea blieb dieser fragende Blick nicht verborgen. Das erste Mal, seitdem sie wieder im Präsidium angekommen waren, sah sie zu ihrem Freund hinüber. Doch dieser Blick verriet nichts Gutes.
„Und was ist mit der Reizwäsche, die die Tote trug?“, fragte Hell sie. Nimmermann nickte, schien sich aber nur schwer zu einer Antwort durchreißen zu können. Sie war mit ihren Gedanken ganz offensichtlich woanders.
„Hmh, die Kollegen sind noch bei der Untersuchung. Es gibt Spermaspuren am Slip, das würde sich mit den Ergebnissen von Doktor Beisiegel decken, die herausfand, dass diese junge Frau kurz vor ihrem Tod noch Sex hatte.“ Diese Worte sprach sie ohne Bedauern. Plötzlich erhellte sich ihr Gesicht und es platzte nur so aus ihr heraus: „Sebastian Klauk, jetzt hat es Klick gemacht! Mensch, dass ich da nicht gleich drauf gekommen bin“, entfuhr es ihr begeistert. Klauk konnte ihren Enthusiasmus nicht teilen, fuhr sich aber verlegen mit der Hand über das Haar. Spürte sicher, wie sich Leas glühender Blick von rechts langsam in sein Hirn bohrte. Constanze ging die drei Schritte zu ihm hinüber und baute sich neben ihm auf. „Du erkennst mich immer noch nicht, stimmt’s?“, fragte sie ihn lächelnd.
„Nein“, antwortete Klauk ohne Bedauern.
„Friederike Nimmermann. Die kleine nervige Schwester?“, fragte sie vorsichtig weiter. Klauk sah sie prüfend an, dann schlug er sich mit der flachen Hand auf die Stirn. „Conny?“ Auch sein Gesicht hellte sich auf.
„Bingo! Die Conny!“
„Verrückt, wie lange ist das denn her?“, ließ er seiner Überraschung freien Lauf.
„Fünfzehn Jahre … mindestens, Sebastian“, antwortete sie froh. „Wir können gerne mal einen Cappuccino trinken gehen und uns um das Update kümmern. Ich würde mich total freuen“, schlug sie vor.
„Gerne, Conny“, entfuhr es Klauk, der noch nicht nach rechts geschaut hatte. Constanze legte ihm zu allem Überfluss die Hand auf die Schulter. „Ich weiß ja jetzt, wo ich dich finde!“
„Wenn keiner mehr Fragen hat, dann mache ich mich jetzt wieder auf in die KTU“, sagte Nimmermann und sah dabei nur Hell an. Der konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen, da er, anders als Klauk, in Leas Gesicht schauen konnte. Und darin lesen.
„Schon gut, vielen Dank für die Infos, Frau Nimmermann.“
Constanze warf einen Abschiedsgruß in die Runde, Sebastian schenkte sie ein letztes Lächeln. Als sie sich der Tür zugewandt hatte, drehte sie sich noch einmal um, warf ihm einen Kussmund zu. Kurz bevor Lea eskaliert wäre, schloss sie die Tür hinter sich.
Wendt brachte es nicht mehr fertig, sich zu beherrschen. Er prustete los. „Ich bin’s, die Conny!“, äffte er die Neue nach und beeilte sich aufzustehen, damit er aus der Reichweite von Klauk kam. Und aus der von Lea. Die saß da, starrte die Tischplatte vor sich an und schien sich gerade noch so zu beherrschen. Ihre Gefühlslage war wie ein offenes Buch. Außer ihren vor Wut mahlenden Kiefern blieb ihre Gesichtsmimik versteinert.
„Bevor uns hier die Innereien und Organe um die Ohren fliegen“, feixte er.
„Was ist denn?“, fragte Klauk unbedarft. Lea drehte den Kopf zu ihm, funkelte ihn an.
„Die machen sich über uns lustig, Sebastian, weil du dich benommen hast, wie ein Idiot“, fuhr sie ihn an.
„Was ist denn?“ Klauk war in seiner Naivität einfach nur herrlich. Das fand nicht nur Hell.
„Das fragst du noch? Dass sie sich dir nicht gleich auf den Schoß gesetzt hat …“, rief sie erbost.
„Blödsinn, woher sollte ich denn wissen, dass die kleine Schwester einer ehemaligen Mitschülerin jetzt bei der KTU arbeitet?“
„Darum geht’s doch gar nicht! Du hast dich von ihr anmachen lassen. Und ich sitze daneben wie ein Depp. Wenn das deine Reaktion auf das von eben ist, dann muss ich dir sagen, dass ich jetzt umso mehr zu meiner Entscheidung stehe“, polterte sie weiter. Hell vermutete, dass es mehr als nur dicke Luft zwischen den beiden gab. Was in der letzten Zeit allerdings häufiger vorkam und sich meist als laues Lüftchen schnell wieder in Wohlgefallen aufgelöst hatte. Bis heute. Dennoch hörte er die letzten Worte seiner Kollegin mit Sorge. Doch konnte er sich damit nicht weiter beschäftigen, denn sein Handy klingelte. Es war Seltge. Hell hörte gespannt zu, hob zum Zeichen seiner inneren Anspannung die rechte Hand. Alle Kollegen, selbst Lea und Sebi, schwiegen und warteten auf das Ende des Telefonats.
„Okay, vielen Dank!“, sagte Hell schließlich, steckte das Handy in seine Brusttasche zurück. „Das war Seltge. Er hat zur fraglichen Zeit zwei Handys in der Nähe der Kiesgrube geortet und weiterverfolgt. Die Spur endet in einer Lagerhalle in Bonn-Auerberg. Die Zeit für Partnerschaftsdiskussionen ist beendet. Ihr beiden kommt mit mir, die anderen kümmern sich um die Flüchtlingsfrage“, ordnete er abschließend an. Lea und Sebastian fügten sich.
Lea folgte den Männern mit gesenktem Kopf durch den Flur. Auch auf der Fahrt nach Bonn-Auerberg sprach sie von sich aus kein Wort, beteiligte sich nicht an der Unterhaltung der Männer und sah die meiste Zeit nur aus dem Fenster. Auch auf eine Frage von Hell erwiderte sie nichts. Dann und wann warf sie Bond einen liebevollen Blick zu. Der Hund lag neben ihr auf dem Rücksitz eingeringelt. Ihre Hand fuhr in sein dichtes Nackenfell, kraulte ihn ausgiebig.
„Sagt mal, was ist eigentlich los mit euch beiden?“, fragte Hell schließlich leicht verärgert. Sie seufzte, antwortete aber immer noch nicht.
„Ich habe keine Lust, mit euch hier im Auto zu sitzen und zu spüren, dass zwischen euch dicke Luft herrscht. Ist es so wie sonst oder mache ich mir besser Sorgen?“
Klauk sah zu ihm hinüber. „Lea möchte die Beziehung lösen“, brachte er Wort für Wort hervor. Der Satz bereitete ihm große Mühe.
So schlimm hatte Hell es nicht erwartet.
„Stimmt das?“, fragte er und versuchte, im Rückspiegel ihren Blick zu erhaschen. Die Reaktion kam prompt und heftig. Sie kniff beide Augen zu und richtete sich in dem Sitz auf. „Ist ja klar, dass du es so darstellst, Sebastian“, zischte sie.
„Wie soll ich es denn sonst darstellen? Das ist es, was du eben auf dem Flur gesagt hast oder?“, konterte er sofort.
„Ich habe gesagt, dass du zu mir stehen sollst mit allem, was dazu gehört“, blaffte sie zurück. „Was ich ja auch mache“, protestierte er und hob energisch beide Arme.
„Und wenn ich mal deine Unterstützung benötige, dann ziehst du den Schwanz ein und sagst nichts. So wie eben! Das steht mir hier!“, sagte sie, strich sich mit der flachen Hand vor dem Kinn entlang. Was sie damit meinte, war Hell sofort klar. Die beiden hatten ein ernstes Problem. Größer als er vermutet hatte.
„Moment, bevor ich etwas sagen kann, müsste ich wissen, um welche Situation es geht. Kann mich da jemand aufklären? Geschrei ist immer der letzte Ausweg der Dummen. Und da ich keine Idioten und Proleten in meinem Team habe, bitte ich euch um Mäßigung!“
Beide fühlten sich ertappt und machten betretene Gesichter. Nach einem kurzen Schweigen begann Klauk erneut. Er räusperte sich und berichtete, was zuvor geschehen war. „Lea war oder ist der Meinung, dass ich ihr bei ihrer These mit den Ehrenmord zur Seite hätte stehen müssen. Selbst wenn ich nicht ihrer Meinung war. Das sehe ich anders …“, sagte er und wurde sofort wieder von ihr unterbrochen. „Du hättest wenigstens etwas sagen können, aber du hast mich blöd da sitzen lassen, weil …“
„Ist doch Unsinn, keiner im Team sieht in dir eine schlechte Polizistin, keiner denkt, dass du bescheuerte Thesen aufstellst und keiner möchte, dass du das Team verlässt“, fuhr er ihr nun in die Parade.
„Ruhig, Leute!“, unterbrach sie jetzt Hell, ordnete sich vor einem drängelnden SUV auf einer Abbiegespur links ein. „Ich muss eben hier mal regulierend eingreifen.“
Er betätigte das oberhalb der Rückscheibe eingebaute Blaulicht und öffnete schnell die Autotür. Stieg aus und ging zu dem Mercedes hinüber. Bond hob müde den Kopf und sah Rosin fragend an. Die streichelte kurz seinen Kopf und er ringelte sich schmatzend wieder ein. Der Fahrer reagierte verdutzt, als Hell ihm den Dienstausweis ins Fenster hielt. Neugierig beobachteten die beiden Streithähne ihren Chef. Als Lea sich wieder nach vorne umdrehte, trafen sich ihre Blicke. Sofort wich sie ihm aus. Hell kam zurück, setzte sich hinter das Lenkrad und startete in aller Gemütsruhe den BMW. Das Hupkonzert hinter ihnen ignorierte er einfach.
„Der Herr brauchte eine kleine emotionale Abkühlung, jetzt geht’s aber wieder“, griente er vergnügt. „Und ihr beiden? Braucht ihr auch eine Abkühlung?“
Sie zögerten mit einer Antwort, was er als Aufforderung begriff. „Also was? Lea, du denkst, dass deine Kollegen dich nicht ernst nehmen? Quatsch. Du bist eine brillante Polizistin und eine hervorragende Ermittlerin. Und wenn ich unbedingt jemanden in meinem Team haben möchte, dann bist du das! Querdenken gehört zum Job, aber man muss es auch aushalten, dass nicht alle immer der gleichen Meinung sind.“
Lea Rosin holte tief Luft und fuhr sich mit der Hand durchs kurze schwarze Haar. Dann suchte sie im Rückspiegel den Blickkontakt zu ihm.
„Echt jetzt?“
„Sicher“, kam als Antwort von Hell, der sich aber gerade von seinem Navigationsprogramm ablenken ließ. Das schlug ihm vor, an der nächsten Kreuzung links zu fahren, während er der Meinung war, geradeaus weiterfahren zu müssen.
Unsicher schaute er sich um. „Links? Was sagt ihr? Ich meine geradeaus oder?“
„Genau“, kam es in diesem Moment von Lea und Sebastian wie aus einem Mund.
„Seht ihr! Geht doch! Es ist gar nicht so schwer, einer Meinung zu sein!“
*
Bonn-Beuel
Lara betrachtete sich vergnügt im Spiegel. Das neue D&G-Shirt saß hervorragend. Auch wenn sie keinen BH darunter trug. Schelmisch zog sie das Shirt auf der linken Seite über die Schulter, so tief, dass man ihren Brustansatz sehen konnte. Für sie stand fest, dass sie es morgen auch beim Shooting tragen wollte. Am besten ebenfalls ohne BH. Schelmisch grinsend stellte sie sich vor, wie der Fotograf wohl darauf reagieren würde, doch dann wurde ihr schlagartig klar, dass er jeden Tag gutgebaute Models vor der Kamera hatte. Lasziv sich räkelnd und oft mit nur einem Hauch von Stoff bedeckt. So wie auch Milly Simmonds. Sehnsüchtig warf sie einen Blick hinüber zu dem Bildern von ihrem Idol, die über ihrem Bett hingen.
„Bald werden wir uns kennenlernen, versprochen!“, hauchte sie ihr entgegen. Direkt daneben hing das Bild von ihr und ihrem Hund Lucy, das einem Bild auf Instagram nachempfunden war. Ein Freund hatte es in seinem Auto von ihr aufgenommen. Lucy im Vordergrund und sie selbst mit offenem Haar schaut an dem Hund vorbei direkt in die Kamera.
Auf dem Bett lagen ausgebreitet einige Hosen, die sie in die engere Wahl genommen hatte. Nacheinander probierte sie die Hosen an, warf sie danach achtlos zurück. Bald verringerte sich die Auswahl. Sie konnte sich nicht entscheiden zwischen einer knallengen Hot-Pants aus Jeansstoff und einer weiteren Cargo-Hose, die kurz unter dem Knie endete. Farblich passte die Cargo-Hose besser, doch wollte sie so aufreizend wie möglich zum Shooting auflaufen. Dem Fotografen sollten die Augen übergehen, wenn er sie sah.
Passend betrat in diesem Moment ihre Mutter das Zimmer, bemerkte sofort den ausufernden Klamottenstapel auf dem Bett ihrer Tochter. Lara fuhr zusammen und befürchtete schon das Schlimmste. Das D&G-Shirt sollte sie keinesfalls sehen. Zu spät.
„Was zur Hölle veranstaltest du hier? Und was ist das für ein Shirt? Wo ist das her?“, schimpfte ihre Mutter los.
„Ich probiere meine Sachen an. Und hatten wir nicht verabredet, dass du anklopfst, bevor du reinkommst?“, rief Lara patzig zurück, rollte mit den Augen.
„Und wer darf das dann wieder alles bügeln?“, antwortete sie ärgerlich.
„Mama! Ernsthaft: Jeans bügeln? Wer tut so etwas?“, fragte sie und stemmte die Fäuste in die schmale Taille. Frau Siemons hasste Unordnung. Und wenn ihre Tochter sie so behandelte. Der mitleidige Blick ihrer Tochter ärgerte sie daher sehr.
„Woher ist das Shirt?“, hakte sie nach.
„Gehört Janine“, antwortete sie knapp und begann damit, die Jeans zurück in den Schrank zu legen. Natürlich nicht so ordentlich, wie ihre Mutter es erwartete. Doch die gab sich mit Laras Antwort noch nicht zufrieden. „Seit wann trägt Janine D&G-Shirts?“
„Oh, Mama. Seitdem es TK-Maxx in Bonn trägt, kann sich auch Janine solche Shirts leisten“, log sie schamlos. Ihre Freundin trug nie solche extravaganten Kleidungsstücke. Sie kleidete sich eher sportlich.
„Ich habe es noch nie an ihr gesehen.“
Lara hielt in der Bewegung inne, knuddelte eine Jeans, die sie nicht mehr tragen wollte zusammen und warf sie achtlos in die Ecke des Kleiderschranks.
„Kein Wunder, sie hat es auch erst letzte Woche gekauft“, log Lara weiter. Wenn man einmal angefangen hatte, musste man damit weitermachen. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass ihre Mutter so manche Lüge eher schluckte als die Wahrheit. Das nutzte sie auch oft aus, wurde zur Gewohnheit. Schlimmer noch, es war ihr nicht einmal mehr peinlich.
„Und jetzt darfst du es tragen?“, fragte sie ungläubig.
„Janine ist meine beste Freundin. Wir teilen alles“, antwortete sie gestelzt und betonte besonders das letzte Wort.
„Was ist mit dieser Jeans? Die war teuer, wenn ich mich richtig erinnere“, sagte sie und deutete auf die Ecke des Schranks, in der die ausgemusterte Hose gelandet war.
„Mama, die ist von letztem Sommer. Ich habe seitdem Hüften bekommen, die Hose klemmt am Popo“, antwortete sie beleidigt und schob ihrer Mutter wie zum Beweis die Hüfte hin. „Wenn du dich mehr für mich als für meine Kleidung interessieren würdest, hättest du das mitbekommen!“
Damit traf sie ihre Mutter an ihrer verwundbarsten Stelle. Keine Mutter ließ es sich gerne vorwerfen, sich nicht ausreichend um die Kinder zu kümmern. So war es auch bei Heidrun Siemons. Nach der Scheidung von ihrem Mann kam sie mit ihrem Job und den Alimenten des Vaters eigentlich gut über die Runden. Sie konnte sogar den Lebensstil ihrer Tochter finanzieren, las ihr jeden Wusch von den Lippen ab, aber sie war sich darüber in Klaren, dass ihre Fürsorge dem Mädchen gegenüber nicht den Vater ersetzte. Und sie musste viel arbeiten, um sich die geräumige Doppelhaushälfte in Bonn-Beuel leisten zu können. Doch ihrer Tochter reichte das alles oft nicht aus. „Ich interessiere mich für dich, Lara. Das weißt du genau. Wenn ich erst die Beförderung habe, dann …“, wollte sie sagen, doch Lara unterbrach sie. „Dann bist du noch weniger daheim, weil du mehr Verantwortung hast. Super, Mama, echt toll!“ Aus Laras Augen sprach diesmal echte Enttäuschung.
„Diesmal ist es anders“, sagte Heidrun Siemons entschuldigend, trat auf ihre Tochter zu und berührte sie am Arm.
„Ach, rede doch nicht, ich kenne das schon!“
Lara drehte ihrer Mutter den Rücken zu, begann, die Jeans ordentlich in den Schrank zu räumen. Immer noch besser, als sich weiter mit ihrer Mutter zu streiten. „Ich muss gleich noch Mathe machen“, sagte sie wie beiläufig.
„In einer dreiviertel Stunde gibt es Abendessen. Ich fände es schön, wenn wir zusammen essen könnten“, schlug sie vor.
„Wenn ich dann mit Mathe fertig bin“, stieß Lara gelangweilt hervor. Ihre Mutter verließ das Zimmer und Lara flammte wütend eine Hose hinter ihr her.
„Verdammt. Hoffentlich komme ich bald hier raus!“, flüsterte sie, so leise, dass nur sie es hören konnte.
*
Flughafen Köln-Bonn
Auf dem Display wurden fünf entgangene Anrufe angezeigt. Immer dieselbe Nummer. Der erste Anruf erfolgte um halb eins, der letzte um 16:43 Uhr. Jetzt war es halb sechs. Der Rückflug von Mailand hatte sich um zwei Stunden verspätet, weil in Italien die Fluglotsen streikten. Ausgerechnet an dem Tag, an dem er zurückfliegen wollte. Nicht einen Tag davor und auch nicht am darauffolgenden Tag. Benedict Springer hasste solche Störungen in seinem Tagesablauf. Wenn er Dinge nicht selber regeln konnte, von anderen abhängig war. Sein Handy klingelte erneut, als er den Check hinter sich gebracht hatte. Er stellte den Trolly neben sich ab, nahm das Handy zur Hand und das Gespräch entgegen. Es meldete sich der, der zuvor schon fünf Mal angerufen hatte.
„Endlich, Benni, wo steckst du denn?“, fragte Edgar Vilmers. Er schien kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen.
„Der Flieger hatte Verspätung, die blöden Italiener streiken mal wieder. Ich frage mich, wie das Volk seine prekäre wirtschaftliche Situation verbessern will, wenn sie andauernd streiken“, antwortete er gelassen.
„Die Bullen! Sie haben das Mädchen!“, stieß Vilmers gepresst hervor, die Situation der italienischen Wirtschaft schien momentan nicht sein drängendstes Problem zu sein.
„Was?“, rief Springer jetzt alarmiert, „verdammte Scheiße, wie konnte das passieren? Ist sie entkommen?“
Er starrte einen anderen Flugpassagier, der sich eilig an ihm vorbeidrängelte, an wie einen Geist. Vilmers antwortete nicht. „Was? Wie konnte sie entkommen?“
„Sie ist tot!“
Springer musste sich zusammenreißen, um nicht inmitten der vielen Menschen laut loszubrüllen. Er atmete einmal tief durch und raunte dann so leise, wie sein aufwallender Zorn es ihm ermöglichte, in das Handy: „Seid ihr von allen guten Geistern verlassen? Wie konnte so eine Schlamperei passieren?“
„Sie war plötzlich tot. Mein Gott, ich war ja auch nicht dabei, Benni. Sie haben es so erzählt!“
Springer ließ den Blick durch die Flughafenhalle schweifen, um sich zu beruhigen. „Wer?“
„Die Tschetschenen!“
„Diese Idioten! Ich hoffe, du ergreifst die notwendigen Maßnahmen?“, forderte er grimmig.
„Schon passiert!“
„Was ist schon passiert?“, hakte er nach.
„Reek hat sich um sie gekümmert.“
„Um beide?“
„Gewissermaßen ja.“
„Edgar, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen. Was hat Reek getan?“
„Ich meine, am Telefon so etwas zu besprechen … ist das klug?“, widersprach er mit Panik in der Stimme.
„Wer sollte uns abhören? Niemand verdächtigt uns. Wofür auch? Bis heute gab es nicht den geringsten Hinweis. Aber jetzt gibt es ihn. Was hat Reek erledigt?“
Vilmers zögerte mit der Antwort. „Bassajew!“
Springer wartete, bis er diese Nachricht verdaut hatte. „Und Kadyrow?“ Seine Stimme klang mühsam beherrscht.
„Nein, Kadyrow nicht.“
Die Worte seines Freundes ließen seinen Adrenalinspiegel noch höher schnellen. Soviel geballte Dummheit konnte es nicht geben.
„Das sollte sich ändern“, schäumte er auf. Er hatte das Gefühl, dass jeder in seiner Umgebung es mitbekommen haben müsste, dass er soeben einen Mordauftrag erteilt hatte. Doch niemand sah ihn schräg oder anklagend an. Niemand. Er stellte sich das versteinerte Gesicht Vilmers vor. Dieser gab keine Antwort.
„Nein!“, antwortete Vilmers jetzt bestimmt. Mit Widerspruch konnte Springer überhaupt nicht umgehen.
„Ihr habt es verbockt, jetzt müsst ihr die Scheiße auch wieder ausbügeln. Ich sage nicht, dass ich es gutheiße“, räumte er ein.
„Ich werde das nicht tun“, bekräftigte Vilmers noch einmal.
„Herzlichen Glückwunsch zu diesem ungemein dämlichen Protest. Er ist unangemessen und bringt uns in große Gefahr. Sollte Kadyrow plaudern, dann landen wir alle im Knast. Und zwar so schnell, wie du eines deiner Schweine tötest. Also, kümmere dich darum, dass beide verschwinden und nie wieder auftauchen. Ich hoffe, du hast mich verstanden?“, sagte er spöttisch.
Ohne darauf zu warten, dass seinem Freund weiterhin irgendwelche Ausreden einfielen, beendete er das Telefonat. Stellte das Handy auf lautlos und griff nach der Zugstange seines Trollys. Langsam setzte er sich in Bewegung. Wieso stellte sich Edgar plötzlich so quer? Er hatte doch bisher keine Skrupel gehabt, die Kollateralschäden in seiner Fleischerei zu entsorgen. Wo konnte man besser eine Leiche verschwinden lassen, als dort?
„Dieser Idiot wird langsam weich“, murmelte er vor sich hin, als sich die Milchglasscheiben der Ankunftshalle vor ihm öffneten.
*
Bonn-Auerberg
Nachdem sie in der alten Lagerhalle in Bonn-Auerberg angekommen waren, verfolgten Lea Rosin und Sebastian Klauk den gleichen Gedanken. Allerdings ohne dass der jeweils andere es ahnte. Beide überlegten, ob Oliver Hell sie mit der Frage nach der korrekten Fahrtrichtung hinters Licht geführt hatte. Ob er diesen Fortgang des Gesprächs schon vorhergeahnt hatte oder es so geplant hatte; womöglich hatte er sogar eine andere Route eingegeben, um sie exakt an dieser Stelle fragen zu können, welches der richtige Weg sei. Konnte er so gerissen sein oder besser gesagt, sie so manipuliert haben, dass sie beide es nicht bemerkt hatten? Weder Lea noch Sebastian wussten darauf eine Antwort. Nachdenklich schlichen sie ihrem Chef hinterher. Die Lagerhalle hatte ihre besten Zeiten lange hinter sich. Das Dach undicht, die Dachrinnen waren an vielen Stellen abgestürzt, die Fenster zerbrochen. Das ehemals grasgrüne Schiebetor, das einmal in stabilen Führungen gelaufen war, stand verrostet und mit abblätternder Farbe an die Ziegelwand gelehnt. Jeder konnte ungehindert diese Halle betreten. Überall auf den Wänden hatten Sprayer ihre Graffitis und Tags hinterlassen. Ein trostloser Ort. Nur anziehend für lichtscheues Gesindel.
Die weißen Overalls der Tatortermittler waren weit hinten in der Halle als helle Punkte auszumachen. Hell, mit Bond an seiner Seite, erreichte sie mit schnellen Schritten. Unter Ihnen machte er auch Matthias Seltge aus, der, obwohl kein KTUler, ebenfalls in einem Overall steckte. „Und? Haben Sie die Handys gefunden?“, fragte Hell sofort, sparte sich die Begrüßung. „Leider nein“, antwortete der Spezialermittler, „keine Handys, aber die Kollegen haben eine Patronenhülse gefunden.“ Er deutete auf einen der Weißgekleideten. Eine Patronenhülse zu finden bedeutete hier nichts Besonderes. Oft wurden die Kollegen von der Streife hierhergerufen, weil sich hier nachts merkwürdige Sachen abspielen. Nicht selten wurden auch Schüsse gemeldet. Hell ging zu dem Kollegen hinüber.
„Sie haben eine Patronenhülse gefunden?“, fragte er. Der Kollege kniete vor ihm auf dem Boden, verteilte einige gelbe Nummernreiter. Hell bemerkte zu spät, dass er dieses Hinterteil heute bereits einmal gesehen hatte. „Ach, Fräulein Constance, Sie sind’s!“, fügte er noch an. Constance Nimmermann drehte sich im Aufstehen herum.
„Kaliber 9x18mm, könnte eine Makarow gewesen sein“, sagte sie und hielt einen Asservatenbeutel hoch, in dem die Hülse lag. Dieses Kaliber und diese Waffe allerdings ließen den Kommissar aufhorchen. Die Makarow war eine russische Produktion. In sehr vielen Ländern war sie Standardwaffe der Polizei und des Militärs. Auch in der NVA der DDR und bei der Stasi wurde diese Selbstladepistole gern getragen. Sie galt als zuverlässig, aber leider recht ungenaue Pistole. Auf lange Distanz konnte man mit der Makarow auch mit großer Übung nicht wirklich genau treffen. Im Nahbereich funktionierte sie tadellos und mit großer Durchschlagskraft. Daher hatte sie einen bösen Ruf als Exekutionswaffe bekommen. Hell wedelte mit einer Hand in der Luft, wie um die aufkommenden schlechten Gedanken zu vertreiben.
„Okay, lassen Sie die Patrone untersuchen … ob die Waffe schon einmal auffällig geworden ist“, ordnete er an.
Mittlerweile waren auch Klauk und Rosin angekommen. Als Lea Constance Nimmermann erkannte, verschlechterte sich ihre Laune schlagartig. Sie blieb einen Meter hinter Klauk zurück, beäugte die junge Frau von der Seite. Als Nimmermann Klauk bemerkte, begrüßte sie ihn wieder mit strahlenden Augen.
„Mensch, jetzt treffen wir uns schon das zweite Mal heute. Ist das ein gutes Omen?“, fragte sie. Klauk senkte den Kopf und wusste keine Antwort auf ihre Begeisterung. „Ja, ist schon komisch“, antwortete er befangen. Mehr fiel ihm nicht ein.
Bond war es zu langweilig an Herrchens Seite. Langsam machte er sich davon und schnüffelte hier und da auf dem Boden. Plötzlich kam ihm etwas in die Nase, er schnüffelte an einer Stelle ganz intensiv. Dann setzte er sich und bellte einmal. Sofort genoss er die volle Aufmerksamkeit der Ermittler. „Was ist los, Bond?“, fragte Hell und ging zu ihm hinüber. Er beugte sich zu der Stelle hinunter. Was er dort sah, brachte seine Nackenhaare zum Stehen. Auf dem Boden der Halle waren einige kleine Blutstropfen zu sehen. Sehr klein, keine Spritzer, sondern getropft. Zu klein, und zu wenig ausgebreitet, um von einem aufrecht stehenden Menschen zu stammen. Hell schwante Böses. Die Patronenhülse einer Makarow, Blutstropfen und der hinreichend bekannte Ruf der Waffe reichten, um ein Kopfkino in Gang zu setzen.
Er erhob die Stimme und winkte die Tatortermittler herbei. „Wir müssen diesen Bereich hier großräumig absperren und nach weiteren Blutspuren untersuchen.“ Sofort begannen die Tatortermittler mit der Untersuchung. Die hellen Taschenlampen leuchteten akribisch die angewiesene Stelle ab. Er nahm Bond am Halsband und führte ihn zu Rosin und Klauk hinüber. Mit einer Handbewegung rief er Seltge noch dazu. Obwohl er sich ungerne von seinem Schreibtisch wegbewegte, hatte er mal wieder einen seiner ungeliebten Außeneinsätze vor sich. Hell strich sich über den Dreitagebart.
„Wir haben vielleicht eine neue Spur, die unseren Fall in einem anderen Licht erscheinen lässt. Sie haben Handysignale vom Fundort des Seat mit der weiblichen Leiche bis hierher verfolgt“, sagte er an Seltge gewandt, der das mit einem Nicken bestätigte. „Und hier finden wir die Patronenhülse einer Makarow und jetzt frische Blutspuren. Ich habe übles Kopfkino, dahingehend, dass wir die beiden Täter, nach denen wir fahnden, nicht mehr lebend finden werden.“
Klauk und Rosin hörten angespannt zu. Klauk biss sich auf die Unterlippe, eine Angewohnheit, die ihm selbst gar nicht bewusst war. „Und warum denken Sie, dass die beiden Verdächtigen tot sind?“, fragte Rosin, „wenn wir nur eine Hülse gefunden haben? Kann es sein, dass wir hier nur einen blöden Zufall haben?“
„Hoffentlich ist dein Einwand korrekt. Sollte sich meine Vermutung allerdings bewahrheiten, dann nimmt der Fall Dimensionen an, die über ein bloßes Tötungsdelikt hinausgehen“, mahnte Hell.
„Sie denken, dass die beiden Männer mit dem Tod des Mädchens nichts zu tun hatten, sie beseitigen sollten, dabei erwischt wurden und für diesen Fehler mit ihrem Leben bezahlen mussten?“, fragte Klauk zögernd.
„Das geht in diese Richtung“, antwortete Hell, „wenn ich eine Makarow an einem Tatort finde, dann denke ich sofort an Stasi, NVA und den russischen Geheimdienst … und wenn diese nicht in Frage kommen, gehen meine Gedanken in Richtung der Mafia weiter. Die lieben auch diesen Russenböller“, zählte Hell auf.
„Mafia? Hier in Bonn?“
„Klar, die sind überall aktiv. Heimlich still und leise“, antwortete Klauk auf Rosins Einwand. Sofort fing er sich wieder einen Seitenblick von ihr ein.
Der Ruf eines der Tatortermittler schreckte sie auf. „Wir haben noch ein paar Blutstropfen gefunden und eine frische Reifenspur!“
Ein flaues Gefühl machte sich in Hells Magen breit. Die Befürchtungen, die er seit der Ankunft hier mit sich herumgetragen hatte, schienen sich zu bewahrheiten.
Klauk fasste sich nachdenklich ans Kinn, dann hob er die Hand und ließ den Zeigfinger kreisen. „Und was ist, wenn hier jemand wieder so eine Sauerei wie damals bei Hesse abgezogen hat? Ich meine, wenn es Tierblut ist?“ Er spielte auf die Aktivitäten einiger Zoosadisten an, die sie vor Jahren aufzuklären hatten. Unter anderem hatten diese Tiere getötet und sich dann mit den Kadavern sexuell vergnügt und Bilder aufgenommen.
„Mit einer Makarow?“, gab Hell zu bedenken. Er verzog das Gesicht.
„Oder wir nur eine Hülse gefunden haben und es tatsächlich viel mehr waren? Man sie übersehen hat beim Aufräumen? Wenn hier jemand Schießübungen gemacht hat und sich dabei jemand verletzt hat? Ihr wisst ja, so ein Schlitten kann üble Verletzungen an der Hand hervorrufen, wenn man die Waffe nicht kennt“, gab jetzt Rosin zu bedenken.
„Ja, genau, das könnte auch sein. Diese Handyortung und das hier brauchen nicht zwingend in einem Zusammenhang zu stehen“, pflichtete Klauk seiner Freundin bei. Dabei war das kein Kalkül, sondern er konnte die Schlussfolgerung seines Chefs nicht voll und ganz unterstützen. Er glaubte nicht daran, dass es sich hier um den Ort einer Hinrichtung handelte. Doch nicht in Bonn. Das glaubte er, obwohl er in den Jahren, seitdem er in Hells Team war, schon ganz andere Dinge erlebt hatte. Mit den Geschichten über diese Psychopathen, Mörder und Geistesgestörten, die ihnen begegnet waren, konnte man ganze Bände füllen. Oder Kriminalromane schreiben. Rosin nahm das wohlwollend zur Kenntnis.
„Sicher, ihr seid offen für alle meine Thesen, aber ihr dürft auch ruhig Bedenken anmelden, wenn ich über das Ziel hinausschieße. Hoffentlich ist es so, wie ihr glaubt!“ Gespannt wartete er auf die Antwort seiner Mitarbeiter.
„Wir werden sehen, was die Überprüfung der DNA-Ergebnisse ergibt. Wenn die DNA aus dem Auto mit den Blutstropfen übereinstimmt, dann können wir weiter überlegen“, fasste jetzt Klauk zusammen. Hell beugte sich zu Bond hinunter. „Da hast du ja echt Staub aufgewirbelt, mein Großer“, sagte er und tätschelte den Hund am Kopf. Bond bellte einmal zufrieden.
*
Bonn, Hells Garten
Der Sommer 2016 kam jetzt so richtig in die Gänge, daher musste man die Gelegenheiten nutzen, die sich boten. Oliver Hell nahm sich eine Flasche Rotwein und zwei Gläser mit auf die Terrasse, stellte sie auf den Tisch im Garten und setzte sich. Bedächtig entfernte er die Banderole von der Flasche und setzte langsam den Korkenzieher an und öffnete den Wein. Er atmete den Duft des Barolo ein und freute sich auf den Genuss. Er schenkte je einen Schluck in die kugeligen Gläser ein, wartete auf Franziska. Begegne einem guten Wein mit Achtsamkeit, hatte er in einem Buch über den korrekten Weingenuss gelesen und sich eingeprägt. War es nicht mit allem so? Achtsamkeit üben? Er blinzelte hinüber zu den Büschen, die er neu gepflanzt hatte und freute sich daran, dass sie gut angewachsen waren. Überhaupt trug der Garten mittlerweile ihre Handschrift. Franziska hatte auch oft mit Hand angelegt.
Eine Wespe brummte heran und setzte sich auf den Rand des Weinglases. Mit einer sachten Handbewegung verscheuchte er das Tier. „Ist dir eh nicht süß genug“, sagte er und sah ihr hinterher.
„Ist der Wein sauer?“, fragte Franziska von der Terrassentür aus, kam heran und setzte sich neben ihn auf einen der bequemen Lounge-Sessel. Sie trug ein geblümtes Sommerkleid, das Hell sehr an ihr liebte. „Nein, keine Angst, Schatz. Der Wein ist perfekt. Ich meine, er riecht perfekt, also wird er auch perfekt schmecken“, sagte er, reichte ihr das Glas und prostete ihr zu. „Auf einen schönen Sommer“, sagte sie. Hell nahm einen Schluck, ließ den Wein über die Zunge laufen und erlebte sein fruchtiges Aroma am Gaumen. „Perfekt gewählt, Schatz“, lobte er sie, denn Franziska hatte den Wein ausgesucht.
„Danke“, sagte sie, trank einen kleinen Schluck und stellte das Glas vor sich ab. „Was ist das für eine Geschichte mit dem toten Mädchen?“, fragte sie leise.
Hell hob erst die Augenbrauen, dann das Glas hoch, schwenkte es leicht und sah die Schlieren über das Glas laufen. „Da kann sich alles draus entwickeln, wir haben verschiedene Ansätze, aber alle klingen momentan gleich überzeugend. Vom Mafiamord bis Beziehungsdrama ist noch alles im Rennen“, antwortete er und verschwieg ihr, dass er vom Schlimmsten aller Szenarien ausging: Einem Verbrechen innerhalb der Organisierten Kriminalität, Entführung, Prostitution von Minderjährigen, die Hinrichtung eines Mitwissers, der sich zu dämlich anstellte. Dagegen klang Leas These von einem Ehrenmord ja wie ein Spiel auf einem Kindergeburtstag.
„Und was denkst du?“
Hell drehte den Kopf zur Seite, griff dann erneut zu seinem Glas und trank einen Schluck. „Lea glaubt an einen Ehrenmord, aber ich denke, dass der Mord an dem Mädchen und der Fund der Patronenhülse in Bonn-Auerberg in Verbindung stehen. Nur kann ich mir noch keinen Reim drauf machen, wie es zusammenhängt“, versuchte er eine Ausrede zu platzieren.
„Du ziehst immer die richtigen Schlüsse aus deinen Vorgaben, Oliver, also wirst du es auch jetzt tun. Da bin ich mir sicher.“
„Ja, tue ich das?
Franziska lächelte als Antwort.
„Das ist noch nicht alles, was mich beschäftigt. Bei Sebi und Lea kriselt es gewaltig. Wenn ich nicht aufpasse, dann spielen deren private Dinge in die Ermittlungen mit hinein. Lea reagiert aber noch eifersüchtig, also ist noch nicht alles erledigt bei den beiden.“
„Ach Gott, die zwei. Sie sollen doch zufrieden sein, dass sie bisher noch nicht aufgefallen sind. Apropos: Wann verlässt euch eigentlich Jan-Phillip? Schon bald?“
Dieses Thema wollte Hell noch viel weniger ansprechen als die Befürchtungen, die er insgeheim zu diesem neuen Fall hatte. Seinen Stellvertreter und Freund Wendt zu verlieren, ging ihm sehr nahe. Die Kollegen in Frankfurt würden einen fähigen Ermittler bekommen und in Bonn würde sein Weggang eine große Lücke reißen. Aber es war schon alles spruchreif. Wendt würde das K11 verlassen, um in Frankfurt sein eigenes Dezernat zu leiten. Einen Karrieresprung, den er hier in Bonn nicht geboten bekam.
„Es ist nur eine Frage der Zeit. Seine Freundin ist nicht begeistert, eine Wochenendbeziehung zu führen, aber ich denke, im August wird er gehen“, sagte Hell und seufzte.
„Er wird seinen Weg gehen, ebenso, wie du ihn gegangen bist. Wer wird dann dein Stellvertreter?“
Hell fühlte sich zu einer Antwort genötigt, einer Antwort, die er für sich persönlich noch nicht gefunden hatte. Dementsprechend antwortete er auch. „Ich habe noch keinen Schimmer. Von den Dienstjahren her müsste es Christina sein, aber weiß ich, ob sie nicht irgendwann doch in eine Profiler-Gruppe abwandert? Und Sebastian? Der hat immer zu viel nebenbei laufen, um ein guter Stellvertreter zu sein, das sage ich jetzt ohne Ansehen der Sympathie, die ich für den Kerl hege.“
„Und einen ganz neuen Kandidaten ins Team integrieren?“
Hell stieß die Luft aus. „Wo soll der denn herkommen? Die Polizeipräsidentin reibt sich jetzt schon die Hände, dass eine Stelle nicht besetzt ist und wird einen Teufel tun, mir einen neuen Kollegen ins Team zu stellen. Bei der Frau stehen doch die nackten Zahlen im Vordergrund“, fuhr Hell fast auf, da ihn dieses Thema mehr als aufregte.
„Noch ist Wendt nicht weg, diesen Fall könnt ihr noch gemeinsam lösen“, erinnerte ihn Franziska besänftigend.
Diesen Fall lösen, dachte Hell. „Wenn ich erahnen könnte, wie schnell wir eine heiße Spur haben werden, wäre mir wohler.“
Franziska bedauerte ihren Partner, der von jetzt auf gleich aus dem Urlaub geholt und in dieses offensichtlich sehr verwirrende Puzzle geworfen worden war. Sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Es wird laufen wie immer. Du wirst den Fall lösen. Mit einer Portion Glück geht dann dein Urlaub weiter.“
„Unser Urlaub“, verbesserte sie Hell, hob erneut das Glas. „Auf uns!“
Die Liebe in Franziskas Augen war nicht zu übersehen, als sie mit ihm anstieß.
*
Swisttal-Heimerzheim
Mansur Kadyrow war hin- und hergerissen. Sein Freund Argun war vor seinen Augen ermordet worden. Sollte er mit seinem Wissen zur Polizei gehen und dort von dem ‚Unfall‘ beichten, den sie mit dem jungen Mädchen gehabt hatten? War es damit vorbei? War er sicher vor diesem Scheusal, das Argun hingerichtet hatte? Er konnte diese Frage getrost verneinen. Reek würde alles daransetzen, den Zeugen für diesen Mord ebenfalls zu erledigen. Wenn er es nicht selber tat, so war Kadyrow sicher, dass Reek selbst im Gefängnis Gehilfen hatte, die ihm diesen Gefallen tun würden. Für eine gewisse Zeit musste er die Füße still halten, um in aller Ruhe seine Flucht vorzubereiten. Flucht. Irgendwohin ins Ausland, wo man sich verstecken konnte. In der alten Heimat oder in Georgien. Dorthin, wo Reek ihn nicht aufspüren konnte. Weil er dort der Fremde war. So wie es Argun und er in Deutschland waren.
Wie jeden Abend nach dem Schlachten war es seine Aufgabe, die Boxen, in denen die Tiere getötet wurden, von deren Überresten zu säubern. Es stank nach Blut, Fleisch und der Angst der Tiere, die hier jeden Tag zu Tausenden getötet wurden. Die Stiefel, die ihm bis zur Hüfte gingen, schmatzten unter seinen Schritten. Er watete durch einen See aus Blut. Es machte ihm nichts mehr aus, mit der Zeit hatte er sich an seine Arbeit gewöhnt. An den Gestank und das Tierleid. Die Schutzbrille lief bereits unter seinem Schweiß an. Es war eine anstrengende Arbeit, die Boxen für den nächsten Tag steril zu säubern. Man musste jeden Tag mit einem Besuch von Medizinern der Veterinärämter rechnen, die die hygienischen Zustände in den deutschen Schlachthöfen begutachteten. Das passierte nicht erst seitdem die Tierschützer immer hysterischer wurden und die Veganer verächtlich mit den Fingern auf die Fleischfresser zeigten. Die ganze Branche war im Umbruch. Doch das kümmerte ihn nicht. Mit dem langen Strahlrohr reinigte er gerade den versiegelten Boden einer der Boxen. Das mit Blut vermischte Wasser spritzte ihm bis auf die Brille, landete auf seinen Lippen. Angewidert spuckte er aus, nahm den Finger vom Auslöser des Pistolenkopfes und sah sich um.
Sogar mit beeinträchtigter Sicht bemerkte er, dass eines der Bolzenschussgeräte nicht an seinem Platz hing. Auch diese Geräte hatte er zu säubern. Keiner hatte ihm gesagt, dass es defekt sei oder ausgetauscht werden müsste. Er stellte sich dicht an das Metallgatter, fragte sich, warum der Druckluftschlauch des Schussgerätes von dieser Box hinüber in die angrenzende Box führte. Er zog sich mit beiden Händen an dem Gatter hoch, um nachzusehen. Mit einem Mal tauchten plötzlich zwei helle Schemen vor ihm auf. Noch bevor er überrascht aufschreien konnte, drückte ihm einer der beiden das Schussgerät vor die Stirn. Kadyrows Stirn explodierte und sein toter Körper stürzte zurück in die Box.
*