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Kapitel 3

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Mittwoch

Oliver Hell schaute auf die Uhr. Es war zwanzig Minuten nach sieben. Er hatte zuhause gefrühstückt und war auf dem Weg nach Bonn. In den Radio-Nachrichten wurde bereits über einen irren Killer spekuliert, der den Mord an Jan Schnackenberg verübt haben sollte. Hell versuchte, ruhig zu bleiben bei dem Gedanken. Die Zeitungen würden an diesem Morgen ein Bild der Überwachungskamera der Sparkasse bringen. Darauf würde der Mann zu sehen sein, wie er die Telefonzelle verlässt. Der Abgleich der Time-Codes der Sparkasse und des Anrufes auf dem Revier hatte ergeben, dass es sich bei diesem Mann um den geheimnisvollen ‚Oskar‘ handeln musste. Jetzt konnten sie sich ins Büro setzen und auf ein Wunder warten.

Die Chance, dass jemand einen Mann mit einem Kapuzenpulli bei über dreißig Grade gesehen hatte, war nicht schlecht. Das war an einem Tag, den jeder so textilfrei wie möglich verbringen wollte, so auffällig wie ein Eisbär in der Wüste.

Hell schmunzelte bei dem Gedanken. Er überlegte, ob er wieder, wie am Vortag Zeitungen kaufen sollte, doch verwarf er den Gedanken. Wendt würde sicher auf die Idee kommen.

Das Wunder, auf das Hell gewartet hatte, ereignete sich zwischen halb zehn und viertel vor zehn. Und zwar in Gestalt eines Anrufers beim Bonner Generalanzeiger, der sicher war, einen Mann zuerst an der Haltestelle und dann später auf dem Platz vor der Sparkasse gesehen zu haben. Er konnte eine Beschreibung von Oskar abliefern. Der Mann wurde gebeten, sich bei der Kriminalpolizei zu melden, damit dort eine Phantomzeichnung von ‚Oskar‘ angefertigt werden konnte.

Mit diesen guten Nachrichten rief Hell bei Oberstaatsanwältin Hansen an, um nach dem Stand ihrer Recherchen zu fragen. Danach war sein Enthusiasmus wieder etwas gebremst, weil sie keine ehemaligen Strafgefangenen aufzählen konnte, die Gauernack nach der Verurteilung bedroht oder sonst wie auffällig geworden waren. Diesen Ast der Ermittlung konnte man getrost abschlagen.

Ein wenig in Gedanken versunken, stand Hell vor der Glastafel. Klauk hatte in der Familiengeschichte der Gerickes geforscht. Die Eltern der beiden waren vor Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie waren bis zu ihrem tragischen Ableben beide in einem lokalen Fußballverein aktiv gewesen. Bis dahin galten Stephan und Christina Gericke als verheißungsvolle Talente. Nach dem Tod der Eltern übernahm ihre Tante die Vormundschaft. Im Laufe eines Jahres verwandelten sich die beiden Vorzeigeschüler zu Problemkindern. Stephan geriet mit vierzehn Jahren in die Bonner Drogenszene. Christina schaffte zwar so gerade noch die Versetzung von der fünften in die sechste Klasse, drehte aber dann in der sechsten Klasse eine Ehrenrunde. Stephan Gericke bekam erst Sozialstunden auferlegt, die Sozialarbeiter der Stadt gaben sich bei der bedauernswerten Tante die Klinke in die Hand. Ein Jahr später erhielt er die erste Haftstrafe auf Bewährung.

Mit siebzehn schien Stephan Gericke nichts mehr von einer kriminellen Laufbahn abhalten zu können. Doch wie ein Wunder kam es nicht dazu. Er machte eine Lehre als KFZ-Mechaniker und legte die Prüfung als Bester seines Lehrjahres ab. Seine Schwester schaffte das Abitur.

Die durch den frühen Tod der Eltern verkorkste Kindheit der beiden schien vergessen zu sein.

Bis zum gestrigen Tag hatte man von den beiden nichts mehr gehört. Stephan Gericke hatte seine Meisterprüfung abgelegt und machte sich mit der kleinen Autowerkstatt selbstständig. Christina begann ein Studium der Sozialwissenschaften.

Hell ordnete eine Observierung von Christina Gericke an. Sollte sie wirklich Kontakt zu ihrem Bruder unterhalten, so würde man sie festnehmen. Wendt gefiel diese Anordnung überhaupt nicht.

„Selbst wenn sich ihr Bruder bei ihr meldet, dann kann es auch sein, dass sie trotzdem unschuldig ist“, sagte er.

„Das werden wir dann sehen. Gericke ist unser Hauptverdächtiger. Die Observierung kann sie ebenso entlasten. Sieh es positiv, Jan-Phillip.“

Rosin wunderte sich über die Zögerlichkeit ihres Kollegen. „Jan-Phillip, man könnte auf die Idee kommen, Du hättest dich in die Frau verknallt. Das ist hoffentlich nicht so.“

„Nein, quatsch“, widersprach er vehement.

Wir müssen den Fall von allen Seiten beleuchten, dazu gehörte auch die Observierung von Gerickes Schwester. Das machte Hell noch einmal unmissverständlich klar.

„Es ist Zeit, die Geschichte genauer zu untersuchen“, stimmte auch Klauk zu.

Hell lenkte das Gespräch auf den anderen Fall. ‚Oskar‘ war nun das Thema.

„Ich hatte gestern Abend noch Besuch“, fing er an zu erzählen.

„Aha“, sagte Wendt mit einem Tonfall, der etwas Schlüpfriges andeuten wollte.

„Nein, nicht was Du denkst. Christina war noch kurz bei mir und wir haben das Profil besprochen. Wenn sie gleich kommt, wird sie es uns noch einmal erläutern“, antwortete Hell.

Lea Rosin überlegte einen Moment.

„Kann sie es denn schon erstellen, ein Profil?“, fragte sie.

„Ja, das kann sie. Mir war es auch fremd, aber aus der Art und Weise der Tatausführung und der Öffentlichkeit, die der Täter sucht, kann man sehr wohl bereits ein Profil erstellen.“

„Da bin ich mal gespannt“, sagte Wendt.

„Das darfst Du auch sein. Christina wird gleich hier sein. Sie holt sich nur noch ein paar Informationen zum Tatort, die sie für das Profil noch benötigt. Sebastian, hast Du noch Informationen zur Lebenssituation von Jan Schnackenberg?“

Klauk legte sein Tablet weg und schob die Kappe zurück auf seinen Stift, den er für Notizen schon bereit gelegt hatte. Er räusperte sich.

„Jan Schnackenberg war auf der Arbeit sehr beliebt. Das haben alle bestätigt. Keiner stellt sich vor, dass es ein Kunde gewesen ist, der so einen Mord ausführt. Wir haben aber bislang nur ein allgemeines Bild von ihm erarbeiten können, für Detaillierteres war die Zeit zu kurz. Laut Aussagen seiner Kollegen war er ein ruhiger, gewissenhafter Angestellter, ohne große Launen und Allüren.“

„Wissen wir denn, wo er sich vor seinem Tod aufgehalten hat?“

„Nein, noch nicht. Seinen Kollegen erzählte er nichts. Aber das passe zu ihm. Er hätte nie viel von sich erzählt“, ergänzte Klauk.

„Wer bringt so jemanden um?“, fragte Rosin.

„Stille Wasser sind tief. Er hat vielleicht ein dunkles Geheimnis. Er wäre nicht der Erste“, witzelte Wendt. Er wischte sich mit dem Zeigefinger etwas aus dem äußersten Augenwinkel.

„Nein, jetzt mal ohne Scheiß. So ein Mord ohne Motiv wäre noch passend zu unserem ‚Oskar‘“, sagte Rosin. Ihren letzten Satz bekam noch kaum jemand mit, denn in dem Moment öffnete sich die Türe und Christina Meinhold stieß einen schrillen Schrei aus, „Na, ihr alle. Hier bin ich!“ Sie machte einen Katzenbuckel und streckte ihre Arme aus.

Sie blieb in der Tür stehen und genoss ihren Auftritt ein wenig. Das Gefühl hatte Hell jedenfalls. Alle standen auf und begrüßten sie herzlich. Hände wurden geschüttelt und viele Umarmungen waren fällig. Selbst Hell kam nicht umhin, seine Profilerin in den Arm zu nehmen. Hätte er es anders gemacht, als am Vorabend in seinem Garten, wäre er sich seltsam vorgekommen. Am herzlichsten war die Begrüßung zwischen ihr und Lea Rosin.

Meinhold legte schließlich ihre Tasche ab und ging zu den Glastafeln herüber. „Wie ich sehe, rüsten wir auf. Glastafeln und Tablet-PCs. Nicht übel. Der Fortschritt hält Einzug in Bonn.“

„Wie man’s nimmt“, antwortete Hell.

„Christina, Du kennst das Video noch nicht. Hier, schau mal. Wir haben es auf dem Tablet-PC“, sagte Rosin. Sie hielt ihr ihren PC hin.

Scheinbar ruhig betrachtete sie die bewegten Bilder. Zum Schluss kniff sie die Lippen zu einem Strich zusammen und nickte.

„Na, Du Profiling-Genie. Mach uns mal schlau“, sagte Wendt und lehnte sich provokant in seinem Sessel zurück.

„Wieso konnte der Satz nur von dir kommen, Jan-Phillip?“, antwortete sie und legte ihren Kopf leicht schief. Mitleidiger Blick.

„Wieso? Wir sind alle gespannt!“ Er hielt entschuldigend die Hände vor sich und schaute sich zustimmungsheischend um. Dann legte er den Zeigefinger an sein Kinn.

Meinhold hielt kurz inne, bevor sie anfing.

„Also, dann fange ich mal an. Ich gehe davon aus, dass der Mörder von Jan Schnackenberg den Mord geplant hat. Es ist keine Tat im Affekt. Dafür spricht nicht nur die Tatausführung, sondern auch die Kontaktaufnahme zur Polizei. Der Täter ging bei dem Mord planvoll vor. Er hatte nicht nur seine Waffe dabei, sondern auch eine Kamera, um den Mord aufzuzeichnen.“

„Aha, wie hat er es geschafft, den Mann so zu einzuschüchtern, dass er sich ohne Gegenwehr hat abknallen lassen?“, fragte Klauk.

Die Frage überrumpelte Meinhold ein wenig. Doch fand sie schnell eine Antwort.

„Gute Frage, Sebastian. Das ist eine der Ungereimtheiten in dem Fall. So etwas habe ich auch noch nicht gelesen.“ Wendt zwinkerte ihr zu. Wahrscheinlich, weil sie ‚gelesen‘ sagte, anstelle von ‚erlebt‘.

„Lasst sie mal machen. Fragen können wir dann immer noch stellen“, sagte Hell. Er faltete seine Hände vor dem rechten Knie und gab Meinhold ein Zeichen fortzufahren.

„Ich gehe davon aus, der Täter ist gebildet, sehr wahrscheinlich hat er eine Ausbildung. Eine feste Beschäftigung ist sehr wahrscheinlich. Ebenso kann er verheiratet sein, oder in einer festen Beziehung leben. Er agiert geradlinig und kontrolliert, was darauf schließen lässt, dass er das aus seinem Beruf her kennt. Der Täter ist sicher sozial angepasst. Er wird eine normale Kindheit erlebt haben, hatte eine mittlere bis gute Beziehung zu den Eltern.

Er ist mobil. Gilt als freundlich, extrovertiert und liebenswürdig. Keiner vermutet einen Mörder in ihm. Er ist aber trotzdem kein Partygänger. Lebt eher zurückgezogen. Ein wichtiges Merkmal ist: er geht wahrscheinlich gerne nachts vor.“

Wendt runzelte die Stirn. „Und das alles liest Du aus dem, was wir am Tatort gefunden haben?“

„Ja“, antwortete sie knapp.

„Lebt er hier in Bonn?“, fragte Rosin.

„Sehr wahrscheinlich. Sollte nicht noch ein weiterer derartiger Mord passieren, dann gehe ich davon aus. Ja.“

„Was macht aus so einem Menschen einen Mörder?“

„Das müssen wir herausfinden. Wer sich mit Profilen befasst, muss die Vorgehensmuster und die charakteristischen Eigenschaften des wahrscheinlichen Täters feststellen. Er geht von Fakten aus und setzt diese in seiner Analyse durch logische Überlegungen zueinander in Beziehung.“

„Aber mehr als das hier haben wir doch nicht“, sagte Klauk zögerlich. Er hatte sich, wie geplant, Notizen gemacht. Er klopfte mit dem Stift auf den Block.

„Eben, daher müssen wir noch im Leben des Opfers graben, um ein Motiv zu finden. Für mich ist es eine sehr persönliche Tat. Das denke ich nicht nur. Der aufgesetzte Schuss ist der Beweis dafür“, antwortete Meinhold. Während ihrer Ausführung hatte sie Stichworte auf die Glastafel geschrieben.

Jetzt schrieb sie das Wort ‚Motiv‘ auf die Tafel und machte zwei Fragezeichen dahinter. Sie schob die Kappe auf den Marker. „Das war’s.“

„Die Frage, wieso er keine Gewalt angewendet hat, bleibt aber im Raum.“

„Stimmt, das ist auch untypisch für einen so kontrolliert vorgehenden Mörder. Er fixiert normal sein Opfer und ist bei der Tatausführung brutaler. Aber ich erwähnte ja bereits, es gibt Ungereimtheiten.“

„Sei mir jetzt nicht böse, Chris. Kann es sein, dass dein ganzes Profil nicht stimmt?“, fragte Rosin. Sie hoffte, dass Christina Meinhold ihr die Frage nicht übelnehmen würde.

„Nein, da kann ich dich beruhigen. Das Profil stimmt zu neunzig Prozent. Bis auf diese Sachen.“

Hell richtete sich in seinem Sessel auf. „Ich danke dir Christina. Das wird uns weiterhelfen, da bin ich mir sicher.“

„Ich hoffe es. Profiling ersetzt keine normale Polizeiarbeit, es gibt ihm eine Richtung.“

Hell zuckte mit den Schultern. „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es klappt.“ Christina Meinhold schaute ihn an und beide fingen an zu grinsen.

„Sehen Sie, Chef. Gefühle sind manchmal alles, was einem bleibt.“ Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Vor nicht allzu langer Zeit hatte es zwischen den beiden Ermittlern einen Streit um solche Gefühle gegeben. Hell hatte dazu gelernt. Meinhold war weniger angriffslustig.

„Es kommt viel Arbeit auf uns zu“, sagte Klauk.

Oliver Hell seufzte und breitete die Arme aus. „Hat uns das je gestört? Nein oder?“

„Wir brauchen einen neuen Schlachtplan. Wenn Christina jetzt bei uns ist, dann können wir uns anders aufstellen. Ich meine, ich könnte jemanden gebrauchen, der mir bei der Fahndung nach Gericke und den weiteren Ermittlungen hilft.“ Er richtete seinen Blick auf Hell.

Der schüttelte bloß den Kopf. „Nein, wir brauchen alle. Du bleibst vorerst alleine an dem Fall Gauernack dran. Alle anderen kümmern sich um ‚Oskar‘. Sollte sich bei Gauernack etwas Neues ergeben, überlegen wir neu.“

Wendt verzog den Mund, doch wusste er, dass Protest keinen Erfolg bringen würde.

*

Lydia Laws war schuld daran, dass Jan Schnackenberg an seinem letzten Abend Kaviar gegessen und dazu sündhaft teuren Rotwein getrunken hatte. Lydia war überhaupt schuld daran, dass er sich dazu entschlossen hatte, an diesem Abend mit ihr auszugehen. Lydia Laws war verheiratet. Das war für den sonst zurückhaltenden Schnackenberg ein Tabu. Er hatte auch nur zugesagt, weil es kein Rendezvous für zwei war, sondern ein Besuch bei einem noblen Event in der Piano-Bar des Maritim-Hotels in Bonn.

Lydia hatte seit einiger Zeit ein Auge auf den erfolgreichen Banker geworfen. Daraus machte sie keinen Hehl. Ihre Ehe stand für sie kurz vor dem Aus und sie orientierte sich bereits neu. Sie war Luxus gewöhnt und bei Jan Schnackenberg erhoffte sie sich, diesen Luxus weiter erleben zu können.

Es war ein erlesener und gut betuchter Kreis, der an dem Abend in der Piano-Bar Kaviar aß und Wein trank. Dort fühlte sich Lydia Laws wohl. Hier gehörte sie hin. So empfand sie.

Jetzt war Jan Schnackenberg tot. Lydia Laws hatte natürlich von seinem spektakulären Tod gehört. Doch fühlte sie keine Trauer, nein eigentlich fühlte sie nur Enttäuschung. Umsonst investierte Zeit. Jetzt musste sie sich ein neues Opfer suchen, was sie umgarnen konnte.

Sie hätte sich auch nicht bei der Polizei gemeldet, wäre da nicht die Furcht gewesen, dass die Ermittler ihr sowieso auf die Schliche gekommen wären. Es hätte unangenehme Fragen gegeben, womöglich einen Besuch zuhause. Das wiederum hätte ihren Mann aufgeschreckt. Was sie auf jeden Fall vermeiden wollte. Der arme Ehemann wusste nichts von den Plänen seiner Frau. Für ihn war ihre Ehe zwar in einer Krise, aber er ahnte nichts von den Aktivitäten seiner Frau.

Also nahm sie ihren Mut zusammen und fuhr zur nächsten Polizeidienststelle um dort eine Aussage zu machen.

Hell erhielt einen Anruf von der Dienststelle um halb zehn. Eine Stunde später saß Lydia Laws vor ihm im Verhörraum. Wenn man nur ihr Äußeres betrachtete, war sie eine angenehme Erscheinung. Braunes, kurz geschnittenes Haar, dunkle Augen, die etwas spöttisch dreinblickten. Ein feines, ebenmäßiges Gesicht. Doch bereits die ersten Worte, die die junge Frau von sich gab, zeigten Hell, dass er eine Frau vor sich hatte, deren innere Schönheit weit hinter ihrer Äußeren zurückblieb.

„Sollte mein Mann etwas von dem Abend im Maritim-Hotel erfahren, hetze ich Ihnen meinen Anwalt auf den Hals. Was soll ich hier? Ich habe den Polizisten doch schon gesagt, wo ich war und das Jan Schnackenberg mein Begleiter war. Was also soll ich jetzt auch noch bei Ihnen?“

Hell musste sich zurückhalten. Schon oft hatte er solche Frauen verhört. Er achtete darauf, dass seine Stimme klar und bestimmt klang. Innerlich war er aufgewühlt. Er ließ sich nicht gerne drohen.

„Frau Laws, eines lassen sie uns direkt feststellen: wir lassen uns nicht drohen. Wir ermitteln in einem Mordfall. Sie sind die Letzte, die Jan Schnackenberg lebend gesehen hat. Also können wir uns auf einer Ebene treffen, die dem Tod des Mannes angemessen ist?“

Ihre Lider flackerten. Die Lippen spannten sich. Hell vermutete, dass sie sich nun zurücknahm. Er hatte ihr klargemacht, dass sie keinen dummen Bullen vor sich hatte.

„Was wollen Sie von mir wissen?“, stieß sie hervor.

„Wann und wo haben Sie sich von ihrem Begleiter verabschiedet, Frau Laws?“

Sie schaute über Hells linke Schulter. „Ich denke so gegen halb zwölf haben wir die Bar verlassen. Jeder fuhr dann nach Hause.“

„Für sich?“

„Ja, alleine“, antwortete sie.

Hell stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch ab. „Das müssen sie mir jetzt erklären. Eine Bar mit sanfter Musik, Kaviarhäppchen und Rotwein. Ein Mann und eine Frau. Sie sind eingeladen worden. Das hatte doch einen romantischen Hintergrund. Und dann fährt jeder getrennt nach Hause? Was ist schief gegangen?“

„Nichts“, log sie.

„Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen das nicht glaube.“

„Ihr Problem.“

„Sie sind abgeblitzt, Frau Laws. Habe ich Recht?“

„Ich bin verheiratet. Was erlauben Sie sich?“, rief sie entrüstet.

„Warum darf dann ihr Mann nichts von ihrem Rendezvous wissen? Frau Laws, ich bin kein Scheidungsanwalt. Ich ermittele in einem Mordfall. Wenn Sie uns nicht alles sagen, was Sie wissen, dann machen Sie sich strafbar.“

Sie funkelte ihn an. „Ich sage Ihnen alles. Wir waren dort, weil ich ihn eingeladen habe.“

So hatte Hell es sich gedacht.

„Haben Sie sich gestritten, weil der Abend nicht nach ihren Wünschen verlief?“

„Wünsche? Meine Wünsche? Woher wollen Sie meine Wünsche kennen? Aber nein, wir haben uns nicht gestritten.“

Sie beugte sich ein wenig zu ihm vor. Wenn sie könnte, würde sie mir etwas ins Gesicht werfen, dachte Hell. Sie konnte aber nicht. Daher setzte er noch einen drauf.

„Besitzt ihr Mann eine Waffe, Frau Laws?“

„Nein, mein Mann hat noch nie eine Waffe besessen. Er ist Lehrer für Mathematik.“ Ihre nach unten gezogenen Mundwinkel verrieten Hell, dass sie keine Achtung mehr für ihren Mann und auch nicht für seinen Beruf hatte.

„Auch Lehrer besitzen Emotionen“, sagte er.

„Sie kennen meinen Mann nicht, Herr Kommissar.“ Sie nickte und er sah, dass ihre Offenheit ihr große Probleme bereitete.

„Es wird uns aber nichts anderes übrig bleiben, als ihn kennenzulernen. Falls er etwas von seinem Konkurrenten wusste, dann kann es sein, dass er etwas gegen ihn tun wollte.“

„Nein. Tun Sie das bitte nicht. Herr Kommissar!“

„Es tut mir leid, aber manchmal fällt man unangenehm auf. So wird es Ihnen jetzt auch gehen, Frau Laws.“

Jetzt sah sie besorgt aus, nahezu bekümmert. Doch Hell konnte ihr nicht helfen. Ein eifersüchtiger Ehemann war immer ein sehr guter Verdächtiger, selbst wenn er bloß Mathelehrer war. Sogar die Friedfertigsten konnten einen Mörder bezahlen.

*

Am frühen Nachmittag stellte das Bonner Radio auf ihrer Homepage das Phantombild ein. Der Mann, der dort gezeigt wurde, trug eine dunkle Sonnenbrille, hatte eine schmale Nase, ein markantes Kinn und eine dunkle Locke hing unter der Kapuze hervor. Es war kein allzu vielsagendes Phantombild. Mit einer Sonnenbrille und einer ins Gesicht gezogenen Kapuze auf sah beinahe jeder Zehnte so aus.

Hell und sein Team hegten auch keine große Hoffnung, dass mit dem Bild ein schneller Fahndungserfolg verbunden war.


Es war eigentlich ganz einfach zu verstehen, was der Ermittler der KTU in den Händen hielt. Es hatte nur eine Sekunde gedauert zu verstehen, dass es etwas von Bedeutung war. Aber er brauchte eine Weile, bis er es in Worte fassen konnte, um seinem Kollegen nicht nur die Akten vor die Nase zu halten.

„Hier schau mal, wenn ich das richtig verstehe, hat er Nachforschungen zum Tod seines Bruders angestellt“, sagte Julian Kirsch und hob seine Augenbrauen. Sofort sah er die Unruhe im Blick der Kollegin.

„Zeig mal bitte“, antwortete Heike Böhm. Kirsch erwiderte nichts, er gab seiner Kollegin einen Teil der Akten, die er in dem verschlossenen Aktenschrank im Hause von Gauernack gefunden hatte. Sie waren ganz akribisch vorgegangen, hatten sich von links nach rechts durch die Aktenschränke vorgearbeitet. Hätten sie es andersherum getan, wären ihnen diese Akten schon eher in die Hände gefallen.

Heike Böhm hatte in den letzten Fällen ein Gespür für solche Einsätze entwickelt. Sie arbeitete langsam, gründlich und mit einem Auge für Dinge, die wichtig sein konnten. Dieses Gefühl hatte sie nun wieder. Sie saß nur da, biss sich auf die Unterlippe und wendete ein Blatt nach dem Nächsten. Kein Zweifel, ihr Kollege hatte Recht. Aber es war nicht nur eine private Fahndung, die Staatsanwalt Gauernack betrieben hatte, es war weit mehr. Sie hielt Dokumente in der Hand, die eine Beteiligung der Stasi am Verschwinden des Bruders nahelegte.

Jeder andere hätte seine Ungeduld nicht zügeln können, doch sie behielt die Ruhe. Dennoch sah Kirsch den angespannten Ausdruck in ihren Augen.

„Wir müssen das dringend der Staatsanwaltschaft mitteilen. Und ich denke, wir haben jetzt noch mehr Arbeit, bis wir diese Aktenordner hier alle durchforstet haben“, sagte sie, nachdem sie den Aktendeckel geschlossen hatte. Sie machte eine Kopfbewegung hin zu dem Aktenschrank.

„Du kannst bloß keine Untätigkeit ertragen“, antwortete Kirsch und strich sich mit dem Zeigefinger unter der Nase entlang.

„Es hat wenig mit Untätigkeit zu tun. Es hat eher etwas mit Sorgsamkeit zu tun, Julian.“

Kirsch murmelte eine Antwort, die Heike Böhm aber nicht verstand. „Da ist noch etwas anderes“, sagte sie und fühlte sich bei dem Gedanken nicht wohl.

„Was denn?“

„Stell dir mal vor, Gauernack wurde getötet, weil er eine Verbindung zwischen dem Verschwinden seines Bruders und der Stasi fand. Das würde bedeuten, dass es heute noch diese Kader gibt, die ihre Spuren mit allen Mitteln vertuschen wollen.“

Kirsch machte ebenfalls ein sorgenvolles Gesicht. „Denkst Du wirklich, diese Stasi-Gangster sind nach der Wende plötzlich alle geläutert worden? Und haben ihre Verbrechen bereut? Und versuchen nicht, sie zu vertuschen?“

„Wohl kaum. Aber gibt es nicht eine Behörde, die sich damit beschäftigt? Und sucht nicht das Bundeskriminalamt nach den Stasi-Verbrechern?“

Ihre Kiefer waren angespannt, daher presste sie diese Worte nur gequält hervor.

„Das tun sie. Aber die alten Seilschaften halten auch heute noch zusammen. Ebenso wie die Nazis nach dem Krieg immer noch zusammengehalten haben. Solange, bis man sie aufgespürt hat.“ Er griff nach der Akte, die ihm seine Kollegin herüberreichte.

„Ist es nicht fürchterlich, wenn man über zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR immer noch Angst vor den Stasi-Schergen haben muss?“

„Sicher, aber geh mal davon aus, dass man sich dort den Fähigkeiten von Killern bediente. Nur dass sie unter dem Deckmäntelchen der SED töteten“, sagte er in einem konzentrierten Ton und sehr langsam.

Die Augen des Tatortermittlers hefteten sich auf die Blätter in dem schmalen Aktenordner.

„Ja, Du hast sicher Recht. Auch hier ist es wie immer und überall. Aus den Schlagzeilen, aus dem Gedächtnis der Massen. So werden auch die Stasi-Mörder langsam vergessen. Bis einer kommt und sie aufscheucht.“

„Lass uns nicht allzu schnell eine Querverbindung ziehen. Es kann sein, dass der Tod des Staatsanwaltes gar nichts damit zu tun hat. Wir müssen erst alle Akten sichern“, sagte Kirsch.

Eine Meldung über den Fund dieser Akten leitete Tim Wrobel direkt an die Staatsanwältin Hansen weiter. Keine halbe Stunde später war auch Oliver Hell im Bilde. In einem weiteren sehr unauffälligen Aktenordner fanden sich neben zwei Bildern mit ehemaligen Stasi-Mitarbeitern auch einige Original-Dokumente, deren Inhalt mit einem Edding-Marker teilweise unkenntlich gemacht worden war. So wie es die Stasi bei Millionen von Postsendungen, die vom Westen in den Osten geschickt worden waren, gemacht hatte. Eine dauerhafte Verletzung des Postgeheimnisses durch den repressiven Staatsapparat.

Hatte Gauernack versucht, diese geschwärzten Stellen mit Leben zu erfüllen? War er damit jemandem zu nah gekommen?

Spekulationen.

Hell betrachtete die Fotos. Es handelte sich um Fotokopien von Originalen. Ob Gauernack die Originale ebenfalls besaß, konnte die KTU noch nicht sagen. Es waren scheinbar ganz normale Menschen, die auf dem Bildern zu sehen waren. Doch hatten sich diese beiden Männer bei der Verfolgung von Mitgliedern der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte hervorgetan. Das sagten die Akten aus, die sich ebenfalls in dem Ordner befanden.

In den Zeiten des kalten Krieges sprach die IGFM insbesondere Menschenrechtsverletzungen in der DDR und den osteuropäischen Staaten an. Die Gesellschaft wurde 1972 in Frankfurt gegründet und war streng antikommunistisch ausgerichtet. Die Aktivitäten der Gesellschaft waren dem DDR-Geheimdienst ein Dorn im Auge. Wie man heute weiß, wurden einige Mitglieder der Gesellschaft von der Stasi umgebracht. Diese Mordaufträge konnten dem Ministerium für Staatssicherheit, kurz Stasi zweifelsfrei angelastet werden. Anhand von eigenen Stasi-Dokumenten konnten die Verbrechen erst rekonstruiert und die Täter einwandfrei identifiziert werden. Auch diese beiden Männer, deren Bilder Hell nun in Händen hielt, hatten sich Anfang der Neunziger vor Gericht verantworten müssen, wurden aber freigesprochen. Aus Mangel an Beweisen. Einer der Männer hieß Harald Jochheim. Er wohnte in der Nähe von Asbach, einem kleinen Ort an den Füßen des Westerwaldes.


Julian Kirsch sah sich weiter in der Wohnung des ehemaligen Staatsanwaltes um. War es doch gewöhnt, sich in den Wohnungen von Toten oder Verdächtigen umzuschauen, so fühlte er sich jetzt gerade extrem unwohl. Sonst waren es Unbekannte, mit denen die Ermittler nichts verband, jetzt spielte auch die Trauer mit, da es ein Mensch war, den man kannte.

Kirsch stand in der Türe zum Schlafzimmer. Etwas hielt ihn zurück. Wie eine unsichtbare Barriere. Das Schlafzimmer markierte den intimsten Bereich der Wohnung. Doch er gab sich einen Ruck. Er musste hier ohne Emotionen ermitteln, auch wenn es ihm sehr schwer fiel.

Vielfach fand man im Schlafzimmer Dinge, mit denen sich die Vermissten oder Opfer kurz vor ihrem Tod am intensivsten beschäftigt hatten. Bücher, Musik, Akten. Alles wirklich Private fand sich dort. Auf dem Tisch neben dem Bett lag ein weiterer roter Ordner, einer wie sie eben bereits gesehen hatten. Er nahm ihn in die Hand und blätterte darin.

Nichts Neues.

Er legte den Ordner in eine Asservatenkiste, die er vor sich abgestellt hatte. Dabei fiel ein Blatt aus dem Ordner heraus und segelte unter das Bett. Julian Kirsch kniete sich hin und schaute unter das Bett. Das Blatt lag beinahe unter der Mitte des Bettes. Er legte sich auf den Rücken und angelte danach. Seine Nase berührte den Rand des Bettgestells. Er rückte noch ein wenig weiter, denn seine Finger konnten das Blatt zwar ertasten, aber nicht zu sich hinbewegen. Jetzt schob er auch seine Stirn unter das Bett. Da fiel sein Blick auf etwas, was nicht dorthin gehörte, wo es sich befand. Er konnte es nicht identifizieren.

Jetzt erreichte er das Blatt Papier und schob es mit den Fingern über den Teppichboden. Er holte es hervor und legte es achtlos hinter sich. Das fremde Etwas erregte seine volle Aufmerksamkeit. Er angelte mit der Hand danach. Es war am oberen Bettrand festgeklebt. Hatte Gauernack hier etwas versteckt? Er drehte das schwarze Kästchen, um den Kleber zu lösen. Es ließ sich schließlich vom Bettgestell lösen und er holte es hervor.

Er hielt es in den mit den grünen Handschuhen geschützten Händen.

Was war das? Es war kein Kästchen, in dem man etwas aufbewahren konnte. Nein, das hier schien ein elektronisches Gerät zu sein. Es hatte die Größe einer Männerhand. Flach, schwarz. Er legte es in einen Asservatenbeutel und beschriftete ihn sorgfältig. Neugierig trug er den Beutel zu seiner Kollegin herüber.

„Schau mal Heike. Hast Du so etwas schon einmal gesehen?“, fragte er und hielt sein Fundstück in der Hand. Er drehte es hin und her.

Heike Böhm erschrak, als sie sah, was ihr Kollege dort in dem Asservatenbeutel bei sich trug.

*

Hell beauftragte Wendt damit, sich einmal diesen Harald Jochheim anzuschauen. Ohne deutlich zu werden. Sollte die Stasi wirklich hinter dem Unfall stecken, dann würden er und seine Hintermänner möglichenfalls aufgescheucht. Das durfte auf keinen Fall passieren. Er verließ im selben Moment das Büro, als auch Hell sich auf den Weg in die KTU machte. Sie warfen einander noch einen flüchtigen Gruß zu.

Auf dem Weg in die KTU nutzte Hell die Zeit, um eine SMS an Franziska Leck zu schicken. Nur ein kleines ‚Ich denke an dich‘. Es kam keine Antwort, was Hell auch nicht erwartet hatte, denn sie war ja noch immer auf dem Seminar. Er steckte das Handy weg und öffnete die Türe zur Abteilung der Tatortermittler.

„Was habt ihr denn für ein Teufelsding gefunden?“, fragte er, als Tim Wrobel seinen Kopf hinter einem der neuen Bildschirme hob. Seine Hornbrille saß auf seinem Kopf, nicht auf der Nase.

Hallo Oliver“, brummelte Wrobel, „Definitiv etwas, was Du nicht gerne unter deinem Bett hättest.“ Er schob sich die Brille wieder vor die Augen.

„Will sagen?“

„Wir sind uns sicher, es ist ein elektromagnetischer Feldemitter.“

„Was tut das? Was kann das?“

Wrobel trat hinter der Reihe von Bildschirmen hervor. „Kleiner Exkurs in Technonologiegeschichte gefällig? So etwas ist in jedem alten Monitor verbaut gewesen. Du erinnerst dich? Diese klobigen Kästen, die noch bis vor kurzem auf unseren Schreibtischen standen. So etwas nannte man Monitor. Es hat die Zeilen geschrieben, könnte man sagen. Doch dieser hier ist etwas Besonderes.“

Hell mochte den Zynismus seines wissenschaftlichen Kollegen. „In wie fern?“

„Vor allem bei Röhrenmonitoren, bzw. Bildschirmen, die auf dem Prinzip der Bildröhre basieren, entstehen elektromagnetische Strahlen. Durch eine Lochmaske wurden sie daran gehindert, nach außen aus dem Gehäuse herauszutreten. Du erinnerst dich an den TCO-Aufkleber, den jeder Bildschirm hatte? Den verdankten wir der schwedischen Normengesellschaft MPR und der schwedischen Berufsgenossenschaft TCO. Die haben Grenzwerte der Strahlenemission festgelegt, die dann als TCO-Norm bezeichnet wurde. Bildschirme, die der TCO-Norm entsprachen, bezeichnete man als strahlungsarme Bildschirme.“

„Ja, klar. Aber was hat das mit diesem schwarzen Ding zu tun?“ Hell zeigte auf das schwarze Kästchen, was Wrobel schon auseinandergeschraubt hatte.

„Hier fehlt die Lochmaske. Was bedeutet, der Emitter hat seine Strahlung ungebremst abgeschossen.“

„Nicht gut.“

„Nein, gar nicht gut. Sehr schädlich. Es kann Kopfschmerzen auslösen, wenn man den Strahlen zu lange ausgesetzt wird.“

„Und jede Nacht über einen längeren Zeitraum? Wir müssen davon ausgehen, dass das Gerät schon länger dort montiert war.“

Wrobel schaute zerknirscht. „Es gibt Berichte darüber, dass die Amerikaner und auch die Russen während des kalten Krieges unliebsame Zeitgenossen damit traktiert haben. Über Kopfschmerzen und Übelkeit sind die Menschen bis hin zu Depressionen manipuliert worden.“

„Manipuliert klingt harmlos“, sagte Hell düster.

„Der Mensch ist des Menschen Wolf.“

„Kann man bei der Obduktion feststellen, ob jemand über einen längeren Zeitraum“, versuchte er, eine Frage zu formulieren, „…ich meine, geht das?“ Hell kratzte sich nervös hinter dem Ohr. Er spürte, wie sein Herz heftiger zu schlagen begann.

„Nein, das kann ich dir nicht beantworten. Das musst du die Kollegen von der Abteilung ‚Totenstarre‘ fragen“, versuchte Wrobel zu scherzen.

Eine Weile blieb es still.

„Ist denn bekannt, dass auch die Stasi solche Methoden angewandt hat?“ Hell war bei der Frage unwohl, aber sie stand im Raum.

„Wenn es die Russen getan haben, haben es die Freunde vom Ministerium für Staatssicherheit sicher auch im Angebot gehabt“, antwortete er bitter.

„Danke Tim, das müssen wir definitiv wissen. Und wir müssen auch wissen, was für einen Schaden dieses kleine Mistding dort anrichten konnte.“

„Ich werde Heike Böhm damit beschäftigen, das herauszufinden. Sie hat übrigens sofort erkannt, um was es sich handelte.“

Tim Wrobel hob eine fragende Augenbraue.

„In Ordnung. Danke noch einmal.“

„Schon gut. Immerhin geht es um einen Kollegen.“ Fast erwartete Hell, dass er Tränen in den Augen Wrobels sah. Doch der hatte sich in der Gewalt. Sein Gesicht glich allerdings einer Maske.

*

Es war noch reichlich Zeit für eine Observierung. Wendt saß in Oliver Hells Mercedes und der stand in der Straße, in der Harald Jochheim wohnte. Nicht direkt vor seinem Haus, sondern am Anfang einer Nebenstraße, von wo aus er das Haus des Mannes gut einsehen konnte. Nach einer Stunde hielt er es nicht mehr aus. Die Hitze war beinahe unerträglich geworden. Jedenfalls so schnell gewöhnte sich kaum ein menschlicher Organismus an solche Temperaturen. Fünfunddreißig Grad. Keine Temperatur für eine Observierung von einem Auto aus. Das Gefühl ungenauer Erwartung und sein naiver Optimismus nagten zudem an seinem Gehirn. Er nahm einen Schluck aus der Cola, die auf dem Beifahrersitz lag. Die Brause war mittlerweile auch schon pisswarm. Er schraubte die Flasche angewidert wieder zu.

Für eine leere Sekunde betrachtete er die Flasche, wie sie vom Sitz rollte und in den Fußraum plumpste. Als er wieder hochschaute, sah er Jochheim, der gerade sein Haus verließ. Wendt erschrak.

Der Mann schaute sich auf der letzten Treppenstufe um, wie es Agenten in den Filmen der fünfziger Jahre taten. Nur trug er keinen Trenchcoat, an dem er einen Kragen hochschlagen konnte. Er trug nur ein helles T-Shirt über einer Bermuda-Shorts. Sein Blick fiel auf den Mercedes. Und darüber hinweg. Wendt rührte sich nicht. Er durfte nicht auffallen. Dabei war ein PKW mit einem Bonner Kennzeichen hier in der Straße sicher ebenso auffällig wie ein Einsatzfahrzeug der Polizei.

Jochheim ging in die entgegengesetzte Richtung davon. Aber nur so weit, bis er sein Auto erreichte. Er hantierte mit seinem Schlüssel, warf sich in den grünen Audi A4 und startete den Motor. Er fuhr langsam an seinem Haus vorbei und steuerte den Audi auf Wendt zu. Als er auf der Höhe angekommen war, fuhr die Seitenscheibe herunter. Zu sehen war sein faltiges, sonnengegerbtes Gesicht. Grau melierte Schläfen, kurz geschnittenes Haar. Graue Augen voller Hinterlist.

Jochheim grinste Wendt frech an. Wendt blieb ruhig sitzen, die Hände auf dem Lenkrad.

„Sie sind verbrannt, mein Lieber. Von welcher Behörde auch immer Sie sind, die sollten jemanden schicken, der nicht schon nach zehn Minuten auffällt wie ein rosa Elefant. Einen schönen Tag noch der Herr.“ Die Seitenscheibe fuhr hoch und Jochheim gab Gas. Wendt sah die grinsende Visage des Mannes verschwinden.

„Wieso?“, dachte er und schlug ärgerlich mit den Händen gegen das Lenkrad. Die Antwort gab er sich direkt selber. Diese Menschen waren es gewohnt, Argwohn gegen jeden und alles zu hegen. Das hielt sie am Leben. Sie hatten eine Art siebten Sinn entwickelt. Fluchtmechanismen. Schutzinstinkt.

Dennoch. Wendt hatte die Ratte aufgescheucht. Das war nicht der Plan und Hell würde sicher nicht amüsiert sein. Aber es ließ sich nun nicht mehr ändern. Der Mann hatte mitbekommen, dass man an ihm dran war. Es war jetzt halb vier Uhr an diesem Mittwochnachmittag. Keine Wolke war am blauen Himmel zu sehen. Wendt war müde und er wünschte sich nichts sehnlicher, als eine Dusche. Für die Fahrt zurück nach Bonn musste er vorerst mit der Klimaanlage Vorlieb nehmen. Seine Gedanken beschäftigten sich nur mit dem kalten Wasser auf seiner erhitzten Haut.

Daher war er unaufmerksam.

*

„Das sieht ja alles ganz respektabel aus“, stellte Karl-Heinz Überthür fest und schob die Unterlippe hoch.

„Dann wartet also noch niemand auf eine Erklärung?“, fragte Hell mit einem neutralen Tonfall. Er schaute sich ein wenig verwundert im Kreis der Kollegen um.

„Nein, wir stehen am Anfang der Ermittlungen. Wir haben zwei Fälle. Wir haben erkannt, dass Staatsanwalt Gauernack mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Wir haben sogar bereits einen Verdacht, der in Richtung Stasi deutet. Das ist für einen Tag schon eine Menge“, sagte Überthür und kratzte sich im Nacken.

„Das hilft uns sehr, wenn Sie das so sehen, Herr Überthür. Ich muss gestehen, dass ich schon eine Art Druck verspüre“, sagte Hell.

Überthür schaute zu ihm herüber. „Druck ist gut, Druck hilft. Er macht uns schlagkräftig. Weil er unser Denken beflügelt. Wir müssen schnell herausfinden, woher dieser vertrackte Emitter stammt.“

Hell glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Auch Rosin und Klauk schauten ein wenig verwirrt. War das wirklich der überhebliche, anmaßende Mensch, den Hell ihnen beschrieben hatte?

„Wie ist eigentlich der Stand in Sachen ‚Oskar‘?“, wollte Überthür dann plötzlich wissen. Er schob den Daumen gegen seine Lippen.

„Es gibt eine Menge Hinweise aus der Bevölkerung auf das Phantombild, aber keiner hat uns bisher irgendwie weiter gebracht“, sagte Rosin.

„Okay“, antwortete Überthür nur. Sie hatte gehofft, dass er wenigstens eine weitere kleine Reaktion zeigen würde. Doch die blieb aus.

„Wir sehen uns morgen früh wieder. Haben wir Glück, gibt es bis dahin neue Hinweise. Ich werde dann ebenfalls nach Hause fahren und die letzten Tropfen eines exzellenten portugiesischen Whiskeys genießen.“

Er verschwand, ohne sich groß zu verabschieden.

„Der war ja richtig nett“, sagte Klauk.

„Ja“, antwortete Hell, „Ihr solltet aber nie jemanden unterschätzen, der sich noch präsentieren muss. Ja, er war nett. Zu nett sogar. Er wird uns noch sein wahres Gesicht zeigen. Wartet es nur ab.“ Es war ein äußerst harmloser Vorschlag. Doch Hell fügte die Brisanz mit seinen Worten hinzu.

*

Donnerstag.

Lars Königer war einer der renommiertesten Wirtschaftsprüfer in Bonn. Er selber hätte sich als den Besten bezeichnet. Königer war von sich überzeugt. Sein Erfolg gab ihm Recht.

Das Haus schlief noch. Die Kaffeemaschine brummelte ihr morgendliches Lied. An jedem Donnerstag während der Sommermonate traf sich seine Frühstücksgruppe der Bonner Unternehmer auf dem Golfplatz. Zum Vertiefen von Geschäftsbeziehungen. Heute waren einige neue, interessante Kontakte angemeldet. Königer freute sich auf sie. Neue Interessenten. Neue Klienten. Neue Verdienstmöglichkeiten. Noch mehr Reichtum.

In der Diele stand der Golf-Caddy bereit. Er stützte sich auf den Rand des runden Designer-Waschbeckens und kämmte sich mit der rechten Hand sein Haar. In die dunklen Locken mischten sich bereits einige graue Strähnen. Seine Frau fand es attraktiv, er selber meinte, es würde ihn alt machen. Er bildete sich ein, dass seine Kunden ihm weniger Kompetenz zutrauten, wenn er nicht mehr jung und dynamisch erschien.

Kritisch betrachtete er sein Gesicht. So langsam würde es Sinn machen, sich einer Korrektur der Falten zu unterziehen. Er öffnete den Mund und zog mit zwei Fingern an der Haut auf seiner Wange. Königer beschloss, direkt heute seinen Golf-Kollegen darauf anzusprechen. Simon Herre war Schönheitschirurg. Sicher ließe sich da ein Deal aushandeln. Er setzte seine dunkle Hornbrille auf, nachdem er sich noch etwas Haargel in die Haare gestrichen hatte.

Seine Frau und seine Tochter schliefen noch, als sich sein Audi A8 langsam über die Ausfahrt auf die Straße bewegte. Königers Ziel an diesem Morgen war der Golfplatz Clostermannshof in Niederkassel. Man erwartete die Bonner Wirtschaftsgruppe dort um sechs Uhr mit einem kleinen, exquisiten Frühstück.

Die Sonne war schon lange aufgegangen an diesem Morgen, stand aber noch sehr tief. Königer musste blinzeln. Daher kramte er aus der Mittelkonsole eine andere Brille. Die modische Ray Ban Sonnenbrille stand ihm, machte ihn jünger. Ein prüfender Blick im Rückspiegel bestätigte es.

Für den Weg nach Niederkassel hatte er mehr als genug Zeit. Es war viertel nach fünf.

*

Oliver Hell wurde an diesem Donnerstag schon sehr früh wach. Niemand lag neben ihm. Er hatte sich schon so sehr an die Anwesenheit von Franziska an den Wochenenden gewöhnt, dass er ihre Abwesenheit während der Woche als schmerzlich empfand. Keine gleichmäßigen Atemzüge neben sich. Er drehte sich noch einmal herum und schaute in die Dämmerung.

Immer wieder hatte er in der Nacht denselben Traum gehabt. ‚Oskar‘ hatte der Polizei ein neues Video geschickt. Kein Mord, eine Frau wurde von der Kamera beobachtet. Man sah nicht das Gesicht der Frau, nur langes Haar. Braun. Gepflegt. Als sie sich umdrehte, endete das Video abrupt. Das Gesicht blieb ein Geheimnis.

Es war kein Alptraum. Hell machte es klar, dass ihm diese Geschichte näher ging, als der Tod von Staatsanwalt Gauernack. Warum auch immer. Er setzte sich auf, streckte sich ausgiebig und fischte nach seinen Sandalen. Hell schluffte ins Bad. Das Sonnenlicht fiel durch die Jalousien. Er zog die Tür der Dusche hinter sich zu und ließ das kalte Wasser über seinen Kopf laufen.

Danach griff er nach einem der brettharten Handtücher, die er bevorzugte und rubbelte sich ausgiebig trocken. Blinzelnd zog er die Jalousie hoch und betrachtete sich dann im Spiegel. Du siehst grauenhaft aus, dachte er und griff zu einer Creme-Flasche. Mit kreisenden Bewegungen cremte er sich damit ein. Auch die Haut auf seinen Armen fing an, kleine Runzeln zu bilden.

Was soll‘s. Du wirst eben alt. Er grinste sein Spiegelbild an. Rasieren fällt heute aus, beschloss er.

Hell schaltete das Licht aus, stieg die Treppe hinunter und schaltete in der Küche die Kaffeemaschine an. Die lud er schon abends immer mit Kaffeepulver und Wasser. Hell lauschte, wie die Maschine das Wasser ansaugte. Er war froh, dass er nicht mehr die Sucht nach Nikotin verspürte. Vor einem dreiviertel Jahr noch wäre das morgens sein Frühstück gewesen. Eine Kippe und eine starke Tasse Kaffee. Dinge änderten sich. Gewohnheiten änderten sich. Man gab Sachen auf, die einem lange Zeit begleitet hatten. So war es gut, fand Hell. Er hatte das Gefühl nun wieder mehr Luft zu bekommen. Nicht nur körperlich, nein auch sein ganzes Leben war luftiger, mit Leben durchdrungen. Aktiver.

Mit einem Kaffee in der Hand trat er draußen auf die Terrasse und trank ihn langsam und mit Genuss.

Er legte einen Zettel für Christoph in der Küche auf die Anrichte. Gegen halb acht würde er ins Büro fahren. Ob Christoph dann schon aus den Federn sein würde?

*

Morgens um halb sieben war alles noch gemächlich auf dem Golfplatz. Es gab noch keine Golfspieler außer denen der Gruppe von Lars Königer. Amseln sangen noch ihr Morgenlied, Kaninchen hoppelten behäbig über das Grün. Die Räder der Golf-Caddies drückten das kurzgeschnittene Gras nieder. Auf einigen Grüns zuckten noch die Bewässerungskanonen und wirbelten einen gleißenden Schleier in den frühen Morgen.

Ganz selten sah man um diese Zeit schon Aktivitäten. Später kamen die sportverrückten Rentner, gefolgt von den golfspielenden, gutbetuchten Gattinnen. Gegen Mittag herrschte dann auf dem Rasen Ruhe.

Im Restaurant dagegen herrschte Hochbetrieb. Auf dem Parkplatz sammelten sich die Nobelkarrossen und spien diejenigen aus, die es für chic hielten, auf dem Golfplatz mittags zu dinieren. Danach kamen diejenigen, die sich für den Tag noch etwas vorgenommen hatten. Einige kämpften gegen die notorische Langeweile in ihrem Leben an, andere gegen die Tücken des Sports auf der Driving-Range. Aber die meisten kämpften darum, einen lukrativen Vertrag zu ergattern oder eine erfolgversprechende Geschäftsbeziehung anzuleiern. Golf war schon lange nicht mehr nur Sport, sondern eine weitere Möglichkeit, Geschäfte zu machen.

Diese Chance zu nutzen, war auch das Ziel der Frühstücksgruppe von Lars Königers Unternehmerfreunden.

Die drei neuen Bewerber hatte er wie immer mit seinem Leitspruch begrüßt. „Lars Königer ist mein Name. So wie König, nur noch besser.“ Dabei setzte er sein gewinnendstes Lächeln auf. Königer kam seine Körpergröße bei solchen Begrüßungen sehr gelegen. Er maß über zwei Meter und die meisten Männer mussten zu ihm hinaufsehen. Die Frauen sowieso. Er genoss es.

Als er nun seinen extra für ihn angefertigten Golf-Caddy hinter sich herzog, überragte er die junge Frau, die neben ihm her schlenderte, um bestimmt anderthalb Köpfe.

„Ja, es lohnt sich, in unserer Gruppe zu sein. Neben den Geschäftskontakten, die sich einem hier bieten, haben wir auch immer eine Menge Spaß zusammen.“

„Ja, das Leben darf nicht zu kurz kommen“, antwortete sie und überlegte, ob er das anzüglich gemeint hatte.

„Arbeiten um zu leben. Das ist auch mein Motto. Ich möchte nicht mit Mitte Sechzig in die Grube fahren, weil ich mich totgearbeitet habe“, sagte Königer und stellte seinen Caddy ab. Sie hatten den Abschlagpunkt für das zweite Grün erreicht.

„Sondern?“ Sie tat interessiert.

„Ich habe den Plan, noch zwei, drei Jahre zu arbeiten. Dann setze ich mich zur Ruhe. Verstehen Sie, das Leben wartet auf uns. Wir müssen es uns nur nehmen.“ Mit Sorgfalt wählte er das Holz aus, um den Treibschlag auszuführen. Er zog den Driver aus dem Caddy und wog ihn in der Hand.

„Das klingt nach einem guten Plan“, sagte Marita Felten, die es nicht interessierte, was Lars Königer für Lebenspläne hegte. Sie wollte Aufträge für ihre neugegründete Werbeagentur generieren. Deshalb stand sie morgens um diese Zeit auf einem Golfplatz. Das sie Golf und all diese öde Wichtigtuerei hasste, brauchte niemand zu erfahren.

„Ja, ich bin jetzt dreiundvierzig Jahre alt. Spätestens im Jahr 2016 übersiedele ich nach Korsika. Dort besitze ich seit Jahren ein Haus am Meer. Falls Sie mal Lust haben, die Insel zu erkunden, dann dürfen Sie sich gerne an mich wenden.“ Er zog seine Sonnenbrille aus der Brusttasche des Hemdes und setzte sie sich auf. Mit seinem Killer-Lächeln wollte er die Frau zusätzlich beeindrucken.

„Vielen Dank, das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber ich spreche noch nicht einmal Italienisch.“

„Französisch, Korsika gehört zu Frankreich“, verbesserte Königer sie sofort. Was heute alles in der Wirtschaft Fuß fassen will? Ungebildet bis in die Haarspitzen, dachte er. Doch sein Blick heuchelte weiter Freundlichkeit.

„Sehen Sie, da bin ich sicher nicht ihr bester Urlaubsgast“, antwortete Marita Felten. Ihr war es peinlich. Doch sie überspielte es mit einem Lächeln.

„Jetzt können Sie noch etwas lernen. Obacht!“

Lars Königer beugte sich herab und legte den Golfball auf das Tee. Dann nahm er die Grundstellung ein. Er war stolz auf seinen perfekten Abschlag. Er nahm Maß, schwang durch. Genau in dem Moment traf ihn etwas am Kopf und er verriss den Schlag völlig. Der Ball flog weit außerhalb der Range und landete in einem kleinen Wäldchen.

„Aua, was war das denn?“, fragte Königer und fasste sich an den Hinterkopf.

„Was denn?“, fragte Frau Felten amüsiert.

„Mich hat etwas am Kopf getroffen“, sagte er verdattert und schaute sich um.

„Aha. Das sagt man also, wenn man einen Schlag total verrissen hat. Das muss ich mir merken.“ Marita Felten glaubte an eine armselige Ausrede. Eine Macho-Ausrede.

„Nein, keine Ausrede.“ Er suchte auf dem Boden nach dem Beweis. Er beugte sich herunter, stützte sich dabei auf dem Golfschläger ab.

„Hallo Lars, hast Du deinen Ball verloren?“, fragte einer seiner Kollegen lachend, der auch auf dem Abschlag ankam.

„Nein, Quatsch. Mich hat was am Kopf getroffen und ich habe daher den Ball in den Wald geschlagen.“

„Aha, schon gut. Klasse Ausrede. Muss ich mir merken. Dann mal los, such deinen Ball und mach mal hier den Abschlag frei.“ In der Stimme von Doktor Simon Herre schwang eine Menge Spott mit.

„Ja, macht euch nur lustig über mich“, maulte Königer trotzig. Er drehte seinen Golfschläger einmal geschickt um seine Finger. Wie ein Pistolero seine Waffe; und steckte ihn in seinen Caddy zurück. Wortlos stampfte er los. Wenn er es richtig gesehen hatte, dann war der Ball in dem kleinen Birkenwäldchen gelandet. Ihm war bewusst, dass sein Renommee als Golfer dadurch keinen Schaden genommen hatte, doch war es ihm peinlich. Vor allem vor der hübschen Brünetten, wie hieß sie noch gleich? Felten? Er zog die Visitenkarte aus der kleinen Tasche seiner Golf Hose. Marita Felten stand dort, Diplom-Werbegrafikerin.

Er hielt sich abseits des Bereiches, in dem mit tieffliegenden Golfbällen zu rechnen war. Der noch feuchte Boden schmatzte unter seinen Golftretern. Er spielte noch einmal die Flugbahn des Balles durch, drehte sich kurz um, vergewisserte sich, dass er auf dem richtigen Weg war. Er lief weiter in die Richtung, bis er an die ersten Birken kam. Wie sollte er den Ball dort herausspielen? Mit welchem Eisen? Einem der Wedges? Einem Sand-Wedge vielleicht?

Seine Augen suchten nach dem Ball. Hier war es nicht so aufgeräumt, wie auf dem Grün und auf den Fairways. Hier lag das Bruchholz der Birken. Es gab Ginsterbüsche. Und dann sah er den Ball.

„Verdammt“, fluchte Königer, als er erkannte, dass der Ball unter einem querliegenden Ast zu liegen gekommen war. Er stellte den Caddie außerhalb des Hains ab und bahnte sich seinen Weg, in der Hand einen Golfschläger. Einen Wedge.

Sein Blick war auf den kleinen, weißen Ball geheftet. Wie kriege ich den dort raus, fragte er sich. Daher sah er den Schatten, der sich schnell wie der Wind auf ihn zubewegte, viel zu spät. Was er noch sah, war eine Klinge, die in der Morgensonne aufblitzte.

Oliver Hell - Gottes Acker

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