Читать книгу Carola Pütz zweiter Fall - Kaltes Paradies - Michael Wagner J. - Страница 4

Montag, 30.09.2013

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Irgendwo zwischen Hamburg und Mallorca

Jana Hardenberg erwachte, holte tief Luft. Sie sah nach oben auf das Info-Display, das die augenblickliche Position des Flugzeuges anzeigte. Das große rote Flugzeug-Symbol überflog gerade die französische Mittelmeerküste. Sie wusste nicht, wie lange sie schon gedöst hatte, fand es auch nicht wichtig. Viel wichtiger war, dass es nicht mehr weit bis zum Zielflughafen Palma de Mallorca war. Schläfrig sah sie aus dem Kabinenfenster und erkannte nur ein metallisches Blau. Sie ließ die Augen wieder zufallen. Bald würde der Flugkapitän den Hinweis zum Anlegen der Sicherheitsgurte geben. Bis dahin konnte sie noch ein wenig schlafen. Sie würde all ihre Kraft benötigen. Die kommenden Tage stellten eine Herausforderung dar. Eigentlich mutete sie sich zu viel zu. Das wusste sie. Genau das wollte sie austesten, wollte ihre Grenzen ausloten. Jana Hardenberg war kein geübter Trekking-Experte, sie war ohne Zweifel eine durchtrainierte Sportlerin. Doch an fünf Tagen fünf lange Touren durch den mallorquinischen Norden zu machen und einige sehr anspruchsvolle Wandertouren in der Serra de Tramuntana zu absolvieren, war selbst für geübte Mallorca-Wanderer keine leichte Sache. Doch, jetzt hieß es, Zähne zu zeigen. Sie hatte es sich vorgenommen, also gab es kein Kneifen.


Cala Lombards

Reto Winterhalter legte das Handy vor sich auf den Tisch und blies die Luft aus. Carola Pütz streckte die Arme aus, spitzte die Lippen und sah ihn erwartungsvoll an. „Und?“

„Mmh, er will sich morgen mit mir treffen“, sagte er, nachdem er ihre Spannung noch ein wenig ausgekostet hatte.

„Na, hervorragend!“, rief Carola und klatschte leicht in die Hände. Dann richtete sie ihren Blick auf das Meer vor der Cala Llombards. Die kleine Dachterrasse auf ihrem Ferienhaus war der schönste Ort der Welt. Jedenfalls in diesem Moment. Und nicht nur jetzt. Wenn sie und Reto dort abends mit einem Glas Rotwein auf den Sonnenuntergang warteten, schien die restliche Welt nicht mehr zu existieren. Mallorca tat ihr gut. Ihre ‚Zählmacke‘, wie sie es beinahe zärtlich nannte, hielt sich in Grenzen. Seitdem sie unter der Arithmomanie litt, hatte sie richtige Schübe gehabt, wo sie am liebsten nur daheim in den eigenen vier Wänden geblieben wäre. Doch hier auf der Insel konnte sie alle Reize um sich herum dosieren.

Das Einzige, was momentan störte, war der Lärm, den Luca, der Bauarbeiter unten im Garten machte. Der liebenswürdige Spanier hatte noch genug Arbeit, denn er beherrschte ein fast ausgestorbenes Handwerk: Er konnte Trockenmauern aufschichten. Das Geräusch der großen und kleinen Steine drang an ihr Ohr. Er legte sich jeweils einige Steine parat, die er als nächstes verbauen wollte. Dabei suchte er diese nach Größe, Form und Oberflächenbeschaffenheit aus. Schließlich musste die Mauer ohne Mörtel halten. Bei seiner Arbeit wurde er die ganze Zeit über von Marie bewacht, die dann und wann ihren Kopf hob und schläfrig zu ihm hinüberblinzelte. Wenn sie genug gesehen hatte, schmatzte sie genüsslich und ihre Augen fielen wieder zu.

Die Staffordshire-Terrier-Mischlingshündin hatte sich trefflich eingelebt, manchmal machten ihr die Temperaturen zu schaffen, dann verkroch sie sich in die kühlen Räume im Norden des Hauses. Es hatte Carola einige Mühe gekostet, für Marie die passenden Papiere zu besorgen. Offiziell war sie jetzt ein Labrador-Podenco-Mischling. Als reinrassiger Staffordshire-Terrier wäre es schwer gewesen, sie auf die spanische Insel zu holen. Doch alles hatte sich zum Guten gewendet. Carolas Nachbarn hatten sich ebenfalls an die junge verspielte Hündin gewöhnt, liebten ihr sanftes Wesen und die feuchten Schlabber-Attacken auf die Ohren all derjenigen, die Marie kraulten.

Reto stand auf, streckte sich und trat an die gemauerte Brüstung heran. „Wenn ich mit einem von ihnen gesprochen habe, ist das vielleicht der Schlüssel“, sagte er.

„Hoffen wir es“, sagte Carola und setzte sich neben ihn auf die Brüstung.

Es war leichter, einen Schweizer Bankier zu interviewen als einen der gestrandeten deutschen Auswanderer und Aussteiger. Viele kamen in der Hoffnung, begleitet von der Sonne der Urlaubsinsel einen Neuanfang zu schaffen. Etliche schafften es nicht, lebten jetzt auf der Straße. Einer von ihnen, der Deutsche Karl Uwe K., war im Mai des Jahres unter sehr dramatischen Umständen ums Leben gekommen. Als Reto davon erfuhr, kam er auf die Idee zu diesem Artikel. Wollte über die Schattenseiten der Trauminsel und der Tourismusindustrie zu berichten. Die wirtschaftliche Situation Spaniens, die sich auch auf der Insel auswirkt, ließ die Zahl der Wohnungslosen rapide ansteigen. Seit Anfang 2013 waren schon 10 Deutsche auf der Insel gestorben und in einem Armenbegräbnis beigesetzt worden. Auch darüber wollte er schreiben, die Menschen reagierten befangen und abweisend.

Doch schließlich hatte Reto mit einem Trick Erfolg gehabt. Einen der Männer zog es morgens immer auf den Platz vor der Kirche in Sóller. Gegen ein üppiges Trinkgeld hatte sich eine Kellnerin aus einem der Cafés dort bereiterklärt, den Mann mit einem Gratis-Kaffee anzulocken. Sie hatte dann, dem Auftrag gemäß, Reto sofort kontaktiert und den Mann ans Telefon geholt. Mit diesem Deutschen hatte er morgen ein Treffen vereinbart. Ihm war dies auch nur gelungen, weil er Schweizer war. Ein Interview in einer deutschen Zeitung hätte der Mann strikt abgelehnt. Zu groß war die Scham. Zu groß die Angst, in der alten Heimat erkannt zu werden. Durch ihn versprach sich Reto ebenfalls etwas über das Leben von Karl Uwe K. und seinen Hund ‚Señor Roberto‘ zu erfahren. Natürlich interessierte ihn auch die Situation der anderen Gestrandeten auf der Insel.

Marie kam mit heraushängender Zunge die Treppe hinauf, ließ sich auf eine der vielen Hundedecken fallen und streckte alle Viere von sich. ‚Kraul mich‘, forderten ihre braunen Augen. Carola kam der Aufforderung ihres Hundes sofort und gerne nach und kraulte Maries Bauch.

Carola empfand tiefes Mitleid. Obwohl sie durch und durch ein Kopfmensch war, konnte sie verstehen, dass jemand, um seine Träume zu verwirklichen, schon mal ein Wagnis einging. Viele Dinge auf der Welt wären nicht geschehen, wenn einer nicht ein wenig zu weit gegangen wäre, mehr getan hätte als notwendig oder sich gegen bestehendes Elend gewehrt hätte. Es hätte keinen Martin Luther King gegeben, keinen Gandhi. Manchmal musste man im Leben etwas wagen, um zu gewinnen. Auch sie hatte einen Neuanfang gewagt. Zwangsweise. Im Moment war sie so etwas wie die Privatsekretärin von Reto Winterhalter, bezahlt von seiner Redaktion. Von der gefeierten plastischen Forensikerin, die ein Buch nach dem anderen veröffentlichte, und von einem Vortrag zum nächsten hechtete, war zurzeit nicht viel übrig, sie jetzt einfach nur eine Tippse. Aber nicht weniger glücklich. Ihr Herz hatte sie eingebremst, ihr die Grenzen aufgezeigt. Manchmal kam alles so, wie es sein sollte. Manche ähnliche Hoffnungen waren auf der Lieblingsinsel der Deutschen schon zerplatzt. Dort zu leben und zu arbeiten, war für viele immer noch ein Traum. Doch die Insel hatte auch ihre Schattenseiten. Zum jetzigen Zeitpunkt kannte sie deren Vielfalt noch nicht. Sie sah in Retos nachdenkliches Gesicht und fragte ihn leise: „Darf ich dich morgen begleiten?“

Er stieß sich von der Brüstung ab und ging neben ihr in die Hocke, streichelte Maries Kopf. Der Hund genoss die doppelte Aufmerksamkeit und gab ein wohliges Brummen von sich.

„Ich weiß nicht, wie er darauf reagiert“, sagte Reto zweifelnd.

„Ich könnte mitkommen und mich in einem anderen Café aufhalten. Was denkst du?“

Seine Worte waren voller Gefühl, als er sagte: „Du hast mal wieder die besten Ideen.“

Mit einem feinen Lächeln quittierte sie das Lob ihres Partners.

*

Sóller

Manuel, genannt ‚Nelo‘ Cruz, schlenderte mit weit ausladenden Armbewegungen durch das kleine Präsidium von Sóller. Das tat er immer dann, wenn er eigentlich etwas tun wollte, es aber nicht durfte. Wie so oft krankte es an dem Kompetenzgerangel inner- oder unterhalb der spanischen Polizeiorganisationen. Nelo musste sich abreagieren. Er war Beamter der Policía Local, die sich in Spanien nur um die Belange der einfachen Polizeiarbeit kümmerten. Doch hier ging es um ein Delikt, dass der Policía National unterstand: Drogenhandel.

Nachdem es vielen Händlern im Süden der Insel zu heiß geworden war, zog es sie in den bisher von den Razzien verschont gebliebenen Norden der Insel. Bisher waren hier keine derartigen Delikte aufgefallen. Bis jetzt. Gestern hatte er es - eher privat und zufällig - miterlebt, wie sich abends ein paar zwielichtige Gestalten auf der Placa Sa Constitució getroffen hatten. Quasi direkt vor der Polizeistation im Rathaus. Es waren zwei Frauen und drei Männer gewesen, wobei die Frauen bei den scheinbar anstehenden Verhandlungen nichts zu sagen hatten. Sie standen an dem Brunnen, direkt vor der Kirche Sant Bartomeu. Cruz hatte den Eindruck, es seien Nutten. Billig aufgetakelt und Kaugummi kauend hatten sie dort gelangweilt gestanden. So lange, bis die Männer ihre teilweise hitzige Diskussion beendet hatten.

Heute Morgen hatte er sich in das Netzwerk der Polizei eingeloggt und dort sehr schnell die beiden Männer gefunden. Es handelte sich bei beiden um bekannte Drogenhändler aus Palma und S’Arenal. Er hatte den zuständigen Beamten eine Mail geschrieben. Die einzige Reaktion kam in Form eines einzigen Wortes: „Heraushalten!“

Beim letzten Mal, als er sich über einen solchen Hinweis hinweggesetzt hatte, war Folgendes passiert: Sein Chef hatte ihm eine Abmahnung erteilt.

„Was ist los, Nelo? Du tigerst hier herum als wüsstest du nicht, wohin du dein Ei legen sollst!“, fragte ihn sein Kollege Tonio Nadal. Er stützte sein Doppelkinn auf seiner Hand ab und betrachte neugierig seinen Kollegen. Cruz sah ihn an und traf blitzschnell die Entscheidung, ihm seine Gedanken zu verschweigen. Stattdessen schüttelte er nur den Kopf. Er wollte ihm nicht erzählen, was ihm Kopfzerbrechen bereitete, sonst hätte er sich nur wieder eine Standpauke oder Weisung, wie Nadal es nannte, anhören müssen. Danach stand ihm nicht der Kopf. „Nein, alles ist gut“, fügte er noch an. Er legte die Hand auf die Türklinke und drehte sich noch einmal um. So wie jeden Tag.

„Soll ich dir etwas mitbringen, Tonio?“

Nadal schob sich mit zwei Fingern die Brille hoch, schien nachdenken zu müssen. Schließlich nannte er Nelo seinen Wunsch, der sich nicht von dem von gestern unterschied. Nelo hätte es auch gewundert. Grußlos verließ er das Büro, öffnete er eine halbe Minute später die Tür und die Sonnenstrahlen empfingen ihn.

*

Deià

Die festen männlichen Züge bekamen fast einen weichen Ausdruck als er Juan auf sich zukommen sah. Schwarze in die Stirn fallende Locken umrahmten das jugendlich strahlende Gesicht des jungen Mannes. Die graugrünen Augen funkelten ihm entgegen und Lothar Mensing hatte plötzlich Angst, jemand in der Hotel-Lobby könne auf sie aufmerksam werden. Unsicher sah er sich in der Lobby um, doch außer zwei geschäftig aussehenden Hotelportiers war niemand zu sehen. Die meisten Gäste versammelten sich um diese Zeit im Speiseraum des Hotels zum Mittagessen. Juan trat nahe an Lothar Mensing heran und berührte ihn sanft an der Schulter.

„Hallo, ich freue mich, dich zu sehen“, sagte er auf Spanisch.

„Bitte nicht in aller Öffentlichkeit“, zischte Mensing und in die Augen des jungen Mannes trat eine beinahe kindliche Traurigkeit.

„Lo siento, ich vergaß“, sagte er schnell, ging einen Schritt zurück und blickte zu Boden. Mensings raue Stimme hatte ihn verunsichert. „Kommt nicht wieder vor“, sagte Juan und wagte schon wieder zu blinzeln. Über Mensings Gesicht flog ein Lächeln. Ein wenig irritiert blickte er in die Augen hinter den Haarfransen.

„Ich bin … entschuldige … ich bin es einfach nicht gewöhnt“, stammelte er dann und kam sich in diesem Moment albern vor. Zum Ersten, weil er so heftig reagiert hatte und zum Zweiten, weil es für ihn immer noch ungewohnt war, einen Mann als Liebhaber zu haben. Lothar Mensing galt unter seinen Kollegen und Geschäftsfreunden als experimentierfreudig, was das Ausleben seiner Libido anging. Doch Juan war sein erster Mann. Er fragte sich, ob er sich bei einer Frau ebenso schroff verhalten hätte. Sicher nicht.

Juan zog die Augenbrauen hoch und lächelte. „Machen wir einen Spaziergang?“, fragte er und Mensing nickte.

*

Deià

Schritt für Schritt war Jana Hardenberg wieder vor dem Hotel angelangt. Sie war müde, der Tag war anstrengend gewesen und sie freute sich auf eine erfrischende Dusche. Aus dem Speisesaal drangen Stimmen und Geschirrgeklapper nach draußen. Jana hatte Hunger, großen Hunger sogar, doch zuerst dürstete jede Pore ihres Körpers nach einer Abkühlung.

Der Aufzug brachte sie und ihre müden Knochen in die zweite Etage des Hotels – normal hätte sie nicht den Aufzug genommen – sie bog um die Ecke und öffnete ihre Hotelzimmertür. Eine angenehme Kühle und ein dämmriges Licht empfingen sie. Erschöpft ließ sie den Rucksack auf das Bett gleiten und löste die Schnürsenkel ihrer festen Wanderschuhe. Als sie die Schuhe von den Füßen streifte, fühlte sie sich von einer Zentnerlast befreit. Mit einem Kopf voller Eindrücke und einer guten Fotoausbeute für den ersten Tag ließ sie ihre Kleidungsstücke fallen, wo sie stand und stieg in die Dusche. Das lauwarme Wasser lief über ihren Körper und sie blieb regungslos stehen. Bilder und Eindrücke traten erneut vor ihr inneres Auge. Die Serra Tramuntana war atemberaubend schön, viel schöner als sie es sich vorgestellt hatte. Nach dem Abendessen würde sie den Computer einschalten und sich die Fotos ansehen, die sie gemacht hatte. Auf dem kleinen Display der Spiegelreflexkamera konnte man die Schärfe nicht genau kontrollieren. Vielleicht würde sie auch einen Eintrag auf ihrem Urlaubs-Blog machen.

Vielleicht, aber nur dann, wenn sie wirklich Lust darauf verspürte, nicht zu müde war und auch sonst nichts Besseres mehr zu tun hätte, würde sie Pierre anrufen. Um seine Stimme zu hören und weil sie neugierig war, zu erfragen, wie es ihm ohne sie ging. Ganz ohne sie. Oder sie würde es genau deswegen lassen, um ihn nicht zu quälen. Kein Salz in die frische Wunde streuen. Immerhin kam ihre Entscheidung, sich noch vor dem Urlaub von ihm zu trennen, für ihn aus heiterem Himmel. Was in ihrem Kopf und Herzen schon lange vor sich hin gereift war, traf ihren Freund wie ein Hammer. Er hatte sie feige genannt – neben all den anderen Dingen, die er ihr an den Kopf geworfen hatte – und sie konnte ihn so gerade noch davon abbringen, einen Flug zu buchen und ihr hinterher zu reisen.

Nein, sie würde ihn nicht anrufen, das könnte er am ersten Tag sicher als Schwäche auslegen, ihr wieder die Ohren vollheulen. Darauf hatte sie keinen Bock. Stattdessen würde sie mit ihrer Freundin Babsi skypen. Beflügelt von dieser Idee, sprang sie aus der Dusche, rubbelte sich das Haar trocken und schlüpfte in ein bequemes Baumwollkleid. Sie drehte sich vor dem Spiegel, begutachtete ihre Figur und fand, dass sie eine verdammt hübsche Frau war. Wenn Pierre es ihr doch auch dann und wann einmal gesagt hätte. Wer weiß, vielleicht …

Aber Pierre war eben Pierre und die Gewohnheit der Tod einer jeden Beziehung. Fröhlich pfiff sie vor sich hin, überlegt, wo sie ihr Portemonnaie hingelegt hatte und tänzelte um das Bett herum, als plötzlich das Telefon auf dem Nachttischchen klingelte. Jana Hardenberg zuckte zusammen. Niemand kannte diese Nummer. Sie starrte auf das Telefon und der Schreck löste sich allmählich wieder. Sie lachte auf und schüttelte den Kopf.

„Sicher ist es die Rezeption“, murmelte sie vor sich hin und griff nach dem Hörer.

„Jana Hardenberg“, sagte sie mit einem neugierigen Ton in der Stimme und lauschte. Als sie die ersten Worte des Anrufers hörte, fuhr ihr der Schreck in alle Glieder.

„Hallo, hier ist Pierre. Gehen wir zusammen essen?“

Sie brachte keinen Ton heraus, ließ sich fassungslos auf das Bett sinken. Sie schluckte, bevor sie die ersten Worte fand. „Nein, das ist jetzt nicht wahr! Sag bitte nicht, dass du auf Mallorca bist, Pierre!“, zischte sie mehr, als dass sie sprach.

Sie fuhr sich mit der Hand über das nasse Haar und wollte schon voller Zorn los schreien, doch sie bremste sich noch.

„Doch, ich bin unten in der Lobby. Wie war dein Tag?“

Ihre Wut fegte den Ansatz von Erholung weg, den sie bis gerade eben gespürt hatte. Sie atmete tief ein.

„Mit wem du auch immer heute essen gehen wirst, ich werde es definitiv nicht sein!“, schleuderte sie ihm entgegen und knallte den altmodischen Telefonhörer auf die Gabel. Ein aufgewühltes Gefühl bemächtigte sich ihrer. Wie konnte er so dreist sein, ihr hinterher zu reisen? Sich über die Trennung hinwegzusetzen und so zu tun, als sei alles in bester Ordnung. Doch sie wunderte sich eigentlich nicht. So war Pierre. Dinge, die ihm nicht passten, ignorierte er. Ignorierte er so lange, bis er sie einsehen musste.

Eine böse Vorahnung keimte in ihr auf. Wenn sie Pech hatte, wohnte er im gleichen Hotel und sie würde ihn die ganze Zeit an der Backe haben. Sein Gejammer und seine Liebesschwüre inklusive. Aufgeregt kaute sie auf ihren Lippen und dachte nach. Dann hatte sie einen Plan gefasst. Sie griff nach der Umhängetasche, schlüpfte in die Sommerlatschen und schlich sich durch das Treppenhaus nach unten in die Lobby.

*

Cala Llombards

Marie sprang aus Carola Pütz altem Renault-Kangoo heraus und tapste erst einmal zum nächsten Busch, um dort das Bein zu heben. Marie konnte sittsam in der Hocke ihr kleines Geschäft verrichten, meistens aber hob sie ein Bein. Je nachdem, wonach ihr der Kopf stand. Carola schlug die Heckklappe zu und sah zu Reto herüber. „Nimmst du sie bitte an die Leine?“, sagte sie und Reto hielt als Antwort die Hundeleine hoch. Spanien hatte aus Marie einen leisen Hund gemacht. Sie bellte selten und wenn, dann aus gutem Grund. Entweder näherte sich jemand dem Grundstück oder dem Fahrzeug, in dem Marie gerade saß. Ansonsten war sie der entspannteste Hund, den Carola je gesehen hatte. Auch an den wenigen Wildtieren, die auf der Insel lebten, zeigte sie sich mittlerweile völlig desinteressiert. Der Jagdinstinkt gehörte nicht zu ihren herausragenden Eigenschaften. Aber das war Carola eher recht, als dass es sie störte. So konnte sie den Hund überall ableinen. In diesem Moment fing es von rechts irgendwo an heftig zu bellen. Marie spitzte die Ohren und als hätte sie es bislang noch nicht bemerkt, wo sie sich befanden, konnte Carola in diesem Moment vom Blick ihrer Hündin ableiten: Sie hatte es begriffen.

Der, der lautstark bellte, war ihr Lieblingsfeind – eigentlich war es ihr einziger. Wenn man einen fußballgroßen und trotzdem größenwahnsinnigen Shi-Tzu-Rüden überhaupt ernst nehmen und als Feind bezeichnen konnte. Der Hund gehört einem Ladenbesitzer in Cala Llombards, dort erledigte Carola ihre Einkäufe. Normalerweise nahm sie dafür nicht das Auto, sondern das Fahrrad. Aber heute wollten sie danach noch an den Strand. Nicht lange, nur für ein paar Minuten. Von ihrem Haus aus konnte man drei der schönsten Buchten der Insel mit dem Fahrrad erreichen. Die Cala Llombards und weiter im Süden die Caló des Moro oder auf der anderen Seite der Landzunge die verwunschene Cala S’Almunia. Das hatte sie nicht gewusst, als sie das Haus kaufte – sicher wusste es der Makler auch nicht – doch jetzt hatte sie es lieben gelernt. Eine Viertelstunde später rollte der Kangoo den steilen Carrer d’es Garrover hinab an den Strand. Der Parkplatz, der eigentlich nur aus verdichtetem Sand bestand, war für die Jahreszeit gut gefüllt. Dennoch konnte sie bis ganz nach vorne fahren und das Auto neben einem Wohnmobil mit deutscher Zulassung parken. Dort, wo bis weit in den September die Vermieter der Liegen und Sonnenschirme ein gutes Geschäft machten, waren jetzt nur wenige belegt. Die meisten Besucher lagen direkt am Meeressaum. Selbst die Strandbar hatte geschlossen, die Rollläden aus Bast waren heruntergelassen. Ein weißes Schild mit schwarzen Buchstaben vertröstete die Badegäste auf den kommenden Tag. Carola zog sich ihr Sommerkleid aus, unter dem sie schon den Bikini trug. Mit einem Freudenschrei stürmte sie ins Wasser und tauchte in die nächste Welle. Reto begnügte sich damit, am Rand stehen zu bleiben und zusammen mit Marie dem Frauchen zuzuschauen. Vor seinen Augen tauchte sie wieder auf, schüttelte sich und begann mit eleganten Kraulzügen auf das Meer hinauszuschwimmen. Marie hatte sie genau im Blick, und als sie nur noch als kleiner Punkt zu sehen war, begann der Hund leise zu fiepen. Reto beugte sich zu ihr hinab und kraulte sie im Nacken. Marie sah ihn kurz an, dann richtete sie wieder den Fokus auf den kleinen Punkt im Wasser. Wieder das leise Fiepen.

„Ist alles gut, meine Kleine. Caro kommt gleich zurück. Sie weiß schon, was sie tut!“, sagte er mit beruhigender Stimme. Dessen war er sich zwar selbst nicht so sicher, aber die Worte kamen sehr überzeugend aus seinem Mund. Das Fiepen wurde leiser.

Als Carola fünf Minuten später wieder aus dem Wasser kam und sich schüttelte, tat Marie es ihr gleich. Die Anspannung fiel von ihr ab und sie zog wie wild an der Leine.

„Oft darfst du das deinem Hund nicht antun“, sagte Reto tadelnd. Marie wedelte mit dem ganzen Körper, wartete darauf, dass Carola sie kraulte.

„Hast du mich vermisst?“

Als Antwort kam jetzt nur ein lautes Bellen.

*

Deià

Lothar Mensing stand am Fuß der Treppe, die zur Hotel-Lobby hinaufführte und horchte in sich hinein. Eigentlich hatte er mit Vielem gerechnet, mit einem schlechten Gewissen, bohrendem Skrupel oder aufgeregter Vorfreude. Doch tatsächlich fühlte er in diesem Moment gar nichts. Nur eine unendliche Leere. Noch konnte er zu Juan gehen und ihm gestehen, dass alles ein großer Fehler sei und er umkehren wolle. Umkehren, als hätte er nie vorgehabt, sich einen Mann ins Bett zu holen. Juan würde ihn hassen. Das stand fest. Aber sollte er deshalb die unerträgliche Leere in seinem Kopf weiter zulassen? Er wusste darauf keine Antwort. Er strich sich zum wiederholten Mal die Haare aus der Stirn.

Was sollte er tun?

*

Cala Llombards

Sie saßen im Wohnzimmer von Carola Pütz Haus. Sie weigerte sich, das kleine Anwesen als Finca zu bezeichnen, weil es einfach vom Terrain her zu klein war. Ihre Frankfurter Freunde hatten sie schon als Finca-Besitzerin hochgelobt, doch sie hatte sie eingebremst. Das Haus war ein Haus mit Grundstück – mehr nicht. Wunderbar geschnitten, kühl im Sommer, dank der kleinen Fenster und grünen Schlagläden und warm im Winter – es gab einen wohlige Wärme ausstrahlenden Kaminofen. Ein kleiner weißer Kubus am Meer, mit einer genialen und unverbaubaren Aussicht obendrein.

An den weißen Wänden hingen grellbunte Bilder, die sie von einer befreundeten Frankfurter Galeristin erstanden hatte. Auf dem Boden aus original mallorquinischen Fliesen lagen ein paar Teppiche mit einfachen Mustern, die es nicht mit der Gewagtheit der Farbvielfalt der Malerei aufnehmen konnten und auch nicht sollten. Ruhe für die Augen, hatte Carola gesagt, als sie sie zusammen ausgesucht hatten. Reto hatte sofort verstanden, dass sie so nicht in die Gefahr geriet, irgendetwas zählen zu müssen – Karos, Punkte oder was auch immer. Die Möbel waren aus Pinienholz und er hatte gar nicht erst nach dem Preis gefragt. Sicher waren sie sündhaft teuer gewesen. Geld spielte bei Carola keine Rolle.

Marie lag lang ausgestreckt an ihrer Lieblingsstelle in der Tür zum Garten, die Vorderbeine auf dem Fliesen der Terrasse, der Hundekörper lag im kühlen Haus. So hatte sie alles im Blick oder in der Nase. Je nachdem, welchen Sinn man gerade ansprach.

Reto stand auf und nahm das Weinglas in die Hand. „Ich setze mich noch ein wenig nach draußen, kommst du auch mit hoch“, forderte er Carola auf, die in eine forensische Fachzeitschrift vertieft war. Sie leistete sich noch immer den Luxus auf dem Laufenden zu bleiben. Forensik. Schließlich war es bis vor nicht allzu langer Zeit ihr Leben gewesen. Bis zu dem Herzinfarkt. Bis zu der heftigen Attacke ihrer Zwangsstörung, als sie in einem Bonner Hotelzimmer zusammengebrochen war.

Carola sah ihn erstaunt an, so, als hätte er etwas von einem Alien erzählt.

„Was?“, fragte sie und runzelte die Stirn.

Reto lächelte. „Weinglas! Dachterrasse! Du auch?“, sagte er und spitzte verschmitzt die Lippen. Er kannte Carola bereits ziemlich gut, man konnte neben ihr ein Haus abbrechen, wenn sie in etwas vertieft war, bekam sie es nicht mit.

„Oh ja, sicher. Geh schon vor, ich komme gleich nach und bringe eine weitere Flasche Wein mit“, sagte sie mit Blick auf die schon gut geleerte Flasche Rioja. Reto schob die Unterlippe hoch und stieg, gefolgt von Marie, die Außentreppe hinauf. Nachdem er sich auf einen der bequemen Kunst-Rattan-Sessel niedergelassen und wieder einmal die Schönheit der Aussicht bewundert hatte, hing er seinen Gedanken hinterher. Er hatte noch nie ein Interview mit einem Aussteiger geführt. Es war sinnlos zu spekulieren, wie sich das Gespräch mit dem Obdachlosen entwickeln würde. Marie legte ihren Kopf auf sein Bein und er begann sie zu kraulen. Reto seufzte schwer und schloss die Augen. Als Carola eine Viertelstunde später auf die Dachterrasse trat, fand sie ihre beiden Helden schlafend vor. Marie hatte sich auf Retos Schoß geringelt und schaute sie verschlafen an. Carola lächelte mild, drehte sich auf dem Absatz herum und kehrte zu ihrer Fachzeitschrift zurück.

*

El Arenal

Aus der Nachbarschaft dröhnte der Basslautsprecher der Diskothek bis hierher in die kleine Nebenstraße. Frauen kreischten, doch hatten sie eigentlich keinen Grund dafür. Abebi Ayodele hätte einen Grund gehabt, doch sie war wie gelähmt vor Angst. Die Tür der Diskothek wurde geschlossen, der Bass wummerte nur noch gedämpft in die Nacht. Das Schreien der Frauen war in der Dunkelheit verklungen.

Der Mann sah das Weiße in den Augen der jungen Frau, die sich mit angstverzerrtem Gesicht an die Mauer drückte. Dunkle Augen in einem ebenmäßig schönen Gesicht, das jetzt vom Schrecken entstellt war. Sie spiegelten die grenzenlose Furcht wieder.

Die Waffe blitzte auf im fahlen gelben Licht der Straßenlaternen.

Scharf gezogene Augenbrauen zuckten. Die zu rot geschminkten Lippen bebten. Todesangst. Sie murmelte etwas in ihrer Muttersprache. Ihre letzten Worte. Grob fasste ihr der Mann an den Hals, dann stach er mit schnellen geübten Bewegungen mehrmals zu.

Abebi Ayodele riss die Augen auf. Ein erstickter Schrei. Ein letztes Aufbäumen. Die Frau taumelte, fiel langsam nach vorne auf die Knie. Ihr Mörder trat einen Schritt zur Seite, betrachtete sie ohne eine Regung. Sie war nur noch Schmerz, hörte ein entferntes Rauschen, das sich schnell näherte. Spürte noch, wie ihre Zähne splitterten als sie mit dem Kopf auf den Boden schlug. Dann war sie tot. Der Mann trat einen Schritt auf sie zu, wischte schnell das Messer an ihrem zu kurzen T-Shirt ab und ging.

*

Carola Pütz zweiter Fall - Kaltes Paradies

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