Читать книгу Carola Pütz zweiter Fall - Kaltes Paradies - Michael Wagner J. - Страница 5

Dienstag, 01.10.2013

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Sóller

Frank Turowski hatte eine Höllennacht hinter sich. Die wenigen Touristen, die sich um diese Jahreszeit abends in Sóller aufhielten, schienen sich alle in der Nähe seines Lieblingsschlafplatzes versammelt zu haben. Das alleine war nicht verwerflich, doch sie hatten grölend und johlend irgendetwas zu feiern. So eine Lautstärke kannte er sonst nur von der Playa de Palma. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und drückte mit Daumen und Zeigefinger fest auf die Augenlider. Die nächste Nacht werde ich woanders verbringen, vielleicht bin ich dann nicht so müde, sagte er sich. Solange die Nächte noch so mild waren, gab es überall einen Schlafplatz unter Gottes Himmel. Als er die Augen wieder öffnete, tanzten kleine glänzende Pünktchen in der Luft. Mist! Wieder Kreislauf, dachte er. Das Leben auf der Straße hatte seine unübersehbaren Schattenseiten. Er wurde kränklicher und litt unter einer Vielzahl von Gebrechen und Wehwehchen. Seine Arthrose ließ die Gelenke unbeweglich werden. Gerade morgens brauchte er immer länger, um in die Gänge zu kommen. Seine Augen wurden schlechter und die Brille, die er trug, konnte seine Fehlsichtigkeit nur noch mangelhaft korrigieren. Manchmal verfluchte er seinen Körper und sein Alter, dann wieder war es ihm tagelang egal. Doch nach der letzten Nacht fühlte er sich wie ein Greis. Er streckte sich ausgiebig, machte ein paar Rumpfbeugen, kniete sich erneut hin, um seinen verschlissenen Schlafsack und die Luftmatratze, die schon lange keine Luft mehr hielt, zusammenzurollen. Er sah sich um. Die Sonne stand noch nicht hoch genug. Also hatte er auch noch Zeit, bis er sich mit dem Schweizer Journalisten traf. Hoffentlich sprang für ihn wenigstens ein Frühstück heraus. Mit dem Gedanken an einen frisch aufgebrühten Kaffee machte er sich auf den Weg zur Placa de Constitució.

*

Cala Llombards

Reto war mitten in der Nacht erwacht, als Marie von seinem Schoß sprang. Es war kühl geworden und ihn fröstelte. Sein Nacken war steif und dieser tat ihm auch noch weh als er mit Carola am Frühstückstisch saß.

„Du hättest mich ruhig wecken können“, brummte er und massierte sich mit der linken Hand den Nacken, verzog dabei das Gesicht.

„Ihr zwei saht so vertraut aus, da wollte ich nicht stören“, antwortete sie und lächelte ihn mitfühlend an.

„Ja ja, verarsch mich auch noch“, brummte Reto weiter vor sich hin. Carola stieß belustigt die Luft aus und musterte ihn weiter mit einem schelmischen Gesichtsausdruck.

„Bis zu deinem Date in Sóller wird es sicher wieder besser sein“, sagte sie gutmütig kichernd. Er zog mit der linken Hand die Straßenkarte der Insel heran und fuhr die Straßen mit dem Finger nach. Reto kannte sich auf Mallorca nicht so gut aus wie Carola.

„Wir müssen uns bald aufmachen, wer weiß, wie viel Verkehr uns erwartet“, sagte er und sah über den Rand seiner Brille zu Carola hinüber.

„Stimmt, aber wir haben etwas Zeit“, sagte Carola, schon in Gedanken bei der Parkplatzsuche. Sóller war ein berühmter Touristenort, nicht zuletzt, weil zwischen Sóller und Palma die alte Bahn verkehrte, die selbst im Herbst viele Touristen in den Ort brachte. Auch etliche Busse entluden für ein paar Stunden ihre kulturinteressierten Fahrgäste.

Reto betrachtete die Fotos des Ortes in einem Reiseführer, fand darin eine Straßenkarte. „Was, so klein ist Sóller? Ich dachte immer, es sei ein viel größerer Ort. Dann haben wir ja sicher keine Probleme, diesen Kirchplatz zu finden“, rief er erstaunt aus. Carola nickte und lächelte mild.

„Nein, alle Wege führen dorthin.“

Sóller

Nach einer entspannten Fahrt nach Sóller und einer schnell beendeten Parkplatzsuche trennten sich auf der Placa vor der Kirche ihre Wege. Jeder suchte sich einen Platz in einem der vielen Straßencafés. Sie achteten aber darauf, dass sie noch Blickkontakt halten konnten, aus welchem Grund auch immer das nötig sein sollte. Reto ließ sich in einem der bequemen Korbstühle nieder, bestellte sich einen Café solo und wartete auf Frank Turowski. Dann und wann sah er zu Carola hinüber, die sich einige Fachzeitschriften zum Lesen mitgenommen hatte.

Kurze Zeit später stellte ein stattlicher Mann seinen Rucksack neben dem Brunnen ab und sah sich auffällig um. Reto war sicher, dass es sich bei dem Mann um Turowski handelte. Er stand auf und ging mit schnellen Schritten auf ihn zu.

„Hallo, mein Name ist Reto Winterhalter. Sind Sie Frank Turowski?“, fragte er und zögerte einen Moment lang, ihm die Hand zu reichen. Der Angesprochene schien überrascht, argwöhnisch blickte er ihm entgegen. Auch Reto zögerte. Hatte er den falschen Menschen angesprochen? Doch als Reto mehr und mehr das Misstrauen aus dem Gesicht des Mannes schwinden sah, streckte er die Hand aus.

„Ja, sehr erfreut, mein Name ist Frank Turowski“, sagte er. Seine blauen Augen blickten jetzt freundlich drein. Reto wunderte sich insgeheim über die feste Stimme und die Begrüßung des Mannes. Hatte er einen verwahrlosten Penner erwartet? Ohne Manieren? Jemanden, der ihn an die Obdachlosen in der Schweiz erinnerte? An abgerissene, vom Elend gezeichnete Gestalten? Er konnte es nicht beantworten. Jedenfalls passte Turowski nicht ins Bild. Reto zeigte auf den Tisch mit der leeren Kaffeetasse und der Mann nahm seinen Rucksack wieder auf. Verwundert betrachtete Reto, was dort alles festgeschnürt war, Tassen aus Blech, eine Wasserflasche aus Plastik, zuoberst zwei Rollen, die sich bei genauerem Hinsehen als Schlafsack und Luftmatratze entpuppten. Der Mann ließ sich mit einem Seufzen in den Sessel Reto gegenüber fallen und dieser gab der Kellnerin einen Wink. Turowski schob die Ärmel seines etwas ausgeleierten Sweatshirts nach oben.

„Ich möchte Sie gerne zu einem Frühstück einladen, als kleine Entschädigung für Ihre Zeit und Ihre Mühe“, sagte Reto und der Mann lächelte.

„Zeit habe ich heutzutage echt genug, aber vielen Dank, gerne.“

Sein rundes Gesicht hatte einen zufriedenen Gesichtsausdruck angenommen. Die Kellnerin kam und zückte ihren Block. Obwohl Reto es ihr ansah, dass sie den Mann am Tisch als Obdachlosen erkannte, verzog sie keine Miene. Reto bestellte ein üppiges Frühstück, sie notierte alles, und als sie wortlos im Café verschwunden war, beugte sich Turowski zu ihm herüber. „Am liebsten hätte sie mich weggeschickt. Das tut sie sonst auch immer. Hier bekomme ich sonst nie etwas, eher dort drüben“, raunte er Reto zu und deutete mit dem Daumen über seine Schulter in Richtung des Cafés, in dem Carola saß.

„Na dann“, sagte Reto, der nicht so recht wusste, was er darauf antworten sollte. Er kannte es nicht, irgendwo nicht bedient zu werden oder gar weggeschickt zu werden. Das war nicht seine Welt.

Doch dann beschloss er, genau dieses als Aufhänger für den Text zu nehmen, von dessen Inhalt er noch keine Ahnung hatte. Journalismus bedeutete, sich immer wieder auf neue Gegebenheiten einzustellen, fremde und oft unangenehme Personen eingeschlossen. Das machte ihm sonst nie Probleme, doch hier und jetzt verspürte er so etwas wie Beklemmung. Er sah Turowski an und sein Gesprächspartner schien es zu bemerken.

„Wissen Sie, dass Sie der erste Schweizer sind, mit dem ich mich auf der Insel unterhalte?“, fragte er. Reto verzog erleichtert sein Gesicht zu einem Lächeln.

„Und Sie sind mein erster Aussteiger. Darf ich Sie so nennen?“, fragte Reto und legte fast schon entspannt die Unterarme auf den Tisch. Sein Gegenüber antwortete mit einem Lächeln. „Sie sind der Profi. Sie dürfen mich auch als Investment-Banker außer Dienst bezeichnen. Das trifft des Pudels Kern.“

Reto konnte seine Verwunderung gerade noch verbergen. Er zog nur die Augenbraue hoch und nahm die leere Tasse in die Hand. „Sie kommen aus der Bank-Szene? Gibt es denn hier für Sie keine Arbeit?“, fragte er und deutete mit dem Kaffeelöffel auf das Gebäude der Banco Sóller, das genau neben der Kirche Sant Bartomeu stand und von Joan Rubió i Bellver im Modernisme-Stil errichtet worden war. Turowski verzog sein Gesicht. „Denken Sie, hier gibt jemand einem deutschen Penner eine Anstellung als Banker? Das passiert hier genauso wenig wie in meinem oder Ihrem Land, Herr Winterhalter.“

„Haben Sie es versucht?“, konterte Reto.

„Ich habe vieles versucht. Aber man kannte mich. Als ich hier auf die Insel kam, ging es mir gut. Ich war mehr als nur finanziell abgesichert, wenn Sie verstehen, was ich damit sagen will. Doch dann kam das Jahr 2008 und alles ging den Bach hinunter.“ Er stieß einen gewaltigen Seufzer aus und ließ sich in seinem Sessel zurückfallen. Er sah dabei Reto an, der ihn wiederum mit einem forschenden Gesichtsausdruck betrachtete. Sagte der Mann die Wahrheit? Oder hatte er hier einen Aufschneider vor sich sitzen? Wenn nicht, schien die Geschichte des Mannes facettenreicher zu sein als erwartet. Turowski strich sich über den Dreitagebart, dass es knirschte. Er genoss die Spannung, die zwischen ihm und dem Journalisten aufkeimte. Dann nahm er eine entspannte Haltung an, atmete tief durch.

„Ihnen als Journalist ist die Geschichte der Lehmann-Brothers doch sicher kein Geheimnis?“

Reto zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Sie haben für die Lehmann-Brothers gearbeitet?“

Turowski nickte. „Ja, in Frankfurt!“

Entschlossen atmete er erneut tief durch und straffte die Schultern. „Wenn das Frühstück gekommen ist, erzähle ich Ihnen die Geschichte eines gefallenen Stars am Frankfurter Investment-Banker-Himmel!“

Reto blies die Backen auf, stieß die Luft aus und nickte. Wie aufs Stichwort näherte sich die Kellnerin und stellte das Tablett vor Turowski ab. Der Mann schloss die Augen, sog den Geruch der frischen Brötchen ein und griff sofort nach der Tasse Kaffee. Gierig trank er einen großen Schluck. Die Kellnerin quittierte das mit einem missmutigen Gesichtsausdruck. Als warte sie darauf, dass der Gast auch die Teller mit Käse und Aufschnitt vom Tablett nahm, verharrte sie in einer Art Starre, bis Reto sie ansprach: „Wenn Sie serviert haben, bringen Sie mir bitte noch einen Kaffee, nein, einen Cappuccino bitte.“

Erst auf diese Aufforderung hin wurde sie aktiv und platzierte die Teller und den Brotkorb vor Turowski.

„Muchas gracias, Señora“, sagte er und die Kellnerin verzog nur kurz das Gesicht zu einem falschen Lächeln. Er zwinkerte Reto zu und griff sofort nach dem Messer, um das erste Brötchen aufzuschneiden. „Haben Sie auch Hunger? Das ist viel zu reichlich für eine Person, selbst für eine Person wie mich“, sagte Turowski. Reto schüttelte den Kopf und hielt die Hand abwehrend vor sich. „Wenn Sie gefrühstückt haben, lausche ich gerne Ihrer Geschichte.“

Turowski nickte und belegte ein Brötchen mit reichlich Camembert. Reto warf einen verstohlenen Blick zu Carola hinüber, doch die war soeben mit ihrem Handy beschäftigt.

Turowski aß schnell seine zwei Brötchen auf, zerteilte eine Schnitte Graubrot in mundgerechte Bissen. Während er kaute, begann er Reto seine Lebensgeschichte zu erzählen, jedenfalls den Teil, der auf der Insel spielte und mit der Pleite der Lehmann-Brothers ihren Anfang hatte. Während er sprach, begann er geistesabwesend an einem Fleck zu pulen, den er auf seiner Hose entdeckt hatte. Reto machte sich Notizen.

*

Der äußere Kranz der Rosette der Kirche Sant Bartomeu war unterteilt in vierundzwanzig Segmente, der innere in zwölf. Carola hatte sofort die Assoziation: Vierundzwanzig Stunden hat der Tag und zwölf Monate das Jahr. Das gehörte zu den interessanten Dingen, die sie wie üblich gezählt hatte, dazu kamen noch die weniger aufregenden: Siebenundzwanzig Sonnenschirme verteilt auf sieben Straßencafés, unter denen sich achtzig Tische und dreihundertzwanzig Stühle drängelten. Diese Zahlen hatte sie schnell wieder vergessen, es regte sie auch keinesfalls auf, ihrem Zählzwang auf diese Art und Weise nachzugehen. Im Gegenteil, sie war sehr entspannt und dass nicht erst seit sie hier in Sóller war, sondern seitdem sie auf Mallorca weilte. Die Kellnerin strich mit ihrem Tablett voll leerer Tassen und Gläser zwischen den Stühlen entlang und Carola fing ihren Blick mit einem Lächeln ein.

„Sagen Sie bitte, wo ist denn der Mann, der mit seinem Hund immer dort am Rathaus saß?“, fragte sie auf Spanisch, „Ich habe ihn heute noch gar nicht gesehen. Ein Freund sagte mir, er würde so nette kleine Bilder verkaufen.“

Das Lächeln verwandelte sich sofort in einem mitleidvollen Blick. „Wenn Sie Karl und seinen Hund Señor Roberto meinen, die sind nicht mehr hier“, antwortete sie und blieb neben Carola stehen.

„Ja, so heißt er wohl. Wo ist er denn jetzt?“

Sie stellte das Tablett auf Carolas Tisch ab und seufzte. „Karl ist gestorben und sein Hund ist im Tierheim. Der arme kleine Kerl …“, seufzte sie.

„Oh, das tut mir aber leid. Wann ist das denn passiert?“

Carola machte es nichts aus, die Ahnungslose zu geben, wenn sie einen Plan verfolgte.

„Anfang des Jahres, ich denke, es wird im März gewesen sein“, sagte sie nach einem kurzen Überlegen und sortierte die Tassen auf dem Tablett neu. Sie schien zu überlegen, ob sie Carola die Geschichte des Mannes erzählen konnte, ohne dass ihre Kollegin sie dafür schelten würde, solange bei einem Gast zu verweilen.

„Ich bin sofort wieder da“, sagte sie kurz entschlossen und nahm das Tablett wieder auf.

Sieben Tassen, ebenso viele Untertassen und vier Gläser. Carola setzte die Sonnenbrille wieder auf und nahm den Reiseführer in die Hand.

*

„Sie sprechen Italienisch?“, fragte Reto, und als Turowski verneinend mit dem Kopf schüttelte, meinte er bedauernd: „Ich kenne einen einflussreichen Banker in Palermo. Den hätte ich fragen können, ob er einen Job für Sie aus dem Ärmel schütteln kann.“

Turowski nickte und schaute ihn anerkennend an. „Allein für diese Idee müsste ich Ihnen schon dankbar sein, Herr Winterhalter.“

Reto schüttelte den Kopf. „Nicht dafür.“

„Wie sieht es mit Ihrem Spanisch aus?“, fragte Turowski im Gegenzug. Reto lachte kurz auf. „Fragen Sie das bitte mal die Mallorquiner. Ich spreche im Grunde kein Spanisch. Einen Kurs an der Volkshochschule habe ich belegt, so heißt das in Deutschland wohl, habe ich recht? Solange mein spanisches Gegenüber von Essen spricht, ist es kein Problem, sonst ... Mallorquin verstehe ich überhaupt nicht“, gestand er.

„Wer versteht die schon“, entgegnete der ehemalige Banker und zwinkerte Reto zu. Der war bereits einen Gedanken weiter. „Sagen Sie, gibt es auch spanische Obdachlose auf der Insel?“

Turowski spitzte den Mund. „Natürlich. Auch Festlandsspanier kommen mit Flausen im Kopf auf die Insel. Auch sie scheitern. Die meisten von ihnen gehen einfach desillusioniert zurück, aber es gibt auch ein paar, die hier auf der Straße leben. Sie wollen zu ihnen Kontakt aufnehmen?“

Reto fühlte sich ertappt. Tatsächlich war dies sein Plan gewesen. Er zuckte mit den Schultern. „Ich müsste mir sonst einen Dolmetscher nehmen“, scherzte er und Turowski lachte herzlich.

Reto bestellte für beide einen weiteren Kaffee und nach einer Weile fragte er: „Haben Sie diesen Karl-Uwe und seinen Hund gut gekannt?“

Turowskis Gesichtsausdruck verschleierte sich.

„Ja“, war seine knappe Antwort und er richtete sein Augenmerk für einige Sekunden auf die Kirche. Dann runzelte er die Stirn, er schluckte hart und sein Blick heftete sich auf Retos Gesicht. „Ich hätte besser auf ihn achtgeben müssen. Die Einheimischen hatten mich schon auf seinen Gesundheitszustand angesprochen, aber …“ Er brach ab und Reto sah Tränen in seine Augen treten.

„Die Einheimischen?“, fragte er, nachdem sich Turowski die Nase geschnäuzt hatte. Er zog noch einmal die Nase hoch, wischte sich über die Augen und kniff die Lippen zusammen. Das Thema schien ihm arg zuzusetzen. Dann neigte er den Kopf in Richtung des Brunnens.

„Er saß oft hier am Brunnen oder dort am Rathaus und versuchte seine selbstgemalten Bilder an Touristen zu verkaufen. Mit großem Erfolg. Señor Roberto war sein Türöffner, wissen Sie?“, sagte er mit einem Strahlen in den Augen, das die Tränen vertrieb. „Der Kleine hat sich dann auf den Rücken geworfen und hat seine Kunststückchen vorgeführt. Die Touristen haben dem Hund die Bildchen seines Herrchens abgekauft, verstehen Sie? Der Karl war hier in Sóller so etwas wie eine Institution.“

Reto nickte und glaubte jedenfalls, es zu verstehen. Turowski fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, sah wieder zur Kirche hinauf und schien sich sammeln zu müssen. Dann atmete er schwer. „Wäre er nicht so dickköpfig gewesen, dann hätte man ihm helfen können!“

Erneut lief eine Träne über seine Wange und er ließ es zu. Reto hob seine leere Kaffeetasse an und sah hinein. „Soll ich uns etwas Stärkeres bestellen?“

Turowski blinzelte unter den Tränen, dann griff er sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel und begann sie zu massieren. „Eigentlich ist es dafür zu früh, doch sollten wir es als Gedenkschluck für Karl ansehen, dann bin ich gerne dabei.“

Reto winkte nach der Kellnerin. „So machen wir es. Ein Gedenkschluck für Karl und Señor Roberto!“

„Denken Sie bitte nicht, ich sei ein Weichei, aber wenn es um den Karl geht … und den Hund, dann werde ich immer ganz sentimental.“

Reto verzog den Mund und sah der Kellnerin hinterher. „Was ist denn dabei, wenn man Anteilnahme am Tod eines nahen Bekannten oder Freundes zeigt? Das macht Sie mir nur noch sympathischer“, antwortete Reto und erntete dafür einen anerkennenden Blick. Die nächste Viertelstunde lang sprachen die Männer nicht viel, nippten an ihrem spanischen Brandy und hingen ihren Gedanken nach. Die immer wieder vorbeieilenden Touristengruppen, die ihren Führern hinterherhechelten, hielten sie sicher für alte Freunde.

*

Sóller war eigentlich ein beschauliches Dorf, obwohl es von der Anzahl der Einwohner her eine Stadt darstellte. Das Gemeindegebiet lag in der Serra de Tramuntana im Nordwesten der Insel. Zum Stadtgebiet zählte auch der Hafen Port de Sóller, der bis zum Einrichten der Eisenbahnstrecke nach Palma das Nadelöhr des Ortes und den Hauptumschlagsplatz für die Waren darstellte. Bis zum Jahr 1860 war Sóller der führende Ort für den Olivenhandel auf der Insel gewesen. Die Ortschaft kam zu Reichtum und Ansehen. Doch dann wendete sich das Schicksal. Ein Schädling befiel die Plantagen und der Ort und seine Bewohner stürzten in eine tiefe Krise. Relativ schnell war eine andere Einnahmequelle gefunden: Orangen und Zitronen. Deren Transport jedoch war genauso beschwerlich wie der der Oliven zuvor. Hier kam der technische Fortschritt zu Hilfe. Die Firma Siemens lieferte einen Zug, der alles veränderte. Der ‚Orangenexpress‘, wie der ‚Rote Blitz‘ auch genannt wurde, brachte die Südfrüchte jetzt viel schneller nach Palma und von dort gelangten sie auf die Märkte der Insel. Die 1912 errichtete Eisenbahnverbindung verhalf dem Ort zu neuem Glanz und auch heute ist sie ein touristischer Anziehungspunkt, da sie die Strecke noch immer mit den historischen Wagen befährt.

Die ‚Tranvia‘, eine ebenso alte historische Straßenbahn, die vom alten Empfangsgebäude der Eisenbahn hinunter in den Hafen fährt, nimmt seit je her ihren Weg über die Placa de Constitució und ist sicher eines der meistfotografierten Motive der Insel. Genau in diesem Moment rumpelte die alte Straßenbahn mit Getöse an dem Café vorbei, in dem Carola ihren Kaffee trank. Der Fahrer hatte sich lautstark bemerkbar gemacht, um die Touristen mit ihren Spiegelreflexkameras von den Gleisen zu vertreiben. Carola kannte die Geschichte des Ortes, dennoch hatte sie sich aus lauter Langeweile den Reiseführer zur Hand genommen und ein paar Seiten darin gelesen. Reto und dieser Frank Turowski saßen noch immer in diesem Café oberhalb des Brunnes und plauderten. Mittlerweile hatte sie sich für die Idee verflucht, mitzufahren. Warum redeten sie nur so lange? Carola hatte nur ein paar Minuten gebraucht, um alles in Erfahrung zu bringen, was es um diesen Karl-Uwe und seinen Hund zu wissen gab. Die nette Kellnerin hatte ihr sogar verstohlen ein Foto auf ihrem Handy gezeigt, auf dem sie mit dem Obdachlosen zu sehen war. „Wir haben den beiden immer etwas zugesteckt. Nicht so, wie die da oben“, hatte sie gesagt und dabei mit einer Kopfbewegung verächtlich auf das Café hinter dem Brunnen gedeutet. Dann zeigte sie Carola ein Foto von Señor Roberto. „Einmal am Tag kam der kleine Kerl vorbei, dann hat er etwas zu fressen bekommen – sein Herrchen ging natürlich auch nicht leer aus. Wir haben auch die Touristen ermuntert, bei ihm eines seiner Bilder zu kaufen“, sagte sie mit einem traurigen Lächeln.

„Trotzdem hat er es nicht geschafft“, sagte Carola mit Absicht und der Gesichtsausdruck der Kellnerin versteinerte sich. Sie beugte sich zu Carola hinab und raunte ihr zu: „Sehen Sie den Mann dort oben in dem Café hinter dem Brunnen, neben ihm sitzt ein attraktiver Kerl mit einem Bärtchen?“

Carola stutzte. Dann warfen die beiden Frauen einander einen Blick zu, der jedes weitere Wort überflüssig machte. Carola blickte zu Reto hinüber, um sich nicht verdächtig zu machen. „Ja, ich sehe sie. Was ist mit diesem Mann?“

„Der hatte einmal ein hübsches Bankkonto, jetzt lebt er auf der Straße. Er war sehr gut mit dem Karl befreundet und man erzählt sich, dass er am Tod von Karl nicht ganz unschuldig war“, sagte sie mit einem bedeutsamen Augenaufschlag. Carola spitzte die Ohren und die Kellnerin strich sich eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. Carolas Blick forderte sie auf, weiterzuerzählen. „Es ging um eine Frau. Dieser Frank dort, war wohl scharf auf sie. Aber sie hatte wohl etwas für den Karl übrig.“ Sie hob wieder bedeutsam die Augenbrauen und verharrte in der Hocke neben Carola.

„Ist diese Frau auch eine Obdachlose?“, fragte Carola interessiert. Die Kellnerin schüttelte den Kopf. „Nein, sie hat einen kleinen Laden in einer der Nebenstraßen dort“, sagte sie und deutete in die Richtung der bekannten Ladenstraße, die vom Platz aus nach links führte. Mit einem Augenaufschlag entschuldigte sie sich bei Carola, denn ein Kunde hatte schon zum dritten Man den Wunsch geäußert zu zahlen, zuletzt schon sehr mürrisch.

So erreichte dieses Gerücht genau die passende Adressatin.

*

Während Frank mit der linken Hand das Muster der Tischdecke nachfuhr, Reto wurde dabei bewusst, dass Carola wohl schon die Anzahl der rot-weißen Karos berechnet hätte, hielt er mit der anderen Hand das Cognacglas umklammert.

„Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich den Tod meines Freunds bedaure“, stieß Turowski hervor. „Vor allem die Umstände. Schrecklich.“

Die Finger umfassten das Glas erneut und Reto hatte Angst, dass er zu viel Druck ausübte, es zerdrücken würde.

Schrecklich. Er ließ das Wort in seinem Inneren nachhallen. Sicher, so zu Tode zu kommen, war mehr als schrecklich.

„Wo waren Sie denn zu der Zeit?“, wollte Reto wissen. Das erste Mal tauchte im Blick seines Gegenübers dieser Argwohn auf. Schnell wandte er den Blick ab und fuhr mit dem Finger wieder über die Karos der Tischdecke.

„Der Karl und ich, wir hatten zu der Zeit etwas Probleme. Ich war nicht in Sóller, daher konnte ich nicht auf ihn achtgeben“, erzählte er mit einem nachdenklichen Ton.

„Probleme? Welcher Art?“

„Weswegen haben Männer Schwierigkeiten miteinander? Ich kenne da nur eine Handvoll Gründe.“

„Eine Frau?“, riet Reto.

„Bingo. Eine Frau.“

„Aha.“

„Was heißt ‚aha‘? Denken Sie, dass Männer wie Karl und ich keine Frauengeschichten haben? Weil wir auf der Straße leben?“

Reto verzog den Mund. „So meine ich das nicht“, sagte er und musste sich eingestehen, dass er es doch so gemeint hatte, „Ist die Dame auch eine Obdachlose?“

„Nein, sie ist eine Sesshafte.“

Reto bemerkte, wie schmallippig und einsilbig Turowski plötzlich wurde. Das Frauen-Thema schien ihm keine Freude zu bereiten.

„Eine ortsansässige Sesshafte?“

„Ja“, antwortete er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Die Gesprächsführung entglitt ihm. Da ist sein wunder Punkt, dachte er. Sein Gespür verriet ihm, dass er jetzt vorsichtig sein musste, sonst würde Turowski ganz zu machen und er würde seinen besten Kontakt zur Obdachlosen-Szene verlieren. Das konnte und wollte er nicht riskieren.

„Lassen wir das Thema“, sagte er diplomatisch, „Frauen sind ein zu ernstes Thema, um es an einem Ort wie diesem zu erörtern.“

„Frauen sind allezeit ein Thema“, entgegnete Turowski, immer noch mit einer gewissen Härte in seiner Stimme.

„Ich meine, wir könnten uns heute Abend oder morgen früh treffen. Auf ein Bier oder einen Kaffee und ein Frühstück. Was Ihnen lieber ist“, sagte Reto und sah auf seine Armbanduhr. Dann zog er erschrocken die Augenbrauen hoch, zog die Luft durch die Zähne. „Mensch, ist das schon spät!“, sagte er hektisch und machte eine fahrige Handbewegung, um die Kellnerin herbeizurufen. Ob Turowski ihm die plötzliche Hektik abkaufen würde?

„Ich habe einen Termin um halb eins“, sagte er und kramte hektisch nach seinem Portemonnaie. „Es ist doch erst halb zwölf“, sagte Turowski.

„Ja, aber ich muss noch nach Palma, dort einen Parkplatz finden, Sie kennen ja sicher die Parkplatzsituation dort.“

„Ja, die kenne ich noch. Sehr gut sogar“, pflichtete ihm Turowski bei und zog die rechte Augenbraue hoch. Er kauft dir den Bluff ab, dachte Reto.

„Also, was ist jetzt? Bier oder Frühstück?“, fragte er und reichte der Kellnerin einen passenden Schein hin, „Stimmt so.“ Die junge Frau bedankte sich überschwänglich für das üppige Trinkgeld. Dennoch würdigte sie den Obdachlosen weiterhin keines Blickes. Reto stand auf und trat neben den Mann, der ihn jetzt wieder unvoreingenommen ansah.

„Vielen Dank für das Frühstück, das können wir gerne morgen wiederholen. Selbe Zeit?“

„Selbe Zeit“, bestätigte Reto und hielt ihm die Hand hin.

*

Deià

Sie standen auf der Terrasse des Hotels, von der aus man einen wunderbaren Blick auf die Stadt Deià und das Tramuntana-Gebirge hatte. Viele nannten diesen kleinen Garten mit den gepflegten Rosenstöcken und den kleinen Tischchen romantisch und verträumt. Es gab sicher viele andere Adjektive und diese trafen sicher ebenfalls alle zu. Jana Hardenberg stand im Moment nicht der Sinn nach Romantik. Ganz im Gegenteil, sie wünschte sich weg von diesem Ort, egal wohin. Vor ihr, an das Geländer gelehnt, stand Pierre und betrachtete sie auf seine spezielle Art. Ein wenig unterwürfig, aber gleichzeitig auch frech und herausfordernd. Jetzt mischte sich auch noch Traurigkeit mit hinein, doch das konnte Jana heute nicht beeindrucken. Sie konnte gar nicht zählen, wie oft er sie mit seinem Dackelblick und seiner Gitarre schon rumgekriegt hatte. Meistens hasste sie sich für ihre Schwäche, nicht für seine Versuche. Pierre spielte in einer Band, war dort der Leadsänger und galt in ihrem Ort als Mädchenschwarm. Nun war Jana mit ihren fünfundzwanzig Jahren kein Mädchen mehr, trotzdem hatte sie im Ort genügend Neiderinnen gehabt. Pierre hätte viele Frauen haben können, er hatte sich für Jana entschieden.

„Du kannst nicht alles so wegwerfen, was wir haben, Jana.“

Jana Hardenberg fuhr ihn zum zweiten Mal heftig an, die Leute, die noch an ihrem Frühstückstisch saßen, warfen dem deutschen Paar schon missbilligende Blicke zu.

„Ich werfe nichts weg, ich beende nur unsere Beziehung. Hör bitte auf, dein Leben nach deinen Liedtexten zu leben. Das reale Leben hat nichts mit deinen Schmusesongs zu tun.“

Ihre blauen Augen blitzten gefährlich.

„Ich lebe mein Leben mit dir und ich möchte es noch eine lange Zeit weiterleben. Mit dir“, sagte er und machte eine zaghafte Bewegung in Richtung von Janas Schulter, die sie aber energisch abwehrte.

„Lass das!“

Augenfunkeln.

„Wieso kannst du plötzlich so abweisend sein? Wohin ist denn mein liebevolles zärtliches Mädchen verschwunden?“ Er strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und breitete theatralisch die Arme aus. So stand er auch oft auf der Bühne, wenn er einen seiner deutschen Texte sang. Früher hatte seine Band englische Texte gesungen, doch seitdem es ‚in‘ war, Deutsch zu singen, komponierte Pierre ausschließlich in seiner Muttersprache. Der Erfolg gab ihm recht. Erst vor kurzem hatte die Band einen lukrativen Plattenvertrag unterzeichnet.

Jana stieß wütend die Luft aus. „Pierre, bitte lass den Schmus sein. Du kapierst es einfach nicht. Ich lebe mein Leben und bin keines der Mädchen aus deinen Texten!“

„Aber Kleines, für uns fängt jetzt eine neue Zeitrechnung an …“, begann er und trat einen Schritt auf Jana zu, die unterbrach ihn mit einer heftigen Handbewegung. „Für dich fängt eine neue Zeitrechnung an, da hast du recht. Aber diese Zeit verbringst du ohne mich. Genauso, wie ich die Zeit ab jetzt ohne dich verbringe. Es ist aus, ich habe keine Gefühle mehr für dich und ich möchte jetzt auch nicht einmal sagen, dass es mir leidtut. Die Tatsache, dass du jetzt hier bist, zeigt mir, dass du meine Entscheidung einfach nicht respektierst.“

„Ich liebe dich und ich werde um dich kämpfen, Jana-Schatz“, hauchte er und Jana fuhr jetzt erst richtig aus der Haut.

„Sag mal, welchen Teil von ‚ich habe keine Gefühle mehr für dich‘ hast du nicht verstanden?“, fauchte sie ihn an. Pierre zog gespielt genervt die rechte Augenbraue hoch und schüttelte langsam den Kopf. Diese Überheblichkeit hasste sie an ihm. Er atmete einmal tief durch und setzte wieder diesen schon so oft geübten Bühnenblick auf.

„Jana, das meinst du doch alles gar nicht so. Du bist wütend, weil ich deinen kleinen Ego-Trip störe. Uns steht eine strahlende Zukunft bevor. Wir werden zusammen auf Tour gehen, du und ich und die Jungs. Es wird traumhaft“, schwärmte er.

Jetzt verlor sie vollends die Fassung, stürzte sich auf ihn und trommelte mit ihren Fäusten auf seine Brust. „Ego-Trip? Das nennst du Ego-Trip? Du nimmst mir die Luft zum Atmen, das ist alles andere als ein Ego-Trip! Du verschwindest aus meinem Leben, hast du gehört? Ich werde keinen Schritt mehr mit dir zusammen tun, weder mit dir noch mit deinen Jungs!“

Pierre packte sie und hielt ihre Arme fest. Seine Stimme kippte, und er klang beinahe wie einer dieser Psychopathen aus einem billigen B-Movie, als er sagte: „Du gehörst mir, und wenn ich es will, dann gehst du mit mir zusammen auf Tour, hast du das verstanden?“

Jana entwand sich seinem Griff und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Damit und mit ihrer Schnelligkeit hatte er nicht gerechnet, betroffen hielt er sich die linke Wange und seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Was? Kannst du dich hören? Bist du noch normal oder steigt dir die Band jetzt zu Kopf? Spielst du jetzt ‚Falco‘? Denkst du, ich sei deine Jeanny?“, schrie sie. „Hau jetzt ab, sonst lasse ich die Polizei holen. Du hast sie ja nicht mehr alle, Pierre“, schleuderte sie ihrem Ex-Freund entgegen und wollte an ihm vorbeigehen. Pierre ergriff grob ihren linken Arm. „Du bleibst solange, bis ich mit dir fertig bin“, zischte er und Jana sah das erste Mal so etwas wie Raserei in seinen Augen.

„Da irrst du dich. Ich bin fertig mit dir, Pierre, fahr zur Hölle!“

Sie riss sich los und alle, die auf der sonst so romantischen Terrasse Zeuge dieses Streites geworden waren, sahen seinen hasserfüllten Blick, den er ihr hinterherwarf.

*

Sóller

Getrennt hatten sie die Placa de Constitució verlassen, zusammen schlenderten sie danach noch durch die Altstadt. Sie kamen am Café Scholl vorbei, wo Carola einen Blick in den Innenraum des alt eingesessenen Cafés warf.

„Hier müssen wir auch mal einen Kaffee trinken“, sagte sie. Reto senkte den Kopf und hob abwehrend die Arme. „Mein Kaffeespiegel ist für die nächsten drei Tage gesättigt!“

Sie nahm ihn in den Arm. „Nicht heute, irgendwann“, sagte sie und zog ihn mit sich weiter.

„Was ist denn dein Fazit?“

„Fazit? Neben einem übersättigten Kaffeespiegel?“, scherzte Reto.

„Mmh.“

„Der Mann war Investment-Banker und hat durch den Wall-Street-Crash 2008 im Nachhinein alles verloren, er war Angestellter der Lehman-Brothers in Frankfurt.“

„Wow! In Frankfurt? Ehrlich? Vielleicht bin ich ihm dort sogar schon mal begegnet.“

„Wieso?“

„Mein Ex war doch auch … so ein Bank-Fuzzi.“

Reto fand, dass dieses Wort aus Carolas Mund sehr seltsam klang.

„Ein Fuzzi?“, fragte er schelmisch, „Es gibt in Frankfurt ganze Horden davon.“

Carola lächelte. „Richtig, viele reduzieren die Stadt eben genau auf diese Banken-Szene, dabei gibt es dort viel Schönes zu sehen.“

„Die Skyline mit den Bankgebäuden zum Beispiel“, frotzelte er und erhielt dafür einen Stüber in die Rippen. Reto brachte sich daraufhin in Sicherheit, ging jetzt zwei Schritte neben ihr.

„So viel Schönes wie hier etwa?“

„Natürlich nicht. Spanien ist Spanien und Deutschland ist Deutschland. Du kommst doch auch nicht auf die Idee, Bern oder Luzern mit hier zu vergleichen.“

„Nein, tue ich das nicht?“

„Oooh, du nimmst mich nicht ernst, Reto.“

„Ich nehme dich immer ernst“, sagte er jetzt abgelenkt, von dem was er grade entdeckt hatte. Er lehnte sich neben einer Schreinerei an ein Brückengeländer, sah hinunter auf den kleinen Fluss.

„Hier unten hat dieser Karl dann und wann seine Nächte verbracht“, erklärte er und deutete hinunter.

„Tatsächlich? Hat dir das dieser Frank erzählt?“ Carolas Blick folgte dem Flusslauf und sie stellte sich vor, eine Nacht dort unten verbringen zu müssen. Ihr schauderte bei dem Gedanken, neben Enten, und vor allem, neben Ratten zu nächtigen.

„Ja, neben vielen anderen unschönen Details über das Leben auf der Straße.“

„Ich könnte so nicht leben. Du?“

„Nein, trotz all dieser Freiheits-Romantik. Nein, ich könnte das nicht. Ich könnte ohne Probleme mit dem Rucksack eine Trekking-Tour durch den Himalaya machen, aber auf der Straße leben ohne die Aussicht, irgendwann wieder heimzukehren? Nein, das wäre nicht meins.“

„Freiheits-Romantik? Nennt er dieses Leben romantisch?“

„Nicht direkt, eher schimmert es durch bei dem, was er erzählt.“

„Hat er dir auch erzählt, dass er und dieser Karl ein Auge auf dieselbe Frau geworfen hatten?“

Reto stieß sich vom Geländer ab und sah Carola fragend an. „Woher weißt du das denn?“

„Berufsgeheimnis“, sagte sie lachend, und als er sie weiter mit seinem bohrenden Blick ansah, fügte sie noch hinzu: „Die Kellnerinnen sind hier sehr mitteilsam, wenn man die richtigen Knöpfe drückt.“

Sie holte ihr Handy aus der Tasche und zeigte Reto das Foto, das die Kellnerin und Karl-Uwe zusammen mit Hund Señor Roberto zeigte. Diese hatte es ihr per App geschickt.

„Und jetzt liegt dieser Karl auf dem Armenfriedhof und der Hund ist im Tierheim“, seufzte Reto.

„Vielleicht sollten wir mal dorthin fahren und nach ihm sehen“, sagte Carola spontan. Er wich ihrem Blick aus

„Marie wird dich für diese Idee auf einen Sockel stellen“, sagte Reto resignierend, denn er ahnte, dass Carola nicht ohne diesen Hund das Tierheim verlassen würde.

„Nur mal hinfahren und sehen, wie es ihm geht.“

„Weißt du denn welches Tierheim?“, seufzte Reto und man konnte die deutliche Resignation in seiner Stimme nicht überhören.

„Sicher weiß ich das“, antwortete Carola augenzwinkernd und forderte ihn mit einem Kopfnicken auf ihr zu folgen.

*

Deià

Juan lag auf einer der weißen Liegen, die vor dem Hotelpool standen, in der Hand einen Margarita-Cocktail und beobachtete Lothar Mensing, der im kleinen Pool des Hotels versuchte ein paar Bahnen zu schwimmen. Die Sonne stand noch recht tief und erreichte bisher nur seine Füße und Waden, der Rest der Stelle lag im Schatten. Juan betrachtete seine Zehen, es fröstelte ihn. Kurz überlegte er, ob er auf eine andere Korbliege wechseln sollte, die schon in der Sonne stand. Doch war er zu faul, um aufzustehen. Er stellte das Cocktailglas neben sich auf den Tisch, fischte nach seinem T-Shirt, das auf dem Kopfteil der Liege lag, und zog es an.

„Ist dir etwa kalt?“, fragte Mensing vom Pool her und prustete, weil ihm beim Sprechen Wasser in Nase und Mund gekommen war.

„Si“, antwortete Juan knapp, trank den letzten Schluck aus dem Glas, dann schob er die Sonnenbrille zurück ins Gesicht und ließ sich genüsslich auf die Liege zurückfallen.

Zuerst war es für ihn kaum wahrnehmbar gewesen, doch jetzt kristallisierte es sich für ihn immer mehr heraus: Je länger er sich auf Lothar Mensing einließ, je mehr kam er zu dem Schluss, dass der deutsche Geschäftsmann gar nicht an ihm interessiert war. Es ging ihm darum, einen weiteren Eintrag in seiner Abschussliste zu tätigen.

‚Mit einem Mann hatte ich auch schon mal was, aber das war nicht so das, was ich mir vorstelle.‘

So oder so ähnlich würde er das bei seinen deutschen Saufkumpanen berichten, von denen er so viel redete. Nein, Lothar Mensing hatte keine homophile Neigung, das bemerkte Juan jedes Mal, wenn sie intim wurden. Er ließ es geschehen, ließ sich einen blasen und heuchelte danach Verliebtheit und Zufriedenheit. Heuchelei. Juan kannte den Unterschied. Er kannte ihn bei Frauen als auch bei Männern. Juan war käuflich für beiderlei Geschlecht, wer ihn bezahlte, der wurde auch bedient. Genauso würde er bei Mensing verfahren. Er würde liefern. Solange wie Mensings Urlaub dauerte. Keinesfalls länger und auch kein zweites Mal.

Mensing machte eine kleine Pause, ließ sich im Wasser treiben, dann versuchte er erneut, ein paar Meter zu schwimmen, doch mittlerweile war ein kleines englisches Mädchen am Pool aufgetaucht, dass vor lauter Übermut immer wieder vom Beckenrand aus Arschbomben übte. Mit einem leisen Fluchen verließ Mensing daraufhin den Pool, nahm sein Handtuch, rubbelte sich das nasse Haar trocken. Er sah sich um. Juan schien zu schlafen. Weder die Eltern des Mädchens waren anwesend, noch konnte er Juan seinen Unmut an den Kopf werfen. Also verließ er missgestimmt den Pool und ging auf sein Zimmer.

*

Andratx

Carola sah Reto bestürzt an. Der kleine Hund, der jetzt auf sie zu humpelte, war in einem bemitleidenswerten Zustand.

„Nun sieh mal, wie sie ihn zugerichtet haben“, sagte sie mitfühlend. Die Tierpflegerin in dem kleinen Tierheim von Andratx hatte ihnen mitgeteilt, dass Señor Roberto heute Morgen in eine Beißerei geraten war. Dabei hatte er nur schlichten wollen. Doch dann hatten sich die beiden anderen Hunde auf ihn gestürzt. Er hatte eine offene Wunde am Bein, die noch nicht tierärztlich versorgt worden war.

„Wir haben nicht die Zeit gehabt heute Morgen“, sagte die Pflegerin entschuldigend.

„Haben Sie keinen fest angestellten Tierarzt hier?“, fragte Reto.

„Nein, den haben wir nicht. Unser Tierheim finanziert sich nur aus Spenden, wir stehen immer knapp vor dem Aus hier“, sagte sie entschuldigend.

„Wo ist denn der nächste Tierarzt, mit dem Sie zusammenarbeiten?“, fragte Carola und streichelte Señor Roberto, der seinen schmalen Körper gegen die Gitterstäbe des Zwingers drückte. Er genoss die Streicheleinheiten sichtlich.

„Es gibt hier am Ort einen Tierarzt, aber ich kann hier jetzt nicht weg. Nachher kommt jemand, um einen Hund abzuholen, den wir vermittelt haben.“

„Wie schön“, sagte Carola, „Es gibt also sehr wohl tierliebe Menschen hier auf der Insel.“

„Ja, die gibt es, aber es gibt leider viele andere, für die ein Tier nichts wert ist.“

Carola kniff den Mund zusammen. Ob es die Stiere waren, die in den Arenen ihr Leben ließen oder die Galgos, die spanischen Jagdhunde. Vielen Tieren ging es nicht gut in Spanien. Es gab zwar vielerorts ein Umdenken, aber die Traditionen waren stark in diesem Land verwurzelt.

„Schau ihn dir an“, sagte Carola mitfühlend und richtete ihren Blick auf Reto.

„Armer Kerl“, bestätigte er. „Aber du kannst nicht jeden Hund in Spanien retten wollen.“

„Nicht jeden, aber diesen hier schon.“

*

Cala Llombards

Der kleine Hund weilte nur noch wie ein Schatten unter den Lebenden. Auf der Fahrt von Andratx nach Cala Llombards lag er wie tot auf der Ladefläche von Carolas Renault Kangoo. Die Wunde am Bein war versorgt worden, aber der Tierarzt hatte Carola nicht viel Hoffnung gemacht, dass der Hund noch ein langes Leben haben würde. Die entbehrungsreichen Jahre auf der Straße zusammen mit seinem Herrchen waren auch an dem Tier nicht spurlos vorbeigegangen.

„Dann hat er wenigstens die letzten Monate ein schönes Leben“, hatte sie darauf geantwortet.

Carola hatte Tränen in den Augen, als sie beobachtete, wie Reto den Hund, in einer Decke eingewickelt, auf die Ladefläche legte.

„Du darfst dir das nicht so zu Herzen nehmen“, sagte er.

„Leichter gesagt als getan“, antwortete sie und ließ die Heckklappe leise ins Schloss fallen.

„Was denkst du über diese Frau, die zwischen Karl-Uwe und Frank Turowski stand? Hätte sie sich nicht intensiver um den Mann kümmern müssen?“, fragte Reto. Carola saß schweigend hinter dem Lenkrad und er wollte sie von ihren negativen Gedanken ablenken. Ob es ihm gelingen würde, konnte er nicht sagen.

„Das weiß ich doch nicht“, entgegnete sie ihm scharf und hielt den Blick auf der Straße.

Versuch gescheitert, dachte er.

„Du wirst sicher einen Interviewtermin mit ihr bekommen. Dein Treffen mit Turowski in Sóller wird dort sicher morgen Gesprächsthema Nummer eins sein“, antwortete sie nach einer halben Minute.

Versuch doch nicht gescheitert, dachte er.

„Das werden wir sehen. Sie kann sicher aus einer ganz anderen Perspektive Licht in diese Sache bringen“, sagte er.

„Den Tod von Karl-Uwe?“

Langsam löste sich Carolas starrer Blick auf und sie sah zu ihm hinüber.

„Ja, sicher.“

„Tut mir leid, ich war eben barsch zu dir.“

„Ach wirklich? Habe ich überhaupt nicht bemerkt.“

„Scherzkeks.“

Reto ließ ein paar Sekunden verstreichen, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

„Ich dachte ganz ehrlich, dass du diejenige wärst, die hinter dem Tod des Mannes ein Verbrechen wittert“, brachte er hervor und sprach damit das aus, was er insgeheim die ganze Zeit über dachte.

„Nur weil ich es nicht ausspreche, heißt es noch lange nicht, dass ich nicht darüber nachdenke“, konterte sie, fast schon wieder gut gelaunt.

Reto drehte sich um, weil er ein Geräusch von hinten vernommen hatte. Schnell ergriff er die Gelegenheit, ihr seine Entdeckung mitzuteilen, die er soeben gemacht hatte.

„Unser Fahrgast hat sich übrigens entschieden, von den Toten aufzuerstehen.“

Tatsächlich sah man das freche Gesicht von Señor Roberto über die Rücksitzbank lugen.

„Gott sei Dank!“, stieß Carola hervor.

Als Carola die holprige Straße zu ihrem Haus entlang fuhr, versuchte der Hund über die Rücksitzbank zu klettern.

„Na, du bist ja schon wieder total fit“, stellte Reto erfreut fest.

Carola bremste ab und parkte den Renault Kangoo auf einem Schotterparkplatz gegenüber ihrem Grundstück.

„Ich hole Marie besser raus. Wenn sie sich außerhalb ihres Terrains begegnen, ist das besser“, sagte sie, doch in diesem Moment schoss Marie schon auf den Renault zu und in der halb geöffneten Tür tauchte Luca mit einem Lächeln und einer entschuldigenden Geste auf. Carola fluchte leise vor sich hin.

„So viel zum Plan“, sagte Reto, „da müssen sie jetzt durch.“

Sie öffneten die Tür des Renault Kangoo gleichzeitig, Marie hatte allerdings nur Augen für ihr Frauchen. Reto hatte sie auch in ihr Hundeherz geschlossen, doch Carolas Platz darin war eindeutig größer. Der Hund sprang an ihr hoch und leckte sie mit ihrer Zunge ab.

„Marie, langsam. Komm mal her, wir haben eine Überraschung für dich dabei.“

Sie hielt Marie am Halsband fest, während Reto die Klappe öffnete hinter der Señor Roberto schon schwanzwedelnd stand. Der kleine Mischling sprang aus dem Auto, schnüffelte sofort am nächsten Busch und hob sein Bein. Doch dann sah er plötzlich Marie und sein Fell sträubte sich. Langsam schlich er auf Marie zu und Carola hatte schon Angst, dass er sich gleich auf die Hündin stürzen würde. Seine Nase zitterte und er hob die Lefzen. Marie ließ sich von all dem Gezeter nicht beeindrucken und wedelte mit dem Schwanz. Carola hielt ihren Hund fest am Halsband umklammert. Plötzlich gab Marie einen jämmerlichen Fieplaut von sich und Señor Roberto blieb stehen. Erst wackelte er ganz langsam mit dem Schwanz, dann gab er einen heiseren Beller von sich. Einen Fuß vor den nächsten setzend blieb er einen halben Meter vor Marie stehen. Dann streckte er mit einem Mal blitzschnell die Vorderbeine nach vorne, Marie tat es ihm gleich, riss sich aus Carolas Griff los und die beiden Hunde brauchten nur zwei Sekunden – einmal Nase an Nase, einmal Analschnüffeln – um festzustellen, dass sie sich mochten. Marie raste los in Richtung eines freien Feldes und der Hund, der eben noch mehr tot als lebendig im Kofferraum gelegen hatte, sprintete hinter ihr her. Doch nach ein paar Metern hielt er inne und fing an zu fiepen und zu humpeln. Marie kam sofort zurück und leckte ihm sein Ohr. Dann sah sie zu ihren Menschen herüber und fing an zu bellen. Carola, Reto und Luca hatten das Treiben interessiert und überrascht beobachtet.

„Wenn das keine Freundschaft ist, dann weiß ich es nicht“, sagte Reto und beeilte sich, Señor Roberto wieder einzusammeln. Mit dem Hund auf dem Arm und Marie dicht an seiner Seite kam er zurück.

„Wo haben Sie den Hund her?“, fragte Luca neugierig auf Spanisch.

„Aus dem Tierheim in Andratx“, antwortete Carola und ging hinter Reto durch das schwere Tor, dass ihr Grundstück vor den neugierigen Blicken der Touristen schützen sollte.

„Muy bien“, sagte Luca und hob den Daumen.

„Kennen Sie die Geschichte von dem Deutschen, der in dem Kanal umgekommen ist?“, fragte Carola und sah, wie Lucas Augen rund wie Murmeln wurden.

„Esto Perro está el Señor Roberto?“, entfuhr es ihm.

“Ja, das ist Señor Roberto”, bestätigte sie ihm auf Spanisch.

„Estupendo“, murmelte er und betrachtete den kleinen Mischlingshund, der noch auf Retos Arm lag und zitterte. „Dieser Hund ist auf der ganzen Insel bekannt“, sagte Luca in seiner Muttersprache, ging zu Reto hinüber und streichelte den Hund. Reto verstand ihn nicht, doch sah er die Liebe in den Augen des Handwerkers. Sofort hatte er eine Idee. Er nickte mit dem Kopf in Lucas Richtung, sah dann hinunter zu Señor Roberto. Carola kapierte nicht, was er damit andeuten wollte, daher wiederholte er es noch einmal deutlicher. So deutlich, dass Luca es nicht übersehen konnte, dass er Carola geheime Zeichen gab. Der Spanier legte ein breites Lächeln auf.

„Si, naturalmente“, sagte er, hatte Retos Zeichensprache sofort verstanden.

„Ich mitnehmen Señor Roberto sofort!“, sagte er freudestrahlend und stolz auf seine Deutschkenntnisse.

„Nein, noch nicht“, sagte Carola streng, „Ich möchte den Kleinen erst noch aufpäppeln.“

„No comprende! Aufpappen?“, fragte er stirnrunzelnd.

„Nein, nicht aufpappen, aufpäppeln. Er braucht noch viel Futter und Zuwendung!“, verbesserte ihn Carola.

“Si, ich gehe einen großen Sack Hundefutter kaufen, den Größten, den es gibt!”, warf Luca auf Spanisch ein und Carola fiel es schwer, hart zu bleiben.

“Warte bitte noch eine Woche, Luca, bitte”, sagte sie und hoffte darauf, dass er dafür Verständnis aufbringen würde. Schließlich hatten sie den Hund gerettet und sie wollte sehen, wie er sich entwickelte. Schließlich hatte der Tierarzt keine gute Prognose erstellt. Wenn es wirklich so schlecht um den Kleinen bestellt war, so war es besser, wenn er bei ihnen über die Regenbogenbrücke ging.

Luca nickte begeistert und kraulte den Hund ausgiebig hinter den spitzen Ohren.

„Was ist das eigentlich für eine Rasse?“, fragte Reto und betrachtete das Wesen genauer, das auf seinem Arm ausgiebig gekrault wurde.

„Das ist ein Bodeguero Ratonero Andaluz, denke ich“, sagte Carola.

„Si, un Ratonero“, bestätigte Luca, der nur den Rassenamen verstanden hatte.

„Ja, jetzt weiß ich alles“, entgegnete Reto.

„So etwas wie ein spanischer Jack Russel Terrier. Man hält sie in den Kellern der Bodegas, um dort die Ratten zu jagen.“

„Naja, das scheint er bei Karl-Uwe aber tüchtig verlernt zu haben“, sagte Reto plötzlich nüchtern und beide betrachteten den Hund schlagartig mit anderen Augen. Das war eine große Überraschung am späten Nachmittag. Wenn der Hund in der Nähe des Obdachlosen gewesen wäre, dann hätte er ihm die Ratten vom Hals gehalten. Doch das war nicht passiert. Also lag es nahe, dass Señor Roberto nicht in der Nähe von Karl Uwe gewesen war. Warum und wer hatte dafür gesorgt, dass der Hund sich nicht bei seinem Herrchen aufhielt?

„Ich denke, wir sollten morgen mal diese Dame in Sóller aufsuchen“, sagte Reto und Carola nickte zustimmend. Er legte den Hund in die Arme von Luca und das Strahlen des jungen Handwerkers verscheuchte für ein paar Sekunden die trüben Gedanken. Aber nicht lange.

*

Deià

Hastig drehte sie sich um, vergewisserte sich, ob niemand ihr folgte. Den Plan, das Hotel zu verlassen, hatte sie spontan gefasst, die Rechnung mit der EC-Karte bezahlt. Einer der beiden netten Rezeptionsmitarbeiter wollte von ihr wissen, ob es am Service des Hotels lag, dass sie Hals über Kopf abreiste. Mit ihrem schlechten Spanisch konnte sie es ihm nicht verständlich machen, dass es private Gründe seien, daher versuchte sie es auf Englisch. Der junge Mann hatte skeptisch ihren Worten gelauscht, sich noch einmal für ihren Besuch bedankt und die Hoffnung ausgedrückt, sie bald als Gast wiederbegrüßen zu können. Das Übliche. Es war kurz vor halb zehn als Jana Hardenberg den Passatge sa Tanca entlangging. Wohin sollte sie gehen? Es gab in Deià nicht viele Hotels, vor allem keines, das ihre finanziellen Mittel ihr erlaubten. Unschlüssig ging sie weiter, bis sie schließlich vor dem Hotel d‘Es Puig stehen blieb. Sie schaute durch die Glasscheibe in das Entree, sah den typischen braun-beige gekachelten Fußboden und das filigrane schmiedeeiserne Gitter des Treppengeländers. Die Eingangssituation und die Ausstattung der Zimmer waren in vielen der Hotels typisch Mallorquin gestaltet. Jana liebte dies. Sie seufzte und trat zurück auf die Straße. Das Hotel konnte sie sich nicht leisten, sie hatte vor der Buchung die Preise im Internet verglichen.

Von Mitwanderern hatte sie allerdings erfahren, dass es noch ein weiteres kleines Hotel im Ort gab. Es lag etwas außerhalb und sie hatte keine Ahnung, wo sie lang gehen musste, um dorthin zu gelangen. Zwei Männer traten aus dem Hotel und ihre Unterhaltung verstummte, als sie die junge Frau bemerkten. Der eine war jünger und senkte seinen Blick als er Jana sah. Der andere sah sie unverwandt an, so, als müsse sie bemerken, dass sie störte. Mit einem Mal änderte sich sein Gesichtsausdruck. „Guten Abend, sagen Sie, wissen Sie, wo das Hostal Miramar ist?“, fragte Jana Hardenberg auf gut Glück. Sie war sicher, dass der ältere der beiden Männer ein Deutscher war.

Auf dem Gesicht des Mannes erschien jetzt ein Lächeln. „Sie sind aber reichlich spät noch auf Zimmersuche, junge Frau“, sagte er.

„Ich bin nicht … Ja, Sie haben recht, es ist sehr spät. Kennen Sie das Miramar?“, fing Jana an und ging mit diesem Eingeständnis einer Diskussion mit dem Mann aus dem Weg. Was ging es ihn an? Sie fing an, mit ihren Fingern der rechten Hand am Tragegurt des Rucksacks zu spielen.

„Juan, kennst du dieses Hotel? Wie sagten Sie doch gleich … Miramar?“, fragte der Mann seinen jüngeren Begleiter. Der schielte unter seinen schwarzen Locken hervor und schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, das kenne ich nicht!“, sagte er auf Spanisch und der Mann übersetzte: „Er weiß es auch nicht, aber vielleicht fragen Sie drin nach dem Weg.“ Er zeigte auf den Hoteleingang und Jana schüttelte sofort den Kopf. Das wäre ihr unangenehm, in einem erstklassigen Hotel nach einem unterklassigen zu fragen kam nicht für sie in Frage.

Der ältere Mann zuckte nur missfällig mit den Schultern.

Sie sah zu dem jungen Mann hinüber, sah in die Augen hinter den wirren Haarsträhnen. Unsicherheit huschte über seinen Blick, aber auch etwas, das Jana schon lange nicht mehr erlebt hatte. Sein Blick sagte alles. Sie wusste Bescheid. Doch danach stand ihr jetzt nicht der Sinn.

„Ich muss gehen“, sagte sie, während sie sich schon umdrehte und mit Schritten davoneilte, die eher einer Flucht, als einer gezielten Suche nach einem Hotel gleichkamen. Lothar Mensing hatte den Blick seines Lovers sehr wohl mit angesehen.

*

Es war halb zehn als Pierre Zumdick aufgeregt an den Tresen des Hotels stürmte. Dort wurde er in seiner Eile eingebremst. Einer der nächtlichen Rezeptionsmitarbeiter saß auf einem Stuhl und war in die Lektüre eines Musikmagazins vertieft, dazu trug er Kopfhörer und wippte im Takt der Musik. Er bemerkte es nicht als Pierre ihn ansprach. Jedenfalls solange nicht, bis dieser ihn anbrüllte. „Hallo, können Sie bitte im Zimmer von Frau Jana Hardenberg anrufen? Sie öffnet die Tür nicht, reagiert auch nicht auf meine Anrufe“, sagte Pierre unwirsch. Der junge Mann, nicht älter als er selber, zog die Stöpsel aus den Ohren und legte das Magazin vor sich auf den Tisch, dann näherte er sich langsam dem Tresen. „Por favor en ingles“, sagte er.

„Was?“, rief Pierre fassungslos.

„Could you please speak english?“, wiederholte der Rezeptionist höflich. Pierre wiederholte seine Frage in der angeforderten Sprache. Der junge Mann nickte. „I’m sorry, but Mrs. Hardenberg has left the hotel“, kam nur als knappe Antwort.

Pierre kniff die Augen zu und schüttelte zweimal verständnislos den Kopf. „What does that mean? Did she tell you, when she will be back?“

„She won’t come back. She has checked out half an hour ago“, erklärte der junge Nachtportier humorlos.

„She did what?“, fragte Pierre konsterniert und der junge Mann zuckte nur entschuldigend mit den Schultern. „Sorry!“

Der Hotelangestellte griff nach dem Magazin und wollte weiterlesen. Doch für Pierre war die Situation noch nicht geklärt. Er bäumte sich auf, ballte die Hände zu Fäusten. Zwischen den Zähnen presste er hervor: „Did she leave a message for me?“

Kopfschütteln.

„Did she tell you, where she is leaving for?“

Kopfschütteln.

Der junge Mann stopfte sich die Ohrstöpsel wieder in die Ohren, widmete sich seinem Magazin. Mittlerweile völlig desillusioniert und übel gelaunt wandte sich Piere vom Tresen ab und trat durch die Tür hinaus auf die Straße. Hinter ihm fiel die Hoteltür hart ins Schloss, er bemerkte es nicht einmal.

Er atmete schwer. Dieses Miststück! Wie konnte sie ihm das nur antun? Schließlich war er ihretwegen hier und jetzt machte sie sich klammheimlich aus dem Staub. Er biss sich vor Wut auf die Zähne bis es knirschte und ballte erneut die Hände zu Fäusten.

„Verdammtes Miststück!“, murmelte er vor sich hin und setzte sich in Bewegung. Er würde sie finden. Deià war ein kleiner Ort. Sie konnte nur in eines der anderen Hotels umgezogen sein.

„Ich werde dich schon finden und dann Gnade dir Gott!“

*

In dieser Nacht lag Frank Turowski wieder lange wach, lauschte den Touristen in der Nachbarschaft seines Schlafplatzes. Aber nur so lange, bis er sich auf die Suche nach einem Alternativschlafplatz in der Nähe des Hafens machte. Ein langer Fußmarsch stand ihm bevor, doch scheute er ihn nicht, wusste er doch, dass er dort bedeutend ruhiger liegen würde. Außerdem würde am Morgen kein Wecker klingeln, kein Termin auf ihn warten. Er wanderte durch die Nacht, Gedanken überfielen ihn und ließen sich nicht so einfach wieder abschalten. Durch das Gespräch mit diesem Journalisten war vieles wieder an die Oberfläche getreten, seine sonst so gut versteckten und irgendwo tief im Bewusstsein versteckten Probleme kamen wieder frei und bemächtigten sich seiner Gedanken. Selbst als er schon wieder in seinem Schlafsack lag, fanden sie den Weg aus dem Dunkeln, quälten ihn über viele Stunden. So lange, bis er mitten in der Nacht aufstand und sich auf den Weg zum Leuchtturm am Ende der Bucht machte.

*

Carola Pütz zweiter Fall - Kaltes Paradies

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