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Оглавление[36]I. Das Regierungssystem
1. Vom Osmanischen Reich zum unabhängigen Staat
Als die zionistisch motivierte Einwanderung im ausgehenden 19. Jahrhundert begann, war Palästina Teil des Osmanischen Reiches. Von Oktober 1917 bis September 1918 eroberten britische Truppen das Gebiet. Am 19. April 1920 übertrug der Völkerbund den Briten das Mandat für Palästina, am 24. Juli 1922 bestätigte der Rat des Völkerbundes die Statuten des Mandats, im September 1923 traten sie in Kraft.
Am 23. August 1903 tagte erstmals die Versammlung des Jischuv (Knessiat Ha-Jischuv) in Zichron Ja‘akov. Mehr als sieben Sitzungen wurden nicht einberufen. Obwohl es seit 1902 im Rahmen der Zionistischen Weltorganisation und seit 1905 in Palästina Parteien gab, schlugen erneute Versuche in den Jahren 1908, 1910 und 1911 fehl, eine „alljüdische“ Institution zu gründen, zumal die osmanischen Behörden nach 1908 eine systematische und dauerhafte politische Organisierung des Jischuv erschwerten. Die Eroberung Palästinas durch Großbritannien weckte die Hoffnung auf die in der Balfour-Erklärung vom 2. November 1917 zugesagte „Errichtung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das Jüdische Volk“, die „Seiner Majestät Regierung mit Wohlwollen“ betrachtete und daher „die größten Anstrengungen machen“ wollte, „um die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern“.
Am 2. Januar 1918 trat die erste Vorbereitende Versammlung in Jaffo zusammen. Es war eine Konferenz führender Parteipolitiker und „Honoratioren“. Ihre Mitglieder waren eingeladen, nicht gewählt worden. Die Versammlung wählte einen 36-köpfigen Provisorischen Rat der Juden Eretz Israels in den (von Großbritannien) eroberten Gebieten. Im Juli 1918 fand die zweite Vorbereitende Versammlung statt, welche die Rechtsbestimmungen für die Wahlen zur Delegiertenversammlung festsetzte. Sie wurden am 19. April 1920 durchgeführt.
Die Gestaltung der Politik des Jischuv übernahm der von der Delegiertenversammlung (Asefat Ha-Nivcharim) gewählte Nationalrat (Va‘ad Le’umi), dessen Mitgliederzahl von 1920 bis 1948 zwischen 23 und 42 schwankte. Der Nationalrat erfüllte in zunehmendem Maße die der Delegiertenversammlung zugedachten parlamentarischen Funktionen und tagte mehrmals im Jahr.
Ausführendes Organ des Nationalrates war der 6- bis 14-köpfige Vorstand des Nationalrates (Hanhalat Ha-Vaad Ha-Le’umi), den die Mitglieder des Nationalrates aus ihrer Mitte wählten. Die Vorstandsmitglieder leiteten folgende Abteilungen: Politik, Lokalpolitik, Rabbinatsfragen, Erziehung, Kultur, Gesundheit, Soziales, Sport, Information. Finanziert wurde die Arbeit des Nationalrates durch die Zionistische Weltorganisation (WZO) sowie durch Jischuv-Steuern. Politisch gewichtiger war die Exekutive der Jewish Agency in Eretz Israel. Sie setzte sich aus Vertretern der WZO und anderer jüdischer Organisationen der Diaspora zusammen.
Von der Mandatsregierung anerkannt und rechtlich verankert wurden die Institutionen der jüdischen Selbstverwaltung durch die „Regulations of the Organization of the Jewish Community in Palestine“ (1. Januar 1928). Sie ermächtigten die offiziell eingeschriebenen Mitglieder (Mindestalter 18 Jahre) der jüdischen Gemeinschaft in Palästina (Knesset Israel) im Abstand von drei Jahren (danach abgeändert auf vier, auch dieser Zeitabstand wurde nicht eingehalten) eine 71-köpfige Delegiertenversammlung zu wählen. Sie sollte den Haushalt der weltlichen und religiösen Institutionen der Knesset Israel verabschieden und die Steuern für ihre Institutionen festsetzen. Die orthodoxe Partei Agudat Israel (AI) boykottierte[37] die ihrer Meinung nach „gotteslästerliche“, weil nicht auf den Grundsätzen der Bibel basierende, Knesset Israel. Grundsätzlich bekämpften zahlreiche streng religiöse Juden den Zionismus, da dessen Anhänger in „Gottes Werk“, d.h. in den Gang der Geschichte eingriffen, indem Menschen (und nicht Gott) das Exil der „Kinder Israels“ durch die Gründung eines neuen jüdischen Staates beenden wollten.
Die UN-Entschließung vom 29. November 1947, welche die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat sowie die Internationalisierung Jerusalems vorsah, bestimmte u.a., dass in jedem der beiden Staaten bis zum 1. Oktober 1948 Wahlen zu je einer verfassungsgebenden Versammlung erfolgt sein mussten. Dieser Versammlung, die zugleich eine „Provisorische Regierung“ einsetzen sollte, war die Aufgabe zugedacht, eine Verfassung auszuarbeiten, die eine parlamentarische Regierungsform sicherte und eine Legislative vorsah, die durch allgemeine und geheime Wahlen auf der Grundlage der verhältnismäßigen Repräsentation bestimmt werden sollte. Während der Übergangsphase vom November 1947 bis zum Oktober 1948 sollte ein „Provisorischer Regierungsrat“ – eine Kommission hatte ihn spätestens bis zum 1. April 1948 einzusetzen – allmählich die administrative Verantwortung sowie die Polizeigewalt erhalten. Der Provisorische Regierungsrat hatte außerdem Wahlen vorzubereiten, die innerhalb von zwei Monaten nach dem Abzug der Mandatstruppen (für den 1. August 1948 vorgesehen) abzuhalten waren.
Da die britische Regierung die Ausführung der Entschließung verhinderte – sie ließ die UN-Kommission erst kurz vor Ablauf des Mandats nach Palästina und zog ihre Truppen zurück, ohne die Staatsgeschäfte den vorgesehenen Selbstverwaltungskörperschaften ordnungsgemäß zu übergeben – beschloss der Nationalrat, gemeinsam mit der Palästinensischen Exekutive der Jewish Agency (JA) in Eretz Israel, im März 1948 selbst die Initiative zu übernehmen und den vorgesehenen „Provisorischen Regierungsrat“, den Volksrat (Mo‘etzet Ha-Am), zu bilden. Dieser bestand aus dem Vorstand des Nationalrates (14 Mitglieder), der elfköpfigen Exekutive der JA in Eretz Israel sowie zwölf Delegierten, die in keinem der beiden Gremien vertreten waren: Sefardim (langeingesessene Juden orientalischer Herkunft), Revisionisten, die man zuvor ausgeschlossen hatte, Orthodoxe der Agudat Israel, die sich selbst den jüdischen Organisationen der Selbstverwaltung entzogen hatten, und Kommunisten.
Tabelle 4: Vorläufer von Regierung und Parlament
Regierung | Parlament | ||
1903 | Versammlung des Jischuv | ||
1918 | Provisorischer Rat | 1918 | Vorbereitende Versammlung |
1920 | Vorstand des Nationalrats (+ Exekutive der JA in Eretz Israel) | 1920 | Delegiertenversammlung wählt Nationalrat |
1948 | MärzVolksdirektorium | 1948 | MärzVolksrat (Vorstand des Nationalrats und Exekutive der JA in Eretz Israel) |
14.5.1948: | Provisorische Regierung | 14.5.1948: | Provisorischer Staatsrat |
8.3.1949: | Regierung | 14.2.1949: | Verfassungsgebende Versammlung wird Knesset |
[38]Dieses Gremium wählte einen 13-köpfigen Exekutivausschuss, das Volksdirektorium (Minhelet Ha-Am). Am 29. April 1948 nahm das britische Parlament den „Palestine Act“ an, der das Ende des Mandats auf den 15. Mai jenes Jahres festlegte. Der Volksrat trat am 14. Mai 1948 in Tel Aviv zusammen und verkündete die Unabhängigkeit des jüdischen Staates „Israel“, die einen Tag danach in Kraft treten sollte. Der Volksrat hieß nun Provisorischer Staatsrat (Mo‘etzet Ha-Medina Ha-Zmanit), und das Volksdirektorium wurde zur Provisorischen Regierung (Ha-Memschala Ha-Zmanit). Vor allem wegen des Kriegsausbruchs unmittelbar nach der Verkündung der Unabhängigkeit konnten die Wahlen nicht wie vorgesehen bis zum 10. Oktober 1948, sondern erst am 25. Januar 1949 durchgeführt werden.
Die Verfassungsgebende Versammlung (Ha-Asefa Ha-Mechonenet) trat am 14. Februar 1949 zusammen und verabschiedete zwei Tage danach das „Übergangsgesetz“ (Transition Act, Chok Ha-Ma’avar), das dem israelischen Parlament den Namen „Knesset“ (Versammlung) gab und mit dem sich die verfassungsgebende Versammlung als erste Knesset konstituierte. Zugleich wurden Bestimmungen über das Amt des Staatspräsidenten, die Regierung sowie über das Verhältnis zwischen Knesset und Regierung verabschiedet.
2. „Verfassung“, Rechtswesen, Staatsbürgerschaft
a)„Verfassung“
In Israel gibt es keine geschriebene Verfassung. Die Unabhängigkeitserklärung sowie „Grundgesetze“ (GG) erfüllen weitgehend die Funktion einer Verfassung. Die Grundgesetze sind Ergebnis einer Kompromissentschließung vom 13. Juni 1950, auf die sich die Mitglieder der ersten Knesset einigten. Umstritten war zwischen den Parteien vor allem die Wirkungsbreite religiöser Vorschriften. Die Entscheidung des Parlaments sah vor, dass die Verfassung aus der Summe einzelner „Kapitel“ zu bestehen hätte, wobei jedes ein Grundgesetz und der Knesset einzeln vorzulegen sei. Die Gesamtheit der Grundgesetze gilt, analog zum britischen Präzedenzrecht, als „Verfassung“ Israels.
Während alle übrigen Gesetze mit der Mehrheit der abstimmenden Parlamentsmitglieder erlassen oder geändert werden können, bedarf es zur Modifizierung oder Annullierung „geschützter Artikel“ eines Grundgesetzes, nicht des gesamten Grundgesetzes, der Mehrheit aller Knesset-Abgeordneten (mindestens 61 Stimmen). Grundgesetze sind demnach anderen Gesetzen nicht übergeordnet.
Es gibt folgende Grundgesetze: „Knesset“ (1958), „Böden“ (1960), „Staatspräsident“ (1964), „Regierung“ (1968, geändert 1992 und 2001), „Wirtschaft des Staates“ (1975), „Militär“ (1976), „Jerusalem, Hauptstadt Israels“ (1980) und „Gerichtswesen“ (1984). Das GG „Staatskontrolleur“ wurde 1988 verabschiedet.
Im März 1992 wurden drei weitere Grundgesetze verabschiedet. „Berufsfreiheit“ (im Februar 1994 im Sinne der Religiösen ergänzt, um die Einfuhr von nicht-koscherem, also nach dem Religionsgesetz verbotenem Fleisch zu erschweren), „Menschenwürde und Freiheit“ und „Direktwahl des Ministerpräsidenten“. Im November 1993 folgte das GG „Gesetzgebungsverfahren“.
Einige Grundgesetze („Regierung“ und „Berufsfreiheit“) oder Gesetzesteile („Menschenwürde und Freiheit“) wurden in ihrer Gesamtheit dadurch abgesichert, dass sie nur von der Mehrheit aller Parlamentarier (mindestens also 61 Stimmen) verändert werden können. Genau dagegen stemmten sich die religiösen Parteien in Bezug auf das GG „Menschenwürde[39] und Freiheit“. Eine Ergänzung aus dem Jahre 1995 setzte fest, dass ein Grundgesetz nur durch das Votum von 70 Knesset-Abgeordneten verändert werden kann.
In erster Lesung billigte die Knesset am 11. März 1996 drei Teile des GG „Menschenwürde und Freiheit“. Die Religiösen gaben nach, weil einige Einschränkungen in Bezug auf Meinungsfreiheit und Freiheit der Kunst vorgesehen waren. Zwei Wochen später verweigerte sich die Nationalreligiöse Partei (NRP) erneut. Die Wahlen vom 29. Mai 1996 stärkten die religiösen Parteien. Unmittelbar danach verkündeten sie, die Verabschiedung dieses Grundgesetzes stehe nicht mehr auf der Tagesordnung.
Die religiösen Parteien hatten sich jahrelang gegen das GG „Menschenwürde und Freiheit“ gesträubt. Die allgemeingültigen Menschenrechte, so ihre Befürchtung, würden die jüdisch-religiösen Gesetze verwässern und den jüdischen Charakter Israels gefährden. Einmal mehr wurde hier der uralte innerjüdische Konflikt zwischen Universalisten und Partikularisten deutlich. Die Verabschiedung eines Grundgesetzes „Freiheit der Religion“ vereitelten die Religiösen und ihre Verbündeten im Januar 1999 einmal mehr. Sie wollten die Trennung von Religion und Staat verhindern.
Im Sommer 1985 wurde das GG „Knesset“ um einen bedeutsamen Absatz ergänzt. Hierin heißt es, dass Israel der Staat des jüdischen Volkes sei. Zwar dürfen „rassistische“ Gruppierungen (gemeint war Kach, die extrem antiarabische Partei von Rabbiner Me’ir Kahane) nicht mehr bei Wahlen zur Knesset kandidieren, doch die Stoßrichtung ist eindeutig: die zweitrangige Stellung der Araber als geduldete Minderheit soll juristisch abgesichert werden. Geduldet, jedoch nicht verfolgt – so könnte man die Absicht des Gesetzgebers umschreiben.
Die Partei Kahanes wurde zu den Wahlen vom 1. November 1988 tatsächlich nicht zugelassen. Sie sei „rassistisch“ (Ha-Aretz, 19.10.1988). Mit drei gegen zwei Stimmen erlaubte der Oberste Gerichtshof die Kandidatur der arabisch-jüdischen, einen Dialog mit der PLO fordernden Progressiven Friedensliste.
Die Knesset ist „souverän“, so dass es wegen dieser „Oberhoheit des Parlamentes“ nicht, wie z.B. in den USA, eine „Judicial Review“ (Normenkontrolle) gibt. Der Oberste Gerichtshof ist lediglich diejenige Instanz, die verbindlich über die Interpretation bestehender Gesetze zu befinden hat. Gesetze, die die Knesset ordnungsgemäß verabschiedet, d.h. mit den erforderlichen Mehrheiten (über welche die Knesset selbst bestimmt), kann der Oberste Gerichtshof nicht für „verfassungswidrig“ erklären. Gesetz ist, was die Knesset beschließt. Hat sie bei der Verabschiedung eines Gesetzes formaljuristische Vorschriften nicht beachtet, ist der Oberste Gerichtshof, sofern er angerufen wird, durchaus berechtigt, die Ungültigkeit des verabschiedeten (neuen) Gesetzes zu erklären.
Hinsichtlich der abgesicherten Grundgesetze ist der Oberste Gerichtshof jedoch zugleich „Verfassungsgericht“. Er könne dann herkömmliche Gesetze, die diesen Grundgesetzen widersprächen, aufheben, meinte der oberste Richter Aharon Barak (Daia Schechori, Ha-Aretz, 23.11.1992).
Literaturhinweise
—Edelman 2000
—Constitution 1996
—Shapira/De Witt 1995
—Sharmann 1993
[40]b)Rechtswesen
Dass besonders Personenstandsfragen nach religiösen Vorschriften geregelt werden sollten, gehörte zur grundsätzlichen Übereinkunft bei der Gründung des Staates. Die seit Staatsgründung bestehende interne Rechtsautonomie der Religionsgruppen reicht in die osmanisch-türkische Herrschaft zurück. Die Vermischung von weltlichem Recht und Religion führt häufig zu Streitigkeiten und Problemen.
„Einstweilige Verfügungen der weltlichen Gerichte in religiösen Fragen sind null und nichtig“, erklärte der Rat der Thora-Weisen der orthodoxen Partei Agudat Israel im Januar 1999 (Schachar Ilan, Ha-Aretz, 17.1.1999). Im Februar starteten sie einen neuen Großangriff auf das Rechtswesen insgesamt: Die Rabbiner aller religiösen Parteien organisierten ein „Massengebet“ gegen die „Diktatur des Obersten Gerichtshofs“ (Schachar Ilan, Ha-Aretz, 5.2.1999; Jörg Bremer, FAZ, 11.2.1999). Am 14. Februar 1999 kamen 250.000 orthodoxe Demonstranten nach Jerusalem. Die Laizisten brachten weit weniger Anhänger auf die Straßen der Hauptstadt. Israels Kulturkampf ist noch nicht zu Ende.
Der Oberste Gerichtshof hat zwei Funktionen. Er ist
■ oberste juristische Instanz des Landes, das heißt, letzte Berufungs- und höchstrichterliche Entscheidungsstelle.
■ einzige verwaltungsgerichtliche Instanz als „High Court of Justice“ (Oberstes Zivilgericht) und damit ein weiteres wichtiges Kontrollorgan der ausführenden Gewalt des Staates („Exekutive“). Dies schließt die Kontrolle der Regierungsbehörden, nicht zuletzt des Militärs, auch der Militärverwaltung in den besetzten Gebieten, ein. Als einziges und oberstes Verwaltungsgericht kann der Oberste Gerichtshof weitreichende Verfügungen und Verbote erlassen. Durch eine „order nisi“ kann jedermann schnell, unproblematisch und kostengünstig dieses Verwaltungsgericht anrufen.
Eine Verfassungsgerichtsbarkeit im Sinne der USA oder der Bundesrepublik Deutschland kennt Israel (noch) nicht.
Dennoch nimmt Israels Oberster Gerichtshof eine immer gewichtigere Rolle im Verfassungsleben des Landes ein. Ein entscheidendes Werkzeug stellen die beiden 1992 verabschiedeten Grundgesetze „Berufsfreiheit“ und „Menschenwürde und Freiheit“ zur Verfügung, da sie dem Obersten Gerichtshof die Möglichkeit bieten, nachfolgende Gesetze, die im Widerspruch zu den Bestimmungen dieser Grundgesetze stehen, für verfassungswidrig zu erklären. Ferner erlaubt eine „Ausnahmeklausel“ in beiden GG dem Gericht, Gesetze dennoch zu genehmigen, wenn sie einen Zweck erfüllen, der „mit Israels Werten als jüdischen und demokratischen Staat übereinstimmt“, eine Formulierung, die dem höchsten Gericht weite Möglichkeiten eröffnet, die Werte des Jüdischen Staates zu interpretieren.
Im August 1995 trat der langjährige Präsident des Obersten Gerichtshofs Me’ir Schamgar (dort Richter seit 1975, Präsident seit 1983) zurück. Nun steuerte der Oberste Gerichtshof unter der Führung des neuen Präsidenten Aharon Barak prompt einen aktivistischen Kurs. Unter Beteiligung des alten sowie des neuen Präsidenten bestätigte der Oberste Gerichtshof am 9. November 1995 eine Gesetzesänderung der Knesset (zum „Gal-Gesetz“ über die Schulden der Moschawim), deren Vereinbarkeit mit dem GG „Menschenwürde und Freiheit“ bestritten wurde. Damit berief sich Israels höchstes Gericht zum ersten Mal auf das aus den USA bekannte Prinzip der „Judicial Review“ im Verfassungskontext.
Im September 2006 war die Ära Barak zu Ende. Dorit Beinisch wurde als erste Frau Präsidentin des Obersten Gerichtshofs. Barak hatte „Verfassungsgeschichte“ geschrieben.
[41]In Ermangelung einer Verfassung ließ er die Grundgesetze als funktional ebenbürtige Bestimmungen gelten. Das glich einer „Rechtsrevolution“. Seine zweite bestand im Vorrang des weltlichen vor dem religiösen Recht, nach seinem Motto: „Das Recht ist weltlich“, also nicht religiös (vgl. Juval Joaz, Ha-Aretz, 11.9.2006).
Eine Kommission, bestehend aus neun Mitgliedern, empfiehlt dem Staatspräsidenten die Ernennung von Kandidaten für das Richteramt am Obersten Gerichtshof. Im Juli 2008 beschloss die Knesset ein neues Verfahren für die Wahl der Richter. Fortan müssen sieben der neun Mitglieder dem Kandidatenvorschlag zustimmen. Zuvor genügte die einfache Mehrheit. Damit sollte die Gefahr zunehmender Politisierung gebannt werden. Insgesamt gibt es zehn Oberste Richter. Vorsitzender der Kommission ist der Justizminister, ihr gehören außerdem an: der Präsident des Obersten Gerichtshofes, zwei weitere seiner Mitglieder, ein vom Kabinett bestimmter Minister, zwei von der Knesset in geheimer Abstimmung gewählte Delegierte sowie zwei Vertreter der Anwaltskammer.
Rücktritt, Tod, das Erreichen des Pensionsalters (70) oder „disziplinarische Vergehen“, über die der Oberste Richter gemeinsam mit fünf weiteren zu entscheiden hat, beenden die Tätigkeit eines Rechtsprechenden. Die Unkündbarkeit gilt ebenfalls für Richter der untergeordneten Gerichte.
Das seit 1984 geltende GG „Gerichtswesen“ enthält eine wichtige Änderung: Sieben der neun Kommissionsmitglieder, welche die Richter für den Obersten Gerichtshof auswählen, sind ermächtigt, auch darüber zu befinden, ob ein amtierender Richter nicht mehr in der Lage ist, sein Amt auszuüben. Diesen Antrag zu stellen, ist entweder der Justizminister oder der Präsident des Obersten Gerichtshofs befugt.
Ende 1986 schlug der Oberste Gerichtshof vor, die Wahlkommission für die Richter zu ermächtigen, Richter gegebenenfalls auch absetzen zu können.
Auffallend ist, dass sich die palästinensischen Bewohner der besetzten Gebiete nicht selten erfolgreich gegen Enteignungen beim Obersten Gerichtshof zur Wehr setzen, was trotz aller Kritik auf die Unabhängigkeit dieser Institution schließen lässt. Auch israelische Beduinen können gegen die Art und Weise der Enteignung ihrer Böden erfolgreich Berufung einlegen.
Im Frühjahr 2000 entschied der Oberste Gerichtshof grundsätzlich, dass der Staat Araber bei der Vergabe oder dem Verkauf von Land nicht benachteiligen darf, allerdings mit einer bedeutenden Einschränkung: Dies beziehe sich nicht auf „besondere Siedlungsformen“ wie Kibbutzim, so der Oberste Richter Aharon Barak (Mosche Reinfeld, Ha-Aretz, 9.3.2000).
Die Unabhängigkeit des Rechtswesens hat wohl auch die Kommission bewiesen, die die Vorgänge um das im September 1982 in Beirut an Palästinensern begangene Massaker untersuchte, und der sowohl ein amtierendes als auch ein ehemaliges Mitglied des Obersten Gerichtshofes angehörte. Wie jedermann wusste, war der Regierung das Untersuchungsergebnis keineswegs willkommen.
Das Oberste Gericht erwies sich auch als Institution einer „wehrhaften Demokratie“, als es 1964 und 1965 die arabisch-nationalistische Al-Ard-Gruppe verbot (siehe „Parteien und Araber“). 1984 und 1988 verhielt sich das Gericht gegenüber der ähnlich orientierten „Progressiven Friedensliste“ großzügiger. Sie durfte an den Knesset-Wahlen und am Parlamentsgeschehen teilnehmen. Die Entscheidung fiel aber mit drei gegen zwei Stimmen knapp aus (Ha-Aretz, 28.9.1989). Ähnlich 2003, als PLO-nahe Araber (Tibi, Bischara) kandidieren durften.
Durch Artikel 9 der LAO (Neuordnungsgesetz; „Law and Administration Ordinance“ vom 19. Mai 1948) ermächtigte sich der Provisorische Staatsrat dazu, wenn erforderlich, den Notstand zu erklären, und noch am selben Tag wurde dies vollzogen. Zunächst sollte er[42] nur für drei Monate gelten, wurde aber bis heute durch Beschluss der Knesset immer wieder verlängert. Aufgrund dieser Bestimmungen können u.a. Militärgerichte und -verwaltungen eingerichtet werden, eine Tatsache, die den Status der israelischen Araber bis Dezember 1966 betraf, und die Bewohner der besetzten Gebiete, sofern sie nicht annektiert wurden, bis heute betrifft.
Die Befugnisse der Militärgerichte werden vom Obersten Gerichtshof überwacht. Sie verfügen trotzdem über weitreichende Vollmachten, die das Alltagsleben der in den besetzten Gebieten lebenden Palästinenser beeinflussen. Vor allem schaffen sie zunächst Tatsachen, die erst später ziviljuristisch kontrolliert werden können.
Das GG „Gesetzgebungsverfahren“ aus dem Jahre 1993 schränkt die Notstandsbefugnisse vor allem zeitlich ein: auf höchstens zwei Jahre. Außer den Notstandsbestimmungen ermächtigt auch die „Verordnung zur Verhinderung von Terrorakten“ (1948) die Militärgerichte, tätig zu werden. Mutmaßliche Terroristen werden daher vor Militärgerichte gestellt.
Der Rechtsberater der Regierung erfüllt zwei Aufgaben: Zum einen berät er, wie die Amtsbezeichnung andeutet, die Regierung in juristischen Fragen, zum anderen ist er gleichzeitig Generalstaatsanwalt.
Im Juni 1986 kam es zu einer bislang einzigartigen Konfrontation zwischen der Regierung und ihrem Rechtsberater, als dieser zumindest juristisch nachprüfen wollte, ob der Chef des Geheimdienstes tatsächlich die Ermordung zweier palästinensischer Terroristen durch Soldaten der israelischen Armee gedeckt hatte, um ihn dann gegebenenfalls zur Rechenschaft zu ziehen. Die Regierung weigerte sich, dem Rechtsberater hierfür grünes Licht zu geben, weil sie fürchtete, militärische Geheimnisse könnten aufgedeckt und in die Öffentlichkeit getragen werden. Der Rechtsberater wurde ausgewechselt, doch sein Nachfolger leitete unerwartet – und von der Regierungsmehrheit zunächst unerwünscht – dennoch eine Untersuchung ein. Der Geheimdienstchef musste gehen, öffentlich und ohne Geheimnis.
Im Mai 1987 bewies das israelische Rechtswesen einmal mehr seine Unabhängigkeit und Korrektheit: Es hob das Urteil eines Militärgerichtes auf, das einen Tscherkessen aufgrund von Geständnissen verurteilte, die der Geheimdienst durch Folterungen erzwungen hatte.
Im Sommer 1991 wurden erstmals zwei Angehörige des innerisraelischen Geheimdienstes (Schin Bet) entlassen, die zwei Palästinenser gefoltert und getötet hatten (Ha-Aretz, 2.9.1991).
Im Sommer 1993 empfahl Generalstaatsanwalt Josef Charisch die Entlassung des unter Korruptionsverdacht stehenden Innenministers Arie Deri. Ministerpräsident Jitzchak Rabin weigerte sich. Er fühlte sich an Koalitionsvereinbarungen gebunden und fürchtete, dass Deris Partei (Schass) seine Regierung in einem für den israelisch-palästinensischen Konflikt schicksalhaften Augenblick verlassen könnte. „Mauschelei“, sagten die einen, „Staatsräson“, konterten die anderen. Das Verhältnis zwischen Rabin und dem Generalstaatsanwalt hätte jedenfalls nicht schlechter sein können. Im September 1993 entschied der Oberste Gerichtshof zugunsten von Charischs Position. Der Innenminister musste zurücktreten. Als Sieger reichte Charisch zum 1. November 1993 seinen eigenen Rücktritt ein, den Rabin annahm. Von 2000 bis 2002 verbüßte Deri eine Haftstrafe. Nicht genug der Richterhoheit über Politiker: Staatspräsident Mosche Katzav wurde 2011 wegen Vergewaltigung zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Das Ansehen des Amtes fiel. Nachfolger Schimon Peres stellte es wieder her: 79% aller Israelis vertrauten dem Präsidenten. Nur Tzahal, dem Militär, (ver)trauten die Israelis mehr (Democracy Index 2013: 42).
Die Gerichte haben trotz allem insgesamt einen guten Ruf (ältere Daten in: Wolffsohn 1983 und in allen früheren Auflagen dieses Buches).
[43]Der Democracy Index ermittelte diese repräsentativen Zustimmungswerte für das Oberste Gericht:
In der arabischen Bevölkerung hat das Oberste Gericht die höchste Wertschätzung aller israelischen Institutionen (http://en.idi.org.il/media/3823043/democracy_index_2014_Eng.pdf; Abruf 19.01.2015).
Zumindest ein grundlegender Unterschied im Rechtsbewusstsein der jüdischen und arabischen/palästinensischen Israelis fällt auf: Dem Satz „Ein Staatsbürger muss nur den Gesetzen gehorchen, die er für gerecht hält“, stimmten im Frühjahr 1993 nur 23% der jüdischen Israelis zu. Bei den arabischen Staatsbürgern waren es jedoch 61% (Umfrage des Instituts für Soziologie und Anthropologie der Universität Haifa, Prof. Arie Ratner, Ha-Aretz, 28.5.1993).
Andererseits neigte eine aktive jüdische Minderheit – man fand sie vor allem bei den Siedlern im Westjordanland – besonders häufig seit Beginn der ersten Intifada (9. Dezember 1987) dazu, das Recht in die „eigenen Hände“ zu nehmen, also Faustrecht anzuwenden. Das schloss den Gebrauch von Schusswaffen ein.
Dass man „sein Recht selbst in die Hand nehmen kann, wenn das gültige Recht einen nicht genügend schützt“, meinten 22% der Juden und 52% der Araber (Umfrage des Instituts für Soziologie und Anthropologie der Universität Haifa, Prof. Arie Ratner, Ha-Aretz, 28.5.1993). Schon vor dem Massaker eines jüdischen Siedlers in Hebron (Februar 1994) und der Ermordung von Ministerpräsident Rabin (4. November 1995) waren die Zeichen an der Wand erkennbar.
Nationalreligiöse und Orthodoxe haben ein zumindest gebrochenes Verhältnis zum weltlichen Recht. Eine Umfrage des Haifaer Kriminologen Arie Ratner bewies dies im Sommer 2000 einmal mehr sehr deutlich. 45% der Orthodoxen und 30% der nationalreligiösen Siedler fühlten sich „berechtigt“, notfalls gegen weltliche Instanzen das Recht in die eigenen Hände zu nehmen. In der Gesamtbevölkerung waren es immerhin 22% (Arie Dajan, Ha-Aretz, 30.7.2000). 71% der Orthodoxen und 67% der nationalreligiösen Siedler kündigten solche Aktionen für den Fall an, dass der Großteil „Judäas“ den Palästinensern übergeben werde. Dass religiöses Recht vor dem weltlichen Vorrang habe, meinten 95% der Orthodoxen und 37% der nationalreligiösen Siedler und nur 16% der Weltlichen (ebd.). Auch im Zusammenhang mit der Räumung des Gaza-Streifens durch Israel zeigte sich, dass religiöse Abzugsgegner mehr als nichtreligiöse ernsthaft erwogen, das Recht in die eigene Hand zu nehmen (vgl. Umfragen, Ha-Aretz, 22.12.2004). Dass aber Israels Gerichte ihre Aufgaben nicht gut erfüllten, meinten nicht nur 84% der Orthodoxen und 48% der nationalreligiösen Siedler, sondern erstaunlicherweise auch 43% der Weltlichen (ebd.). Dies sind erste Alarmzeichen, denn bislang genoss das israelische Rechtswesen die Hochachtung der Bürger. Wenig beruhigend, dass 2013 28% der jüdischen Israelis im Konfliktfall religiöses Recht (die Halacha) demokratischen Prinzipien vorzogen (Democracy Index 2013: 65).
Siehe:
—http://elyon1.court.gov.il/eng/home/index.html
[44]c)Staatsbürgerschaft
Aufgrund des 1951 von der Knesset verabschiedeten Rückkehrgesetzes kann jeder aus dem Ausland kommende Jude sofort die israelische Staatsbürgerschaft erhalten (Man ist hier an Artikel 11b des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland erinnert). Ansonsten gilt für den Erwerb der Staatsbürgerschaft das Abstammungsprinzip, während das Gebietsprinzip in abgewandelter Form auf diejenigen nichtjüdischen Einwohner Palästinas angewandt wurde, die nach 1948 auf israelischem Gebiet lebten. Einbürgerung und Verleihung sind ebenfalls mögliche Formen, die israelische Staatsbürgerschaft zu erlangen.
Während bei jüdischen Israelis im Personalausweis unter der Rubrik „Nationalität“ das Wort „Jude“ vermerkt ist, findet man bei den arabischen Israelis die Bezeichnung „Araber“. Zwischen Nationalität und Religion wird also in Bezug auf die Juden, gleichgültig, ob sie gläubig sind oder nicht, überhaupt nicht unterschieden, während bei den Arabern unter derselben Rubrik auf religiöse Vielfalt (Christen, Sunniten oder Drusen) nicht eingegangen wird.
Tabelle 5: Erlangung der Staatsbürgerschaft
1. Rückkehrgesetz
2. Abstammungsprinzip (über Eltern)
3. Gebietsprinzip (durch Wohnsitz)
4. Einbürgerung („Naturalisierung“)
5. Verleihung
Nichtjüdische Bewohner der 1967 eroberten und auch juristisch dem Staatsgebiet zugeschlagenen, d.h. annektierten Gebiete (Ostjerusalem und Golan-Höhen), sind trotzdem keine israelischen Staatsbürger. Sofern sie die Staatsbürgerschaft erhalten möchten, müssen sie sich einbürgern lassen. Nur etwa ein Prozent wollte dies.
Auf diese Weise kann man Gebiete annektieren, ohne deren Bewohner zu wahlberechtigten Bürgern zu machen. Genauer gesagt, an Knesset-Wahlen können sie nicht teilnehmen, wohl aber an Kommunalwahlen, da hier nicht nur Staatsbürger, sondern alle Einwohner Israels wahlberechtigt sind (vgl. „Arabische Kommunalverwaltungen“).
Die niedrige Beteiligung an den Kommunalwahlen in Jerusalem hat es immer wieder bewiesen: Am jüdischen Gemeinwesen wollen von Israel besetzte Palästinenser nicht teilhaben.
Im Mai 2006 entschied Israels Oberster Gerichtshof mit sechs zu fünf Stimmen, dass die „Familienzusammenführung“ arabisch-israelischer Staatsbürger mit Einwohnern der Palästinenser-Gebiete (und damit deren Einbürgerung) nicht zulässig sei, weil zwischen Israel und „Palästina“ faktisch Kriegszustand herrsche und kein Staat Bürger eines mit ihm verfeindeten Staates als Bürger aufnehmen müsse. Der Präsident des Gerichtshofes, Aharon Barak, gehörte zur Minderheit.
Literaturhinweise
—Kretzmer 2002
—Harris 2001
—Edelmann 1994
—Klein 1994
—Shetreet 1994
[45]— Jährliche Ergänzungen: Israel Year Book
—Staatsbürgerschaft: http://www.mfa.gov.il/MFA/MFAArchive/2000_2009/2001/8/Acquisition%20of%20Israeli%20Nationality
Zum Ansehen der Institutionen, auch im Rechtsbereich vgl. die regelmäßigen Umfragen des Israel Democracy Institute http://www.idi.org.il/ und des Friedensindex der Tel Aviver Universität http://www.tau.ac.il/peace. Nach den Streitkräften liegen traditionell die Gerichte auf Platz zwei. Selbst arabische Israelis misstrauten mit 40,4% dem Obersten Gericht weit weniger als anderen staatlichen Institutionen (Israeli Democracy Index 2014). Wegen der erheblichen politischen und militärischen Pannen im Libanon-Krieg fiel 2006 auch die Armee vom Podest. 2014 rangierte sie allerdings mit mehr als 88% wieder unangefochten an erster Stelle.
3. Die Knesset (Das Parlament)
a)Rechtliche Rahmenbedingungen
Das Neuordnungsgesetz („Law and Administration Ordinance“, LAO, vom 19. Mai 1948) bestimmte in Artikel 7a, dass der Provisorische Staatsrat die gesetzgebende Gewalt des Staates ist. Artikel 3 des Übergangsgesetzes vom 16. Februar 1949 übertrug alle Vollmachten des Provisorischen Staatsrates an die Verfassungsgebende Versammlung, die sich gleichzeitig zur ersten Knesset erklärte. Am 29. März 1949 wurden die Vorgehensweisen zur Verabschiedung gesetzgeberischer Maßnahmen von der Knesset gebilligt. Die Tatsache der Veröffentlichung gilt als „Beweis für die Rechtmäßigkeit des Gesetzes“ (LAO, Art. 10).
Standort der Knesset ist Jerusalem. Ihre Mitgliederzahl beträgt 120. Die Legislaturperiode dauert vier Jahre. Eine vorzeitige Auflösung ist möglich, wenn die einfache Stimmenmehrheit der Parlamentarier ein „Sondergesetz über die vorzeitige Auflösung“ des Parlaments billigt. Vorzeitige Auflösungen erfolgten 1951, 1961, 1977, 1981, 1984, 1992, 1999, 2006, 2009, 2013, 2015. Die Geschäftsordnung schreibt zwölf ständige Ausschüsse vor.
Gesetzesinitiativen können von der Regierung ausgehen, vom Knesset-Ausschuss sowie von jedem einzelnen Parlamentarier. Ca. 95% der Gesetzesvorlagen stammen inzwischen von der Exekutive. Zur Verabschiedung eines Gesetzes sind drei Lesungen erforderlich.
Abbildung 6: Das israelische Regierungssystem
[46]Die Knesset ist einerseits als Nachfolgerin der „Verfassungsgebenden Versammlung“ Verfassungsgeberin und andererseits die gesetzgebende Gewalt Israels, erfüllt demnach eine Doppelfunktion im gesetzgeberischen Bereich. Sie ist zudem Kontrollinstanz der Regierung, verfügt über das Haushaltsbewilligungsrecht einschließlich der Folgegesetze und kann Untersuchungsausschüsse einrichten. Nicht zuletzt ist das Amt des Staatskontrolleurs ein wirksames und ergänzendes Organ zur Kontrolle der Regierung (vgl. B/I/4).
b)Politischer Stellenwert, politische Funktionen
Der „verfassungsrechtlichen“ Souveränität der Knesset stand lange die Allmacht der Parteiapparate gegenüber. Die Knesset war nur so stark bzw. schwach, wie es die Struktur der Parteien, die im Parlament vertreten waren, ermöglichte. Von der Unabhängigkeit des einzelnen Parlamentariers seiner Partei gegenüber konnte kaum die Rede sein, auch wenn weder die Grundgesetze noch die Geschäftsordnung oder eine andere gesetzliche Bestimmung „Fraktionszwang“ kennen. Das System der starren Listen (vgl. Wahlrecht, B/I/3c) hatte, solange deren Zusammensetzung letztlich von den führenden Parteifunktionären bestimmt wurde, wirksame Strafmechanismen, so dass man keine gesetzlichen Bestimmungen über die Fraktionsdisziplin hinaus benötigte. Stärker werden konnten die Fraktionen nur, wenn die jeweilige Regierung schwächer wurde. Die „Souveränität“ der Knesset hing also weniger von den gesetzlichen Bestimmungen ab, als vielmehr von der Machtverteilung in den Parteien und zwischen ihnen, vor allem aber von der Durchsetzungskraft der Regierung, besonders des Ministerpräsidenten.
Die seit 1973 in den Parteien erheblich erweiterte Mitbestimmung der Basis festigte indirekt auch die Legitimität der Knesset-Souveränität.
Die Knesset dient den Politikern als Tribüne, ihre Debatten liefern Argumente für die öffentliche Diskussion, sie ist ein Ort, an dem Informationen und Erfahrungen ausgetauscht werden können, weil die Kommunikationslinien hier noch kürzer sind als in dem ohnehin schon kleinen Land. Man hat Entscheidungsträger und -zuträger an einem Platz versammelt. Das Parlament ist zugleich politisches Sprungbrett für diejenigen, die weiter nach oben, also in die Regierung, wollen. Bis zum Anfang der 70er Jahre war es wichtig, den Gründungsvätern des Staates anzugehören, um Minister werden zu können. Aus dieser Gruppe rekrutierten sich von 1949 bis 1971 43,5% der israelischen Minister. Nur 8% kamen aus den Reihen der „reinen“ Parlamentarier, 24,2% hatten sich außerhalb der Politik profiliert (Weiss 1973: 98).
Die Gründungsväter gehörten der Knesset an und nahmen die ersten Plätze auf den Kandidatenlisten ihrer Parteien ein und auch der Ministerpräsident muss Mitglied der Knesset sein. Im ersten Kabinett Rabin (1974–76) gehörten sechs von 19 Ministern dem Parlament an, im Kabinett 18b unter Begin (1977–78) nur einer nicht, im Kabinett 19a und 19b (1981–83) alle. Dieser Trend hat sich durchgesetzt. Es entspricht heute einer seltenen Ausnahme, dass Minister nicht zugleich Mitglieder der Knesset sind.
Die im Parlament vertretenen Parteien können offenbar nicht ganz den Willen der Bevölkerung repräsentieren. Das zeigt die Tatsache, dass vor allem nach dem Libanon-Krieg (1982) die Zahl der Protestdemonstrationen hochschnellte (vgl. Lehman-Wilzig 1991).
Trotzdem scheint auch außerparlamentarischen Gruppierungen die Mitgliedschaft oder zumindest die Verbindung zum Parlament unverzichtbar zu sein. Sowohl Vertreter der rechtsreligiösen als auch der linken und linksliberalen außerparlamentarischen Opposition („Frieden Jetzt“] gehörten Parteien oder Fraktionen der Knesset an. Sie wirkten gleichzeitig[47] parlamentarisch und außerparlamentarisch. Die Knesset ist Brennpunkt der politischen Betätigung.
Das gestiegene Selbstbewusstsein der Knesset zeigte ihr Präsident Abraham Burg („Ein Israel“) im Frühjahr 2000: Vor allem seinem Druck gab Präsident Ezer Weitzman nach und trat wegen Korruptionsvorwürfen zurück. Burg hatte ihm mit einem Amtsenthebungsverfahren gedroht (Jossi Werther, Ha-Aretz, 28.5.2000).
Das Vertrauen in die Knesset sank von 1996 bis 2001 bei den jüdischen Israelis von 62% auf 25%, bei den arabischen blieb es konstant auf 25% (Friedensindex, Dezember 2001). Im Jahre 2004 misstrauten ihr 83% der israelischen Araber (Rechtsinstitut „Adala“, Ha-Aretz, 29.12.04).
c)Das Wahlrecht
Grundsätzliche Entscheidungen über das Wahlsystem des späteren Staates fielen auf der dritten „Vorbereitenden Versammlung“ (sie nannte sich „Der Rat von Eretz Israel“), die am 18. Dezember 1918 in Jaffo stattfand. Die Wahlen sollten direkt, gleich, geheim, allgemein, landesweit (das gesamte Land ist ein Wahlkreis) und proportional sein, wobei man sich für das System der starren, von den Parteigremien festgesetzten Listen entschieden hatte. Das Wahlalter wurde auf 20 Jahre (aktiv) und 25 (passiv) festgesetzt. Heftig umstritten zwischen weltlichen und religiösen Zionisten war dabei das Frauenwahlrecht. Die orthodoxe AI boykottierte die Wahlen und die Mitarbeit in der Delegiertenversammlung.
Die wichtigste Folge des Wahlrechtes dürfte die weitgehende Behinderung der Beteiligung, Mitbestimmung und Mobilisierung der Parteimitglieder durch das System der starren Listen gewesen sein. Die Nominierung der Kandidaten vollzog sich nach der Staatsgründung immer mehr im Kreis der inneren Parteiführung, wobei 1977 wichtige Veränderungen stattfanden. Seitdem werden die Mitglieder an der Nominierung der Kandidaten stärker beteiligt. Besonders in der Arbeitspartei (IAP) und im Likud gehören parteiinterne Vorwahlen zur Bestimmung der Kandidaten inzwischen zum Alltag.
Die Diskussion um eine Reform des Wahlrechtes, wobei meist an das Mehrheitswahlrecht oder eine höhere Sperrklausel gedacht wird, reißt nicht ab, doch müssen stets die großen Parteien, die durchaus Veränderungen anstreben, auf ihre jeweiligen kleineren Koalitionspartner Rücksicht nehmen, die sich in ihrer Existenz bedroht fühlen.
Nur 1931 wurden den „ethnischen“ Gruppierungen 18 der 71 Mandate garantiert, den Sefardim 15, den Jemeniten 3. Dies war das einzige Mal, dass nicht nach den Grundsätzen der Proportionalität vorgegangen wurde (Einzelheiten zu den Wahlen in der Jischuv-Periode in: Wolffsohn 1983: 437ff.).
Die gesetzlichen Grundlagen für das Wahlrecht im unabhängigen Staat sind vor allem das GG „Knesset“ sowie die Knesset-Wahlgesetze aus den Jahren 1959 und 1969 einschließlich einiger Veränderungen. Das aktive Wahlrecht besitzen Männer und Frauen, die israelische Staatsbürger sind und ihr 18. Lebensjahr vollendet haben. Mit 21 Jahren ist man passiv wählbar. Es besteht keine Wahlpflicht. Wenn ein Parlamentarier auf sein Mandat verzichtet oder ein Amt übernimmt, das mit der parlamentarischen Tätigkeit unvereinbar ist, rückt der Bewerber mit dem nächsthöchsten Listenplatz derselben Partei nach.
Eine Erweiterung des Grundgesetzes über die Knesset vom Sommer 1985 verbietet die Kandidatur von Parteien, die in ihrem Programm oder Verhalten die Existenz Israels als Staat des jüdischen Volkes direkt oder indirekt bekämpfen. Auch Gruppierungen, die den demokratischen Charakter Israels verändern wollen oder „rassistische Hetze“ betreiben, müssen von der Kandidatur ausgeschlossen werden.
[48]Dieser Gesetzeszusatz ist als Absicherung gegen arabische und jüdische Extremisten zu verstehen, wenngleich der zionistische, sprich erstrangig jüdische Charakter des Staates vor allem geschützt werden soll.
Wenn diese einstige Selbstverständlichkeit der zionistischen Bewegung heute als Gesetz festgeschrieben werden muss, kann man, ja muss man darauf schließen, dass dieser exklusiv-jüdische Charakter inzwischen in Frage gestellt wird, nicht mehr nur von Arabern oder jüdischen Randgruppen, sondern von größeren Teilen der jüdischen Gesellschaft.
Sperrklausel: Sie lag von 1992 bis 2006 bei 1,5%, seit 2006 bei 2%. Im März 2014 wurde sie schließlich auf 3,25% angehoben. Die Zahl der Mandate, die eine Liste erhält, wird errechnet, indem man die für die Liste abgegebenen gültigen Stimmen durch die Wahlzahl dividiert (Berechnung der Wahlzahl: Die Summe der für die an der Sitzvergabe beteiligten Listen abgegebenen gültigen Stimmen, geteilt durch die Zahl der Knesset-Mandate). Die übrigen Sitze wurden bis 1969 nach der Methode des größten Überrestes verteilt, was die kleineren Parteien begünstigte. Seit 1973 erfolgt die Verrechnung nach der modifizierten Methode d’Hondt, welche den größeren Parteien zugutekommt.
Wahlverfahren: Das Gesetz über Parteienfinanzierung vom 24. Januar 1973 regelt die Finanzierung der Wahlkampfausgaben sowie der laufenden monatlichen Aufwendungen der Parteien. Der Wahltermin liegt am Ende einer Legislaturperiode, und zwar am dritten Dienstag des jüdischen Monats Cheschvan (Oktober/November). Bei vorherigem Schaltjahr findet die Wahl am ersten Dienstag des Monats statt. Bei vorzeitiger Auflösung des Parlaments müssen die Parlamentarier durch das Sondergesetz zugleich einen Wahltermin festsetzen. Briefwahl ist nicht möglich. In der Wahlkabine liegen gedruckte Wahlzettel aller Listen aus. Der Wähler steckt den Wahlzettel der Liste, für die er sich entscheidet, in einen Umschlag und wirft diesen in die Wahlurne.
Das traditionelle Wahlsystem war nicht sehr beliebt. Im September 1984 sagte es nur 34% der Israelis zu. 80% der befragten Israelis waren im März 1990 für eine Änderung des Wahlrechts (Dachaf-Umfrage, Jedi’ot Achronot, 11.4.1990). Im Februar 1992 meinten 68% der jüdischen Israelis, eine Änderung des Wahlrechts könnte viele Probleme des Staats lösen helfen (Gallup-Umfrage, Ha-Aretz, 6.3.1992). Dem Druck der Öffentlichkeit gab die Knesset im März 1992 teilweise nach.
1996 und 1999 hatte jeder Wahlbürger zwei Stimmen: eine für die jeweilige Partei, die andere für den Ministerpräsidenten-Kandidaten. Der Regierungschef benötigte mehr als 50%. Erreichte keiner der Kandidaten diesen Anteil, hätte nach zwei Wochen eine Stichwahl stattgefunden.
Am 29. Mai 1996 wählten die Israelis ihren Premier erstmals direkt. Mit hauchdünnem Vorsprung gewann Benjamin Netanjahu (Likud) vor Amtsinhaber Schimon Peres. Als Amtsinhaber verlor Netanjahu am 17. Mai 1999 gegen Ehud Barak (Arbeitspartei).
Am 6. Februar 2001 fanden zum ersten Mal Wahlen für den Ministerpräsidenten ohne gleichzeitige Knesset-Wahlen statt. Bei der geringsten Wahlbeteiligung in der Geschichte Israels wurde Amtsinhaber Barak (38%) von Ariel Scharon (62%) besiegt. Am 7. März 2001 beschloss die Knesset die modifizierte Rückkehr zum alten Wahlrecht und schuf die Direktwahl des Premiers ab. Der Ministerpräsident kann (wie in Deutschland) nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum mit 61 Stimmen der Knesset-Abgeordneten gestürzt werden (Ha-Aretz 8.1.2001).
[49]Literaturhinweise
—Diskin 1991 und 1989
—Wolffsohn 1983: Kapitel 37
d)Wahlkämpfe und politische Geschichte, Wahlergebnisse
Den folgenden Abschnitt versteht man besser, wenn man weiß, dass es in der israelischen Parteienlandschaft traditionell drei große Lager gab: Das Arbeiterlager, das bürgerliche und das religiöse.
Im Arbeiterlager war und blieb die sozialdemokratische Mapai/Arbeitspartei tonangebend. Im bürgerlichen Lager bestimmte die nationalistische Cherut immer mehr die Richtung. Im religiösen Lager wetteiferten die Nationalreligiösen, die dem zionistischen Aufbauwerk seit jeher wohlwollend gegenüberstanden, mit den extrem Orthodoxen der Agudat Israel, die dem Zionismus gegenüber mehr als distanziert blieben, weil sie den Gang von Geschichte und Politik Gott überlassen wollen, Menschenwerk in diesem Bereich für „Gotteslästerung“ halten.
Im Arbeiterlager und im bürgerlichen Lager gibt es seit 1965 eng zusammenarbeitende Parteien, die man als „Block“ bezeichnet. Bei den Religiösen gibt es derzeit drei fast gleich große Gruppierungen: Nationalreligiöse, orientalische Orthodoxe (Schass) und Agudisten, wobei Schass ursprünglich nichts anderes als eine organisatorische Verselbständigung der orientalischen Agudisten war.
Die ideologischen Grenzen zwischen den Lagern sind fließend geworden. Das gilt besonders in Bezug auf den Übergang zwischen Likud und Religiösen, zwischen Arbeitspartei und Linksliberalen. Sowohl der Likud als auch die Arbeitspartei sind seit 1988 keine „Blöcke“ mehr.
Hier seien die Wahlkämpfe, die wichtigsten Streitpunkte und Zusammenhänge skizziert.
Schon bei den ersten Wahlen zur Delegiertenversammlung im Jahre 1920 distanzierten die Arbeiterparteien, allen voran die organisatorische Vorläuferin der Mapai, Achdut Ha-Avoda (AH), die übrigen Gruppierungen.
Abbildung 7: Wahlen zur Delegiertenversammlung des Jischuv, 1920–1944
[50]Tabelle 6: Wahlen zur Delegiertenversammlung des Jischuv, 1920–1944
[51]
Daten aus Eliav 1976: 156ff.; Zuordnung zu den Blöcken/Lagern entsprechend Horowitz/Lissak 1977: 336f. sowie eigene Daten.
[52]Die Epoche der Mapai/Arbeitspartei begann demnach schon 1920 und endete 1977, als der Likud den Arbeiterblock (Großer Ma’arach) schlug und den ersten Machtwechsel des jüdischen Gemeinwesens vollziehen konnte.
Obwohl die Mapai/Arbeitspartei in jenen Jahren stets wesentlich stärker als die übrigen Parteien war, reichte die Mehrheit nie, um alleine die Regierung führen zu können. Koalitionspartner wurden benötigt. Die Linksliberalen und Linksreligiösen bildeten in dieser Epoche gemeinsam mit der Mapai/Arbeitspartei den Koalitionskern.
Die Verfassungsgebende Versammlung, die sich am 16. Februar 1949 zur ersten Knesset erklärte, wurde am 21. Januar 1949 gewählt. Dieser Urnengang stand ganz im Zeichen des Unabhängigkeitskrieges von 1948/49. Eindeutige Siegerin war Mapai, die Staatspartei des Staatsvaters, also Ben-Gurions.
Streitpunkte während der Legislaturperiode und im Wahlkampf von 1951 waren die Erziehungs- und Wirtschaftspolitik sowie der Wehrdienst für Frauen. Im Grunde genommen stritt man sich über Sparmaßnahmen zum einen und über das Gewicht der Ideologien und der Religion zum anderen. In der Schulpolitik wollten Arbeiterparteien und Religiöse ihren Einfluss gesichert sehen, den Wehrdienst von Frauen lehnten die Orthodoxen (AI) ab, die unpopuläre Sparpolitik sollte dem jeweils anderen Partner in die politischen Schuhe geschoben werden.
Die erste Knesset wurde vorzeitig aufgelöst, am 30. Juli 1951 neu gewählt. Die Mapai büßte Stimmen ein, die rechtsliberalen Allgemeinen Zionisten gewannen kräftig hinzu, weil sie sagten, sie würden durch weniger Staat in der Wirtschaft mehr Wohlstand erreichen.
In dieser Legislaturperiode trat Ben-Gurion 1953 als Regierungschef zurück. Er übernahm das Amt 1955 wieder, nach den Wahlen vom 26. Juli 1955, bei denen ein Rechtsruck erfolgte. Die eher rechten Parteien des jeweiligen Lagers verbuchten die größten Gewinne. Davon profitierte besonders die Cherut Menachem Begins. Vom Prestige des erfolgreichen Sinai-Feldzuges (Oktober/November 1956) zehrte die Mapai bei den Wahlen am 3. Dezember 1959, doch gerade in der nun folgenden Zeit verlor Ben-Gurion an Ansehen durch parteiinternes Gerangel, das sogar zu vorgezogenen Neuwahlen führte. Sie fanden am 15. August 1961 statt. Erwartungsgemäß büßte die Mapai Stimmen ein, die neu gegründete Liberale Partei, eine Vereinigung von Rechts- und Linksliberalen, schnitt überraschend schlecht, die Cherut dagegen erstaunlich gut ab. Ben-Gurions Rücktritt zeichnete sich ab. Er erfolgte 1963. Levy Eschkol, ebenfalls Mapai, wurde Ministerpräsident. Personell und organisatorisch bahnten sich Veränderungen an, die noch vor den Wahlen am 2. November 1965 vollzogen wurden: Mapai und Achdut Ha-Avoda bildeten den Kleinen Ma’arach, nicht zuletzt gegen Ben-Gurion und die von ihm gegründete Rafi.
Cherut und (rechte) Liberale schlossen sich zum Gachal-Block zusammen, die Kommunisten spalteten sich in eine jüdisch-nationalkommunistische und eine arabisch-jüdische, Moskau-orientierte Partei (die Neue Kommunistische Liste).
Weitgehend spannungslos verliefen die Wahlen vom 28. Oktober 1969. Seit dem Vorabend des Sechs-Tage-Krieges (Juni 1967) regierte eine große Koalition. Mapai, Achdut Ha-Avoda und Rafi hatten sich 1968 zur Israelischen Arbeitspartei (IAP) zusammengeschlossen und bildeten mit der linkssozialistischen, inzwischen sehr gemäßigten Mapam den Großen Ma’arach, der nur knapp die absolute Mehrheit verfehlte.
Die Wahlen vom 31. Dezember 1973 wurden vom psychologischen Schock des Jom-Kippur-Krieges (Oktober) überschattet. Der Regierung, besonders der Arbeitspartei, wurde vorgeworfen, die drohende Gefahr nicht erkannt, ja versagt zu haben. Trotz seiner Verluste blieb der Arbeiterblock, der Große Ma’arach, stärkste Fraktion, aber der neu formierte „Likud“,[53] dem sich außer dem Gachal-Block (aus Cherut und Liberalen) noch andere kleinere Gruppierungen anschlossen, profilierte sich als mögliche Alternative.
Das Wahldebakel des Arbeiterblocks am 17. Mai 1977 war eine verspätete Reaktion auf die Protestbewegungen nach dem 1973er Krieg. Diese hatten „mehr Demokratie“ in den Parteien und das Ende des politisch-wirtschaftlich-gesellschaftlichen Elitekartells gefordert. Die Demokratische Bewegung für Veränderung (DBV) machte dies 1977 zu dem Thema ihres Wahlkampfes. Sie versprach Erneuerung in zionistischer Kontinuität. Diverse Skandale und Korruptionsaffären hatten der IAP geschadet. Hohe Inflationsraten festigten das Ansehen der Partei wenig. Zudem vernachlässigte sie die Israelis orientalischer Herkunft im Wahlkampf, wie sie es schon in ihrer früheren Politik getan hatte, während sich der Likud ihrer besonders annahm. Nicht zuletzt trugen die innere Zerrissenheit der IAP und ihre auch demografisch bedingte Führungskrise zum Ende der Dominanz von Mapai/IAP bei. Mit Golda Me’ir trat im April 1974 die letzte charismatische Persönlichkeit der Gründungsgeneration endgültig von der politischen Bühne der Arbeiterparteien ab. Der Übergang von einer charismatisch „natürlichen“ zu einer „gewählten“ Elite gelang nicht.
Dagegen verfügte der Likud mit Begin über einen ausstrahlungskräftigen Spitzenkandidaten, der außerdem das Charisma der Gründungsgeneration besaß. Insofern ließ das Ergebnis eine Nostalgie der Israelis erkennen, eine Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ der Gründungsepoche, als es zwar auch Sicherheitsprobleme gab, aber ein Grundkonsens über Ziele und Landesgrenzen des Judenstaates bestand und Israels Gesellschaft keine Identitätskrise durchmachte. Diese Identitätskrise wurde in erster Linie durch die Ergebnisse des Sechs-Tage-Krieges ausgelöst und führte dazu, dass die Frage nach dem Charakter und den Grenzen des Staates erneut grundsätzlich gestellt wurde (vgl. Politische Geografie im Abschnitt zu den Geschichtlichen Rahmenbedingungen). Wollte man das historische „Eretz Israel“? Wenn ja, welches? Wie sollte man die Araber dort behandeln? Müssten sie die israelische Staatsbürgerschaft erhalten? Würde dabei nicht der jüdische Charakter Israels verloren gehen? Behandelte man sie freilich nicht als ebenbürtige Staatsbürger, würde man die Demokratie in Israel abschaffen. Zionismus oder Demokratie? Gäbe man alle Gebiete zurück, wäre dann Israels Sicherheit gefährdet?
Auf diese für die Zukunft des Staates zentralen Fragen konnte die Arbeitspartei seit 1967 keine eindeutigen Antworten geben, schlimmer noch, sie vertrat keine eindeutige Linie. Die Identitätskrise der israelischen Gesellschaft, die Legitimitätskrise der dominanten Partei und ihrer Führung, die Partizipationskrise, d.h. die Anfechtung der traditionellen Regierungsweise durch Elitenkartelle, die Integrationskrise der Gesellschaft, also die Polarisierung zwischen afro-asiatischen und euro-amerikanischen Israelis sowie die damit verbundene Distributionskrise, das Gefälle zwischen arm und reich, führten zum Regierungswechsel in Israel und bestätigten 1981 den Likud im Amt. Die Wahlen vom 17. Mai 1977 waren „kritische“ Wahlen, d.h. sie führten zu tiefgreifenden Veränderungen der Machtverhältnisse.
Die Wahlen vom 30. Juni 1981 besiegelten das Ende der Dominanz der IAP im Parteiensystem, dessen entscheidendes Merkmal jetzt der Wettbewerb zwischen zwei fast gleich starken Gruppierungen wurde. Jede konnte die andere ablösen. Die Wahlen zur Zehnten Knesset fanden vorzeitig statt, da die 1977 gebildete Koalition allmählich zerfiel. Vor allem die DBV löste sich in diverse politische Bestandteile auf. Bemerkenswert ist, dass sowohl zeitlich als auch inhaltlich die Regierungskrisen und Spaltungen in den Koalitionsparteien mit Problemen der Friedenspolitik (Sadat-Initiative 1977) zusammenhingen. Der Friedensdialog führte besonders in den Regierungsparteien zu Zerreißproben.
Gleichzeitig verschärften die Auseinandersetzungen über die Wirtschaftspolitik die Krisen. 1981 erreichte Israel den Jahresweltrekord für Inflation. Ausgerechnet der Religionsminister[54] Aharon Abuchatzira (NRP) wurde wegen Betrugs und Korruption angeklagt. Die Siedlungspolitik, „Frieden auf Sparflamme“ bzw. „Frieden auf Probe“ mit Ägypten, ständige Arbeitskämpfe, letztlich die „Ma’arachisierung“ des Likud sowie Israels zunehmende außenpolitische Isolierung führten zu einem Meinungstief für die Koalition. Die Wende kam im Januar 1981, als der neue Finanzminister Joram Aridor seine populistische Finanzpolitik einleitete. Die Raketenkrise im Libanon (April), die Attacken Begins am 3. Mai 1981 auf Bundeskanzler Helmut Schmidt und Frankreichs Präsident Giscard d’Estaing sowie nicht zuletzt die Zerstörung des Atomreaktors bei Bagdad steigerten die Popularität des Likud-Blocks. Nicht zuletzt setzte der Likud auf die orientalischen Israelis, was zu einer nie gekannten „ethnischen“ Polarisierung in Politik und Gesellschaft führte.
Der Wahlkampf begann 1984 mit dem Rücktritt von Ministerpräsident Begin, der am 28. August 1983, unmittelbar vor dem angekündigten Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl, bekanntgegeben wurde. Der neue Ministerpräsident, Jitzchak Schamir, musste sich zunächst in seiner eigenen Partei gegen Mitbewerber behaupten. Im September 1983 setzte er sich in einer geheimen Abstimmung des Zentralkomitees der Cherut-Partei gegen den prominentesten Politiker marokkanischer Herkunft, David Levy, durch und wurde für das Amt des Ministerpräsidenten nominiert. Nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten war er jedoch nicht in der Lage, die vom neuen Finanzminister Jigael Cohen-Orgad vorgeschlagenen Sparmaßnahmen politisch durchzusetzen. Sein Vorgänger Aridor, der entlassene Finanzminister, tat alles, um die Finanz- bzw. Sparpolitik seines Nachfolgers zu torpedieren. Beide gehörten übrigens zur Cherut-Partei.
Auch in der Regierungskoalition, nicht nur in der Cherut, war die Sparpolitik umstritten. Die vor allem von Israelis orientalischer Herkunft unterstützte Tami-Partei des ehemaligen Religionsministers Abuchatzira widersetzte sich den Sparmaßnahmen, die diese ohnehin schon wirtschaftlich schlechter gestellte Bevölkerungsgruppe besonders hart getroffen hätte. Abuchatzira hatte mit der NRP gebrochen. Er war 1982 zu drei Monaten Gefängnis wegen Korruption verurteilt worden – der erste israelische Minister, der während seiner Amtszeit, damals allerdings als Sozial- und Arbeitsminister, eines derartigen Vergehens überführt und verurteilt wurde.
Nicht nur der neue Finanzminister kämpfte gegen seinen „Parteifreund“. Auch Verteidigungsminister Mosche Arens wurde wiederholt von seinem Vorgänger Ariel Scharon, seit Anfang 1983 Minister ohne Geschäftsbereich, beide Cherut, kritisiert. Scharon drängte auf eine „härtere“ Politik im Libanon und in den besetzten Gebieten.
Agudat Israel verlangte eine Verschärfung der religiösen Gesetzesbestimmungen, die das Reform- und konservative Judentum, nicht zuletzt in den USA, hart getroffen hätte. Dagegen erhob die Liberale Partei im Likud Einspruch. Es kriselte in der Koalition, die schließlich zerbrach. Die Knesset wurde vorzeitig aufgelöst. Für das Amt des Ministerpräsidenten nominierte die Cherut erneut Schamir, der sich mit 60% gegen 40%, die für Scharon stimmten, vergleichsweise knapp im Zentralkomitee durchgesetzt hatte. Ein geschlosseneres Bild lieferte die Arbeitspartei. Die Rivalität zwischen Peres und Rabin wurde zeitweise begraben, und der beliebte frühere Staatspräsident Jitzchak Navon sorgte ebenso wie der einstige Generalstabschef Chaim Bar-Lev für die politische Anziehungskraft des „Führungsquartetts“.
Drei Themen beherrschten den Wahlkampf 1984:
1)Die Wirtschaft. Die IAP verlangte Einsparungen im Verteidigungshaushalt und in der Siedlungspolitik; sie drängte im Zusammenhang mit den vorgesehenen Einsparungen auf den Rückzug der israelischen Streitkräfte aus dem Libanon.
[55]2)Einig waren sich der Likud sowie die mit ihm verbündeten Parteien und die IAP mit ihren Partnern in Bezug auf die Notwendigkeit eines israelischen Rückzuges aus dem Libanon. Das „Was“ war nicht umstritten, wohl aber das „Wie“.
3)Die Siedlungspolitik war ein weiterer Stein des Anstoßes. Der Arbeiterblock war bereit, bestehende Siedlungen hinzunehmen, weitere Aktivitäten sollten jedoch auf diesem Gebiet „eingefroren“ werden. Dies galt besonders für Vorhaben in Ballungszentren der arabischen Bevölkerung im Westjordanland. Weitere Siedlungen, sofern sie überhaupt gebaut werden sollten, müssten, so die IAP, von sicherheitspolitischen, nicht von ideologischen Überlegungen geprägt sein. Die Siedlungspolitik, besonders in den arabischen Ballungszentren, würde langfristig den jüdischen Charakter des jüdischen Staates gefährden, argumentierten der Arbeiterblock und die mit ihm verbündeten Parteien. Warum, so konterten der Likud und die mit ihm zusammenarbeitenden Gruppierungen, könnten sich Juden in New York oder Los Angeles, nicht aber im „Land der Väter“ niederlassen?
Tabelle 7: Traditionelles Schema der politischen Lager und ihrer wichtigsten Parteien*
Arbeiter- bzw. Linksparteien | Bürgerliche bzw. rechte Parteien | Religiöse Parteien | |
Größte Partei (traditionell) | Mapai (1930) = sozialdemokratisch; Arbeitspartei (1968; aus Mapai, Achdut Ha-Avoda, Rafi) | Cherut (1948) = nationalistisch. Seit 1988 mit der Liberalen Partei: Likud | Nationalreligiöse Partei (1956 NRP; vorher: Ha-Po‘el Ha-Mizrachi + Mizrachi) = gemäßigt religiös |
Wichtige Parteien | Mapam (1948) = linkssozialistisch; Achdut Ha-Avoda (1944) sozialistisch; Rafi (1965) rechtssozialdemokrat.; Kommunisten (1919, KP) Neue Kommunistische Liste (1965; NKL) = Moskauorientiert | Allgemeine Zionisten (1948; AZ); Liberale Partei (1965) = rechtsliberal; Progressive Partei (1948; PP); Unabhängige Partei (1965; UL) = linksliberal; Von 1961–65 AZ + PP als vereinigte Liberale Partei; Techija (1979); Kadima (2005) | Agudat Israel (1912; AI) = orthodox; Po‘ale Agudat Israel (1925; PAI) = orthodox-sozial; Degel Ha-Thora (1988; DT) = orthodox; Schass (1983/84) orientalisch-orthodox. Seit 1988 größte religiöse Partei |
„Block“** | Kleiner Ma’arach (1965; Mapai, Achdut Ha-Avoda); Großer Ma’arach (Arbeitspartei; Mapam 1969–84; 1981 bis 1987 mit UL; 1984 bis 1987 IAP, UL, Weitzman) | Gachal (1965; Cherut, Liberale) Likud (1973; Gachal mit 3 kleineren Parteien; seit 1982 praktisch wieder nur Cherut + Liberale) | Vereinigte Thora-Front (1992 und 1995; AI, PAI und DT) |
* in Klammern das Gründungsjahr
** in einem „Block“ besteht die organisatorische Eigenständigkeit der einzelnen Parteien fort. Sie präsentieren eine einzige Kandidatenliste bei Wahlen und bilden eine Fraktionsgemeinschaft in der Knesset oder in Kommunalvertretungen.
[56]Während des Wahlkampfes waren die Umfragen für den Arbeiterblock außerordentlich günstig. Diese Prognosen schienen nicht zuletzt deswegen so überzeugend, weil der Likud erstmals ohne seinen charismatischen Spitzenkandidaten, Menachem Begin, antreten musste. Der frühere Ministerpräsident hatte sich aus dem politischen Leben völlig zurückgezogen und mischte sich nicht, nicht einmal durch Wahlaufrufe zugunsten seiner Partei, in den Wahlkampf ein.
Es kam anders, als die Meinungsforscher vorhergesagt hatten. Durch die Wahlen vom 23. Juli 1984 entstanden zwei fast gleich starke Blöcke, die sich gegenseitig außer Gefecht setzen konnten: Die Arbeitspartei und der Likud mit ihren jeweiligen Partnern. Die „Linke“ (Arbeiterblock, Bürgerrechtsbewegung, Schinui, Neue Kommunistische Liste, Progressive Liste für den Frieden und Arie Eliav) hatten 45,8% der gültigen Stimmen errungen. Verglichen mit 1981 waren dies 1,3% mehr. Damals, 1981, zählten zu dieser Gruppierung der Arbeiterblock, Schinui, die Neue Kommunistische Liste, die Bürgerrechtsbewegung, Schelli und die Unabhängigen Liberalen. Die „Rechte“ (Likud, Techija) kam 1984 auf 35,9%, während sie 1981 noch 40,7% errungen hatte.
Sowohl 1981 als auch 1984 wurde die „Mitte“ zerrieben. 1981 kam Telem (Dajan-Partei) auf 1,6%, und 1984 errangen die Parteien von Jig‘al Hurvitz (Ometz) und Ezer Weitzman (Jachad) 3,4%.
Stabil blieb dagegen das religiöse Lager, wo sich nur interne Veränderungen ergeben hatten. Die religiösen Parteien (zu denen 1984 auch Tami, Morascha, Schass und Kach gerechnet werden müssen) errangen 1981 11,4% und 1984 13%. Ohne Rabbiner Kahane, den man auch der Rechten zuordnen kann, waren es 11,8%.
„Restparteien“ verbuchten 1984 2,3%. 1981 waren es 1,4%. Das wichtigste Ergebnis vom Juli 1984 bestand wohl darin, dass der Likud an die eher rechtsnationalistischen Parteien Stimmen verlor, der Arbeiterblock an die Linksliberalen abgeben musste.
Die Wende im Wahlkampf, d.h. das Abwenden der „Katastrophe“, die dem Likud vorhergesagt wurde, kam ungefähr vier Wochen vor dem Wahltag. Die Wahlgeschenke hatten sich offensichtlich bezahlt gemacht.
Sechs religiöse Parteien kamen in die Knesset: Die NRP (Verlust von zwei Mandaten), Schass, die sich 1983 von der Agudat Israel getrennt hatte und mit Hilfe von orientalisch(marokkanisch-)orthodoxen Wählern vier Mandate errang, die Agudat Israel (Verlust von zwei Sitzen), Morascha (eine Vereinigung von früheren NRP-Falken und den Po‘ale Agudat Israel), die ebenfalls auf zwei Parlamentarier kam, Abuchatziras Tami, die zwei von ihren drei Sitzen verlor, sowie Rabbiner Kahane mit der Partei der „Super-Falken“, Kach. Diese Partei war zu Beginn des Wahlkampfes von der Zentralen Wahlkommission ebenso wie die arabisch-jüdische Progressive Liste für den Frieden nicht zugelassen worden. Der Oberste Gerichtshof hob diese Entscheidung auf, so dass beide Parteien erfolgreich kandidieren konnten.
Die 1984 gebildete Große Koalition unter der wechselnden Führung von IAP (Peres) und Likud (Schamir) erreichte eine beachtliche Stabilisierung, wenngleich keine vollständige Sanierung der Wirtschaft. Außerdem zog sich Israel aus dem Libanon weitgehend zurück. Ob beides einer anders zusammengesetzten Koalition gelungen wäre, bleibt fraglich.
Ab 1986 gab es allerdings ständig Streit in der Regierung. Immer wieder spekulierte man über vorgezogene Neuwahlen, doch dazu kam es nicht.
Die koalitionsinternen Streitigkeiten bezogen sich auf drei Themen, die 1988 auch den Wahlkampf bestimmten:
[57]1)Die Zukunft der besetzten Gebiete
2)Die Frage einer internationalen Friedenskonferenz zur Lösung des israelisch-palästinensisch/arabischen Konfliktes
3)Die Rolle der Histadrut (Gewerkschaft) in Israels Wirtschaft.
Die Frage nach der Zukunft der besetzten Gebiete stellte sich seit Ausbruch der Intifada (9. Dezember 1987) dringender denn je. Die IAP wollte zwar nicht alle, doch sehr große Gebiete an Jordanien zurückgeben. Doch König Hussein von Jordanien hatte Ende Juli 1988 kategorisch eine Wiedereingliederung der Gebiete in seinen Staat abgelehnt. Der IAP fehlte jeglicher Partner, und mit der PLO wollte sie nur sprechen, wenn diese unzweideutig Israels Existenzrecht anerkennen und auf Terrorakte verzichten würde. Hierzu war die PLO jedoch erst im Dezember 1988, also nach den israelischen Wahlen bereit.
Nur durch eine Rückgabe der Gebiete könne der jüdische Charakter des jüdischen Staates bewahrt werden. Andernfalls würde Israel ein jüdisch-arabischer, also ein bi-nationaler Staat. Langfristig würden die Juden eine Minderheit. Das habe der Zionismus nie gewollt. „Ohne jüdische Mehrheit keine Sicherheit. Und mit Gebieten keine jüdische Mehrheit!“ erklärte der IAP-Vorsitzende Peres.
Der Likud konterte: „Ohne Gebiete keine Sicherheit!“
Die IAP akzeptierte eine Vermittlerrolle der Großmächte auf einer internationalen Konferenz. Eine derartige Zusammenkunft war aus ihrer Sicht zudem eine Art innenpolitisches Alibi für gemäßigte arabische Politiker. Der Likud stemmte sich gegen eine Beteiligung der Sowjetunion und der Volksrepublik China, da beide Staaten keine diplomatischen Beziehungen zu Israel unterhielten und parteilich seien. Als Vermittler schieden sie daher aus.
Die mit der IAP eng verflochtene Histadrut (Gewerkschaft) hatte seit Jahrzehnten an Ansehen eingebüßt. Ihre angeschlagenen Wirtschaftsunternehmen standen nun vor dem Bankrott. Das nutzte der Likud. IAP und Histadrut seien nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Politik bankrott. Die Histadrut-Unternehmen seien aufzulösen, die Rolle der Gewerkschaft müsse eingeschränkt werden.
Das Ergebnis vom 1. November 1988 stärkte die religiösen sowie die linken und rechten Randparteien. Dabei war Kach, der extremen rechten Partei von Rabbiner Kahane vom Obersten Gerichtshof eine Teilnahme an den Wahlen verboten worden.
Je ein Drittel entschied sich für den Likud, die IAP und die übrigen Parteien. Im Vergleich zu 1984 konnte sich der Likud behaupten, und die IAP verlor. Weder der Likud noch die IAP waren aufgrund des Ergebnisses in der Lage, eine kleine Koalition unter eigener Regie zu bilden. Wieder musste die Große Koalition die Pattsituation überwinden. Weil die israelische Gesellschaft in zwei fast gleich große ideologische Lager gespalten blieb, gab es keine Alternative.
Im März 1990 zerbrach die Große Koalition. Nach ständigem Hickhack in der Regierung hatte IAP-Chef Peres geglaubt, Schass und vielleicht auch andere religiöse Parteien für eine kleine, von ihm geführte Koalition gewinnen zu können. Eine Fehlkalkulation mit zwei Folgen: Erstens wurde im Juni 1990 eine kleine Koalition vom Likud mit Schamir an der Spitze gezimmert. Zweitens büßte Peres in seiner Partei als ewiger Verlierer noch mehr Ansehen ein. Auch deshalb bestimmten am 19. Februar 1992 die IAP-Mitglieder Rabin zu ihrem Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten. Bei dieser ersten Direktwahl in der Geschichte israelischer Parteien erhielt Rabin 38.646 Stimmen (40%), auf Peres entfielen 32.868 (34%), auf Histadrut-Chef Israel Kessar 18.984 (20%) und auf Ora Namir 5.148 Stimmen (5%).
[58]Die kleine Koalition Schamirs konnte im Februar 1991 um Rechav‘am Ze‘evis Moledet erweitert werden. Sie zerbrach jedoch als Folge der Friedensverhandlungen, die im Spätherbst 1991 begannen (Konferenz von Madrid). Techija und Rafael Eitans Tzomet verließen die Regierung. Schließlich einigten sich Likud und IAP auf vorgezogene Neuwahlen.
Der Wahlkampf 1992 kreiste um zwei große Themen:
1)Die Zukunft der besetzten Gebiete
2)Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit
Beide Themen waren miteinander verknüpft. Der nationalistisch-religiöse Block unter der Führung des Likud hatte seit 1977 stets behauptet: Siedlungspolitik und Sozialpolitik wären möglich. Mit einem nüchternen Blick in den Geldbeutel erkannten Anfang der 90er Jahre die Israelis: „Siedlungspolitik oder Sozialpolitik? Das ist hier die Frage.“ Der Wahlausgang gab die Antwort: Ohne oder gar gegen die Arbeitspartei war in der neuen Knesset eine Koalition so gut wie unmöglich. Nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen den politischen Lagern verschoben sich die Gewichte zugunsten der IAP sowie der ihr nahestehenden Parteien. Innerhalb des „linken“ Lagers war die Meretz-Liste besonders erfolgreich. Drei Parteien bildeten diesen „Block“: die Bürgerrechtsbewegung von Schulamit Aloni und Jossi Sarid; die Schinui des Verfassungsrechtlers Professor Amnon Rubinstein und die linkssozialistische Mapam. Innerhalb der Rechten gewann Tzomet, die Partei von Ex-Generalstabschef Eitan, erheblich. Großer Verlierer war Techija, die sich 1979 vom Likud getrennt hatte.
Das Bild bei den Religiösen: Die Nationalreligiösen verbesserten sich zur allgemeinen Überraschung. Warum Überraschung? Weil diese Partei zunehmend zur religiösen Verlängerung des Likud geworden war. Schass blieb trotz aschkenasisch-orthodoxer Attacken und diverser Korruptionsaffären stabil. Die Vereinigte Thora-Front gehörte eher zu den Verlierern, wenn man das Ergebnis ihrer Einzelparteien (Agudat Israel, Degel Ha-Thora sowie, immer noch eigenständig organisiert, Po‘ale Agudat Israel) aus dem Jahre 1988 zugrunde legt.
Bei den arabischen Wählern verloren die Kommunisten, dafür gewann die Arabisch Demokratische Partei.
Der Wahlkampf 1996
Ursprünglich sollten die Wahlen des Jahres 1996 erst im November stattfinden. Sie wurden jedoch vorgezogen. Nach der Ermordung von Ministerpräsident Rabin durch Jigael Amir, einen nationalreligiös-jüdischen Friedensgegner am 4. November 1995, profitierten sein Nachfolger Peres und dessen IAP vom Mitleids- und Solidarisierungseffekt gegenüber dem Rabin-Lager. Deshalb strebte Peres vorgezogene Neuwahlen an. Er bekam sie – und verlor.
Im Mittelpunkt des Wahlkampfes stand die Fortsetzung der von Rabin und Peres 1992 eingeleiteten Friedenspolitik, die zu Abkommen mit der PLO und dem Königreich Jordanien sowie zur internationalen und regional-nahöstlichen Aufwertung und vor allem Anerkennung Israels geführt hatte.
Die IAP sprach sich im Wahlprogramm erstmals nicht mehr gegen die Gründung eines Palästinenserstaates aus. In Bezug auf den Golan wurde die politische stärker als die militärische Bedeutung hervorgehoben. Peres und die IAP setzten auf einen „einschläfernden Wahlkampf“. Die Parteiführung schlief, Opposition und Wähler nicht. Die IAP versäumte, abgesehen von der Friedenspolitik, ihre erfolgreiche Außen- und Wirtschaftspolitik sowie die erstaunliche Integration hunderttausender Neueinwanderer aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion hervorzuheben.
[59]Der Likud attackierte zwar die Ergebnisse der Friedenspolitik von Rabin und Peres, doch Likud-Chef Netanjahu versprach, die bereits geschlossenen Verträge einzuhalten („pacta sunt servanda“).
Benjamin Netanjahu, der Likud und dessen religiöse Partner verdankten ihren Wahlsieg vom 29. Mai 1996 in erster Linie den islamistischen Terroristen der „Hamas“ und libanesischen „Hisbollah“ und damit nicht zuletzt dem Iran. Sie hatten seit Februar 1996 die Mehrheit der Israelis von der Hoffnung auf Frieden in die Angst gebombt. Daraufhin hatte sich der Abstand zwischen Peres und Netanjahu stetig verringert.
Das Ergebnis der Wahlen zeigte, wie sehr Israels Gesellschaft gespalten war, in Bezug auf Frieden, Araber, Religion sowie zwischen afro-asiatischen und euro-amerikanischen Juden.
97,5 % der Araber stimmten für Peres, doch 80.000 Araber gaben weiße Zettel ab – als Protest gegen „Früchte des Zorns“, die Militäraktion Israels gegen die südlibanesische Schiitenmiliz Hisbollah. 91% der ultraorthodoxen Juden wählten Netanjahu. Auch die orientalische Jugend entschied sich überwiegend für Likud und Netanjahu.
Der Wahlkampf 1999
Vier Themen beherrschten den Wahlkampf: Friedens-, Wirtschafts-, und Religionspolitik sowie der vermeintlich „trickreiche Charakter“ von Ministerpräsident Netanjahu.
[60]Tabelle 8: Wahlen zur Knesset 1949–1988
[61]
[62]Tabelle 9: Wahlen zur Knesset 1992–2015
[63]
* mit Nat. Einheit 2006; ** 2006 mit IAP; *** 2006 mit Likud; **** 2006 mit NRP; *****2013 mit Likud; ****** Zusammenschluss zu Ha-Bajit HaJehudi, + zusammen mit IAP (= Zionistisches Lager); ++ 2015 Wahlblock aus Chadasch, Balad, Ta’al und Islamische Bewegung; + + + siehe Vereinigte Liste
[64]1996 hatte Netanjahu „Frieden und Sicherheit“ sowie Arbeitsplätze versprochen. Der Friedensprozess stagnierte, obwohl im Januar 1997 das Hebron-Abkommen verwirklicht wurde. Zu weiteren Zugeständnissen rang sich seine Regierung in Dreiecksverhandlungen mit den Palästinensern und den USA durch (Wye-Abkommen). Aber genau daran zerbrach seine Koalition. Die Superfalken rebellierten.
Und Sicherheit? Es gab in der Netanjahu-Ära zweifellos weniger Terrorakte, aber eben auch keine wirkliche Sicherheit. Wegen des Stillstands im Friedensprozess drohte Israel nicht nur die vollständige außenpolitische Isolation. Da zudem auch die Wirtschaftsdaten enttäuschten, war die Niederlage Netanjahus absehbar.
Mit seinem „trickreichen Charakter“ hatte der Premier fast jeden gegen jeden ausgespielt – und war dabei selbst gestrauchelt. Schon seine Wirtschaftspolitik hatte besonders die orientalischen Likud-Wähler verprellt. Seine Personalpolitik war kaum geschickter. Er trieb David Levy, den profiliertesten Repräsentanten der „Likud-Marokkaner“, regelrecht aus dem Likud in die Arme der Arbeitspartei, deren Chef Barak mit Levys Gescher-Fraktion und gemäßigten Nationalreligiösen (Meimad) einen neuen „Block“ bildete: „Ein Israel“.
Den größten Wählerblock, die seit 1989/90 eingewanderten russischen Juden, hatte Netanjahu ebenfalls durch die massive Förderung orthodox-religiöser Forderungen gegen sich aufgebracht. Es ging dabei um erheblich Wichtigeres als die Frage, ob man in Israel mehr und auch offiziell Schweinefleisch kaufen könne. Vor allem nichtjüdische Ehe- und Lebenspartner der russischen Neuankömmlinge wurden durch die orthodoxen Behörden im Alltag drangsaliert und teilweise sogar des Landes verwiesen. Alteingesessene Israelis, die sich schon immer der „Vergewaltigung durch die Religiösen“ widersetzt hatten, fanden neue Verbündete.
[65]Tabelle 10: Knesset-Mandate, 1949–1988
[66]* September 1984: Mapam verlässt den Ma’arach mit sechs Abgeordneten. Drei Abgeordnete von Jachad (Weitzman) zum Ma’arach im August 1984. Ein Abgeordneter der Arbeitspartei vom Ma’arach zur Bürgerrechtsbewegung im September 1984.
(a) AH mit Mapam
(b) Mit den Arbeiterparteien schon vor dem Ma’arach verbunden
(c) Name der Liste: Vereinigte Arabische Liste (erstmals gab es nur eine einzige)
(d) Inkl. Mizrachi und Ha-Po‘el Ha-Mizrachi
(e) Vereinigte Religiöse Front
(f) Inkl. Gachal, Staatsliste, Großisrael-Bewegung
(g) Bis zur 4. Knesset „Allgemeine Zionisten“
(h) inkl. „Progressive Partei“
(i) Bis zur 4. Knesset „Progressive Partei“
(j) Schelli, inkl. Moket und Ha-Olam Haze (k). Bis zur 8. Knesset „Rakach“ (Neue Kommunist. Liste, NKL; bei den Wahlen zur 9. Knesset; inkl. Demokrat. Front für Frieden und Gleichheit (NKL). „Schwarze Panther“ (orientalische, sephardische Juden) sowie „unabhängige“ Juden und Araber.
Tabelle 11: Knesset-Mandate, 1992–2015
* mit Nat. Einheit 2006; ** 2006 mit IAP; *** 2006 mit Likud; **** 2006 mit NRP; ***** 2013 mit Likud; ****** Zusammenschluss zu Ha-Bajit Ha-Jehudi; + zusammen mit IAP (= Zionistisches Lager); ++ 2015 Wahlblock aus Chadasch, Balad, Ta’al und Islamische Bewegung; + + + siehe Vereinigte Liste
[67]Abbildung 8: Wahlergebnisse der großen Parteien, 1973–2015
Der Wahltag wurde zum Zahltag: Am 17. Mai 1999 erlebten Netanjahu und der Likud ein Wahldebakel – trotz der Wahlgeschenke, für die es plötzlich knapp eine Milliarde Schekel gab (vgl. Motti Bassok, Ha-Aretz, 7.5.1999).
Der Wahlkampf 2001
Viel hatte Barak versprochen, aber wenig erreicht, besonders in der Friedenspolitik. Im Sommer 2000 setzte er alles auf eine Karte – und verlor. Der von US-Präsident Clinton einberufene Gipfel mit Palästinenserchef Arafat scheiterte, und am 29. September brach der Aufstand der Palästinenser aus, die „Al-Aqsa-Intifada“.
Die Barak-Koalition war ohnehin schon auseinandergebrochen. Am 9. Dezember 2000 erklärte Barak seinen Rücktritt. Bei vorgezogenen Neuwahlen hoffte er gegen Ariel Scharon antreten zu können, dem Umfragen weniger Chancen einräumten als Likud-Ex-Premier Benjamin Netanjahu, der, weil nicht mehr Mitglied der Knesset, nicht kandidieren durfte. Am 18. Dezember 2000 änderte das Parlament jedoch diese Bestimmung aus dem GG „Regierung“. Netanjahus Forderung nach gleichzeitigen Neuwahlen zur Knesset fand dort aber keine Mehrheit. Besonders Schass fürchtete Verluste. So kam Scharon zum Zuge.
Gegen Barak wollte sein „Parteifreund“ Peres kandidieren. Dafür benötigte er die Unterschriften von zehn Parlamentariern. Die IAP hielt grollend zu Barak, die Meretz-Führung lehnte am 21. Dezember 2000 mit 25 gegen 17 Stimmen Peres’ Ansinnen ab, weil sie das Friedenslager nicht spalten wollte (International Herald Tribune, 22.12.2000).
Schass, NRP, das nationale Lager sowie die beiden russisch-jüdischen Parteien unterstützten im Wahlkampf vehement Scharon. Die arabischen Parteien empfahlen ihren Wählern, sich am Urnengang gar nicht erst zu beteiligen (Uri Nir, Ha-Aretz, 28.1.2001).
Der Ton des Wahlkampfes war äußerst ruppig und ideologisch. Rabbiner Ovadia Josef, das geistliche Oberhaupt der orthodox-marokkanischen Schass-Partei, nannte die Araber „Israels Schlangen“ und Barak einen „Judenhasser“, der durch seine weltliche Revolution die „Russen kaufen“ wolle (Ha-Aretz, 26.1.2001). Barak verkaufte sich mitten im Quasi-Krieg der Intifada als Friedensbringer und Scharon verteufelte den Premier, der angeblich den Ausverkauf Israels betrieb.
Diesem Ausverkäufer bot er nach seinem Wahlsieg dennoch das Verteidigungsministerium an. Das war der IAP-Führung zu viel. Sie betrieb das politische Aus von Barak. Dass
[68]Friedensnobelpreisträger Peres ins Kabinett des vermeintlichen Kriegstreibers Scharon drängte, verringerte die Politikerverdrossenheit der Israelis kaum.
Der Wahlkampf 2003
Die im März 2001 geschlossene Große Koalition war während der zweiten Intifada zerbrochen. Scharons Regierung der „Nationalen Einheit“ zerstritt sich „amtlich“ wegen des Siedlungsbudgets, tatsächlich wollte sich IAP-Chef Benjamin „Fuad“ Ben-Eliezer gegen seinen Parteirivalen Avraham Mitzna vor den parteiinternen Wahlen profilieren – und verlor.
Die IAP versuchte sich unter ihrem Spitzenkandidaten, dem Ex-General und Oberbürgermeister von Haifa Avraham Mitzna, als flexible Friedenspartei zu präsentieren, der von Scharon geführte Likud als einzige Partei, die „Sicherheit und Frieden“ erreichen könne. Sicherheitsfragen bestimmten bei 35% das Wahlverhalten, Wirtschaftsprobleme bei 12% und bei 36% der Wähler „andere Motive“ (Umfrage des israelischen Meinungsforschungsinstituts „Dialog“, Ha-Aretz, 3.1.2003). Der Likud siegte haushoch. Scharon konnte sich als Mann der Mitte präsentieren, Mitzna schien den meisten zu weich, Scharon hart und weich zugleich: Die Gründung eines Palästinenserstaates sei eine „ausgemachte Sache“, hatte er erklärt (Ha-Aretz, 14.11.2002) und sich dabei von seinem parteiinternen Rivalen Benjamin („Bibi“) Netanjahu auf der Rechten abgegrenzt, der ein solches Gemeinwesen strikt ablehnte. Im Kampf gegen den Intifada-Terror der Palästinenser setzten die Israelis auf den Scharon-Mix statt auf Mitznas Kuschel- oder Netanjahus Konfrontationskurs.
Der Wahlkampf 2006
Des einseitigen Rückzugs aus dem Gaza-Streifen wegen hatte sich der Likud im Jahre 2005 gespalten: Hier die Befürworter, angeführt von Scharon, dort die Gegner mit Netanjahu an der Spitze. Scharon gründete eine eigene Partei: „Kadima“. Ihr strömten Prominente aller Richtungen zu, besonders aus der IAP, allen voran Israels ewige Nummer Zwei, Schimon Peres. Er war darüber enttäuscht, dass ihn seine Partei nicht zum Spitzenkandidaten gewählt hatte und kehrte ihr den Rücken. Am 4. Januar 2006 erlitt der inzwischen enorm populäre Scharon einen Hirnschlag, er fiel ins Koma. Sein treuer Vasall, Ehud Olmert, zuvor Minister und Oberbürgermeister Jerusalems, rückte auf und legte in Umfragen deutlich zu, doch bis zum Wahltag am 28. März 2006 schmolz der Scharon-Bonus wieder zusammen, weil zunehmend zwischen dem „Meister“ und seinem Günstling unterschieden wurde. Als „Meister“ betrachte die Mehrheit Scharon, weil er erstmals in der Militärgeschichte im Kampf gegen die Intifada einen Anti-Guerilla-und-Terrorkrieg gewonnen und dabei Gewalt als Instrument der Friedenspolitik angewandt hatte, politisch unterfüttert durch die Perspektive „Land für Frieden“. Ironie der Geschichte: Den einseitigen Rückzug aus dem Gaza-Streifen hatte Mosche Dajan bereits 1979/80 und Mitzna 2003 vorgeschlagen. Beide Male hatte Scharon kategorisch widersprochen. Zweite, tragische Ironie: Die Formel hielt nicht, was sie versprochen hatte. Land hatte Israel zwar geräumt: im Jahr 2000 den Süd-Libanon, 2005 den Gaza-Streifen, im Frühjahr und Sommer 2006 hatte Olmert angekündigt, 95% des Westjordanlandes aufgeben zu wollen, um Frieden zu erreichen. Stattdessen regneten Hamas-Raketen aus dem Gaza-Streifen und Hisbollah-Geschosse aus dem Libanon auf Israel. Israel reagierte am 25. Juni 2006 mit einer Großaktion gegen die Hamas und am 12. Juli 2006 mit einem neuen Libanon-Krieg gegen die Hisbollah sowie gegen deren Schutzmächte Syrien und Iran. Im Frühjahr schien Frieden möglich, im Sommer tobte Krieg.
Noch im November 2005 hatte, Dachaf- und anderen Umfrageinstituten zufolge, das Hauptinteresse der Wähler der Sozialpolitik gegolten. Der neue IAP- und vorher langjährige Histadrut-Chef Amir Peretz personifizierte dieses Thema und wurde auch deshalb, gegen den Veteran Peres, neuer Vorsitzender der Partei. Zunehmend dominierte danach die Sicherheitspolitik[69] – zu Ungunsten der IAP. Der Likud erlebte unter Netanjahu ein Debakel, Israels Seniorenpartei war die Überraschung schlechthin.
Der Wahlkampf 2009
Erwartungsgemäß zerfiel die Kadima-Partei ohne Scharon. Auch Olmert, der zunehmend im Sumpf von Korruption und Scheitern unterging, konnte dies nicht verhindern. Die Militäreinsätze gegen die schiitisch-libanesische Hisbollah-Miliz (2006) und gegen die Hamas im Gazasteifen (Jahreswende 2008/09) wurden als politische Niederlagen wahrgenommen. Netanjahu kehrte an die Macht zurück. Der Likud hatte zwar ein Mandat weniger als (trotz allem) Kadima, aber koalitionspolitisch war der Likud, besonders den Religiösen gegenüber, flexibler.
Der Wahlkampf 2013
Vor allem wirtschaftlich hatte sich Israel nach der Finanzkrise 2008/09 hervorragend behauptet und obwohl als Falke geltend und wahrgenommen, hatte Netanjahu keine größeren Militäraktionen durchgeführt oder von außen abwehren müssen. Er überschätzte jedoch seine Popularität und schnitt am 23. Januar 2013 schlechter ab als erwartet. Die Fusion von Likud und Israel Beiteinu (Liberman-Partei „der Russen“) brachte nicht den erhofften Zuwachs. Die rechtsliberale Partei Jesch Atid („Es gibt eine Zukunft“) des TV-Journalisten Ja’ir Lapid war der große Gewinner. Er umwarb eine antireligiöse bürgerliche Zielgruppe. Wie 1977 und danach noch öfter stieg ein Komet auf. Wird er verglühen?
Der Wahlkampf 2014/2015
Auslöser des Bruchs der Koalition, der zu vorgezogenen Neuwahlen führte, war zum einen die Uneinigkeit über den Haushalt, vor allem aber die Absicht des Likud, den jüdischen Charakter des Staates gesetzlich zu zementieren. Die Minister Tzipi Livni („Die Bewegung“) und Ja’ir Lapid („Es gibt eine Zukunft“) sahen hierin eine Diskriminierung nicht-jüdischer, vor allem arabischer Bürger und stimmten im Kabinett dagegen. Daraufhin wurden sie von Netanjahu entlassen, und die Knesset löste sich im Dezember 2014 auf. Die IAP unter Jitzchak Herzog und Livnis „Bewegung“ schlossen sich im Dezember 2014 für die anstehenden Wahlen zum Block „Das zionistische Lager“ zusammen und vereinbarten, sofern gewählt, eine Rotation im Amt des Ministerpräsidenten.
Grundsätzlich standen vor allem wirtschaftliche Fragen im Vordergrund des Wahlkampfes 2014/2015. Jenseits koalitions- und parteitaktischer Überlegungen wurde zudem um die Frage gerungen, wie jüdisch kann und soll der jüdische Staat sein, bleiben, werden. Dies bezog sich sowohl auf die innerjüdischen Verhältnisse als auch auf die arabische Minderheit – und nicht zuletzt auf die Regional- bzw. Außenpolitik.
e)Wahlergebnisse, Wählerwanderung
Bis 1969 haben Stimmbezirksanalysen gezeigt, dass die Wählerwanderung sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht nur innerhalb der großen Wahlblöcke (Arbeiterblock, Bürgerblock, Religiöse), sondern auch zwischen ihnen vollzog (Diskin 1980: Kap. 5). Die Netto-Fluktuation zwischen den Blöcken war dabei bis einschließlich 1969 fast gleichbleibend, so dass die Größe der Wahlblöcke kaum schwankte. Dies zeigen die Tabellen 8 und 10.
Aufgeschlüsselte soziologische Daten zur Wählerfluktuation seit 1965 können ergänzend anderswo nachgelesen werden (Arian, Elections; Diskin 1982; Wolffsohn 1983: 452ff.). Hier nur so viel: Die im Lande Geborenen (Zabarim) erwiesen sich als besonders wanderfreudig, zeigten sich jedoch den bürgerlichen Parteien gegenüber verbundener. Die israelische[70] Jugend identifizierte sich weniger als ihre Väter mit der Epoche der Mapai/IAP. Die Söhne und Töchter fanden Staat und Partei „fertig“ vor, all das war nicht „ihr Werk“, so dass sie ohne politische Gewissensbisse zur Opposition überlaufen konnten.
1977
Auf die Wähler euro-amerikanischer Herkunft konnte sich die IAP traditionell mehr als auf die orientalischen Juden verlassen. 1977 fand der mengenmäßig bedeutsamste Wähleraustausch zwischen dem Arbeiterblock und Likud sowie Arbeiterblock und DBV statt; beides ging zu Lasten des Arbeiterblocks, doch auch der Likud musste Stimmen an die DBV abgeben.
1981
Likud und Ma’arach gelang es 1981 vor allem, frühere Wähler zurückzugewinnen. Die zusätzlichen Stimmen holte sich der Arbeiterblock bei ehemaligen DBV-Wählern, der Likud bei einstigen religiösen, wahrscheinlich nationalreligiösen Wählern. Diese beantworteten die Verweltlichung der NRP (Hinwendung zu allgemein-, wirtschafts- und siedlungspolitischen Fragen) sowie das gleichzeitige Entgegenkommen des Likud den Religiösen gegenüber auf ihre Weise: Sie liefen zum Likud über, der religiöse Werte ebenso wie siedlungspolitischen Aktivismus versprach. Likud und Ma’arach profitierten von Überläufern, verloren selbst aber nur wenige ihrer Wähler von 1977. Auch bei den Arabern gewann der Ma’arach zahlreiche Stimmen hinzu.
Dennoch trügt das Bild: Von denjenigen, die sich 1977 für den Likud entschieden hatten, wollten im Januar 1981 nur noch 22,5% wieder für ihn stimmen, 31,2% hatten vor, Ma’arach zu wählen (Diskin 1982: 58). Dem Likud gelang es demnach erst während des Wahlkampfes, seine einstigen Anhänger zurückzugewinnen. Entscheidend war die Bombardierung des Atomreaktors bei Bagdad (ebd.). Ganz anders dagegen das Verhalten der Ma’arach-Wähler von 1977: 83% hätten schon im Januar 1981 wieder für die Partei gestimmt (ebd.). Von den DBV-Wählern wollten sich im Januar 1981 nur 2,3% für den Likud entscheiden, tatsächlich wählten ihn am 30. Juni aber 14%.
1984
Weder Likud noch Ma’arach verfügen über politische Erbhöfe. Das Meinungsbild kann sich außerordentlich schnell verändern. 1984 konnten die folgenden Wählerströme festgestellt werden: Der Likud verlor die meisten seiner abgewanderten Wähler an die „reinere“ Techija. Ihnen war der Likud inzwischen zu „schwammig“ und kompromissbereit in seinen Aussagen geworden. Doch auch an Rabbiner Kahane und den Arbeiterblock gab der Likud Stimmen ab. Der Arbeiterblock seinerseits verlor an die „reineren“ Tauben von der Bürgerrechtsbewegung Schinui und Arie Eliav, der allerdings nicht ins Parlament gelangte. Auch Weitzmans Partei Jachad und die Progressive Liste für den Frieden konnten ehemalige Wähler des Arbeiterblocks an sich ziehen.
Die NRP verlor die meisten ihrer Wähler aus dem Jahre 1981 an die Partei von Rabbiner Chaim Drukman (Morascha), der sich von der NRP wegen der seiner Meinung nach zu nachgiebigen Grundlinie getrennt hatte. Auch an Techija sowie an die orthodox-orientalische Schass verlor die Nationalreligiöse Partei. Schass wiederum wurde von 46% der Agudat-Israel-Wähler des Jahres 1981 unterstützt. Auch Abuchatziras Tami-Partei musste an Schass, weniger an Likud, Jachad und den Arbeiterblock abgeben.
Auf Jung- und Neuwähler wirkten folgende Parteien 1984 besonders anziehend: Techija, Bürgerrechtsbewegung, Schinui und Kach, auch Agudat-Israel, Morascha und Ometz. Diese Tatsache lässt sich anhand der Ergebnisse in den Streitkräften ablesen, wo Techija [71]9,7% auf sich vereinigte (landesweit 3,7% im nicht-militärischen Bereich); Schinui 4,2% (gegenüber 2,6% im nicht-militärischen Bereich); Bürgerrechtsbewegung 3,3% (gegenüber 2,3%), Agudat-Israel 4,5% (gegenüber 1,6%), Morascha 2% (gegenüber 1,6%), Ometz 3,4% (gegenüber 1%) – und Kach 3% (gegenüber 1,1%).
Zahlreiche Wechselwähler waren orientalischer Herkunft. Sie wanderten vornehmlich zu Techija, Likud und Kach, weg vom Arbeiterblock. Israelis euro-amerikanischer Herkunft wechselten zu den Bündnispartnern des Arbeiterblocks (Schinui, Bürgerrechtsbewegung, Jachad) doch auch zu Techija; auf jeden Fall wanderten sie vom Likud ab. In dieser Gruppe der Wechselwähler euro-amerikanischer Herkunft fand man viele derjenigen wieder, die 1977 für die demokratische Bewegung für Veränderung (DBV) gestimmt hatten. Einige von ihnen hatten ihre politische Wanderung 1965 begonnen, als sie von der Mapai zu Ben-Gurions Rafi, 1969 zur Staatsliste und 1973–2015 zur Bürgerrechtsbewegung wechselten
Grundlegend bleibt für 1984 die Tatsache, dass der Wählerwechsel ungefähr vier Wochen vor der Wahl stattfand, ja sogar noch am Wahltag selbst.
Die arabischen Wechselwähler kamen vor allem der neu gegründeten Progressiven Friedensliste zugute. Sie wanderten von der Neuen Kommunistischen Liste/Demokratische Front für Frieden und Fortschritt (DFF) ab. Zur Progressiven Friedensliste wechselten auch Araber, die 1981 den Arbeiterblock oder Minderheitenlisten gewählt hatten. Die Verluste des Arbeiterblocks unter den Arabern nutzten auch Schinui und Weitzmans Partei Jachad.
1988
Likud und IAP gelang es 1988, den größten Teil ihrer früheren Wähler zu halten. Die rund 180.000 Jung- und Neuwähler entschieden sich allerdings im Verhältnis von 2,5 zu 1 für den Likud sowie die ihm nahestehenden religiösen Parteien und nicht zugunsten der IAP.
Wieder zeigen die Ergebnisse im Militär die Anziehungskraft der rechten und religiösen Parteien auf die jüngeren Wähler: Der Likud stieg von 32% im Jahre 1984 auf 35%. Das landesweit erzielte Ergebnis lag bei 31%. Die rechtsnationale Techija fiel zwar von 9,7% auf 8,9%, doch die Tzomet-Partei von Ex-Generalstabschef Eitan, der Araber einmal als „Küchenschaben“ bezeichnet hatte, kam auf 4,8% (landesweit 2,0%). Moledet, die Liste von Ex-General Ze‘evi, der einen „Transfer“ der Palästinenser aus den besetzten Gebieten in arabische Staaten forderte (s. C/VI/2e), kam auf 2,2% (landesweit 1,9%).
Sofern orientalische Juden ihre vorherige Wahlentscheidung änderten, wechselten sie vom Likud eher zu den religiösen Parteien, die sich deshalb in den Entwicklungsstädten (s. C/VI/1i) von 13% auf 21% verbesserten. Der rechte Likud blieb hier weitgehend stabil, verlor aber auch an die extrem rechten Parteien. IAP und die ihr nahestehenden Parteien verloren hier vornehmlich an die religiösen, etwas an die rechten Parteien.
Die rechte Tzomet zog diejenigen Ex-IAP-Wähler in landwirtschaftlichen Genossenschaften des Nordens an, die weder für den Likud noch religiös stimmen wollten. Das ist nicht erstaunlich, denn Tzomet-Chef Eitan war selbst Mitglied eines Moschaws im Norden des Landes (Tel Adaschim). Im Süden, wo mehr orientalische Juden leben, war er weniger erfolgreich. In den Grenzstädten und -siedlungen des Nordens (zum Beispiel in Kirjat Schmona) zog Eitan frühere Likud- und Techija-Wähler auf seine Seite.
In den Städten lebende, eher rechts stehende Mittelständler euro-amerikanischer Herkunft, die nicht mehr Likud oder Techija wählten, wechselten eher zu Moledet als zu Tzomet, die ein teilweise agrarisch-militärisches Image präsentierte.
Die IAP gab an die linksliberale Bürgerrechtsbewegung sowie an die Mapam ab.
Arabische Wechselwähler gingen von den Kommunisten und der IAP vor allem zu einer arabischen Liste.
[72]1992
Bei den Wahlen des Jahres 1992 waren Neuwähler wichtiger als Wanderwähler. Mitentscheidend waren die Stimmen der Neueinwanderer aus der Ex-Sowjetunion. Allen früheren Voraussagen zum Trotz wählten sie mehrheitlich nicht rechts, sondern „links“, weniger aus ideologischer Überzeugung, denn aus Unzufriedenheit mit ihrer wirtschaftlichen Lage unter der Likud-Regierung. Ungefähr die Hälfte dieser Neubürger wählte die IAP.
Die Wähler wanderten 1992 innerhalb und zwischen den „Lagern“. Der Likud verlor bei fast allen Gruppen an die IAP, doch auch an die Tzomet. Junge, nichtreligiöse Neuwähler unter den Zabarim euro-amerikanischer Herkunft favorisierten überproportional entweder die linke Meretz oder die rechte Tzomet. Die extrem nationalistische Techija verlor überwiegend an die Nationalreligiösen, doch auch an Tzomet und Moledet. Die Wählerwanderung innerhalb des rechten, nationalistischen Lagers kam also besonders Tzomet zugute.
Die arabischen Israelis wanderten meistens von der Neuen Kommunistischen und der Progressiven Friedensliste zur Arabischen Demokratischen Partei oder auch zur zionistisch-jüdischen IAP und sogar zur orthodox-jüdisch-marokkanischen Schass. Weshalb ausgerechnet Schass? Weil der Innenminister ein Mitglied von Schass war. Der Innenminister ist derjenige, der den Geldhahn für Kommunen auf- oder zudrehen kann.
1996
Die Tatsache, dass israelische Wähler am 29. Mai 1996 zum ersten Mal zwei Wahlumschläge erhielten, nämlich einen für den Ministerpräsidenten und einen für die Knesset, eröffnete die Möglichkeit, wie es Vertreter der NRP propagierten, „eine Stimme vom Kopf und eine Stimme vom Herzen“ abzugeben (Herb Keinon, Jerusalem Post, 01.06.96), und förderte die Wählerwanderung besonders stark. Dies ging auf Kosten der großen Parteien und begünstigte vor allem die kleinen religiös und „ethnisch“ orientierten Parteien.
Während Likud und Tzomet 1992 zusammen noch 31% der Stimmen erhielten, kam der Likud-Gescher-Tzomet Block 1996 auf nur 25%. Bei der Stimmabgabe für den Ministerpräsidenten wählten religiöse Juden fast geschlossen (in den von religiösen Juden dominierten Städten zu 89%) Benjamin Netanjahu, steckten aber den Wahlzettel für „ihre“ religiöse Partei in den Umschlag für die Knesset. Der Anteil der religiösen Parteien insgesamt wuchs von 14% (1992) auf 19,5%. Der Trend wurde verstärkt, indem sich Schass als einzige völlig selbständige Partei orientalischer Juden präsentieren konnte (David Levys Gescher war wieder Teil des Likud-Blocks geworden).
Ebenso musste das „Arbeiterlager“ Verluste hinnehmen. 1992 kamen IAP und Meretz zusammen auf 44% aller gültigen Stimmen. 1996 waren es nur 34%. Wohin wanderten die 10%?
Während die russischen Neueinwanderer 1992 bei der IAP zu finden waren, bot sich jetzt mit Israel Ba-Alija (ein hebräisches Wortspiel, was so viel heißt wie: „Israel in der Einwanderung“ und zugleich „Israel im Aufstieg“) des ehemaligen Sowjetdissidenten Natan Scharanskij eine eigene „ethnische“ bzw. landsmannschaftliche Alternative an. Bei der Wahl des Ministerpräsidenten entschieden sich 70% für Netanjahu, nur 30% für Peres. Für die Parteien ergab sich dieses Bild: Israel Ba-Alija erhielt 43%, Likud und Moledet 26%, Religiöse 13%, IAP und Meretz 12%, andere 6%. (Akiva Eldar, Ha-Aretz, 18.5.1999).
Israels Araber entschieden sich mit der überwältigenden Mehrheit von beinahe 98% für Peres, kehrten aber sonst den zionistischen Parteien des „Arbeiterlagers“ den Rücken. Die arabischen Israelis machten 10% der Wählerschaft aus. Bei den Knesset-Wahlen 1996 erhielten die beiden arabischen Blöcke, Chadasch (NKL) und Vereinigte Arabische Liste (ADP),[73] insgesamt über 7% aller Stimmen (gegenüber nur 4% 1992). Somit gelang es den arabischen Parteien am besten, „ihr“ Wählerpotential auszuschöpfen.
1999
Nie zuvor war die Parteienlandschaft so zersplittert wie nach den Wahlen vom 17. Mai 1999. 15 Parteien schafften den Sprung in die Knesset. Gleich nach der Regierungsbildung waren es 16, weil zwei Abweichler der russisch-jüdischen Israel Ba-Alija in keine Koalition mit den Religiösen eintreten wollten und daher ihre Abspaltung von der Mutterpartei ankündigten. Die einst großen Parteien waren noch kleiner geworden und die kleinen größer. Selbst die siegreiche Arbeitspartei musste dramatische Einbußen hinnehmen. Außerdem war sie in der Listenverbindung („Block“) Ein Israel mit David Levys Gescher (zuvor im Likud) und Meimad (einer Absplitterung der Nationalreligiösen) nicht mehr die IAP pur.
Eindeutig schien die Wahl des Premiers: Barak gewann mit 56,1%, Netanjahu erhielt 43,9% der Stimmen.
Weniger eindeutig erscheint Baraks Sieg im Hinblick auf die jüdischen Wähler des Jüdischen Staates. Hier war sein Vorsprung mit 51,5% gegen 48,5% erheblich knapper. Die jüdische Gesellschaft Israels blieb immer noch ganz erheblich gespalten. Barak war knapp dreimal beliebter als seine Partei, die nur 20,2% wählten.
Die russisch-jüdischen Einwanderer konnten ihr ganzes Gewicht in die Waagschale werfen – diesmal mit 59% zugunsten von Barak (Amira Hass/Nadav Schragai, Ha-Aretz, 20.5.1999). Die antiklerikale, aber nicht antireligiöse, nicht ganz so nationalistische und koalitionspolitisch offenere Israel Ba-Alija unter Scharanskij errang sechs Mandate, die extrem nationalistische Pro-Likud-Gruppe Israel Beiteinu (Unser Haus Israel) unter Avigdor Liberman, dem man Verbindungen zum zwielichtigen Milieu nachsagte, immer noch vier. Auch sie dürften auf Kosten des Likud gegangen sein. 8% der Mandate fielen an die zwei russisch-jüdischen Parteien.
Die orientalischen Wähler hatten seit den 1970er Jahren besonders Likud gewählt, zum Teil auch Nationalreligiöse, ab Mitte 1984 zunehmend Schass. 1999 liefen sie scharenweise zu Schass über. Der Anteil der orientalischen Juden an der gesamten Wählerschaft im Jahre 1999 betrug knapp 34% (Ha-Aretz-Wahlmagazin, 12.5.1999: 27).
David Levy, die Personifizierung „marokkanischer“ Politik, hatte mit seiner „Gescher“-Gruppe den Likud verlassen und sich der Arbeitspartei angeschlossen. Sie schnitt bei den Orientalen besser als früher ab, wenngleich nicht überwältigend gut, obwohl Professor Schlomo Ben-Ami, ein höchst qualifizierter „Marokkaner“, zur IAP-Spitze gehörte. Er wurde mit dem Ministerium für Innere Sicherheit abgespeist, da Barak spätere Konkurrenz fürchtete.
Meretz, die Partei der aschkenasischen Oberschicht, war früher für orientalische Juden fast unwählbar. Das hat sich 1999 geändert. In Wahlbezirken mit vielen Sozialwohnungen (und einer orientalisch-jüdischen Unterschicht) konnte Meretz im Vergleich zu 1996 rund 40% zulegen (Anat Tzigelman, Ha-Aretz, 8.6.1999), wohl auch deshalb, weil die Initiative für das in der vorangegangenen Legislaturperiode verabschiedete Gesetz über den sozialen Wohnungsbau von Meretz ausgegangen war.
Dennoch: Die Orientalen haben auch 1999 eher rechtsnational(istisch) gewählt. Wir schauen wieder besonders auf die südisraelischen „Entwicklungsstädte“, wo Netanjahu trotz Rekordarbeitslosigkeit satte Mehrheiten errang: in Netivot knapp 80%, in Ofakim 72%, in Kirjat Malachi Gat bekam Netanjahu 76%, in Beit Schemesch 72%, in Dimona 64% (Ha-Aretz, 20.5.1999). Beispiele aus Nord-Israel: Obwohl Lokalmatador David Levy gegen Netanjahu kämpfte, wählten 74% der Bürger seiner Stadt Bet Sche‘an (einst Römerstadt,[74] heute überwiegend orientalisch-jüdisch) den amtierenden Premier. In Tiberias (auch eine Römerstadt, heute besonders von orientalischen Juden bewohnt) und Tirat Karmel waren es 69%, in Safed gar 71%, in Kirjat Schmona 62% und in Afula 59% (Ha-Aretz, 20.5.1999).
In allen Entwicklungsstädten errang Netanjahu 58% und Barak 43% (Ha-Aretz, 19.5.1999). In den vor 1948 gegründeten Städten ergab sich ein ganz anderes Bild: Barak erhielt 57% und Netanjahu 44% (Ha-Aretz, 19.5.1999).
93% der orientalischen Schass- und 81% der NRP-Wähler hatten für Netanjahu und nicht für Barak gestimmt (Mina Zemach-Umfrage, Jedi‘ot Achronot, 28.5.1999). In Kfar Chabad (= Agudat Israel) stimmten 99% für den Likudpremier (Ha-Aretz, 20.5.1999). In Städten mit einer mehrheitlich religiösen Bevölkerung erhielt Netanjahu 89%, Barak nur 11% (Ha-Aretz, 19.5.1999).
In den Entwicklungsstädten wurde Schass mit 22% stärkste Partei, gefolgt vom Likud (16%), Ein Israel (14%) sowie den „Russen“ von Israel Ba-Alija (10%) und Israel Beiteinu (5%). In den 1970er und 1980er Jahren zählten die damals rein orientalisch-jüdischen Entwicklungsstädte zu den Hochburgen der NRP, 1999 wählten dort nur noch 3,6% NRP. In den alten Städten errang die NRP immerhin 4,5%.
Die orientalischen und religiösen Juden hielten selbst im Mai 1999 zum rechtsnationalen Lager, obwohl die Parteiführungen sich nach der Wahl für eine Koalition mit der IAP Baraks entschieden. Um an den Fleischtöpfen der Macht zu bleiben, schloss man sich aus Vernunft der (eigentlich gar nicht) „Linken“ an, die alte Liebe galt der Rechten.
95% der Araber wählten Barak, nur 5% Netanjahu (Ha-Aretz, 19.5.1999). Tel Aviv (64%) und Haifa (68%) wählten deutlich Barak. Hier wurde die Wahl gegen Netanjahu entschieden, nicht in Jerusalem, wo 65% den alten Premier bevorzugten (Ha-Aretz, 19.5.1999).
In der arabisch-israelischen Gesellschaft verloren die eher arabisch-jüdischen Postkommunisten an die rein arabischen Parteien.
2001
Hier einige Zahlen zu der Wahl vom 6. Februar: Scharon erhielt 1.698.077 Stimmen (62,3%) und Barak 1.023.944 (37,6%). Nur rund 60% der Wahlberechtigten beteiligten sich. Das war Negativrekord in der Geschichte Israels. Weiße Stimmzettel als Zeichen des Protestes (besonders bei Arabern) warfen 2,9% in die Urnen.
Bei den Soldaten errang Barak mit 41% (Scharon 58,5%) mehr als im Landesdurchschnitt. Damit stimmte die Jugend Israels weniger nationalistisch und religiös als der Rest.
Nur 18% der nichtjüdischen Bevölkerung ging wählen. Das war auch ein Negativrekord. Die arabische Stadtbevölkerung mied die Wahl noch hartnäckiger als die Menschen auf dem Land. Der Protest gegen Israels jüdisches Establishment war offenkundig, doch auch das arabische bekam eine Teilabfuhr. Es hatte nämlich einerseits empfohlen, die Wahl zu boykottieren. Daran hielten sich die meisten. Andererseits galt die Parole: Bei Wahlbeteiligung weiße Zettel. Daran hielten sich 84% nicht. 73% der Araber entschieden sich für Barak, 27% für Scharon. Bei den Beduinen bekam Barak sogar 82% (Scharon 18%). Die Drusen (die auch in der Armee dienen) verhielten sich, wie stets, anders als die anderen Nichtjuden und gaben Barak nur 58%, Scharon immerhin 42%.
Das Bild in den Städten: Nur in Haifa (jeder Kandidat 50%) und Tel Aviv (52% Barak, 48% Scharon) musste sich der Premier nicht geschlagen geben. In Jerusalem erhielt Scharon 78%, Barak 22%. In Be’er Scheva kam Scharon auf 71%.
Die „Russen“, rund 20% der Wahlberechtigten, hatten noch 1999 zu 58% für Barak gestimmt und zu 42% für Netanjahu. Bei der letzten Umfrage vor der Wahl 2001 sah es so aus: 43% für Scharon, 24% für Barak (Lili Galili, Ha-Aretz- Magazin, 2.2.2001). Tatsächlich wählten[75] 63% Scharon (Lili Galili, Ha-Aretz, 7.2.2001). Ihre Wahlbeteiligung lag bei 70% und war höher als der Landesdurchschnitt. Ansonsten gab es bei den „Russen“ kaum Unterschiede zum allgemeinen Wahlverhalten.
In den Siedlungen des Westjordanlandes erhielt Scharon 90%, auf dem Golan 59% der Stimmen.
Die Orthodoxen, rund 6% der Wahlberechtigten, hatten 1999 mit 99% für Netanjahu gestimmt (Ha-Aretz-Magazin, 2.2.2001), 2001 mit nahezu 100% für Scharon (Schachar Ilan, Ha-Aretz, 8.2.2001).
Dass die orientalischen Juden erneut überdurchschnittlich den Likud-Kandidaten bevorzugten, überrascht nicht. Das beweisen die Ergebnisse aus den „Entwicklungsstädten“. In Dimona bekam Scharon 82%, in Jerucham 84%, in Mitzpe Ramon 77%, in Aschkelon 74% und in Aschdod 75%. Die zahlreichen in diesen beiden Städten lebenden „Russen“ stimmten „nur“, wie landesweit, zu rund zwei Dritteln für Scharon, so dass die „Orientalen“ für das überdurchschnittliche Ergebnis verantwortlich waren. Im Norden, in Bet Sche‘an (in der Hochburg von David Levy) stimmten 88% für Scharon, in Tiberias 84%, in Safed 85%, in Kirjat Schmona 75%, in Akko 76%.
Die aschkenasische Ober-Oberschicht von Kfar Schmarjahu (nördlich von Tel Aviv) wählte wie so oft „links“: 75% gaben ihre Stimme für Barak ab, ähnlich Savijon (bei Lod) mit 64% für Barak. Selbst in den Moschawim verlor Barak mit 42%, während er in den Kibbutzim mit 75% gewann (vgl. Ha-Aretz und Jerusalem Post, 8.2.2001).
2003
Haushoher Sieger im Januar 2003 war der Likud mit Ariel Scharon. Fast doppelt so viele Sitze wie die IAP erreichte der Likud, der in Städten rund doppelt so viele Stimmen wie die IAP bekam, in Entwicklungsstädten (bei orientalischen und russisch-jüdischen Wählern) beinahe sechsmal so viel. Avraham Mitzna, Ex-General und „Taube“, kurz zuvor als Parteivorsitzender gewählt, musste bald nach dem Debakel abtreten. Nicht nur in Tel Aviv und Jerusalem, selbst in der IAP-Hochburg Haifa, wo er als Bürgermeister amtiert hatte, verlor die IAP mit 22% gegenüber 28% für den Likud. In Jerusalem kam die Vereinigte Thora-Front mit 18% auf Platz zwei hinter dem Likud (28%). Meretz, die Friedenspartei, schrumpfte von zehn auf sechs Mandate.
Überraschungsdritter war die bürgerlich-liberale Schinui mit 15 Sitzen. Wie andere zuvor löste sich auch diese bürgerliche Partei nach den Wahlen auf. Insgesamt gewann die Rechte, und auch die Religiösen schnitten gut ab. Während der zweiten Intifada wollten nur wenige Israelis politische Tauben. Deren Partei, Meretz, errang immerhin sieben Mandate.
2006
Auffallend war 2006 die „Sektoren“-Wahl: die Russen wählten Liberman; die Orientalen Schass und Liberman; die Araber arabische Parteien; die Religiösen Vereinigte Thora-Front und Schass; die Siedler die Nationalrechtsreligiösen.
Die IAP war wieder eher die Partei der älteren Generation (50 Jahre und älter; Umfrage Ha-Aretz, 17.3.2006). Überdurchschnittlich viele junge Wähler (18–29 Jahre) wählten Likud und noch mehr orthodoxe Parteien (ebd.), was nicht verwundert, da die Orthodoxen kinderreicher sind.
Weniger als vier Monate nach der Wahl, am 12. Juli 2006, begann der Zweite Libanonkrieg. Die politischen und militärischen Groß-Pannen von Premier Olmert (Kadima) und Verteidigungsminister Amir Peretz, so die Umfragen, leiteten eine Rückkehr der Wähler zu Netanjahus Likud ein.
[76]Förmlich niedergewalzt wurde 2006 der Likud, der sich unter Netanjahus Regie Scharons Gaza-Rückzug widersetzt hatte. Die IAP stabilisierte sich auf niedrigem Niveau. Ihre Rückkehr zur Sozialpolitik erwies sich trotz der Gewinne bei orientalisch-jüdischen Wählern der entsprechenden Stadtteile und Entwicklungsstädte insgesamt als unattraktiv, Sicherheitspolitik zählte mehr. Um auf diesem Feld Kompetenz zu demonstrieren, wählte Peretz in der Großen Koalition das Amt des Verteidigungsministers. Gewinnen bei orientalischen Juden standen IAP-Verluste in traditionellen Hochburgen gegenüber: in Haifa erhielt die IAP 16,9% der Stimmen (1999 22,4%), in den Kibbutzim 41,7% (1999 46,5%), in Nobelsiedlungen wie Kfar Schmarjahu nördlich von Tel Aviv 15% (1999 38%), in Städten der oberen Mittelschicht wie in Ra‘anana 17% (1999 23%) oder in Giv‘atajim 22,6% (1999 31%). Das hatte der Peretz-Fakor bewirkt: Neue, unsichere Wähler hatte man gewonnen, alte und sichere verloren.
Scharons Kronprinz Olmert hatte bis zum Wahltag viel vom Scharon-Bonus verloren. Die 29 Mandate seiner „Kadima“ waren eine Enttäuschung. Dennoch wurde Kadima besonders in den großen Städten (wo die meisten Israelis leben) deutlich stärkste Kraft. In Tel Aviv erreichte Kadima 28%, IAP 20% und Likud 8,7%. Noch schwärzer, d.h. orthodoxer als vorher, wurde Jerusalem. Sieger war die Vereinigte Thora-Front mit 18,6% vor Schass mit 15,1%.
Die großen Traditionsparteien waren 2006 kaum noch nennenswerte Größen. Kadima, 2005 gegründet und eher Wahlverein als „Partei“, wurde „die“ bürgerliche Partei, Schass, gegründet 1984, blieb „die“ religiöse Partei. „Die“ große Partei der Linken, die IAP, schmolz auf Mittelmaß. Die „russische“ Partei Israel Beiteinu (Liberman) schnitt sensationell gut ab. Bei den „Russen“ errang diese Partei rund 50%, bei orientalischen Juden fast ein Viertel. Sie wussten, dass Liberman gerne auf Staatskosten schenkte, und ein Falke war er außerdem. Das gefiel. In Ungnade gefallen war Netanjahus Likud bei den Russen. Als Finanzminister war ihnen Netanjahu zu „neo-liberal“. Die jüdischen Super-Nationalisten der Westjordanland-Siedlungen zogen dem Likud-Falken die Super-Falken der fusionierten „Nationalen Einheit“ und NRP vor.
Im Jahre 2006 wurde ein seit 1977 erkennbares Muster einmal mehr bestätigt: Die (meistens) zur jeweils vorletzten Wahl gegründete, unverbrauchte Anti-Establishment-Partei war steil gestartet, verbrauchte sich schnell und fiel ebenso steil ab. 1981 traf es die 1977 gegründete DBV, 2006 „Schinui“, die 2003 zwar schon bestand, doch erstmals zu solchen Höhenflügen angesetzt hatte.
2009
Großer Gewinner bei den Wahlen 2009 war der Likud, der seine Knesset-Mandate nach dem katastrophalen Wahlergebnis von 2006 mehr als verdoppeln konnte (von 12 auf 27). Ebenso war auch Kadima relativ erfolgreich, da sie im Wesentlichen das gleiche Ergebnis wie 2006 erzielen konnte und auf 28 Mandate kam (2006: 29). Großer Verlierer waren die IAP bzw. das sozialdemokratische Lager mit gerade einmal 13 gewählten Abgeordneten. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte war die Arbeitspartei kein politisches Schwergewicht mehr, sondern nur noch vierte Kraft.
Basierend auf den Wahlergebnissen der Entwicklungsstädte gilt: Orientalisch-jüdische Wähler entschieden sich zu je rund einem Viertel bis Fünftel für den Likud, die orthodoxe „Orientalen“-Partei Schass und, wegen ihrer außenpolitischen Härte, die Falkenpartei Israel Beiteinu von Liberman. Am stärksten war hier dennoch der Likud.
[77]2013
Bei den Wahlen 2013 blieb zwar Netanjahus Wahlbündnis von Likud und Israel Beiteinu hinter den Erwartungen zurück, konnte aber immerhin mehr als ein Viertel der Mandate erringen und damit deutlich stärkste Fraktion werden. Dass sich der Zusammenschluss von Likud und Israel Beiteinu nicht in dem Maße auszahlte, wie erhofft, lag vor allem am sehr guten Abschneiden von Naftali Bennetts „Ha-Bajit Ha-Jehudi“ („Das jüdische Haus“), einem Zusammenschluss von Nationalreligiöser Partei und zwei weiteren rechtsnationalistischen Parteien. Der eigentliche Wahlsieger war einmal mehr ein bürgerlich-liberaler Hoffnungsträger mit Ja‘ir Lapid von „Jesch Atid“ („Es gibt eine Zukunft“). Dieses Phänomen war alles andere als neu; man kennt es seit 1977: Die DBV von Jigael Jadin oder auch Schinui von Josef „Tommy“ Lapid. Die Agonie der IAP konnte zwar gestoppt werden, aber mit einem Zuwachs von nur zwei Mandaten gegenüber 2006 wartete sie weiter auf ihre Wiederbelebung. Für Kadima, die 2006 noch stärkste Fraktion geworden war, läuteten drei Jahre später schon die Todesglocken, nachdem sie gerade noch auf zwei Mandate kam.
2015
Entgegen den Wahlprognosen, die ein Kopf-an-Kopf-Rennen vorausgesagt und „Bibis“ Charisma unterschätzt hatten, triumphierte Netanjahus Likud über das aus IAP und Ha-Tnu’a gebildete Wahlbündnis „Zionistisches Lager“. In einem äußerst polarisierenden Wahlkampf über den jüdischen Charakter des jüdischen Staates konnte sich Netanjahu mit 30 Mandaten den Auftrag zur erneuten Regierungsbildung sichern – nicht zuletzt dank Mosche Kachlons neugegründeter, rechtssozialer Partei „Kulanu“, die aus dem Stand zehn Knesset-Mandate erringen konnte. Lapids bürgerlich-liberale „Jesch Atid“ und Bennetts nationalreligiöse „Ha-Bajit Ha-Jehudi“ mussten ebenso wie die von Korruptionsfällen belastete Liberman-Partei „Unser Haus Israel“ deutliche Einbußen hinnehmen, konnten jedoch erneut in die Knesset einziehen. Die „Vereinigte Liste“ – ein Zusammenschluss von vier arabischen Parteien angesichts der Anhebung der Sperrklausel auf 3,25% – ist mit 13 Mandaten ebenfalls in der neuen Legislaturperiode vertreten. Ob aber dieses Bündnis aus weltlich-liberalen, linkssozialistischen und islamistischen Palästinensern von Dauer ist, bleibt fraglich.
Literaturhinweise
—Merdilov 2003 (für Wahlen 2001)
—Arian, diverse Bände über die Wahlen seit 1969
—Hazan/Diskin 2004
—Sandler u.a. 2004
—www.knesset.gov.il (mit Wahlergebnissen)
f)Die Merkmale der Abgeordneten (Abgeordnetensoziologie)
Herkunft, Einwanderungswelle, Alter
Abbildung 9 zeigt die Jahrzehnte währende Führungsstellung der zweiten Einwanderungswelle (zweite Alija, 1904–1914) in der politischen Elite des Jischuvs (1918–1948) sowie des unabhängigen Staates.
Für die Zeit seit 1948 beziehen sich die Zahlen ausschließlich auf die Knesset-Abgeordneten der jeweils größten Fraktion. Dies war bis 1977 Mapai/IAP, dann bis 1992 Likud, 1992–1996 IAP, 1996–1999 wieder Likud, seit 1999 IAP.
Die Vorrangstellung der zweiten Einwanderungswelle war, wie in der Periode des Jischuvs in den ersten Jahren der Unabhängigkeit, besonders bei den Arbeiterparteien auffallend[78] (zur Periode des Jischuvs: Horowitz/Lissak 1977: 159; dieselben 1978: 114; Lissak 1981: Kap. 4; Wolffsohn 1983: 222ff., bes. Tabelle 32). Die nachlassende quantitative Bedeutung der zweiten Alija in der Mapai war demografisch, nicht politisch bedingt. Noch 1974 waren vergleichsweise wenig Zabarim, nämlich 33%, in der Ma’arach-Fraktion, während es beim Likud immerhin schon über 50% waren. Erst 1977 gab es beim Ma’arach 50% Zabarim, allerdings 71% in den Reihen des Likud. Auch 1981 übertrumpfte hier der Likud den Ma’arach, doch weniger deutlich als 1977.
In der Mapam konnten sich die Gründungsväter der Partei, die mit der dritten Alija (1919–1923) ins Land kamen, lange Zeit auch quantitativ stark behaupten. Die Daten der Achdut Ha-Avoda spiegeln einerseits die dauerhafte Bedeutung der vierten Einwanderungswelle (1924–1931) für diese Partei wider, andererseits die gerade im Vergleich zur Mapam beachtliche Zahl von Zabarim.
Linkssozialisten und Kommunisten profitierten von der dritten und fünften Alija (1932–1938) besonders, wobei von der siebenten Legislaturperiode an hinzugefügt werden muss, dass die nichtjüdischen Parlamentarier in den Reihen der Kommunisten als Araber natürlich im Lande geboren wurden.
Abbildung 9: Parlamentarier der größten Fraktion nach Alija, 1949–1992
* Nur Einwanderer insgesamt und Zabarim
Wie sehr Rafi/Staatsliste eine Partei der Jungen mit dem „Alten“ (Ben-Gurion) war, bezeugte der vergleichsweise große Anteil von Zabarim in dieser Partei. Agudat Israel und Po‘ale Agudat Israel profitierten von der vierten und fünften Alija, Tami von orientalischen Einwanderern nach 1948.
Die eigentliche Partei der Zabarim dürfte die DBV gewesen sein. Ihr politischer Auftritt glich jedoch nur einem Zwischenspiel. Von den großen erwies sich der Likud als die Partei der im Lande Geborenen, deren Aufstieg die Zabarisierung widerspiegelt. Während es noch 1973 nur ein Drittel (33%) waren, saßen in der Likud-Fraktion 1977 sogar 71%, 1981 waren es 63%. In der Likud-Fraktion saßen 1984 und 1988 mit 68% rund zwei Drittel [79]Zabarim, mehr als im Durchschnitt aller Fraktionen, wo es knapp 63% waren. Nach 1996 dominierten die Zabarim natürlich noch mehr. Dennoch dokumentiert die Zusammensetzung der 15. Knesset (1999) das politische Selbstbewusstsein und Gewicht der russischen Einwanderer, die durch elf Parlamentarier vertreten waren, während die Einwanderer aus Äthiopien keinen Vertreter hatten. Mit 9% im Parlament war der Anteil der russisch-jüdischen Einwanderer jedoch geringer als in der Wählerschaft, wo er 15% betrug (Ha-Aretz-Wahlmagazin, 12.5.1999: 27).
Fazit: Die Gründungsväter sind abgetreten oder gestorben, die Zabarim haben das Steuer des Staatsschiffes übernommen.
Erst ab der achten Legislaturperiode zeichnete sich eine Wende in der bei fast allen Parteien beginnenden Überalterung ab. Das Durchschnittsalter sank von 55 auf 53 Jahre. Es blieb in den folgenden Perioden konstant bei ca. 52 Jahren.
Zweifellos wehte in den ersten Jahren des jungen Staates „Ostwind“. Der Einfluss von Politikern aus Mittel- und Westeuropa blieb gering. Auch die Zahl von Politikern afro-asiatischer Herkunft blieb außerordentlich niedrig, stieg jedoch im Laufe der Zeit an.
Tabelle 12: Herkunft der Parlamentarier (der zwei größten Fraktionen in Prozent)
Wahlperiode | I–VII | IX | X | XI | XII | XIII | XIV |
Israel | 14 | 61 | 58 | 62 | 63 | 66 | 82 |
Osteuropa | 68 | 21 | 19 | 14 | 14 | 6 | 10 |
Mittel- und Westeuropa | 3 | – | – | – | 1 | – | – |
Balkan | 4 | 4 | 4 | 4 | 1 | 6 | – |
Afrika/Asien | 10 | 13 | 16 | 19 | 21 | 22 | 28 |
Angelsächs. Staaten | 3 | 2 | 3 | 1 | – | – | – |
1999 waren trotz des phänomenalen Erfolgs von Schass (17 Mandate) nur insgesamt 35 Knesset-Abgeordnete „Orientalen“ (29% der Parlamentarier, aber 34% der Wählerschaft!), dafür aber zwölf Araber (10% der Parlamentarier, 12% der Wählerschaft; vgl. Ha-Aretz-Wahlmagazin, a.a.O.).
An der Herkunft orientiertes Wahlverhalten hatte bis Mitte der 1990er Jahre eher abgenommen. Doch ab 1999 wurde durchaus ein stärkeres ethnisches Bewusstsein bei den Orientalen, Religiösen (siehe Schass), Russen (Israel Ba-Alija und Israel Beiteinu) und Arabern (Trend zu rein arabischen Parteien) erkennbar.
Aus demografischen Gründen hat inzwischen eine Zabarisierung der Parlamentarier stattgefunden, d.h., dass die meisten im Lande geboren wurden. Aber von den zwölf Ministerpräsidenten Israels stammten sechs aus Osteuropa, und nur sechs, nämlich Rabin (1974–77 und 1992–95), Netanjahu (1996–99; seit 2009), Barak (1999–2001), Scharon (2001–2005) und Olmert (2006–2009) gehörten zu den Zabarim. Peres kam im Alter von elf Jahren nach Palästina.
Natürlich dominierten ab 2003 die Zabarim, wodurch die Herkunftszuordnung (orientalisch?) schwerer ist. 2006 waren 75 Abgeordnete Aschkenasim, 35 orientalische Juden. Ab 2003 gab es neun Einwanderer aus GUS-Staaten (größtenteils Nachfolgestaaten der Sowjetunion), ab 2006 14. Durch den Erfolg der Seniorenpartei stieg das Durchschnittsalter wieder. 2009 fand eine Verjüngung statt: 18 der 120 Parlamentarier waren jünger als 40 Jahre.
[80]Berufe
Berufspolitiker waren in den Fraktionen der Mapai zwischen 1949 und 1965 zu 54% vertreten (Brichta 1972: 287). In der neunten Knesset (1977) stieg dieser Anteil in der IAP auf 65%. Unter den Abgeordneten der Cherut gab es zwischen 1949 und 1965 45% Berufspolitiker. 1977 waren es im Likud nur noch 13%. In der NRP fiel ihr Anteil von 65% während der ersten Legislaturperiode 1977 auf 25% zurück. Bei der Agudat Israel war der Anteil dieser Gruppe in der 9. Knesset überwältigend (100%), während er sich zwischen 1949 und 1965 nur auf 29% belaufen hatte.
Die langjährige Dominanz der Berufspolitiker führte schließlich dazu, dass nur wenige, die nicht die „Ochsentour“ in den Parteien hinter sich gebracht hatten, in die Knesset gelangten.
Der Großteil der entscheidenden Wähler ist in den „proletarischen“ Schichten zu finden, doch die Parteieliten haben sich weitgehend verbürgerlicht. Diese Verbürgerlichung erkennt man, wenn man die Parlamentarier betrachtet, die zuvor freiberuflich oder im Erziehungswesen tätig waren. Die geringsten Veränderungen sind bei den Parteien des Ma’arach festzustellen. Während der ersten sechs Legislaturperioden (1949–1965) gehörten 21% seiner Fraktionsmitglieder diesen Berufsgruppen an, 1977 stieg die Zahl geringfügig auf 29%. Von der ersten bis zur sechsten Knesset waren 48% der Cherut-Parlamentarier Mitglieder der genannten Berufsgruppen, bei den Allgemeinen Zionisten/Liberalen waren es 60%, 1977 stieg der Anteil auf 75%. Sehr groß war der Anstieg ebenfalls bei der NRP, wo er sich von 35% (erste bis sechste Knesset) auf 58% erhöhte. Die geringere Verbürgerlichung der Abgeordneten in der Ma’arach-Fraktion dokumentiert eine Entfremdung von der Wählerschaft.
Auch in der elften Knesset (1984) war die Fraktion des Likud der gesellschaftlichen Vielfalt näher als die Arbeitspartei, in der man mehr Berufspolitiker, weniger Landwirte und Arbeiter und auch weniger „bürgerlich“-mittelständische Berufe wie zum Beispiel Rechtsanwälte fand.
Die Vorherrschaft der Berufspolitiker setzte sich nach 1988 ungebrochen fort, besonders bei der IAP. Dort betrug ihr Anteil 46%! Nur noch fünf Landwirte saßen 1988 in der Knesset: zwei von der IAP, je einer vom Likud, der Bürgerrechtsbewegung und der Mapam. Der Likud war zudem die Fraktion der Juristen und Ökonomen. Die Religiösen wahrten wenigstens teilweise ihr Image und die Sorge um das „Volk des Buches“. Immerhin zählte man in ihrer Fraktion 11% Lehrer, doch mit 22% ebenfalls gar nicht wenige Berufspolitiker.
Der Anteil der (sich zu erkennen gebenden) Berufspolitiker stieg 1992 auf 25%. Die meisten (8 von 30) fand man bei der IAP, zu deren Fraktion nur noch drei Landwirte (beim Likud zwei) zählten. Als „Arbeiter“ bezeichnete sich 1992 kein Parlamentarier.
Unangefochten bestimmen Berufspolitiker seit 1999 das parlamentarische Bild, wenngleich die Zunahme von Ex-Militärs und Ex-Rabbinern (bei den Religiösen) beachtenswert war. Aufgrund ihrer politischen Tätigkeit wurden sie aber – natürlich – fast ausnahmslos Berufspolitiker. Politische Teilzeitarbeit wurde auch in Israel noch nicht erfunden. Anders als in Deutschland sind das wichtigste Herkunftsreservoir der israelischen Regierungspolitiker die Parteien und das Militär, doch nicht der öffentliche Dienst. Verbürgerlichung allenthalben.
In der öffentlichen Wertschätzung rückten „bürgerliche“ Berufe in der Werteskala der Öffentlichkeit allmählich nach oben (Eisenstadt 1973: 180; Krauss 1976: 87; Wolffsohn 1983: 334ff.).
Die Tabellen 13a, 13b und 13c führen die in der israelischen Öffentlichkeit am meisten geachteten Berufe auf.
[81]Tabelle 13a: Die von der Öffentlichkeit am meisten geachteten Berufe (Anfang der 1970er Jahre)
1) Biologe
2) Zahnarzt
3) Rechtsanwalt
4) Richter
5) Bürgermeister
6) Physiker
7) Historiker
8) Krankenhausverwalter
9) Knesset-Abgeordneter
10) Arzt
11) Ökonom
12) Universitätsdozent
Quelle: Krauss 1976
Tabelle 13b: Die von der Öffentlichkeit am meisten geschätzten Berufe (1988)
1) Arzt
2) Rechtsanwalt
3) Universitätsdozent
4) Ingenieur
5) Industrieller
6) Knesset-Abgeordneter
7) Informatiker
8) Bankier
9) Journalist
Schilov-Institut im Auftrag des Industriellenverbandes. In: Tamir Cohen 1988
Tabelle 13c: Die von der Öffentlichkeit am meisten geschätzten Berufe (2013)
1) Arzt
2) Informatiker
3) Anwalt
4) Ingenieur
5) Politiker
6) Richter
7) Informatiker
8) Bankier
9) Journalist
Bis Dezember 1995 hatte sich (dem PORI-Institut zufolge) die Wertschätzung der Berufe in Israel etwas verändert: Mit 74% lagen Ärzte an der Spitze, gefolgt von Lehrern (70%), Professoren und Offizieren (je 63%), Polizei und Rabbinern (je 47%).
Die Ähnlichkeit mit Deutschland fällt auf. Hier war 1996, Allensbach zufolge, der Beruf des Arztes mit 81% am meisten geachtet. Abgeschlagen, mit je 37%, fand man Rechtsanwälte und Pastoren auf Platz zwei (Allensbacher Berichte 3 [1996]). Auf so günstige Werte wie in Israel kamen deutsche Offiziere natürlich nicht. Sie erhielten im Oktober 1995 immerhin 11%.
In Großbritannien – zum Vergleich – waren Ärzte mit 75% ebenfalls auf Platz eins, gefolgt von Polizisten mit 55% vor Lehrern mit 41% (MORI, November 1995).
Deutschland (West) war eben stets eine „bürgerliche“ Gesellschaft. Die Gründer Israels waren einst ausgezogen, eine sowohl agrarische als auch proletarische Gesellschaft zu gründen – um eine bürgerliche zu schaffen.
Was hat sich bis 2013 verändert? 2013 waren Ärzte am meisten geschätzt (31%), gefolgt von Informatikern mit 12%, Anwälten mit 7%, Ingenieuren mit 5%, Politiker mit 3% und Richtern mit nur 2% (starker Rückgang).
Eine Veränderung hat in der Berufsstruktur der israelischen Parlamentarier stattgefunden. Seit 1977 ist der Anteil von Juristen und Ökonomen auffällig hoch. Während zuvor Pioniere und Ideologieschöpfer bzw. -vermittler gefragt waren, scheint in der israelischen [82]Gesellschaft und Politik seit den 1970er Jahren der klassisch bürgerliche Beruf, auch der Technokrat, eher gefragt zu sein, sogar der Berufspolitiker. Ein neues Israel ist entstanden. Auch in der Politik ist die Zeit des landwirtschaftlichen Pioniers (Chalutz) abgelaufen.
Auf eine militärische Karriere (Oberst und höher) blickten 1977 elf Parlamentarier zurück (9%). In den vorangegangenen acht Legislaturperioden waren es 90 von 374 Parlamentariern (24%) (Gutmann/Landau 1975: 178, 181).
In der zehnten Knesset (1981) zählten sieben Parlamentarier (6%) zu den Ex-Generälen, in der elften Legislaturperiode (ab 1984) etwas mehr, nämlich elf Abgeordnete beziehungsweise 9%. In beiden Legislaturperioden war dabei die Arbeitspartei mehr als der Likud die „Partei der Generäle“, denn mit Rabin, Bar-Lev und Mordechai Gur saßen drei ehemalige Generalstabschefs in der Fraktion der IAP. Ein weiterer ehemaliger Generalstabschef, Rafael Eitan, gehörte zur parlamentarischen Gruppe der Techija.
1988 gehörten fünf Ex-Generäle zur 39-köpfigen IAP-Fraktion: Bar-Lev, Ben-Eliezer, Gur, Rabin, Weitzman. Von 40 Parlamentariern aus den Reihen des Likud waren zwei einst Generäle: Scharon und Sagy. Beide Tzomet-Abgeordneten gehörten auch in diesen Kreis: Eitan und Zidon. Einer der beiden Moledet-Vertreter, Ze‘evi, war ebenfalls General. Damit waren zehn von 120 Delegierten Ex-Generäle.
Sechs ehemalige Generäle wurden 1992 Volksvertreter; drei bei der IAP (Rabin, Gur, Ben-Eliezer), je einer bei Moledet (Ze‘evi), Tzomet (Eitan) und Likud (Scharon). Weitere vier hohe Offiziere (drei IAP, einer Likud) wären in dieser Gruppe zu ergänzen.
1996 betrug die Zahl der Ex-Generäle neun: Barak, Or, Sneh, und Ben-Eliezer (IAP), Scharon und Mordechai (Likud), Ze‘evi (Moledet), Eitan (Tzomet). Hohe, doch nicht ganz so hohe Ränge waren unter den Parlamentariern 1996 noch häufiger zu finden, besonders in der Partei Der Dritte Weg.
1999 hatten vier IAP- und zwei Likud-Parlamentarier zuvor militärische Spitzenpositionen inne. Ministerpräsident Barak war bekanntlich früher Generalstabschef. Das Zentrum präsentierte zwei hohe Ex-Militärs (General-stabschef Amnon Lipkin-Schachak und General Jitzchak Mordechai). 2009 gab es 14 Ex-Generäle unter den 120 Abgeordneten, 2013 waren es nur noch fünf. Jenseits der Zahl der Generäle ist allerdings keiner erkennbar, der, wie Barak oder Rabin, auf absehbare Zeit Premier wird.
In der Mapai-Fraktion hatten zwischen der ersten und sechsten Legislaturperiode 58% eine Universität besucht, in der 9. Knesset waren es noch 53%. In der Cherut waren es während der ersten sechs Legislaturperioden 69%, 1977 55%. Hier war der Rückgang der Universitätsabsolventen vergleichsweise erheblich, und in gewisser Weise könnte er als Anpassung an die Proletarisierung der Likud-Wähler interpretiert werden. Nur geringfügig ist der Anteil der Universitätsabsolventen in den drei religiösen Parteien zurückgegangen, in den ersten sechs Legislaturperioden lag er bei 67%, 1977 bei 65%.
Seit der zehnten (1981) und elften Knesset (1984) kann man eine regelrechte Explosion von Universitätsabsolventen sowie Graduierten von Talmud- und Thora-Hochschulen feststellen. Allein in der IAP waren es 1981 74% und 1984 sogar 86% der Knesset-Abgeordneten, beim Likud 73% (1981) und 78% (1984).
Von den 1988 gewählten Abgeordneten hatten 90 (75%) einen akademischen oder rabbinischen Grad erreicht. 33 waren Sozial- oder Geisteswissenschaftler, 24 Juristen und 13 Rabbiner. Nur sieben Techniker und Naturwissenschaftler waren dabei, zwölf hatten einen militärischen Ausbildungsabschluss, und nur einer war diplomierter Landwirt.
Acht Professoren saßen 1988 in der Knesset: Je einer im Likud, bei Schinui, den Nationalreligiösen, in der Moledet und Techija sowie drei in der IAP. Beim 1992er Koalitionskern IAP (sieben) und Meretz (drei) fand man die meisten der insgesamt 17 Promovierten oder [83]Professoren. Der Likud präsentierte vier. Vier Rabbiner und ein Professor zählten zu den religiösen Parteien. Insgesamt war der Anteil der Akademiker auch 1992 leicht gestiegen.
2003 war die Zahl der Rechtsanwälte von 19 auf 25 wie der Anteil der Akademiker insgesamt erneut gestiegen; noch mehr 2006: 18 Delegierte trugen die akademischen Titel „Professor“ oder „Doktor“ – Knesset-Rekord. 2003–2006 gab es elf hohe Offiziere, ab 2006 15 (sechs von ihnen aus den Geheimdiensten), mehr als Gewerkschaftler (zwölf). Selbständige – außer Rechtsanwälten – musste man mit der Lupe suchen.
Der Trend zur Akademisierung von Berufspolitikern bleibt ungebrochen. Diesbezüglich ist die Knesset doch das Spiegelbild der zunehmend gut und bestens ausgebildeten bürgerlichen Gesellschaft Israels.
Nicht-Akademiker haben es immer schwerer, ins Parlament zu gelangen. Aber Vorsicht vor vorschnellen Verallgemeinerungen: Peres hat nur das Abitur und ein „Ergänzungsstudium“ in Harvard (nach einem akademischen Abschluss sucht man in seiner Biografie vergeblich). Auch Schamir und Rabin konnten lediglich das Abitur vorweisen.
Seit 2009 stieg der Anteil an Professoren, ebenso der an Journalisten, die 2013 fast 10% der Abgeordneten ausmachten. In der Likudfraktion waren 41% der Abgeordneten Juristen. Einmal mehr: Verbürgerlichung und Professionalisierung von Politik und Gesellschaft.
Frauen
Wie in vielen anderen Staaten, so blieben auch in Israel Frauen in politischen Spitzenpositionen „unterrepräsentiert“, obwohl die politische Kultur Israels, vor allem in der Periode des Jischuv, die Gleichstellung der Frau ideologisch geradezu überhöhte. Mit der zunehmenden Verbürgerlichung, die in der israelischen Gesellschaft und Politik beobachtet werden konnte (vgl. Ausführungen über das Prestige der Berufe), wurde hier das Rad der Geschichte zurückgedreht. Die zunehmende „Orientalisierung“ der israelischen Gesellschaft, d.h. die vermehrte Einwanderung von Juden afro-asiatischer Herkunft mit ihrer traditionellen, patriarchalischen Familienstruktur, war dabei sicherlich ein gewichtiger Faktor.
Dass für die orthodoxen Agudat Israel und Po‘ale Agudat Israel die Frauen an „Heim und Herd“ gehören, dokumentiert die Zahl der weiblichen Abgeordneten: Es gab keine. Unwesentlich mehr fand man in den Reihen der NRP. Gering blieb der Frauenanteil in allen bürgerlichen Parteien, doch auch in der linkssozialistischen Mapam und in der Achdut Ha-Avoda. Noch schlechter sah es für die Frauen bei den Kommunisten aus, während in der Mapai und IAP mehr zum Zuge kamen.
In den vierzig Jahren nach der Staatsgründung 1948 wurden in zwölf Legislaturperioden 1440 Parlamentarier gewählt. Bei dieser Zahl bleiben Nachrücker ebenso wie mehrfach wieder entsandte unberücksichtigt. Unter den 1440 findet man nur 110 Frauen, also knapp 8%. Geändert hat sich zunächst wenig. Auch nach den Wahlen 1996 und 1999 spielten Frauen kaum eine Rolle im Parlament. Die Knesset war und ist in erster Linie eine Art Männergesellschaft. Im Netanjahu- und im Barak-Kabinett fand man nur eine einzige Frau. 17 Frauen gab es 1999 in der Knesset, aber nur eine in der Regierung. Dalia Itzik (IAP) wurde Umweltministerin unter Barak. Seine Behandlung von Frauen nannte sie „chauvinistisch“ (Ma’ariv, 8.7.1999). Inzwischen liegt der Anteil von weiblichen Abgeordneten in der Knesset jedoch bei mehr als 20%. Während in der 14. Knesset, die 1996 gewählt wurde, gerade einmal 9 Parlamentarierinnen saßen, waren es 2013 bereits 27.
Immerhin wurde Israel von 1969 bis 1974 von einer Frau regiert: Golda Me’ir (IAP). Seit der Staatsgründung stellten die Frauen aber nur 6% aller Regierungsmitglieder. In den skandinavischen Staaten waren es 40%, in den USA 20%, in West- und Südeuropa 15% und in Lateinamerika sowie Afrika (südlich der Sahara) je 7%, in Südasien (wo Indira Gandhi[84] in Indien und Benazir Bhutto in Pakistan schon Ministerpräsidentinnen waren) 4% (UNO-Daten, Or Kaschti, Ha-Aretz, 8.7.1999).
Tabelle 14: Frauen in der Knesset
Die Zahl der weiblichen Parlamentarier scheint die Wahlentscheidung der israelischen Frauen nur bedingt zu beeinflussen. Gewiss, 1981 betrug der Frauenanteil der linksliberalen Bürgerrechtsbewegung Ratz (BR) 71%. Das überrascht nicht, denn die BR verfocht die Interessen von Frauen. Sie wurde von Schulamit Aloni gegründet und geleitet. Ebenfalls von einer Frau (Ge‘ula Cohen) gegründet und mitgeführt wurde die rechtsnationalistische Techija. Deren Wähler waren jedoch 1981 zu 66% Männer und nur zu 34% Frauen. Die NRP, die sich in der Frauenpolitik nie sonderlich hervorgetan hatte, wies 1973 und 1978 immerhin einen Wählerinnenanteil von jeweils 58% und 1981 von 56% auf. Der Ma‘arach hatte 1973, als noch Golda Me‘ir Partei und Regierung führte, einen Wählerinnenanteil von 56%. Als Männer wie Rabin 1977 und Peres 1981 die IAP führten, waren es nur jeweils 53% und 52%. (Daten aus: Levy/Guttman 1979a: 33 und Levy/Guttman 1981: Tab 4). Hing der Wähler- und Wählerinnenschwund der IAP mit der Position und Zahl der Frauen in der Partei zusammen? Wohl kaum. Sonst hätte es andere Wahlergebnisse gegeben. Verschwindend gering ist der Frauenanteil in den jüdisch-religiösen und den arabischen Parteien.
Wenn Repräsentativität am Bevölkerungsanteil gemessen wird, also an der Proportionalität, dann sind Israels Frauen in politischen Schlüsselpositionen deutlich unterrepräsentiert. Die zionistischen Gründerpioniere hatten sich die Gleichberechtigung der Frau auf ihr Panier geschrieben. Zu Beginn des Jahrhunderts nahmen sie dieses Ideal ernst, besonders in den antibürgerlich-sozialrevolutionär ausgerichteten Kibbutzim. Doch die Bürgerwelt obsiegte ab den 20er Jahren. Auch in diesem Bereich ist Israel „wie alle anderen Völker“.
Sind Israels Frauen deshalb unzufrieden? Fühlen sie sich als Frauen in und von der männlichen Gesellschaft benachteiligt? Im Mai 1989 verneinten 88% der befragten jüdischen Israelinnen diese Frage (Peres/Ya’ar 1989: 29). Dass aber Frauen niedrigere Einkommen erzielten, weil sie in der Wirtschaft diskriminiert würden, meinten gleichzeitig 74% der befragten Frauen (ebd.: 27). In der Politik gebe es auch Benachteiligung von Frauen, meinten 59% derselben (ebd.: 28). Einerseits fühlen sich die israelischen Frauen nicht benachteiligt, andererseits stellen sie sowohl in Wirtschaft als auch Politik Diskriminierung fest. Der Widerspruch ist offensichtlich, die Fakten sind klar: Der Durchschnittslohn von Frauen ist nur halb so hoch wie bei Männern.
Mehr Frauen in der Politik bedeutet nicht zugleich mehr politische Sanftheit, etwa in der Palästinenserpolitik. Das Beispiel von Golda Me’ir zeigt ebenso wie jenes von Ge‘ula Cohen oder Tzipi Livni (Außenministerin 2006–2009) eher das Gegenteil. Ge‘ula Cohen gründete und führte Techija, eine Partei, die in der Regel von wesentlich mehr Männern als Frauen gewählt wird, und sie zählt zu den Super-Falken des Landes. 1981 betrug der Frauenanteil an den für die Techija abgegebenen Stimmen nur 34%. Umgekehrt gehört die Bürgerrechtsbewegung von Schulamit Aloni zu den Super-Tauben mit Haaren auf den Zähnen. Der Frauenanteil bei der BR im Jahre 1981 lag bei 71%. Die Falken der NRP wurden in der Regel aber von mehr Frauen als Männern gewählt (Levy/Guttman 1981).
Die Umfrage von Peres und Ya’ar (1989a: 24) ergab außerdem, dass immerhin 71% der jüdischen Frauen Israels in Bezug auf die Bekämpfung der Intifada „eine Politik der härteren [85]Hand“ befürworteten. Bei den Männern sprachen sich mit 76% etwas mehr für diese Linie aus.
Zwei Jahre älter ist die Umfrage von Mina Zemach (Dachaf-Institut). Sie fand heraus, dass israelische Frauen häufiger als Männer bei der Lösung von Konflikten politische und weniger militärische Schritte bevorzugten. Das gelte für Frauen im Allgemeinen, doch für gut ausgebildete Frauen mit Kindern im Besonderen, nicht übrigens für religiöse Frauen – unabhängig von Ausbildung und Mutterrolle (J. Avidan, Ha-Aretz, 3.7.1989).
Der „Continuing Survey“ des IIASR (Israel Institute for Applied Social Research) registrierte für die Jahre 1968 bis 1981 einen höheren Anteil territorialpolitisch unnachgiebiger Frauen: Im Durchschnitt lehnten 66% der jüdischen Frauen und „nur“ 60% der Männer eine Rück- oder Aufgabe der besetzten Gebiete ab. Dass israelische Frauen in der Regel eher den Falken als den Tauben zuneigen, stellte auch die israelische Wissenschaftlerin Yael Yishai fest (Yishai 1985 und 1987: 179ff.).
Auch bei späteren Befragungen waren Frauen selten sanfter als Männer. 40% der (jüdischen) israelischen Frauen bezeichneten sich bei einer Umfrage des „Strategie-Instituts“ im Februar 1994 als „feministisch“. Ebenfalls 40% der Frauen zogen es vor, einen männlichen Chef zu haben, 27% wollten lieber eine Frau als Vorgesetzte (Ha-Aretz-Magazin, 4.3.1994). Israels Frauen als gesellschaftlich-politische Machos? Der sexuelle Alltag der Israelis wird jedenfalls vom Machobild geprägt. Die Umfrage des „Sexologen“ Ami Schaked lieferte im Frühjahr 1994 hierzu aufschlussreiche Daten (vgl. Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, 16.6.1994: 16).
80% der in israelischen Parteien oder anderen politischen Organisationen aktiven Frauen findet man in eher linken Gruppierungen, ermittelte Galia Golan von der Hebräischen Universität in den 1980er Jahren. In der Mitgliedschaft der Bürgerrechtsbewegung wurden 30% Frauen gezählt, bei der IAP 17%, beim Likud jedoch nur 10% (ebd.). Bei den Nationalreligiösen findet man vereinzelt und bei den Orthodoxen keine politisch aktiven Frauen.
In außerparlamentarischen Protestgruppen findet man auffallend viele Frauen. 56% aller israelischen Frauen, die sich in irgendeiner Weise politisch betätigen, findet man in derartigen Protestgruppen (Wolfsfeld 1988: 67). Gerade diese Tatsache wiederum deutet darauf hin, dass israelische Frauen mit den Gegebenheiten keineswegs so zufrieden sind, wie es der erste Teil der erwähnten Umfrage von Ya’ar und Peres nahezulegen scheint.
Das politische Interesse ist bei israelischen Frauen (72%) niedriger als bei Männern (82%; Democracy Index 2011: 79).
Literaturhinweise
—Azmon/Israeli 1994
—Wolffsohn 1983, Kap. 8–17, 28, 34, 35
—Semyonov/Lewin-Epstein 2004
4. Der Staatskontrolleur
Das Amt des Staatskontrolleurs entspricht weitgehend dem bundesdeutschen Rechnungshof und ist darüber hinaus Anlaufstelle für Beschwerden aus der Öffentlichkeit, denen das Amt nachzugehen hat.
Am 18. Mai 1949 verabschiedete die Knesset das Gesetz betreffend den Staatskontrolleur. Es wurde inzwischen vierzehnmal ergänzt. Artikel 9 sieht vor, dass folgende Bereiche[86] des Staats- und Regierungsapparates kontrolliert werden sollen: alle Ministerien, die Bank of Israel, das nationale Versicherungsinstitut (vergleichbar der Bundesversicherungsanstalt), der staatliche Rundfunk, das staatliche Fernsehen, kommunale Gremien, staatliche Unternehmungen oder Unternehmen, an denen der Staat beteiligt ist, die religiösen Räte auf kommunaler Ebene, auch die Universitätsverwaltungen.
Der Staatskontrolleur ist allein der Knesset verantwortlich und wird vom Staatspräsidenten aufgrund einer Empfehlung des Knesset-Ausschusses für fünf Jahre ernannt. Er darf nicht Knesset-Mitglied sein und keinem lokalpolitischen Gremium angehören.
Das 1988 angenommene GG „Staatskontrolleur“ stärkt die Stellung des israelischen Rechnungshofes. Jetzt wird er von der Gesamtheit des Parlamentes, nicht mehr nur vom Knesset-Ausschuss bestimmt.
Wegen ihrer oft unerschrockenen Kritik, nicht nur des finanziellen Gebarens der öffentlichen Institutionen des Staates, werden die Jahresberichte des Staatskontrolleurs mit großer Spannung erwartet. Auffallend häufig werden die Finanzierungspraktiken religiöser Instanzen, besonders im Erziehungssektor, beanstandet.
Abbildung 10a: Beschwerden beim Ombudsmann, 1960–2004
Daten: Statistical Abstract of Israel
Abbildung 10b: Beschwerden beim Ombudsmann, 2005–2011
Quelle: The State Comptroller and Ombudsman Israel (http://old.mevaker.gov.il/serve/showHtml.asp?bookid=632&id=74&frompage=55&contentid=12941&parentcid=12877&bctype=1&startpage=0&direction= 1&sw=1093&hw=544&cn=%3Cb%3ENumber%20of%20Complaints%20Received)
[87]Im März 1971 wurde der Aufgabenbereich des Staatskontrolleurs erweitert (Staatskontrolleur: 1983: 683ff., Art. 31ff. des Gesetzes). Dies war u.a. die Folge ständig zunehmender schriftlicher Beschwerden aus der Bevölkerung, die beim Staatskontrolleur eingingen. Er fungiert seitdem auch als Beauftragter für Beschwerden aus der Öffentlichkeit (Ombudsmann).
Abbildung 10a zeigt die Entwicklung, wobei auffällt, dass Kriege die Beschwerdehäufigkeit verringerten und die Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfe und Rücksichtnahme in diesen Phasen allgemein zunahm. Zudem lassen die Zahlen insgesamt eine ganz erheblich gestiegene Unzufriedenheit erkennen, obwohl die Tendenz in den 1980er Jahren – wenngleich wesentlich höher als in den ersten Jahren – eher rückläufig war. Allerdings hat sich, wie Abbildung 10b deutlich macht, zwischen 2005 und 2011 die Zahl der jährlichen Beschwerden beinahe verdoppelt, wobei allein 2011 eine Zunahme von 6,5% gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen war.
Literaturhinweise
—Daten in diversen „Jahresberichten des Beauftragten für Beschwerden aus der Öffentlichkeit“
—Sharkansky 1995
—Informationen zu Staatskontrolleur und Ombudsmann:
—http://www.knesset.gov.il/laws/special/eng/basic9_eng.htm
—http://www.gov.il/FirstGov/TopNavEng/Engoffices/EngAuthorities/Engmevaker/
5. Die Regierung
a)Rechtliche Rahmenbedingungen
Der Jischuv hatte eine doppelte Exekutivstruktur, zum einen den Nationalrat, zum anderen die Palästinensische Exekutive der Jewish Agency. Am Vorabend der Staatsgründung, im März/April 1948, wurde die Regierungsgewalt vereinheitlicht und das Volksdirektorium gegründet. Nach der Unabhängigkeit entstand hieraus die Provisorische Regierung, die bis zum Antritt der ersten, von der Knesset bestätigten Regierung (8. März 1949) amtierte. Ihre Rechtsgrundlage war die am 19. Mai 1948 vom Provisorischen Staatsrat verabschiedete LAO, die festsetzte, dass die Provisorische Regierung dem Provisorischen Staatsrat verantwortlich ist. Das „Übergangsgesetz“ vom 16. Februar 1949 bestimmte in Artikel 4, dass die Provisorische Regierung bis zur Wahl einer neuen, von der Verfassungsgebenden Versammlung gewählten Regierung im Amt bleiben solle. Bis zur Verabschiedung des GG „Regierung“ (13. August 1968) waren LAO und Übergangsgesetz die „verfassungsrechtlichen“ Grundlagen für die Regierung.
Gemäß Artikel 6, GG „Regierung“, beauftragt der Staatspräsident ein Knesset-Mitglied mit der Regierungsbildung, wofür diesem 21 Tage sowie eine weitere Verlängerung von 21Tagen zugestanden werden (Art. 7; mehr in: Wolffsohn 1983: 691f.). Die übrigen Artikel schränken jedoch den Manövrierraum des Präsidenten erheblich ein und verlagern das Hauptgewicht bei der Regierungsbildung auf das Parlament.
Artikel 5, GG „Regierung“, schreibt vor, dass der Ministerpräsident Knesset-Mitglied sein muss, während Minister auch Nichtparlamentarier werden können (z.B. Verteidigungsminister Arens in der Regierung Schamir). Minister können, sofern das Kabinett zustimmt, einen oder zwei stellvertretende Minister ernennen, die dem Parlament angehören müssen.
[88]Außenpolitische Verträge werden von der Regierung unterzeichnet und bestätigt. Auch die Anerkennung fremder Staaten oder Regierungen, die Verleihung diplomatischer Sonderrechte an fremde Regierungen oder Kriegserklärungen gehören zu den Vorrechten der Exekutive. Die Zustimmung der Knesset ist rechtlich nicht notwendig, in strittigen Fragen wird sie jedoch aus politischen Gründen eingeholt (Rechtfertigungsfunktion des Parlaments; z.B. bei den Verhandlungen über die Wiedergutmachung durch die Bundesrepublik Deutschland, Abkommen von Camp David 1978, Autonomieabkommen mit der PLO 1994).
Lange war der Ministerpräsident formaljuristisch nur Erster unter Gleichen. Eine Gesetzesergänzung aus dem Jahre 1981 räumte ihm nun die Möglichkeit ein, Minister zu entlassen. Bis 1962 musste er hierfür selbst zurücktreten, da sein Rücktritt dem der gesamten Regierung gleichkam. Danach wurde das Prinzip der „gemeinsamen Verantwortlichkeit“ verabschiedet. Es erlaubte dem Kabinett (nicht dem Ministerpräsidenten allein), Minister zu entlassen, die entweder selbst oder deren Fraktion, auch in Einzelfragen, gegen die Koalition gestimmt hatten.
Im März 1992 verabschiedete die Knesset das Gesetz über die Direktwahl des Ministerpräsidenten. Sie wurde 1996, 1999 und im Februar 2001 durchgeführt. Vier Wochen nach der Wahl 2001 zog man die Notbremse und kehrte zum alten Wahlsystem zurück. Die Mischung aus parlamentarischer und präsidentieller Demokratie war das falsche Stabilisierungsrezept.
Informationen
b)Koalitionen und Regierungskrisen
Tabelle 15 vermittelt eine Übersicht über die parteipolitische Zusammensetzung der israelischen Koalitionen, in denen bis zum Mai 1977 die Mapai/IAP, seitdem der Likud den Ton angab. Die Tabelle enthält nicht die Provisorische Regierung, die vom 14. Mai 1948 bis zum 9. März 1949 amtierte, und der Mapai, Mapam, Allgemeine Zionisten, Neue Einwanderung (Alija Chadascha), Mizrachi, Ha-Po‘el Ha-Mizrachi und Agudat Israel angehörten.
Bedeutsam ist die Tatsache, dass es in der Epoche der Mapai/IAP selten zur Bildung von Koalitionen mit knappen Parlamentsmehrheiten kam. Von 1967 bis 1970 amtierte eine große Koalition.
Nach dem Machtwechsel von 1977 bestand ebenfalls die Neigung, die parlamentarische Basis der Regierung zu erweitern, doch die zunehmende allgemeinpolitische Polarisierung führte zu schärferen Konfrontationen, abnehmender Kompromissfähigkeit und knapperen Mehrheiten in der Knesset. Diesen Trend durchbrach 1999 die Barak-Regierung, die sich auf 75 Parlamentarier stützen konnte.
Die im September 1984 geschlossene Koalition entsprach ebenso wie die im Dezember 1988 gebildete Regierung mehr einer Vernunftehe als einer Liebesheirat. Konsequenterweise haben die ideologisch rigideren Parteien der Rechten und der Linken sich an diesen Regierungen nicht beteiligt.
Dass große Koalitionen gebildet wurden, ist auf das Wahlergebnis zurückzuführen. Die Basis verursachte eine Blockade, die die politischen Führungen, zumindest zeitweilig, zu überwinden suchten. Umfragen haben immer wieder gezeigt, dass große Koalitionen in Israels Bevölkerung sehr beliebt sind.
[89]Tabelle 15: Israels Regierungen
[90]
Legende:
1 Vertrauensabstimmung in der Knesset. Ende nur bei Rücktritt genannt, da jede Regierung bis zur Übernahme durch die nächste die Amtsgeschäfte weiterführt.
2 Ind. mit Mapai verbundene Minderheitenlisten.
3 7 Mapai-Mitglieder zur Rafi (ohne Minister).
4 Incl. mit IAP verbundene Minderheitenlisten.
5 1978/80: Mosche Schamir und Ge‘uia Cohen verließen den Likud, Josef Tamir von der Liberalen Partei zu Schai.
6 Teiem löste sich 1982 auf, ihre MK bleiben in Koalition, 2 Likudüberläufer zum Ma‘arach.
*ab Mai 1987; ** November 1990 kamen 5 Abgeordnete der AI hinzu; *** Februar 1991.
[91]Tabelle 16: Koalitionskern
Bis 1977 | Mapai/IAP, Nationalreligiöse, Unabhängige Liberale |
1977–1984 | Likud, Religiöse |
1984–1990 | Likud, IAP |
1990–1992 | Likud, Religiöse |
1992–1996 | IAP, Meretz |
1996–1999 | Likud, Religiöse |
1999–2001 | IAP, Meretz, Schass, Israel Ba-Alija |
2001–2003 | Likud, IAP, Schass, Israel Ba-Alija, Israel Beiteinu, Religiöse |
2003–2005 | Likud, NRP |
2006–2009 | Kadima, IAP |
2009 | Likud, Israel Beiteinu, Schass, IAP |
2009–2013 | Likud, Israel Beiteinu, Schass |
2013 | Likud-Israel Beiteinu, Jesch Atid, Ha-Bajit Ha-Jehudi, Ha-Tnu‘a |
2015 | Likud, Kulanu, Ha-Bajit Ha-Jehudi, Schass, Thora-Judentum |
Bis zum Mai 1977 wurde keine Regierung ohne die Mapai/IAP gebildet, weil dies rechnerisch nur möglich gewesen wäre, wenn sich von den Kommunisten bis zu den Orthodoxen eine Allianz formiert hätte, eine unwahrscheinliche Situation, zu der es nur einmal, 1959, bei der Wahl des Knesset-Präsidenten kam, als der Kandidat der Mapai unterlag.
Abgesehen vom Amt des Ministerpräsidenten behielt sich die Mapai/IAP in ihrer Epoche die wichtigsten Ministerien vor: das Außen-, Verteidigungs- und Finanzministerium, die Ministerien für Landwirtschaft, Erziehung und Kultur. Ab Mitte der 1960er Jahre wurden Risse in den Minister-Bastionen der Mapai sichtbar. Von 1977 bis 1981 war der Likud wesentlich zurückhaltender, doch danach war eine vermehrte Einflussnahme in den wichtigen Ministerien zu beobachten. Nach allen Regierungswechseln wurden die parteipolitischen Vorzeichen des Protektionismus wieder umgekehrt.
Am häufigsten sorgte die Religionspolitik für Koalitionskrisen (Rücktritte oder Regierungsumbildungen), gefolgt von Außenpolitik, parteiinternen Streitigkeiten und Territorialpolitik.
Die Spaltung der jüdischen Wählerschaft in ein eher linksliberales und ein nationalistisch-religiöses Lager versuchte Ehud Barak 1999 durch eine Koalition der Gegensätze zu überwinden: Nationalreligiöse Tauben gehörten ihr ebenso an, wie orientalische Orthodoxe und antireligiöse Friedensbewegte. Diese Koalition war so bunt, wie es in Deutschland eine zwischen CDU/CSU und der Linken wäre. So seltsam Baraks Regierungsgefüge anmutete, so sinnvoll und durchdacht war es. Anders als sein Vorbild Rabin wollte er religiöse und orientalische Falken in die friedenspolitische Pflicht nehmen und sie ihrer außerparlamentarischen Basis berauben, indem er sie an die staatlichen Fleischtöpfe ließ.
Die „antagonistische Kooperation“ (Mao Tse-Tung) arbeitete nicht lange harmonisch. Das gut Gedachte konnte nur schlecht verwirklicht werden. Die marokkanisch-orthodoxe Schass-Partei forderte immer wieder und immer mehr Geld für ihr privates religiöses Schulsystem. Erziehungsminister Jossi Sarid, Chef der antireligiösen und friedensaktivistischen Meretz-Partei, sperrte sich. Schass drohte immer wieder, die Koalition zu verlassen und damit den Friedensprozess zu erschweren. Am 23. Juni 2000 warf Meretz das Handtuch und zog sich als Barak-treue Opposition mit dem Versprechen zurück, die Koalition in der Friedenspolitik zu unterstützen (Ha-Aretz, 24.6.2000). Barak sicherte Hunderte von Millionen[92] Schekel für die parteinahen Schulen von Schass zu, die außerdem die Legalisierung von sieben ihr nahestehenden Piratensendern durchsetzte.
Schass blieb einstweilen in der Koalition und fuhr mit ihrer Drohpolitik fort, auch wenn (in einer Dachaf-Umfrage) 62% der Befragten die Forderungen von Schass als „nicht berechtigt“ bezeichneten.
Der wahre Verlierer der Krise war Ministerpräsident Barak. Einer Gallup-Umfrage zufolge hätte bei Neuwahlen Ende Juni 2000 Netanjahu 42% der Stimmen (bei der vorigen Umfrage 39%) und Barak 40% (bei der vorigen Umfrage 46%) bekommen. 18% wussten nichts dazu zu sagen oder wollten nicht antworten.
Die nächste Koalitionskrise löste die NRP aus. Schon im Mai hatte sie wegen der Übergabe von drei Dörfern bei Jerusalem angekündigt, sich aus der Regierung zurückziehen zu wollen (Ha-Aretz, 16.5.2000). Der tatsächliche Austritt erfolgte am Vorabend der Konferenz in Camp David, am 10. Juli 2000. Gleichzeitig verließen auch Schass und Israel Ba-Alija die Koalition. Damit hatte Barak seine Mehrheit in der Knesset verloren. Noch vor der Sommerpause passierte in erster Lesung ein Gesetz zur Auflösung der Knesset, so dass es zu Neuwahlen kam. Friedenspolitische Distanz war bei Schass und der „Russen“-Partei nur ein Vorwand. Tatsächlich ging es um die politische Urfrage: „Wer bekommt was, wann und wie?“
Baraks Nachfolger, den körperlich schwergewichtigen Scharon, hielten die meisten zunächst für ein politisches Leichtgewicht von Netanjahus Gnaden. Das änderte sich schnell, und bis zu seinem plötzlichen Ausscheiden aufgrund eines Gehirnschlags dominierte er zunehmend und fast nach Belieben. Selbst für radikale Kurswechsel fand er immer neue Koalitionspartner. Für harte Politik die NRP und Rechtsnationale, für seine Friedenspolitik ab 2004 IAP und Meretz, sogar arabische Listen. Taktisch und strategisch faszinierend, Freund und Feind verwirrend, am Ende ein politischer Riese.
Koalitionspolitisch verkleinert wurde er durch seine größte, am weitesten reichende Entscheidung: die vollständige Räumung des Gaza-Streifens im Sommer 2005. Daran zerbrachen die Koalition und auch Scharons Partei, der Likud. Der Premier gründete, vor allem mit anderen Likud-Politikern, (s)eine Abspaltung, „Kadima“. Sie gewann die Wahlen im Februar 2006. Scharon lag seit Januar im Koma. Nachfolger wurde Ehud Olmert.
Olmert trat als Friedenspolitiker an und bekundete seine Bereitschaft, auch große Teile des Westjordanlandes aufzugeben. Es kam ganz anders. Im Juli 2006 führte er Krieg gegen die Schiitenmiliz Hisbollah im Libanon, zum Jahreswechsel 2008/09 gegen die Hamas im Gaza-Streifen. Gewollt und geplant war beides nicht. Die Dynamik führte dazu – verschuldet oder nicht. „Die Welt als Wille und Wirklichkeit“ ist nicht nur Thema für Philosophen.
2009 hoben die Wähler wieder Netanjahu ins Amt des Premiers. Es gelang ihm trotz globaler Finanzkrise Israels Wirtschaft wachsen zu lassen. Kein Krieg, nirgends. Hier die „allgemeine“ Abschlussbewertung seiner Regierung, gemäß Friedensindex Januar 2013: Schlecht 37%, mittel 26%, gut 35%. Besser waren die Noten bezüglich Sicherheits- und Wirtschaftspolitik, schlechter in der Sozialpolitik.
Folgerichtig gaben ihm die meisten Bürger (30%) zu Beginn seiner nächsten Amtszeit, im April 2013, diese Vorgabe auf den Weg: das Schließen der sozio-ökonomischen Lücke. Die Überwindung der Atombedrohung durch den Iran kam auf Platz zwei (16%; Friedensindex April 2013). Sozialpolitik als dominantes Thema israelischer Bürger – das war neu.
[93]Literaturhinweise
—Arian u.a., 2002
c)Zufriedenheit mit der Regierung
Fortwährend und systematisch wurden in Israel seit 1967 Umfragen vom IIASR, später auch anderen Instituten, durchgeführt, seit den 1990ern sind vor allem der „Friedensindex“ der Universität Tel Aviv und die Daten des Israel Democracy Institute hervorzuheben. Abbildungen 11 und 12 vermitteln einen optischen Eindruck von der Zufriedenheit der israelischen Öffentlichkeit mit ihrer Regierung. Auch Daten anderer Institute wurden berücksichtigt. Aufgrund der unterschiedlichen Fragestellungen und methodischen Ansätze sind die Ergebnisse nicht unbedingt vergleichbar. Sie geben eher einen Trend als Feinabstimmungen an.
Abbildung 11: Zufriedenheit mit der Arbeit der Regierung, 1967–1996
Grundsätzlich bleibt festzustellen, dass Kriege (1973, 1982, 1991) oder andere dramatische Ereignisse (Sadat-Initiative im November 1977, Friedensvertrag mit Ägypten im März 1979, Abkommen mit der PLO) zu kurzfristigen Schwankungen der öffentlichen Meinung führten. Bezogen auf die Politikbereiche bekundeten die befragten jüdischen Israelis im Allgemeinen eine höhere Zufriedenheit mit der Sicherheitspolitik als mit der Wirtschaftspolitik, unverändert bis 2006 (vgl. Abbildung in D/XII/6a).
[94]Abbildung 12: Allgemein zufrieden mit der Regierungsarbeit, 2003–2012
Daten: Israeli Democracy Index 2012: 44
So viel Vertrauen brachten die Israelis ihrer Regierung in folgenden Jahren entgegen. Aufschlussreich sind die manchmal beachtlichen Unterschiede zwischen Ministerpräsident und Regierung. Dem Kontrollorgan der Regierung, dem Parlament (Knesset), vertrauten die Bürger weniger und noch weniger den Parteien von Koalition und Opposition insgesamt.
Tabelle 17: Vertrauen jüdischer Israelis in Institutionen (Zustimmungsrate in Prozent)
Daten: Israeli Democracy Index
Die Höhen und Tiefen der Beliebtheit einzelner Regierungen spiegeln sich zum Teil auch in den Bewertungen ihrer führenden Minister wider. Beachtlich die Popularität von Ministerpräsident Peres, der als Außenminister ab 1986 sein Ansehen wieder einbüßte. Geradezu sensationell die Anerkennung, die seit 1984 den Finanzministern gezollt wurde, obwohl sie Sparminister waren. Stets beliebt bis heute: der Verteidigungsminister.
[95]Abbildung 13: Zufriedenheit mit der Arbeit des Ministerpräsidenten
Die zyklischen Schwankungen der Popularität des ermordeten Premiers Rabin und seiner Nachfolger Peres und Netanjahu verdeutlichen die Ausführungen über die Wahlkämpfe der Jahre 1996 und 1999. Schon vor dem Wahlkampf 1999 waren die Umfragewerte für Netanjahu und seine Regierung schlecht. Im September 1996 waren 57% mit seiner Regierung unzufrieden, im Dezember gar 59% (Friedensindex). Die Sicherheitslage hielten im Dezember 1996 nur 33% für besser als unter Peres (ebd.). „Nicht zufrieden“ mit der Friedenspolitik“ waren zu jener Zeit 63% und 59% hielten seine Regierung für weniger „glaubwürdig“ als die vorige (ebd.). Anfang August 1997 meinten Gallup zufolge 43%, dass Netanjahus Politik Krieg bringe. Im Mai 1997, ein Jahr nach Netanjahus Amtsantritt, sagten 52%, dass die Regierung von Peres besser gewesen sei (Gallup). Selbst Anhänger seiner kleinen Koalition wollten im Mai 1998 lieber eine große: Schass-Wähler 64%, NRP-Wähler 43%, Likud-Anhänger 66% und insgesamt 62% der Bevölkerung (Friedensindex).
Nach anfänglich hohen Werten in den Umfragen erlebte die Barak-Regierung sehr bald einen jähen Popularitätssturz. Während in einer Gallup-Umfrage vom Dezember 1999 noch 50% der Israelis lieber eine Regierung unter Barak als unter Netanjahu (nur 34%) gesehen hätten, war der Vorsprung bis März 2000 bereits verschwunden, als sich (ebenfalls in der Gallup-Umfrage) 43% für Barak und 42% für Netanjahu aussprachen. Ma’ariv-Umfragen zufolge hatte Barak seinen Vorsprung vor Netanjahu bis März gehalten, war aber bis April auf die gleichen Werte wie in den Gallup-Daten gefallen.
Spätestens Anfang Juni 2000 war die Unzufriedenheit mit der Barak-Regierung unübersehbar, zumal besonders die marokkanisch-orthodoxe Schass-Partei ihre Regierungsbeteiligung nach Belieben zusagte und wieder aufkündigte. Einer Dachaf-Umfrage zufolge wollten Anfang Juni 2000 52% der Israelis Neuwahlen, nur 40% waren dagegen.
Das traditionelle Grundmuster blieb unter Scharon erhalten: Die Sicherheitspolitik wurde gelobt, die Friedenspolitik war umstritten, zuletzt polarisierend und dennoch von der Mehrheit gewünscht, die Wirtschafts- und Sozialpolitik bekam die schlechtesten Noten. Trotz des nicht nur für Israel typischen Schimpfens erfreute sich die Regierung Scharon insgesamt und fast durchgehend großer Zustimmung.
[96]Gerade wegen der Sicherheitspolitik verlor Olmert nach dem Libanon-Krieg seine Autorität, auch die Umfragewerte seines Vize Peretz (IAP) stürzten regelrecht ab. Ende August 2006 befürworteten 63% der Israelis einen Rücktritt von Olmert und 74% von Peretz. Der Likud hätte bei Wahlen 20 Mandate erhalten, je 17 der Falke Libermann (plus 7) und Kadima (minus 12) und die IAP hätte statt 19 nur noch 11 Mandate errungen (Jedi‘ot Achronot, Umfrage Dachaf-Institut, 25.8.2006). Im September waren 68% mit Olmert unzufrieden, 79% mit Peretz (Dialog-Umfrage, Ha-Aretz, 21.9.2006; vgl. Kol-Israel-Wochen-Umfrage, 16.11.2006). Ein Erdbeben wie nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973/74. „Nicht gut“ nannten nach genau einem Jahr Olmert als Premier 69% der Israelis, seine „Führungsfähigkeit“, seine „Entscheidungsfähigkeit“ bemängelten 75% (Dachaf-Umfrage, Ha-Aretz, 4.1.2007).
Zwar sank die Zufriedenheit mit der Regierung im Jahre 2012, aber es gab zu Netanjahu, der Ende März 2009 Ministerpräsident geworden war, keine mehrheitsfähige Alternative, weder personell noch inhaltlich. Letztlich sprach vor allem der finanz- und wirtschaftspolitische Aspekt, nicht der sozialpolitische, für ihn und den Likud.
d)Entscheidungsfindung
Bei der Entscheidungsfindung ließen sich die Entscheidungsträger sowohl in der Epoche der Mapai/IAP als auch nach 1977 außerordentlich selten von Fachleuten beraten. Improvisation war Trumpf. Diese Tatsache ist insofern erstaunlich, als gerade von einer Regierung, die oft über Krieg oder Frieden sowie über außerordentlich knappe Geldmittel entscheiden muss, erwartet werden kann, dass sie sich intensiv mit Fachleuten auseinandersetzt. Diese wurden aber selten zur Entscheidungsfindung hinzugezogen, und die jeweiligen Fachminister, als ausgesprochen starke Persönlichkeiten, wussten sich in der Kabinettsrunde, sogar bei starken Ministerpräsidenten, durchzusetzen – ohne Expertenmeinungen zuvor eingeholt zu haben.
Seit den 1980er Jahren werden Experten häufiger befragt. Das liegt wohl auch an der größeren Zahl von Akademikern im Parlament und in der Regierung. Besonders Peres pflegte das Bild des intellektuellen Politikers, der sich mit zahlreichen anderen Intellektuellen in seiner Umgebung schmückt. Ein grundlegender Wandel der einst eher hemdsärmeligen, absichtlich „unverbildeten“ (und damit gegen die bildungsbesessene Diasporatradition gerichteten) politischen Kultur des nicht mehr so jungen Staates.
Die Autorität des Regierungschefs blieb bedeutsam in Bezug auf die Zahl derjenigen, die mitbeteiligt wurden. In ihren besten Zeiten konnten Ben-Gurion, Me’ir und Begin häufiger einsame Entscheidungen treffen. Mosche Scharet, Levi Eschkol und Rabin (in seiner ersten Amtszeit) verfügten niemals über eine ähnlich beherrschende Position in der Ministerrunde.
Peres wurde durch das Koalitionsabkommen strukturell gebremst. Ein gutes Beispiel hierfür war die von ihm gewollte, doch nicht durchsetzbare Entlassung von Handels- und Industrieminister Scharon im November 1985. Ungefähr zur selben Zeit waren aber rund 67% der Israelis mit Peres’ Amtsführung zufrieden. Selbst Begin hatte in seiner Bestzeit die Marke von 65% nie überschritten.
Schamir war ab 1986 in der Großen Koalition eher Koordinator als Motor. Außerdem sägten Parteifreunde an seinem Stuhl. Im Golfkrieg führte er unumstritten. Rasch verfiel danach seine Führungsstärke.
Rabin präsentierte sich ab 1992 fast wie ein für alles zuständiger US-Präsident. Darüber beschwerte sich zumindest Präsident Weitzman. Peres verfügte nach der Ermordung Rabins über das politisch ererbte Charisma seines ehemaligen Rivalen. Es verblasste aufgrund islamistischer[97] Terrorakte recht schnell, was zu seiner Niederlage bei den Wahlen vom 29. Mai 1996 führte.
Obwohl direkt vom Volk gewählt, konnte Netanjahu seine Regierung lange nur mühsam und nach dem Abkommen von Wye gar nicht mehr zusammenhalten. Er taktierte stets und spielte jeden gegen jeden aus in Regierung, Partei und Außenpolitik. Am Ende hatte er sich selbst ausgespielt.
Barak gerierte sich nach seinem Wahlsieg wie ein Feldherr, umgab sich mit vielen Militärs, deren Rat ihm am wichtigsten war, und provozierte damit die Fraktion, die ihm in den ersten zwei Wochen gleich zwei personalpolitische Schlappen zufügte. Knesset-Präsident Avraham Burg war so wenig der Wunschkandidat Baraks wie der Vorsitzende des Knesset-Ausschusses.
Scharon, 2001 noch direkt vom Volk gewählt, umgab sich mit 13 Ex-Generälen und 7 Juristen, ab 2003 mit je 11 Ex-Generälen und Juristen. Er dominierte ab 2003 (jetzt wieder indirekt, über Knesset-Wahlen im Amt) seine Ministerrunde fast nach Belieben, nach dem Motto „teile und herrsche“. Geteilt, sprich gespalten hat sich dabei durch die Friedenspolitik der von ihm 1973 mitgegründete Likud – woraufhin Scharon (s)eine neue Partei gründete: „Kadima“, der sich IAP-Überläufer wie Ex-Premier Peres zugesellten.
Dominant wie Scharon fing auch Olmert nach dem Gehirnschlag seines Lehrmeisters (4.Januar 2006) an, doch der enttäuschende Wahlausgang zwang ihn zu mehr koalitionsinternen Rücksichten auf die IAP, besonders auf Verteidigungsminister Peretz im Libanonkrieg (Juli 2006). Hauptthema der Olmert-Regierung sollten die endgültigen Grenzen Israels sein. Das Ziel: Ein jüdischer Staat mit jüdischer Bevölkerungsmehrheit. Deshalb sollten 95% des Westjordanlandes den Palästinensern übergeben werden. Der von der Hamas-Regierung nicht verhinderte Dauerbeschuss Israels mit Raketen sowie der von der Schiitenmiliz Hisbollah provozierte Libanonkrieg (Juli/August 2006) änderten die Agenda grundsätzlich.
In der zweiten Ära Netanjahu, ab 2009, war der Premier zweifellos strategisch und taktisch die dominante Persönlichkeit. Doch selbst dieser Routinier konnte seine Koalitionspartner nicht wunschgemäß zähmen. Innerhalb des Likud konnte er eher mehr als weniger nach Belieben schalten und walten.
e)Die Bürokratie
Nach der Unabhängigkeit konnte und wollte man nur wenige der 4.800 Juden in die staatliche Verwaltung übernehmen, die zuvor bei den britischen Mandatsbehörden beschäftigt gewesen waren. Man hatte ihnen gegenüber ein zwiespältiges Verhältnis (vgl. Wolffsohn 1983: 523ff.). Andererseits konnte man auf erfahrene Bürokraten nicht ganz verzichten. Von den 5.041 im März 1949 tätigen Staatsangestellten hatten 1.724 zuvor für die Mandatsregierung gearbeitet.
Ebenso wie in Spitzenpositionen anderer Politikbereiche fand man auch im Staatsdienst mehr Israelis euro-amerikanischer Herkunft sowie Zabarim als Israelis aus orientalischen Staaten. Je höher die Stellung, desto weniger orientalische Israelis; auch in der Regierungsbürokratie gilt diese Aussage. 1978 ermittelten Haberfeld und Nadler, dass die Zabarim, natürlich weitgehend aus demografischen Gründen, die Ost- und Westeuropäer, wie überall, verdrängt hatten.
Zwar ist seit den 1950er Jahren in der Regierungsbürokratie ein Trend zur Entpolitisierung feststellbar – gewichtigere Kriterien als das Parteibuch wurden Ausbildung, Fähigkeiten und Spezialkenntnisse – doch blieb Mapai/IAP in der Regierungsbürokratie bis in die späten 1970er Jahre noch dominant (Belege bei Wolffsohn 1983: 525ff.). Nach dem Regierungswechsel[98] von 1977 vollzog sich ein allmählicher, seit 1981 ein verstärkter Wandel, den der Likud zu seinen Gunsten nutzte. In einem Jahrzehnt habe der Likud eine Verfilzung von Partei, Regierung und staatlichen Wirtschaftsunternehmungen geschaffen, für die der Arbeiterblock dreißig Jahre benötigt habe, vermerkten Kritiker dieser Partei. Nach 1992 griff die IAP wieder verstärkt nach den Pfründen. Ab Juni 1996 bedienten wieder Likud und Religiöse die ihnen Nahestehenden. 1999 erhielt das Muster nur andere Partei-Färbungen.
Informationen darüber, wie Politiker der verschiedenen Parteien Regierungsämter und führende Positionen in Staatsunternehmen an politische Freunde verteilen, enthalten die jährlichen Berichte des Staatskontrolleurs. Die zunehmende Professionalisierung hat die Parteibuchwirtschaft keineswegs vollständig beseitigt.
Bedenkenlose Pfründewirtschaft betrieb vor allem Schass, weshalb es die Partei stets in die Regierung trieb. Ihr einstiger Chef, Arie Deri, übertrieb dabei maßlos und wurde im März 1999 vom Bezirksgericht Jerusalem wegen Betrugs, Bestechlichkeit und Veruntreuung verurteilt (Ha-Aretz, 18.3.1999). Am 15. April wurde das Strafmaß verkündet: 4 Jahre Haft. Unrechtsempfinden bekundete er dabei so wenig wie die meisten seiner Anhänger, für die er ein „Märtyrer“ war, der, so sahen sie es, nur soziale und ethnische Ungerechtigkeiten ausgleichen wollte.
Kennzeichnend für die Verwaltungskultur Israels ist seit jeher „Protektzia“ (Beziehungsnetzwerke). Dent (1972) zeigte u.a., dass sich die alteingesessenen Israelis mehr als die neueren Einwanderer an Protektzia gewöhnt hatten, diese sich aber vergleichsweise schnell anpassten. Bei Einwanderern aus den USA wurden dagegen „Anpassungsschwierigkeiten“ beobachtet (Avruch 1981). Die russischen Einwanderer haben mehrheitlich schnell gelernt.
6. Der Staatspräsident
a)Rechtliche Rahmenbedingungen
Artikel 3 des GG „Staatspräsident“ (1964) besagte ursprünglich, das Staatsoberhaupt werde von der Knesset für fünf Jahre gewählt. 1998 wurde Artikel 3 geändert: Fortan ist nur eine einzige Amtszeit von sieben Jahren erlaubt (Buch der Gesetze 1696, 30.12.1998: 36).
Die Vollmachten des Präsidenten:
1)Unterzeichnung der Gesetze, die nicht seine eigenen Befugnisse betreffen, sowie „Abkommen mit fremden Staaten, die von der Knesset bestätigt wurden“.
2)Er wird bei der Regierungsbildung tätig, nimmt den Rücktritt von Kabinetten oder deren Mitgliedern entgegen und wird über die Sitzungen der Ministerrunde unterrichtet.
3)Er ernennt die diplomatischen Vertreter des Staates, nimmt die Beglaubigungsschreiben auswärtiger Botschafter entgegen und bestätigt die Ernennung konsularischer Vertreter des Auslands.
4)Er ernennt die Richter des Obersten Gerichtshofes und anderer Gerichte, auch den Staatskontrolleur und den Präsidenten der Zentralbank.
5)Er kann das Gnadenrecht ausüben, Strafen verringern oder verändern. Politisches Gewicht hat der Präsident nicht.
[99]b)Die Amtsinhaber und ihre Wahl
Mit Ausnahme von Chaim Weizmann (Allgemeine Zionisten) waren bis zum Jahr 2000 alle Staatspräsidenten Israels, auch in den Zeiten der Likud-geführten Regierungen, Mitglieder der Mapai/Arbeitspartei. Nur ein Präsident, Jitzchak Navon, übernahm nach dem Ende seines Mandats wieder ein politisches, das heißt eher parteipolitisch bedingtes als repräsentierend-überparteiliches Amt. Er wurde im Kabinett Peres Erziehungs- und Kulturminister. Dort verblasste sein Stern, der während der Präsidentschaft aufgegangen war.
Obwohl die Koalition sich im Parlamentsalltag auf 64 Abgeordnete stützen konnte, wurde am 22. März 1983 Chaim Herzog von der IAP mit 61 Stimmen im ersten Wahlgang Staatspräsident. Sein Gegenkandidat Menachem Elon, Richter am Obersten Gerichtshof, erhielt nur 57 Stimmen. Am 23. Februar 1988 wurde Chaim Herzog wiedergewählt. Ein Gegenkandidat wurde nicht aufgestellt. Herzog stand inzwischen „über den Parteien“, und es wählten ihn 82 von den 102 abstimmenden Knesset-Abgeordneten.
Am 24. März 1993 wurde Ezer Weitzman (Arbeitspartei, früher Likud; der Neffe von Chaim Weizmann) zum siebten Staatspräsidenten Israels gewählt. Er erhielt 66 Stimmen, sein Gegenkandidat Dov Schilansky (Likud) 53. Weitzman wurde am 4. März 1998 mit 63 gegen 49 Stimmen für Schaul Amor (Likud) wiedergewählt. Das entsprach dem Willen der Bevölkerung. Im Juni 1997 fanden 86%, dass er „sehr gute Arbeit“ geleistet habe (Dachaf-Institut). Amor hatte auf die „ethnische Karte“ gesetzt und verloren, zumal die Umfragen zeigten, dass auch 70% der Orientalen für Weitzman waren.
Besonders in seiner zweiten Amtsperiode zögerte Weitzman nicht, in die Tagespolitik einzugreifen – mehr als jeder Staatspräsident vor ihm.
Bereits 1996 und 1997 traf Weitzman mit Palästinenserpräsident Arafat zusammen, um auf diese Weise den Friedensdialog wieder in Gang zu bringen. Das erste Mal lud Weitzman Arafat sogar in sein Privathaus ein.
Weitzman machte aus seiner Distanz zu Netanjahu kein Geheimnis. Am 29. Juni 1998 forderte Weitzman Neuwahlen und bezog offen Stellung gegen Netanjahu (Ha-Aretz, 30.6.1998). Netanjahu konterte, der Präsident habe für die Araber Partei ergriffen, und kollaboriere mit ihnen (International Herald Tribune, 1.7.1998). Auch im Wahlkampf 1999 griff der Staatspräsident aktiv gegen den amtierenden Premier ein.
2000 stolperte Weitzman über einen Finanzskandal, als herauskam, dass er Jahre zuvor von Edouard Zaroussi 450.000 Dollar erhalten und nicht versteuert hatte. Von einem anderen Geschäftsmann hatte er, während er als Minister diente, 1985 bis 1987 monatlich 1.000 Dollar entgegengenommen. Auch diese Zahlungen wurden nicht versteuert (R. J. Smith, International Herald Tribune, 7.4.2000). Es kam zu einem Ermittlungsverfahren. Weil jedoch die Vergehen bereits „verjährt“ waren, verzichtete der Generalstaatsanwalt auf eine Anklage.
Mitte Januar 2000 meinten 50% der Befragten einer Geokartografia-Umfrage, der Präsident solle zurücktreten. Weitzman sah dies widerstrebend ein und erklärte am 10. April 2000 vorzeitig zurücktreten zu wollen. Die Begründung des 73-Jährigen: Er habe Gesundheitsprobleme. Besonders seine Beine „laufen nicht so, wie sie mal liefen“ (Dalia Schechori und Gideon Allon, Ha-Aretz, 10.4.2000). Sein Rücktritt erfolgte am 12. Juli 2000.
Einer Dachaf-Umfrage zufolge wollten Anfang Juni 2000 66% der Israelis den von Ein Israel nominierten Schimon Peres als Nachfolger und 19% den Likud-Kandidaten Mosche Katzav (Jedi’ot Achronot, 2.6.2000).
Dass sich die jeweilige Regierung mit der Durchsetzung ihres Kandidaten bei der Wahl des Staatspräsidenten schwer tut, zeigte am 31. Juli 2000 die Schlappe von Peres, der gegen Katzav unterlag. Zünglein an der Waage war die marokkanisch-orthodoxe Schass-Partei, der[100] es um Tauschgeschäfte für Religions- und Sozialpolitik und die Sicherung eigener Pfründe ging – doch natürlich auch und besonders um die Stellung der „Orientalen“. Die Stimmen von Schass sicherten Katzav den Sieg im zweiten Wahlgang mit 63 zu 57 Stimmen (im ersten Wahlgang waren es 60 zu 57). Auch nach der Wahl zog, Dachaf zufolge, die Mehrheit der Israelis (54%) Peres gegenüber Katzav (42%) vor.
Wie auch immer, Katzav war nicht nur der erste Präsident aus den Reihen des Likud, sondern auch der erste Präsident, für den die neue Regelung von sieben Jahren Amtszeit, ohne die Möglichkeit einer Wiederwahl, galt. Anders als bei US-Präsident Bill Clinton 2006/07 wurden Sexaffären mit Mitarbeiterinnen (plus Korruption) für Katzav zum Stolperstein. Im Januar 2007 verkündete der Generalstaatsanwalt, ihn anklagen zu wollen. In einer letzten großen Rede stilisierte sich Katzav als Opfer „rassistischer“ aschkenasischer Machenschaften aus Medien und Politik. Er trat nicht gleich zurück, sondern bat den zuständigen Knesset-Ausschuss um Amtsbeurlaubung. Sie wurde ihm mit knapper Stimmenmehrheit gewährt. Die Abgeordneten hätten, wie rund zwei Drittel der Israelis (Umfrage Radio Israel, 2. Programm, 25.2.2007), lieber seinen Rücktritt gesehen, der schließlich am 29. Juni 2007 erfolgte. Im Dezember 2010 wurde er wegen zweifacher Vergewaltigung und sexueller Belästigungen schuldig gesprochen, im März 2011 zu sieben Jahren Haft sowie zwei Jahren Bewährung verurteilt. Der Oberste Gerichtshof bestätigte das Urteil im November 2011. Im Dezember desselben Jahres begann seine Haftzeit.
Das Ansehen des Amtes litt jedoch nicht dauerhaft. Sein Nachfolger Schimon Peres (einst Mapai/IAP, dann Kadima), am 13. Juni 2007 gewählt, genoss schnell großes Vertrauen: Für 46% der Israelis war der seit Jahrzehnten als „ewiger Verlierer“ verhöhnte Peres quasi über Nacht „Mann des Jahres“, vor Olmert und Netanjahu mit jeweils 10% und Barak mit 4% (Umfrage Kol Israel, Dezember 2007. http://bet.iba.org.il/#top). Rund vier Jahre später, im April 2011, waren 78% mit Peres zufrieden, und für 72% war er, laut Ha-Aretz-Umfrage, Israels beliebtester Politiker.
Am 10. Juni 2014 wurde Reuven Rivlin, ehemaliger Parlamentspräsident und Mitglied des Likuds, von der Knesset im zweiten Wahlgang mit 63 Stimmen zum zehnten Präsidenten Israels gewählt.
Die vorhandene oder fehlende Übereinstimmung zwischen der politischen Herkunft des Staatspräsidenten und der größten Regierungspartei geht aus Abbildung 14 hervor.
Abbildung 14: Israels Staatspräsidenten und die führende Regierungspartei
[101]
W = Wiederwahl
G = Vorgänger während der Amtszeit gestorben
Informationen über den Präsidenten:
http://www.gov.il/FirstGov/TopNavEng/Engoffices/EngAuthorities/EngPresident/
7. Kommunalpolitik
Anders als in den Institutionen des Jischuv verfügten die Bürgerlichen in der Kommunalpolitik über regelrechte Hochburgen, besonders in Tel Aviv.
Dies wurde u.a. durch das auf dieser Ebene während der Mandatszeit bestehende Zensuswahlrecht möglich. Die Wahlberechtigten in Tel Aviv mussten z.B. 1928 fünfzig Piaster Steuern pro Jahr bezahlen. Das war zwar nicht viel, schränkte aber den Kreis der Wahlberechtigten ein. Einer der Gründe, die die britische Mandatsmacht zu diesen Wahlbeschränkungen veranlassten, war die Hoffnung, auf diese Weise den politischen Einfluss der aktivsten Zionisten (der Sozialisten) einzudämmen, ihnen Hindernisse in den Weg zu legen und dadurch die politische Basis des institutionellen Überbaus des Jischuv zu schwächen.
Weitreichende Befugnisse hatten die Kommunalverwaltungen weder in der Mandatszeit noch im unabhängigen Staat. Über weitreichende Vollmachten verfügte zur Zeit der Briten der Hochkommissar, nach Ende der Mandatszeit der Innenminister.
Der Innenminister kann Städte und Gemeinden dazu ermächtigen, Steuern zu erheben, aber deren Anteil sowie die übrigen Einnahmen, besonders aus Gebühren für Dienstleistungen der kommunalen Einrichtungen, reichen keineswegs aus, um den Haushalt der Lokalverwaltungen zu decken. Seit den 1980er Jahren stehen zahlreiche Gemeindeverwaltungen, u.a. auch die Stadtverwaltung von Tel Aviv, praktisch vor dem Bankrott. Ohne staatliche Subventionen konnten des Öfteren nicht einmal mehr die Löhne der Angestellten der Kommunalverwaltung bezahlt werden.
Hohe Kosten plus Abgaben und trotzdem immer weniger Leistungen haben dazu geführt, dass Israels Großstädte an Attraktivität verloren haben, besonders Jerusalem, wo noch weitere Faktoren hinzukommen: Von 1981 bis 1998 haben 228.000 Einwohner die Stadt verlassen, nicht, wie oft behauptet, wegen des vor allem dort ausgetragenen Kulturkampfes zwischen Religiösen und Nichtreligiösen, sondern wegen der hohen Wohnungspreise und der schlechten Situation auf dem Arbeitsmarkt (Jerusalem-Jahrbuch, zitiert von Nadav Schragai, Ha-Aretz, 28.2.2000).
[102]Für die Lokalpolitik interessieren sich die Israelis weniger als für die landesweite Politik. Ein brauchbarer Indikator hierfür dürfte die Wahlbeteiligung sein. Sie betrug unter den jüdischen Israelis bei Kommunalwahlen 1950: 79,6%, 1955: 78,6% (bei den gleichzeitigen Knesset-Wahlen 82,7%); 1959: 80,2% (bei den gleichzeitigen Knesset-Wahlen 81,4%); 1965: 82,7% (bei den gleichzeitigen Knesset-Wahlen 83,1%); 1969: 79% (bei gleichzeitigen Knesset-Wahlen 81,5%); 1973: 73,2% (bei den gleichzeitigen Knesset-Wahlen 78,6%), 1978: 57,3%, 1983 im ersten, in der Regel wichtigeren, weil meist entscheidenden Wahlgang: 58% und 1989 waren es ebenfalls in der ersten Runde lediglich 48%.
Beim ersten Wahlgang der Kommunalwahlen vom 2. November 1993 gingen nur 36% der jüdischen Israelis zur Wahlurne. Bei den Arabern waren es 70%! An den Kommunalwahlen vom 10. November 1998 beteiligten sich im ersten Wahlgang 50% der Juden und 70% der Araber.
Getrennt von Knesset-Wahlen wurde 1950, 1978, 1983, 1989, 1993, 1998, 2003, 2008 und 2013 abgestimmt.
a)Kommunalwahlen
Die Ergebnisse der Knesset- und Lokalwahlen lassen sich bis einschließlich 1973 leicht vergleichen, da sich die Gesetzesbestimmungen außerordentlich ähnelten. Die Kommunalwahlen sind allgemein, geheim, direkt, proportional und gleich, wobei man sich auch hier für Parteilisten entscheiden muss. Das aktive Wahlrecht besitzt man mit 17, das passive mit 20Jahren. Auch Einwohner, die nicht Staatsbürger sind, jedoch zumindest ein halbes Jahr vor dem Wahlgang im Land gelebt haben, sind abstimmungsberechtigt. Anders als die Stadt- und Gemeinderäte setzen sich die Kreisräte aus Delegierten der in ihnen zusammengefassten Siedlungen zusammen. Allgemeine Kommunalwahlen finden also in den ländlichen Siedlungen, z.B. in Kibbutzim und Moschawim, nicht statt.
Bis 1973 einschließlich wählte jeder Stadt- oder Gemeinderat eines seiner Mitglieder zum Bürgermeister, auch dessen Stellvertreter sowie den übrigen Magistrat. Durch das Gesetz vom 7. August 1975 ist derjenige zum Bürgermeister gewählt, der im ersten Wahlgang mindestens 40% der abgegebenen gültigen Stimmen auf sich vereinigt (Gesetzeszusatz vom 9. April 1976: zuvor waren es 50%, vgl. Baker 1977: 126 und Baker 1976: 79). Hat kein Kandidat auf Anhieb 40% erreicht, so findet ein zweiter Wahlgang 14 Tage später statt, wobei nur die beiden Erstplatzierten der vorigen Runde gegeneinander antreten.
Durch eine im Januar 1989 verabschiedete Gesetzesänderung können Bürgermeister und Gemeindevorsteher auch Abgeordnete der Knesset sein. Am 10. Juni 1998 beschloss die Knesset, dass der Bürgermeister einer Stadt nicht zugleich auch Knesset-Abgeordneter sein darf. Die städtischen Ämter wurden somit weiter aufgewertet. Jerusalems OB Olmert verzichtete 1999 auf sein Knesset-Mandat.
Ein Vergleich der Ergebnisse von Kommunal- und Knesset-Wahlen verdeutlicht, dass sich auf der lokalpolitischen Ebene, auch in Großstädten wie Tel Aviv, Mapai/IAP schon vor 1977 die Macht mit dem Likud bzw. dessen Vorläufern (Cherut und Gachal) teilen oder sie gar abgeben musste (Daten in Wolffsohn 1983: Tabelle 108).
Die seit 1965 gebildeten lokalpolitischen Koalitionen ließen die kommende Entwicklung erahnen. Anders als auf der nationalen Ebene schlossen NRP, Rafi und Gachal Koalitionen gegen den Arbeiterblock. Erst bei den Kommunalwahlen des Jahres 1989 überflügelte der Likud die IAP. Noch von 1983 bis 1989 regierte die IAP mit ihren Koalitionspartnern in 52 Kommunen, der Likud nur in 26. 1989 gewann der Likud in 58, die IAP in 38. In je einer führten die Religiösen der Schass, Agudat Israel oder der NRP.
[103]Ausgewählte Vergleichsdaten zwischen Knesset- und Kommunalwahlen zeigt Abbildung 15. Sie verdeutlichen, dass von den Ergebnissen der Kommunalwahlen nur sehr bedingt Rückschlüsse auf nationale Wahlen zur Knesset möglich sind. Die Kommunalpolitik unterliegt inzwischen weitgehend lokalen Bedingungen. Auf dieser politischen Ebene ist eine größere Vielfalt möglich geworden. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass es auch vor Teddy Kollek, dem Jerusalemer Bürgermeister, ausstrahlungskräftige „Stadtfürsten“ gab. Namen wie Aba Huschi (Haifa) und Avraham Krinitzi (Ramat-Gan) stachen hervor.
Teddy Kollek wurde 1989 zwar als Stadtoberhaupt wiedergewählt, verlor jedoch die Mehrheit im Stadtrat. Der Tel Aviver „Stadtfürst“ Schlomo Lahat errang ebenfalls im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit.
1993 trat Lahat ab, Teddy Kollek unterlag mit 35% haushoch dem Likudpolitiker Ehud Olmert (60%): die „Veralltäglichung“ des Charismas, um mit Max Weber zu sprechen. Auch in Tel Aviv siegte der Kandidat des Likud (Roni Milo) mit 47% gegen Avigdor Kahalani von der IAP (42%).
Abbildung 15: Ergebnisse der Knesset- und Kommunalwahlen im Vergleich
Abweichende Zahlen zum allgemeinen Wahlergebnis 1955 und 1965, da nicht in allen Gemeinden Kommunalwahlen stattfanden.
Insgesamt gewann der Likud im November 1993 in 52 Kommunen, die Arbeitspartei in 39. Der Sieg des Likud war kein „Protest“ gegen die am 13. September 1993 mit der PLO Unterzeichnete Prinzipienvereinbarung. Lokalpolitische Motive waren für die Wähler entscheidend (vgl. Wolffsohn 1994: 151f f.).
In den großen Städten erhielten im November 1998 die Sieger in Direktwahl weit mehr Stimmen als ihre jeweilige Partei. In Tel Aviv wurde Ron Chuldai (IAP) mit 50% im ersten Wahlgang Nachfolger von Roni Milo (früher Likud, dann Zentrum), der nicht mehr kandidiert hatte. In Jerusalem wurde Ehud Olmert (Likud) mit 61% ebenso in der ersten Runde bestätigt wie Avraham Mitzna (IAP) in Haifa mit 65%. In Be’er Scheva wurde der parteilose[104] und von der IAP geförderte Ex-Polizeichef Jakov Terner im ersten Wahlgang mit 59% gewählt. In Naharija gewann die einzige Frau: Mirjam Feierberg (Likud).
In sechs der sieben größten Städte Israels wurden IAP- oder IAP-nahe Kandidaten gewählt. Die Ergebnisse vom Mai 1999 warfen ihren Schatten voraus, vor allem der dramatische Zuwachs für Schass und orientalisch-jüdische Politiker.
Die Kommunalwahlen von 1998 fanden in einer ausgesprochenen Krisensituation statt. Die finanzielle Lage der Kommunen war kritisch, die Arbeit immer chaotischer und Streiks immer häufiger geworden. Im Dezember waren 88 Lokalverwaltungen nicht in der Lage, die Gehälter für den Monat auszuzahlen (Iris Baram u.a., Ha-Aretz, 18.1.1999).
Über die Jahre ist die Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen deutlich geringer geworden. Während 1955 79% der jüdischen Wähler ihre Stimme abgaben, waren es 1993 nur 56%, 1998 gerade 50% und 2003 gar 41%.
In den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung waren Vollblutpolitiker wie Kollek und Lahat vergleichsweise selten zu finden. Heute gehören die israelischen Kommunalpolitiker keineswegs zur zweiten oder dritten Garnitur. Ihr Selbstbewusstsein und ihre Stärke schöpfen sie aus der Tatsache, dass sie von der Bevölkerung direkt gewählt werden. Gewählt werden sie, weil sie Ausstrahlungskraft besitzen und keine Parteibonzen sind. Außerdem verfügen viele von ihnen über eine gute Ausbildung, was ihr Selbstwertgefühl ebenfalls hebt.
Das zeigte sich 1998 überaus deutlich. Die großen Parteien, IAP und Likud, waren die großen Verlierer. Der Trend bei den Parteien ging in Richtung Vielfalt und „ethnischer“ Zugehörigkeit. Davon profitierten besonders Schass und die „Russen“ von Israel Ba-Alija. Aber die wirklich großen Gewinner waren die „Stadtfürsten“, die oft ihre eigene überparteiliche Liste präsentierten. Zum Beispiel kandidierten im November 1998 die meisten IAP-Spitzenpolitiker Jerusalems auf der Liste des Likud-OBs Ehud Olmert.
Basisinformationen zu den Kommunalwahlen vom Oktober 2003: In Tel Aviv wurde Ron Chuldai (IAP) mit 62,8% wiedergewählt, aber seine Partei bekam statt der erwarteten sieben bis acht Sitze nur vier, der Likud drei, Schinui zwei. Die Wahlbeteiligung in Tel Aviv betrug „enorme“ 27%, landesweit 41%. Kleinere Listen legten nicht nur in Tel Aviv zu. Ein weiterer Beweis für den Niedergang der traditionellen Großparteien. Ausgenommen vom Trend waren die Orthodoxen von Schass und Thorajudentum. Ihre „Ghettomauer“ stand. In Jerusalem hatte schon im Juni 2003 (Bürgermeister Olmert war zurückgetreten) Uri Lupolianski vom Thorajudentum gewonnen. In Haifa hatte bei vorgezogenen Wahlen der gemeinsame Kandidat von Schinui, Grünen und Wählerinitiative, Jona Jahav, gewonnen. Bürgermeister Mitzna war im November 2002 an die Spitze der IAP gewechselt, von wo er nach dem Debakel der Knesset-Wahlen im März 2003 auf den harten Boden der Basis fiel. Die Knesset-Wahlen im März 2006 waren Vorboten der Kommunalwahlen am 28. Oktober, bei denen der Likud Hochburgen wie Dimona, Rosch Ha-Ajin, Hod Ha-Scharon, Mitzpe Ramon und Naharija verlor. Die Wahlbeteiligung lag bei nur 41%.
Auch am 11. November 2008 waren die kommunalen Listen unabhängiger von den großen Parteien und viel lokaler als einst. Die Wahlbeteiligung war 2008 noch niedriger als zuvor. In Tel Aviv lag sie bei knapp 33%, in Haifa bei 35%. Mit 53% lag die Hafenstadt Aschdod an der Spitze urbaner Wahlbeteiligung. In Tel Aviv siegte Amtsinhaber Ron Chuldai (IAP) mit 50%, nach 62% im Jahre 2003 ein erträglicher Dämpfer, 2013 erhielt er 53%. In Jerusalem tobte ein religionspolitischer Kulturkampf zwischen dem rechtsliberalen Unternehmer Nir Barkat und dem aschkenasisch-orthodoxen Menachem Porusch (Schass). Mit 52% gegen 43% wurde Barkat am 22. Oktober 2013 wiedergewählt. Er erhielt 12.000 Stimmen mehr als der religiöse Kandidat. Doch der religiöse, Arie Deri nahestehende Schass-Kandidat wurde auch vom nichtreligiösen Avigdor Liberman unterstützt. Parteibindungen werden auf[105] lokaler Ebene immer unbedeutender. Dass Jerusalem immer religiöser, „schwärzer“ wird, ändert daran nichts: 62% der Schüler besuchen orthodoxe Erziehungseinrichtungen, nur 38% staatlich-allgemeine oder staatlich-religiöse (Assa Stol-Trauring, Ha-Aretz, 11.5.2010). Die Schüler von heute sind Wähler von morgen, und Religiöse sind in Israel vermehrungsfreudiger als Nichtreligiöse.
Die Wahlbeteiligung war bei jüdischen Wählern auch 2013 niedrig. In Tel Aviv beteiligten sich knapp 28% der Wahlberechtigten, in Jerusalem 36%. Hier die historische Einordnung der jüdischen und arabischen Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen: 1950 und 1973 lag diese insgesamt bei knapp 80%, 1978–1998 bei knapp 60%, 2003–2013 bei 50% (http://en.idi.org.il/analysis/articles/the-israeli-municipal-elections-2013-some-preliminary-findings; zuletzt aufgerufen am 22.1.2015).
b)Arabische Kommunalverwaltungen
Die arabischen Kommunen haben sich zunehmend zu Staaten im Staat entwickelt. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die Kommunisten, die ab 1965 in diesem Sektor immer stärker wurden, auch wenn sie 1978 einen Rückschlag hinnehmen mussten, bis heute eine Brücke zwischen Juden und Arabern schlagen, da sie zwar keine Zionisten sind, doch die Existenz Israels in den Grenzen vom 4. Juni 1967 ausdrücklich anerkennen.
1977 erzielten die Söhne des Dorfes und die Progressive Nationale Bewegung, die, anders als die NKL, die Existenzberechtigung Israels grundsätzlich anzweifeln, beachtliche Erfolge.
1988 siegten islamische Fundamentalisten in einigen Kommunen, zum Beispiel in der zweitgrößten arabisch-israelischen Gemeinde Umm el-Fahem oder auch in Kfar Kassem. Sie sind inzwischen die bedeutendsten Rivalen der NKL im arabischen Sektor.
1993 konnte die Arabisch-Demokratische Partei ihre Position festigen, die NKL freilich auch. Die islamischen Fundamentalisten stagnierten, die Progressive Friedensliste fiel weiter zurück.
1999 waren wieder die Bindungen an Großfamilien bzw. die islamisch-arabische Tradition stärker, die Islamische Bewegung geschwächt und religiöse Konflikte zwischen Christen und Muslimen, besonders in Nazareth, wo ein Christ Oberbürgermeister wurde, aber im Stadtrat keine Mehrheit errang, prägten das Bild.
Die Wahlbeteiligung auf kommunaler Ebene spiegelt im Vergleich zur gesamtstaatlichen die stärkere Identifizierung der arabischen Bevölkerung mit der kommunalpolitischen Ebene wider. In der Regel erreicht sie mehr als 90%. 1978, als die jüdische Wahlbeteiligung besonders niedrig war, stimmten 88,6% der wahlberechtigten Araber ab, 1983 beteiligten sich 74% der Araber, doch nur 51% der Juden an den Kommunalwahlen. 1989 beteiligten sich rund 85% der israelischen Araber an den Kommunalwahlen. In der Bastion der islamischen Fundamentalisten, in Umm el-Fahem, waren es mehr als 90%. Dies dürfte u.a. damit zusammenhängen, dass sowohl die Kommunisten als auch die radikaleren Gruppierungen echte Alternativen zu den zionistischen Parteien darstellten, wenngleich vom Kommunismus bei den „Kommunisten“ nach dem Ende der kommunistischen Welt nicht viel blieb.
1993 und 1998 beteiligten sich je 70% der Araber an den Kommunalwahlen. 2008 waren es 90% in kleinen Gemeinden, rund 80% in arabischen Städten. Der Grund ist einfach: Die arabischen Kommunen sind arabisch und eben nicht jüdisch-zionistisch. Im Kleinbereich wird das große Problem Israels sichtbar: mit dem jüdischen Charakter des Jüdischen Staates identifizieren sich Nichtjuden kaum bis gar nicht.
[106]Am 22. Oktober 2013 war das gleiche Phänomen zu beobachten. In mehr als der Hälfte der arabischen Kommunen lag die Wahlbeteiligung zwischen 90% und 100% (Meirav Arlosoroff, Ha-Aretz, 22.10.2013). Möglicherweise bahnte sich bei den Kommunalwahlen vom Oktober 2013 etwas Neues an: Unabhängige Kandidaten siegten über alte und neue arabische Parteien, z.B. in Nazareth. Die Mehrheit der palästinensisch-arabischen Wähler wollte offenbar weder Islamismus noch Patriotismus oder Sozialismus, sondern Pragmatismus.
Die in Ost-Jerusalem lebenden Palästinenser wollen am jüdischen Gemeinwesen offenkundig nicht oder wieder weniger als zuvor teilnehmen. Sie sind zwar bei den Kommunalwahlen für ganz Jerusalem wahlberechtigt, aber kaum wahlwillig. 1973 beteiligten sich beispielsweise nur 9% der Palästinenser Ost-Jerusalems, 1978 sogar 18%, aber 1989, im zweiten Jahr der Intifada, kamen lediglich 3%. Die Führung des palästinensischen Untergrundes hatte zum Wahlboykott aufgerufen.
Im November 1993 wählten nur 6.000 der 90.000 wahlberechtigten Palästinenser Ostjerusalems – Stimmen, die Kollek fehlten. Die PLO hätte seine Wiederwahl begrüßt. 1998 wählten sogar noch weniger. Die Distanz blieb.
Literaturhinweise
—Elazar/Kalchheim 1988
—Wolffsohn 1983: Kapitel 49, 50
—Informationen zur Kommunalpolitik:
http://www.gov.il/firstGov/topNav/OfficesAndAuthorities/OALocalAutorities http://www.masham.org.il/English/Pages/default.aspx http://www.knesset.gov.il/lexicon/eng/LocalAuthorities_eng.htm