Читать книгу Das Mirakelbuch. Historische Erzählungen aus dem Westerwald - Michaela Abresch - Страница 7

Die Verlorene

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(Wülfersberg, Anno Domini 1450)

Sie lächelte. Es war ein gütiges und zugleich versteinertes Lächeln, wie es nur in die Züge eines Madonnenantlitzes gemeißelt sein konnte.

Die Lippen fest aufeinander gepresst, heftete Perdis ihren Blick auf die Heilige, während sich der Seitenflügel der Marienkapelle leerte. Ein Meer aus weißen Ordenskleidern und schwarzen Schleiern glitt leise raschelnd aus den Bänken und durch den Mittelgang hinaus ins Freie. Als Perdis die Kapellentür nach der letzten Schwester ins Schloss fallen hörte, sackten ihre schmalen Schultern zusammen.

Die Schwestern hatten sich daran gewöhnt, dass Perdis stets die Letzte war, diejenige, die noch blieb, wenn die Stundengebete beendet und die Mitschwestern längst gegangen waren. Niemand wollte die Andacht der Kleinen stören, wenn sie mit unbewegtem Blick vor der Statue der Madonna verharrte. Selten hatte die Oberin eine Novizin mit solcher Demut beten sehen.

Sie war ein sonderbares Mädchen. Immer schon gewesen. Nicht nur, dass sie keine begüterte Adelstochter war, wie die meisten hier, und es niemanden gab, der dem Konvent mit dem Eintritt der Novizin eine Mitgift zahlte, wie es üblich war in Wülfersberg. Vielmehr noch fiel ihr verträumtes, selbstvergessenes Wesen auf, das ihr eine Art unsichtbaren Mantel verlieh, der die anderen immer ein wenig auf Abstand hielt. Schon als Kind hatte sie ihre Zeit am liebsten im Klostergarten verbracht, wo sie rücklings im Gras zwischen den Obstbäumen gelegen und sich mit ihnen auf stumme Weise verständigt hatte. Die Mitschwestern schüttelten die Köpfe, ließen sie jedoch gewähren. Erst als sie irgendwann angefangen hatte, das Klostergelände unerlaubt zu verlassen, um Stunden später mit erhitzten Wangen zurückzukehren, bestellte die Mutter Oberin sie zu sich.

„Du bist kein kleines Mädchen mehr, Perdis, sondern eine Novizin. Du hast die Klosterregeln zu befolgen wie alle hier!“

Unter der Stimme der Oberin war Perdis erschrocken zusammengezuckt. Das Verbot, sich nicht außerhalb der Klostergebäude aufzuhalten, war ihr nicht fremd.

„Ich weiß, Ehrwürdige Mutter“, hatte Perdis gemurmelt und verlegen zu Boden geblickt. In der Nähe befand sich das Nachbarkloster Rommersdorf, in dem die Brüder lebten. Nie hatte sich jemand die Mühe gemacht, Perdis zu erklären, warum es Schwestern und Mönchen nicht erlaubt war, die jeweiligen Klöster zu verlassen, und danach zu fragen, hatte sie nie gewagt.

Krämpfe schüttelten Perdis, während die Lippen der Madonna unentwegt lächelten. Sie schlang die Arme um den Leib. Wie lange ließ sich ihr Leiden noch vor den anderen verbergen? Seit ein paar Tagen hatten sich die Schmerzen verschlimmert. Sie überfielen sie häufiger, kamen stoßweise, machten ihren Leib hart wie ein Brett und zogen bis in den Rücken. Sie zwang sich zur Ruhe, versuchte, gleichmäßiger zu atmen. „Warum strafst du mich, Herr?“ Kaum hörbar verließen die Worte ihre Lippen. „Fließt unreines Blut in meinen Adern, dass ich nicht würdig bin, das Leben einer Prämonstratenserin zu führen?“

Niemand außer dem himmlischen Vater kannte ihre Herkunft.

Gefunden hatte man sie. An der Klosterpforte, eingewickelt in ein fadenscheiniges Tuch, kaum ein paar Tage alt, mager und zu schwach zum Weinen. Die Schwestern hatten sich ihrer erbarmt und sie noch am gleichen Tag mit geweihtem Wasser getauft. Perdis, die Verlorene.

„Deine Mutter verlor dich“, hatten sie ihr erklärt, später, als sie älter war, „und Gott in seiner Gnade sorgte dafür, dass wir dich fanden.“

Einmal hatte Perdis einen Knopf von ihrem Ordenskleid verloren. Sie hatte solange in jeder Ecke ihrer Zelle nach ihm gesucht, bis sie ihn fand. Warum hatte ihre Mutter nicht ebenfalls so lange nach ihr gesucht, bis sie sie wieder gefunden hatte? Vielleicht lag es daran, dass Perdis für den verlorenen Knopf keinen Ersatz gehabt hätte.

Der Geruch der Opferlichter, die vor der Madonna brannten, erfüllte die Luft in der düsteren Kapelle. Still war es, kein Geräusch außer ihrem Atem. Der Schmerz ebbte ab und sie kniete sich mit gesenktem Kopf auf den mit Lehm und Stroh festgestampften Boden. Lautlos formten ihre Lippen die Verse des Rosenkranzgebetes, während die glatten, braunen Holzperlchen eines nach dem anderen durch ihre Finger glitten.

Es war irgendwann im letzten Sommer gewesen, an einem heißen, trockenen Tag um die Mittagszeit. Im Schutz des Waldes hatte sie es gewagt, ihren Novizinnenschleier abzustreifen. Es hatte so gut getan, die Hände in den Bach zu tauchen, um sich damit über das erhitzte Gesicht und die raspelkurzen Haare zu fahren. Der Wald war ihr Vertrauter, die Bäume ihre Gefährten; hier gab es keine Mauern, keine Verbote, keine Regeln, niemanden, der kontrollierte oder mahnte.

Dass sie beobachtet wurde, hatte sie nicht bemerkt. Er hatte es ihr erst gestanden, nachdem sie sich eine Weile kannten und er sie ein paar Mal mitgenommen hatte in seine Baumhütte. Ein Versteck, errichtet zwischen drei kräftigen Eichenstämmen, mit Wänden aus miteinander verwobenen Weidenzweigen, ausgekleidet mit Laub, und über allem ein Schatten spendendes Dach aus Ästen und Moos. Er hieß Gabriel, trug ein ähnliches Ordenskleid wie sie und auch er hatte die Gelübde noch nicht abgelegt.

Sie erhob sich, als ihre Knie sich taub anfühlten und trat aus dem Dämmerlicht der Kapelle ins Freie. Bald würden an dieser Stelle die Feierlichkeiten stattfinden und sie, Perdis, würde im Mittelpunkt stehen. Allein der Gedanke versetzte sie in Unruhe. Wie konnte sie dem Herrn eine demütige Braut sein, wenn sie weiter unter den Anfällen litt?

Eine neue Schmerzwelle schoss in ihren Leib. Ihre Knie verloren den Halt. Vor der Kapellentür sank sie zusammen. Warme Flüssigkeit rann an ihren Beinen herab, sammelte sich zu einer Pfütze, die ihr Ordenskleid durchnässte.

Heilige Muttergottes, alle Engel des himmlischen Reiches, heiliger Petrus, Schutzpatron unseres Klosters, helft mir, steht mir bei, ich bitte euch …

Gebetsfetzen stammelnd wartete sie auf das Nachlassen des Schmerzanfalls. Dann kroch sie auf Händen und Knien zu der niedrigen Mauer neben dem Seitenflügel der Kapelle. Haltsuchend krallte sie die Hände ins Mauerwerk, zwang sich zur Ruhe und flehte Gott um Gnade an. Nach einer Weile gelang es ihr aufzustehen.

Sie warf einen Blick hinüber zum Kreuzgang, an den sich das Refektorium anschloss, in dem sich die Schwestern um diese Zeit versammelten, um die Mittagsmahlzeit einzunehmen. Ihr Platz würde leer bleiben. Man würde sie vermissen. Nach ihr suchen. Entdecken, dass sie krank war. Man würde sie nicht zulassen zur Profess. Jesus würde keine kranke Braut wollen. Aber ihr fehlte die Kraft, hineinzugehen, sich zu den anderen an den Tisch zu setzen und ihren Schmerz zu überspielen.

Niemand darf mich so sehen … Sie raffte den feuchten Saum ihres Kleides und lief so rasch sie konnte. Es fiel schwer, jeder Schritt war eine Qual, jeder Atemzug ein Stöhnen. Ihr Schleier verfing sich im Gestrüpp und zerriss. Sie erreichte die Baumhütte, bevor sie sich zum ersten Mal übergeben musste. Wie ein Tier kniete sie am Bach, um sich Wasser ins Gesicht zu schöpfen. Nach einer Weile kroch sie zurück zur Hütte. Sie erinnerte sich an die Stunden, die sie mit Gabriel hier verbracht hatte, an seine Geschichten, mit denen er sie zum Lachen und zum Weinen bringen konnte, und an seine Hände, die sie angefasst hatten, wo noch nie jemand sie angefasst hatte. Leibkrämpfe schüttelten sie, etwas drückte zwischen ihren Beinen. Sie tastete danach, fühlte die harte Wölbung unter dem Stoff ihres Kleides. Schweiß perlte auf ihrer Stirn.

„Ave Maria, gratia plena, dominus tecum …, lass mich nicht sterben …“ Achtlos riss sie sich den Schleier vom Kopf, rieb sich damit Tränen und Schweiß aus dem Gesicht. Wieder zwang die Übelkeit sie zum Würgen. Sie richtete ihren Oberkörper auf, dann wurde es dunkel vor ihren Augen.

Ein Schrei rief sie zurück ins Bewusstsein. Dass sie selbst ihn hervorgebracht hatte, begriff sie nicht. Der Schmerz zerschnitt ihr die Eingeweide. „Es soll aufhören!“

Warum hörte ihre Stimme sich so fremd an? Jemand war bei ihr, murmelte etwas, das sie nicht verstand, legte ihr etwas Kühles auf die Stirn. „Ruhig, versuch ganz ruhig zu atmen.“ Eine Frauenstimme. Ein weißes Kleid. Hände zwischen ihren gespreizten Schenkeln. Worte in einem Singsang, der beruhigte.

Sie bäumte sich auf, spürte die fremden Hände auf ihrem Leib, wie sie ihn drückten und pressten. Mit dem letzten Schrei endlich verschwand der Schmerz. Perdis sank zurück. Aus halbgeöffneten Augen sah sie den blutverschmierten Körper des winzigen Wesens zwischen ihren Beinen, und Hände, die es hielten. Sie wischten weißen Schleim aus seiner Mundhöhle und betteten es vorsichtig in den zerrissenen Kopfschleier. Es fühlte sich warm an und brachte kurze, kehlige Laute hervor, als es auf Perdis’ Brust lag.

Zwei Monate später, zu Trinitatis am Sonntag nach Pfingsten, legten Perdis und zwei weitere Novizinnen in der Klosterkapelle zu Wülfersberg die Gelübde der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams ab. Als die Schwestern in geordneten Reihen, die drei neuen Bräute Jesu in ihrer Mitte, von der Kapelle ins Refektorium zogen, unterbrach das Schreien eines Säuglings die Andacht. Die Schwestern lächelten. Ihr Findelkind.

Jemand hatte es kurz vor Ostern an der Klosterpforte verloren, so wie Perdis damals. Ein kleines Mädchen, es war höchstens ein paar Stunden alt gewesen, aber kräftig und gesund. Der Umstand, dass es in den Kopfschleier einer Prämonstratenserin eingewickelt war, sorgte für eine Menge Spekulationen, die die Mutter Oberin jedoch rasch verbot. Sie vertraute Perdis die Pflege des Säuglings an, und nach kurzer Zeit wunderte sich niemand mehr darüber, dass das Kind sich ausgerechnet von der merkwürdigsten Schwester im Konvent am schnellsten in den Schlaf wiegen ließ.

Das Mirakelbuch. Historische Erzählungen aus dem Westerwald

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