Читать книгу Das Mirakelbuch. Historische Erzählungen aus dem Westerwald - Michaela Abresch - Страница 8

Kreuz, Dolch und Hütestab

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(Die Wälder um Reichenstein, Anno Domini 1550)

Nur bei genauem Hinsehen konnte man die schmale Hand der Äbtissin zittern sehen, während sie die Finger nach dem Dolch ausstreckte. Unbeachtet hatte er viele Jahre in seinem Grab aus Erde und vermodertem Laub geruht, verborgen vor den Augen aller, so, als habe es ihn nie gegeben und als sei das Blut, das inzwischen auf dem matt gewordenen Stahl zu schwarzen Flecken getrocknet war, nie geflossen. Das tödliche Geheimnis, um das nur die Äbtissin und Johannes wussten, schien in der bewaldeten Senke hinter dem Burgberg so gut aufgehoben wie nirgendwo sonst.

Sie zögerte und warf einen raschen Blick über die Schulter, wo sie in einiger Entfernung am Waldrand ihre Mitschwester zurückgelassen und sie gebeten hatte, dort zu warten, während sie selbst eine Weile in der Einsamkeit des Waldes zu verbringen wünschte. Richildis, die fromme Seele, wäre in einen Schreikrampf ausgebrochen, hätte sie den Dreck unter den Fingernägeln der Ehrwürdigen Mutter entdeckt oder gar den Dolch, den diese soeben aus seinem Versteck befreit hatte.

Die blauen Augen der Äbtissin verengten sich, während sie ihren Blick erneut auf das Messer richtete. Nicht berühren, nur ansehen … Die Hand mit dem Siegelring zuckte zurück. Spuren feuchter Erde klebten zwischen ihren Fingern, wie damals. Sie schloss die Augen.

„Er muss fort … für immer verschwinden … niemand wird davon erfahren …“

Schweiß perlte auf Klaras Stirn, einzelne Haarsträhnen hatten sich aus dem silbernen Reif gelöst, der ihr hüftlanges, dunkles Haar bändigte. In größter Hast gruben ihre Hände eine Mulde in den Waldboden, dabei kniete sie wie ein Bauernmädchen auf der Erde, mit vor Anstrengung geröteten Wangen und schmutzigem Kleid. Stieß sie beim Graben auf verzweigtes, knorriges Wurzelwerk, gab sie unwillige Laute von sich, die der Tochter des Burgherrn niemand zugetraut hätte. Doch sie hörte nicht auf, grub und wühlte und verschwendete keinen Gedanken an die Worte, die ihrer Mutter später die Ursache der schmutzigen, abgebrochenen Fingernägel erklären würden.

Geistesabwesend und ohne eine Bewegung stand Johannes indessen neben ihr. Noch immer war die Farbe nicht in sein Gesicht zurückgekehrt. Bleich, mit vor Schreck und Angst geweiteten Augen und steifbeinig wie eine Holzpuppe, war er Klara gefolgt, die ihm mit flinken Schritten vorausgeeilt war. Mit unbewegter Miene sah er ihr nun dabei zu, wie sie am Fuß der mittleren von fünf nebeneinander stehenden und erhaben aufragenden Fichten auf den Knien lag und ein Loch ins Erdreich scharrte. In der Hand hielt er mit zwei spitzen Fingern sein Messer, einen Dolch mit lederumwickeltem Griff und kurzer, scharfer Klinge, ein Geschenk seines Vaters, das Wertvollste, das Johannes je besessen hatte. Jetzt klebte Blut daran, frisches, hellrotes Blut, von der Spitze bis zum Heft.

Seine Hand zitterte, als er mit langsamen Bewegungen neben Klara auf die Knie sank und das Messer in die kleine Mulde fallen ließ. Erst dann wich die Starre aus Johannes’ Körper, seine Gedanken flossen wieder. Er wandte den Kopf und sah Klara in die Augen. Keiner von ihnen sagte ein Wort, sie wechselten nur einen Blick, in dem alles lag, was auszusprechen nicht nötig war, weil sie es auch so wussten. Vier Hände häuften Laub, winzige Ästchen und Erde über den Dolch und beide, Klara, die Tochter des Burggrafen zu Reichenstein und Johannes, der Schafhirte, glaubten, das Geheimnis, das sie fortan miteinander teilten, damit für ewig ins Vergessen bannen zu können.

Ein Tier huschte durchs Gestrüpp. Die Äbtissin erschrak. Sie öffnete die Augen. Nach der langen Zeit ihre Heimat aufzusuchen, rief Erinnerungen hervor; das hatte sie gewollt. Es waren nicht wenige, mit denen sie nun kämpfte, dabei war sie doch hierher zurückgekehrt, um ihren Frieden zu machen. Zu sehen, dass die Burg, die einst ihr Zuhause gewesen war, nach dem gewaltsamen Tod ihres Vaters und den darauffolgenden Streitereien um das Wohn- und Erbrecht zum Sitz fremder Herren geworden war und inzwischen mehr einer Ruine als einer Wohnstätte glich, versetzte ihr einen Stich. War auch dies ihre Schuld?

Über ihr strich der Wind durch die Äste, sanft wiegten sich die Baumspitzen hin und her. Zerrupfte Wolkenfetzen trieben darüber hinweg, es war ein Tag wie damals. Mitten im Sommer war es gewesen, die Luft war erfüllt vom Sirren der Grillen und dem sanften Strömen des Holzbachs, zu dessen linkem Ufer sich auf einer Felsenflanke die zweihundert Jahre alte Burg Reichenstein erhob.

Die Äbtissin richtete sich auf und heftete den Blick auf die schwankenden Baumwipfel.

Ein junges Mädchen rannte durchs Unterholz. Es war zu alt, um umherzutollen wie ein Kind, doch hier, in der Abgeschiedenheit des Waldes, hielten weder strenge elterliche Blicke noch höfische Regeln es davon ab. Nicht einmal Notburga, ohne deren Begleitung sie keinen Schritt außerhalb der Burgmauern tun durfte, hatte ein Auge für die Tochter des Burgherrn. Selig schlummernd, den Kopf auf die rechte Schulter geneigt, saß die immer erschöpfte und stets für eine kleine Rast dankbare Zofe im Schatten eines belaubten Astes und stieß beim Atmen leise Pfeiftöne aus.

Klara von Reichenstein lief, ihr feines moosfarbenes Leinenkleid mit beiden Händen gerafft, über den weichen Waldboden und freute sich, dass er ihre Schritte abdämpfte und Notburga einen so gesegneten Schlaf hatte. Wo der Wald lichter wurde, hielt Klara inne, um Atem zu schöpfen. Ihre Blicke streiften die vor ihr liegenden Wiesen und Felder, welche die Hügel des Reichensteiner Landes überzogen. Da! Ganz in der Nähe fand sie, wonach sie gesucht hatte. Wieder raffte sie ihr Kleid und kurz darauf befand sich die Tochter des Burgherrn inmitten einer Viehweide, umgeben von grasenden Lämmern und Schafen, und sie musste aufpassen, mit ihren feinen Schuhen nicht in einen Haufen Schafsköttel zu treten. Ein struppiger, schwarzer Hund sprang ihr entgegen, doch sie schenkte ihm ausnahmsweise keine Beachtung.

„Hast du ihn fertig?“, fragte sie, noch atemlos und erhitzt vom Laufen, als Johannes auf sie zukam.

„Komm her und sieh ihn dir an“, antwortete er. Mit einer feierlichen Geste reichte er ihr seinen aus Schwarzdorn geschnitzten Hütestab. Klara nahm ihn in beide Hände. Dicht vors Gesicht hielt sie ihn, um die hineingeritzten Muster richtig erkennen zu können: Spiralen, blütenartige Ornamente, breite und schmalere Flechtbänder und viele gewellte, in kleinen Kringeln endende Linien.

„Johannes …“, hauchte sie. Sie hob den Kopf. Wie in einem offenen Buch stand die Bewunderung in ihrem Gesicht geschrieben. „Er ist wunderschön geworden!“

Johannes strahlte. Es hatte lange gedauert, bis er im vorigen Jahr in den Schwarzdornhecken den richtigen Ast entdeckt hatte: Kräftig musste er sein und möglichst gerade gewachsen. Er wusste, dass man ihn im Winter schneiden und ein Jahr ablagern sollte, um ihm größere Haltbarkeit zu verleihen. Er hatte ihn mit einem Teil des Wurzelstocks ausgegraben, damit er daraus eine Art Knauf machen konnte, und als die Zeit gekommen war, hatte er damit begonnen, die Rinde auszuschmücken. Der Dolch, den sein Vater ihm geschenkt hatte, bevor er zum ersten Mal allein mit den Schafen zum Weiden gegangen war und der ihm vor allem als Waffe dienen sollte, falls ein wildes Tier seine Herde bedrohen sollte, war ihm dabei ein nützliches Hilfsmittel gewesen.

„Du solltest deinen Namen hineinschnitzen“, sagte Klara. Mit den Fingerspitzen fuhr sie die Muster in der Rinde nach.

„Oder wenigstens den ersten Buchstaben.“

Johannes schwieg.

„Was meinst du?“, fragte Klara nach, ohne aufzublicken.

„Meinen Namen …“, stammelte Johannes, „ach, ich weiß nicht. Ist kein Platz mehr dafür.“

„Doch, sieh hier!“ Mit dem Zeigefinger wies sie auf eine zweifingerbreite Stelle am unteren Teil des Schwarzdornstabes, die genügend Platz für einen oder zwei Buchstaben bot. Erwartungsvoll suchte sie Johannes’ Blick. Doch statt ihn zu erwidern, machte er sich in einer nutzlosen Geste an seinem Gürtel zu schaffen. Dass er damit ihrem Blick und auch ihrem Vorschlag ausweichen wollte, bemerkte Klara sofort. Im Stillen schalt sie sich eine Närrin, weil sie ihren Freund mit ihrer unbedachten Äußerung in Verlegenheit gebracht hatte. Nur die wenigsten Dorfleute waren des Schreibens und Lesens kundig, die Hirtenjungen zählten gewiss nicht dazu.

„Wenn du möchtest, zeige ich dir, wie es geht“, sagte sie sanft, reichte ihm seinen Stab zurück und ließ ihm Zeit mit der Antwort. Sie beugte sich zu dem Hund herunter, der unaufhörlich an ihrem Kleid schnupperte und um ihre Zuneigung bettelte.

Nach einer Weile setzte Johannes sich zu ihr. Er überkreuzte die Beine und legte den Stab quer darüber.

„Zeig’s mir“, bat er. Ein Lamm sprang auf seinen Schoß. Gedankenverloren kraulte er das weiche Vlies. „Aber zeig mir auch, wie man Klara schreibt“, setzte er hinzu. Sie hörte das Flehen in seinen Worten, das mehr war als nur eine Bitte. Sie sahen sich an und lächelten einander zu. Johannes zog sein Messer aus dem Gürtel.

„Ehrwürdige Mutter, bei allen Heiligen, ist Euch nicht wohl?“

Die Äbtissin schreckte zusammen. Sie hatte Richildis nicht kommen gehört, obwohl ihre Mitschwester nur gute zwei Schritte hinter ihr stand und keuchte wie ein Steinhauer bei der Arbeit. Zum Glück konnte sie von dort aus die Mulde mit dem freigelegten Dolch nicht einsehen, wie die Äbtissin erleichtert feststellte.

In einer hastigen Bewegung erhob sie sich und trat auf Richildis zu. Eine sanfte Berührung genügte, um sie wie zufällig in die entgegengesetzte Richtung zu leiten.

„Es ist alles in Ordnung, Richildis, mach dir keine Sorgen.“

„Aber Ihr macht den Eindruck, als wäret Ihr von einem Schwindel befallen, kauernd auf der Erde. Ihr schwankt wie ein Halm im Wind.“

„Das bildest du dir ein. Geh jetzt wieder und lass mich noch ein wenig nachdenken!“ Der forsche Klang in der Stimme der Äbtissin duldete keinen Widerspruch.

Richildis senkte den Kopf, nickte und tat wie ihr geheißen. Die Äbtissin wartete einen Augenblick, dann wandte sie sich wieder um. Von oben blickte sie auf den frei gegrabenen Dolch herab. In der Erinnerung sah sie, wie eine Faust sich um ihn schloss, ihn so fest umklammerte, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Dann hörte sie Johannes’ Stimme. „Gebt sie frei oder ich …!“

Die Klinge blitzte auf. Mit vor Schreck geweiteten Augen hielt Klara still. Einer der beiden Halunken stand dicht hinter ihr. Er hatte ihr beide Arme auf den Rücken gedreht und presste seinen Wanst gegen ihren Körper. Sein Schweißgeruch war kaum auszuhalten, Klara drehte den Kopf zur Seite, um ihm auszuweichen.

„Hast du gehört? Das Bürschchen droht uns!“, höhnte sein Kumpan, dem bis auf zwei schwarze Stümpfe alle Zähne fehlten. Breitbeinig stand er über einem Lamm und hielt das Tier unter den zappelnden Vorderbeinen gepackt, um es am Fortlaufen zu hindern. „Ein kühnes Vorhaben für einen so schmächtigen Kerl.“

Das Lamm sträubte sich, es bereitete dem Zahnlosen einige Mühe, es nicht entwischen zu lassen.

„Aber eins muss man dir lassen“, bellte der andere. „Eine hübsche kleine Jungfer hältst du dir.“ Dabei rieb er sein stoppelbärtiges Gesicht an Klaras Scheitel. Sie versuchte, den aufsteigenden Würgreiz im Hals zu unterdrücken. Ohne Aussicht auf Erfolg wand sie sich in seiner Umklammerung.

„Lass … mich … los!“, zischte sie zwischen den Zähnen hindurch.

„Ob der Graf weiß, dass seine Tochter sich mit einem stinkenden Schäfer abgibt?“

Sie hörte seine Stimme nah an ihrem Ohr und es ekelte sie, dabei seinen Atem auf ihrer Haut zu spüren. Den Kopf in die andere Richtung drehend, warf sie Johannes einen flehenden Blick zu.

Wie es dazu kam, dass gleich darauf drei Dinge gleichzeitig geschahen, wussten weder Klara noch Johannes später zu sagen.

In seiner Angst konnte sich das Lamm plötzlich aus dem Griff des Zahnlosen winden. Während es mit zwei flinken Sätzen davonsprang, stürzte dieser, überrascht durch die Kühnheit des Tieres, beim Versuch ihm nachzusetzen und es wieder einzufangen, der Länge nach auf die Erde. Zur gleichen Zeit trat Johannes mit dem Dolch in der Faust einen großen Schritt auf Klara und ihren Peiniger zu. Von hinten rückte er dicht an ihn heran. Die Klinge des Dolches bohrte sich in das schäbige Hemd des Fremden.

„Lass sie gehen, du Lump, sofort!“, raunte er. Niemand sah das Flackern in seinen Augen und nur Klara, die ihn lange genug kannte, vernahm den Unterton in seiner Stimme, der klang wie der eines zu allem Entschlossenen. Sie hielt den Atem an. Doch der Halunke presste sie noch eine Spur fester an sich und lachte.

„Ich hab’ mir schon immer genommen, was ich haben wollte. Und jetzt will ich ein Lamm gegen den Hunger und diese Jungfer hier zum Spielen.“ Wieder ließ er sein spöttisches Gelächter hören, doch dieses Mal erstarb es von einem Augenblick zum nächsten.

Seine Hände ließen von Klara ab und sie stolperte von ihm weg. Der Blick aus seinen weit aufgerissenen Augen heftete sich auf Johannes, glitt von dessen Gesicht hinunter zu der Rechten, die den Dolch hielt. Blut tropfte von der Spitze auf die Erde. In einer unbeholfenen Bewegung tastete seine Hand nach der Verwundung am Rücken, fand den feuchten, langsam größer werdenden Fleck in seinem Hemd, der nichts Gutes verhieß.

Klara, die schutzsuchend an Johannes’ Seite geflohen war, zitterte vor Angst und Erleichterung. Der zweite Strauchdieb hatte sich in der Zwischenzeit erhoben und starrte ungläubig von Johannes zu seinem Kameraden.

„Das werdet ihr büßen, alle beide!“, rief er mit einem hasserfülltem Seitenblick, bevor er seinen verletzten Kumpan stützte und sich zusammen mit ihm davonmachte.

Erst jetzt bemerkte Klara die Tränen, die ihr übers Gesicht rannen, und wie schwach sie sich auf einmal fühlte. Es war, als klebe der Gestank des Fremden an ihren Kleidern, als spüre sie noch immer den Griff seiner schmutzigen Hände auf ihrer Haut.

„Du hast mich gerettet“, flüsterte sie. Sie suchte in Johannes’ Gesicht nach einer Regung, einem Gefühl, einem Zeichen, das ihr verriet, was in ihm vorging. Doch da war nichts. Schreckensbleich und wie versteinert stand er da, seinen Dolch fest in der Hand, doch unfähig, eine weitere Entscheidung zu treffen oder ein Wort zu sagen.

Klara wusste, dass sie handeln musste.

„Du hast mich gerettet“, wiederholte sie und berührte seine Schulter. „Jetzt rette ich dich.“

Später sank Klara neben der leise schnarchenden Notburga, die von all dem nichts mitbekommen hatte, auf den weichen Waldboden. An einer seichten Stelle im Holzbach hatte sie sich notdürftig die Hände gewaschen und den Dreck vom glatten Leder ihrer Ausgehschuhe gerieben, doch dem schmutzig gewordenen Kleidersaum war nicht beizukommen. Mit den Fingern kämmte sie ihr Haar und steckte den Silberreif ordentlich hinein, dann stupste sie Notburga an. Erschrocken schlug die Zofe die Augen auf.

So wie Klara damals ließ sich die Äbtissin jetzt auf dem mit Fichtennadeln übersäten Waldboden nieder. Gurgelnd rauschte der Holzbach in der Nähe, in den Ästen über ihr sangen die Vögel.

Notburga hatte nie gefragt, womit Klara sich die Zeit vertrieb, während sie ihre heimlichen Nickerchen machte. In der Erinnerung schien es, als hätten sie und ihre Zofe einen unausgesprochenen Pakt geschlossen, einander nicht zu verraten.

Wieder streifte der Blick der Äbtissin den Dolch. Sie hatten ihn gemeinsam vergraben, also trugen sie beide die Schuld an dem, was geschehen war. Sie hatte ihn nur aus seiner jahrelangen Gefangenschaft befreit, damit sie die Geschehnisse der Vergangenheit noch einmal spüren und dann Gott ein allerletztes Mal um Vergebung bitten konnte.

„Herr, du weißt, wie oft ich mich im Schmerz meiner Schuld vor dir niederwarf, dich all die Jahre, Tag für Tag, immer wieder um deine Gnade, deine Vergebung bat. Ein letztes Mal flehe ich zu dir, erbarme dich meiner, erbarme dich unser.“ Ohne es zu merken, hatte sie ihre Hände gefaltet und sie an die Stirn gepresst.

Als sei es gestern gewesen, erinnerte sie sich, dass man zwei Tage nach dem Vorfall – Heinrich, ihr Vater, wurde erst Tags darauf von einer Reise zurückerwartet – einen Strauchdieb am Rande des Halsgrabens fand, mit einer Stichverletzung im Rücken, an der er verblutet war. Ein Stein aus Angst, schwer und groß wie der Hammerberg, nahm Klara beinah die Luft, als sie von der Kunde hörte. Sie verfiel in eine Schweigsamkeit, die sich niemand erklären konnte. Nachts fand sie aus Sorge um Johannes keinen Schlaf und Tags konnte sie ihre Aufmerksamkeit aus demselben Grund weder auf ihre Stickarbeiten noch auf die Schreibübungen lenken. Die Vorstellung, der zweite Halunke könne seine Drohung wahr machen und Johannes etwas antun, lähmte sie und legte einen Schatten auf ihr Herz, der nicht weichen wollte. Ihre Mutter verbot ihr ausdrücklich, die Burg zu Spaziergängen mit Notburga zu verlassen, solange der Vater nicht zurück und der Mörder nicht gefasst war.

Klara litt, ersuchte Gott in einsamen, flehenden Gebeten um Hilfe und weinte sich die Augen rot, wenn es niemand sah.

Mit dem Handrücken rieb die Äbtissin sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Sei mir gnädig, allmächtiger Herr, und vergib mir meine Schuld!“ Sie erhob sich, tat einen tiefen Atemzug und bewegte sich ein paar Schritte.

Ihre Hand griff in der Rocktasche nach einem kleinen Gegenstand. Sie trug ihn bei sich, seit sie in das Cecilienstift eingetreten war. Es war einer der wenigen persönlichen Gegenstände, die sie mitgenommen hatte. Ein hölzernes Kreuz, etwas ungleichmäßig geschnitzt und gerade so groß, dass es sich in ihre Handfläche schmiegte. Die vielen Berührungen hatten seine Oberfläche mit der Zeit weich und seidig geschliffen, und es in der Hand zu halten und mit den Fingern zu umschließen, beinhaltete für die Äbtissin immer auch die Erinnerung an Johannes.

„Hab’s für dich geschnitzt“, flüsterte Johannes, nur wenige Tage vor dem Überfall auf der Weide, als er es in ihre Hände legte. Er sagte es mit einem beschämten Blick, der Klara das Herz zuschnürte. Sie verstand, dass er sein Geschenk für nicht würdig genug hielt, einer Grafentochter nicht angemessen, aber sie ahnte, wie lange er nach dem passenden Stück Birke gesucht und wie ausdauernd er daran gearbeitet haben musste. Sie besaß ein Kreuz aus Silber, besetzt mit fünf Türkisen und Perlmutt, das sie zu besonderen Anlässen an einer Kette um den Hals trug, es war von großem Wert und so kostbar, dass sie es in einer verschließbaren Truhe aufbewahrte. Und doch bedeutete es ihr nichts im Vergleich zu diesem Geschenk von Johannes.

Die Fingerspitzen der Äbtissin liebkosten die glatte, gerundete Oberfläche. Sie sah das Kreuz in Klaras zu einer Schale geformten Händen und spürte die stille Freude des jungen Mädchens angesichts des Kleinodes, das sie von nun an durchs Leben begleiten würde.

Die Lippen der Äbtissin berührten das Kreuz und, als könne es verstehen, flüsterte sie: „Als der Dolch dich schnitzte, klebte noch kein Blut an seiner Klinge.“

Eine Maus huschte aus dem Dickicht und zerschnitt die Gedanken der Äbtissin. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie sich, in ihren Gedanken verloren und alles um sich herum vergessend, viel zu weit entfernt hatte. Sie drehte sich um. Ihr stockte der Atem.

Richildis stand vor der mittleren der fünf Fichten und starrte in die kleine Grube.

Für einen Augenblick schloss die Äbtissin die Augen, dann seufzte sie, ließ das Kreuz in ihre Rocktasche gleiten und ging ihrer Mitschwester entschlossenen Schrittes entgegen.

Sie setzten sich nebeneinander auf einen umgestürzten Baumstamm in der Nähe der Dolchgrube. Obwohl Richildis der ehrwürdigen Mutter nur schweigend zuhörte, zitterte ihre Unterlippe und sie knetete ihre Hände, bis sie sich röteten.

„Einen weiteren Tag später fand man meinen Vater mit eingeschlagenem Schädel in der Gemarkung Wienau.“

Nie zuvor hatte die Äbtissin mit jemandem über die Ereignisse der Vergangenheit gesprochen, doch sie erkannte mit jedem Wort, dass sie viel zu lange damit gewartet hatte.

„Er kam von einem Treffen mit den Isenburger Herren und war auf dem Nachhauseweg. Man hat nie herausgefunden, wer sein Mörder war, aber für mich …“

Sie unterbrach sich selbst und blickte Richildis beschwörend ins Gesicht. „Für mich bestand kein Zweifel, dass nur einer sein Mörder sein konnte. Noch heute höre ich die niederträchtige Stimme: ‚Das werdet ihr büßen, alle beide!‘ Er hat meinen Vater getötet, um seinen Kameraden zu rächen, verstehst du, Richildis, ich bin schuld am Tod meines eigenen Vaters! Mich konnte der Mörder nicht bekommen, da ich die Burg nicht verlassen durfte. Also lauerte er meinem Vater auf. Ich wusste nicht, was mehr schmerzte, die Trauer um ihn, die Schuld oder die Angst um Johannes, da ich fürchtete, er sei in der gleichen Gefahr wie ich. Aber wir hatten keine Möglichkeit, uns Nachrichten zukommen zu lassen oder uns gar zu treffen.“

Die Äbtissin senkte den Blick.

„Wie hätte ich anders mit dieser Schuld leben können, als dem Wunsch meiner Mutter nachzukommen, in das Cecilienstift einzutreten und den Schleier zu nehmen? Ich war die letzte Erbin unserer Familie, aber ich brachte es nicht über mich, mein Erbe anzutreten. Niemals hätte ich auf unserer Burg in Frieden weiterleben können. Also vergrub ich mich ins Beten, suchte Zuflucht bei Gott und ich lernte, mit der Last auf meinem Herzen zu leben.“

„Und der Hirtenjunge?“

Die Äbtissin seufzte. „Ich bete jeden Tag für ihn.“

Eine Weile schwiegen sie, dann holte Richildis hörbar Luft. „Ehrwürdige Mutter, erlaubt mir bitte, dass ich etwas zu bedenken gebe.“

Richildis war nicht geübt in derlei Gesprächen; der Äbtissin entging nicht, wie schwer es der jungen Schwester fiel, die passenden Worte zu finden.

„Er handelte in der Not …, der Hirtenjunge, er tat es, um Euer Leben zu retten. Gott hat Euch und ihm längst vergeben, Ehrwürdige Mutter. Schrieb nicht Jesaja: ‚Ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht?‘“

Überrascht hob die Äbtissin die Augenbrauen. Schweigend richtete sie ihren Blick in die Ferne. Ein kleines Licht in ihrem Innern begann zu leuchten. In der Nähe hämmerte ein Specht, begleitet vom vertraut klingenden Strömen des Holzbachs. Das Atmen fühlte sich leichter an.

Gemeinsam scharrten sie das ausgehobene Erdreich zurück in die Grube. Jede Handvoll Erde, die den Dolch bedeckte, nahm einen Teil der Last mit sich.

Sie verließen den Wald. Dort, wo sich die Talwiesen des Reichensteiner Landes erstreckten, graste eine Schafherde auf einer nicht eingezäunten Weide. Der Hirte stand, mit beiden Händen auf einen mannshohen Stab gestützt, an der Seite, seine Tiere im Blick. Ohne es zu wollen, musterte die Äbtissin ihn. Der Statur nach war es ein Junge, vielleicht im gleichen Alter wie Johannes damals, und die Art, wie er dort stand, umgeben von seinen Schafen und Lämmern, vervollständigte die Erinnerungen der letzten Stunde. Es war, als träte die junge Klara von einst, atemlos vom hastigen Durchqueren des Waldes, auf die Weide, um ein wenig gestohlene Zeit mit Johannes zu verbringen.

„Braucht Ihr Hilfe?“, hörte sie plötzlich die Stimme des jungen Schafhirten. Er trat näher.

Die Äbtissin, eine törichte Hoffnung im Herzen, sah ihn an.

„Nein, wir … wir sind nur zufällig vorbeigekommen.“

Sie wandte sich zum Gehen. Im letzten Moment fiel ihr Blick auf den Hütestab. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Die Rinde war kunstvoll verziert, mit außergewöhnlichen Ornamenten, gleichmäßigen Kringeln und Flechtbändern in verschiedenen Breiten. Die Äbtissin rang nach Luft.

„Darf ich ihn mir ansehen?“ Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf den Stab.

Bereitwillig reichte der junge Schäfer ihr seinen Stock.

„Er ist … wunderschön!“, hörte sie sich sagen, aber es war Klaras Stimme und es war Johannes, der jetzt strahlte, wie er es damals getan hatte.

„Ja, nicht wahr? Er gehörte meinem Vater, er hat ihn selbst gemacht und mir geschenkt, als ich zum ersten Mal allein mit den Schafen zum Weiden ging.“

„Dein … Vater?“

Ihr Herz pochte zum Zerspringen. Der Junge nickte.

„Er lebt? Dein Vater lebt?“

Wieder nickte er. „Ja, er ist auch ein Schafhirte, und weil ich jetzt alt genug bin, um beim Hüten zu helfen, können wir zwei Herden halten.“

Ihre Fingerspitze folgte den eingeritzten Mustern in der Rinde. Nur jemand, der des Schreibens und Lesens kundig war, konnte in den Ranken am unteren Ende die beiden darin eingefügten Buchstaben entdecken.

Wie eine vorüberziehende Wolke, die die Sonne freigibt, wich der Schatten von ihrem Herzen.

Das Mirakelbuch. Historische Erzählungen aus dem Westerwald

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