Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Jubiläumsbox 4 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 5

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In Gedanken hatte sie diese Szene in vielen Jahren mehr als nur einmal durchgespielt, ohne zu denken, dass sie wirklich einmal eintreten würde.

Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, und Gerda versuchte, all ihre Gefühle niederzudrücken. Sie brauchte ihren klaren Verstand, sie durfte sich keine Sentimentalitäten erlauben.

Es gab nur zwei Möglichkeiten, hierzubleiben, sich der Situation zu stellen oder zu gehen.

Sie musste gehen, weil ihr das andere nichts bringen würde, ihr Weg mit Leonie war so oder so zu Ende, dann war es besser, jetzt an sich zu denken.

Sie nahm ein Foto von Leonie in die Hand, wollte es in ihre Tasche stecken, doch dann besann sie sich.

Nichts durfte an ihre Vergangenheit erinnern, sie musste Leonie in ihrem Herzen behalten, und das würde sie. Weiß Gott, das würde sie. Die Zeit mit Leonie war die schönste ihres Lebens, und sie wollte keinen Augenblick davon vermissen.

Sie zwang sich, nicht daran zu denken, wie es hätte sein können, wären sie nicht in diesen Sonnenwinkel gekommen.

Es brachte nichts, sie waren gekommen. Und obwohl sie es hätte verhindern können, war es geschehen. Und sie hatte sich von Anfang an unbehaglich gefühlt.

Sie hatte es gespürt, ohne es wahrhaben zu wollen, dass das das Ende ihrer gemeinsamen Reise war. Vom ersten Tag an hatten Leonie und sie sich voneinander entfernt. Leonie war eingetaucht in ein neues Leben, und sie hatte sich immer mehr zurückgezogen.

Und dann war dieser Mann gekommen!

Es war wie eine Naturkatastrophe über sie hereingebrochen, wie ein Tsunami, wie ein zerstörender Erdrutsch, als der Name Isabella Duncan plötzlich aufgetaucht war. Ein Name, den sie in all den Jahren verdrängt hatte.

Es war ja nicht nur der Name – Leonies plötzliches Interesse für das Klavierspiel, für das sie eine unglaubliche Begabung hatte.

Gerda schloss die Augen. Es war vorbei!

Sie durfte und wollte nicht zurückdenken. Sie ging noch einmal durch das Haus, ignorierte, dass der Kater miauend an der Terrassentür kratzte. Er hatte hier auch nichts mehr verloren. Merkwürdig war schon, dass sie zusammen gekommen waren, dass er am Tag ihres Einzugs aufgetaucht war, wie aus dem Nichts, denn niemand hatte ihn vermisst.

Der Kater musste sich ein neues Zuhause suchen, aber das ging sie nichts mehr an.

Gerda sah sich aufmerksam um, überprüfte den Inhalt ihrer Tasche, dann legte sie den Haustürschlüssel auf den Tisch, weil sie den nicht mehr brauchte, dann ging sie.

Sie hatte Tränen in den Augen, und es zerriss ihr beinahe das Herz. Doch da musste sie jetzt durch. Sie hatte keine andere Wahl.

Als sie das Haus verließ, sah sie sich sorgfältig um, von dem Mann, von dem sie nun wusste, dass er Magnusson hieß, Lars Magnusson, gab es zum Glück keine Spur. Sie wollte nicht mit ihm zusammentreffen, sie hatte keine Lust auf Konfrontation.

Sie stieg in ihr Auto, ein paar Häuser weiter schwatzten zwei Frauen miteinander, sahen neugierig zu ihr hinüber. Um nicht aufzufallen, grüßte Gerda kurz, dann fuhr sie los.

Sie wusste, es war eine Fahrt ohne Wiederkehr.

Den Sonnenwinkel würde sie, weiß Gott, gewiss nicht vermissen. Doch Leonie …

Sie durfte an sie nicht mehr denken, sie musste so tun, als habe es das Mädchen nie gegeben.

Ehe sie die Siedlung verließ, kam ihr Manuel Münster entgegengeradelt, winkte ihr zu. Sie winkte zurück. Es war ein netter Junge. Unter normalen Umständen hätte sie es begrüßt, dass ihre Tochter einen so netten Freund hatte, unter normalen Umständen …

Nichts war normal, und nichts mehr würde normal sein.

Sie hatte einen hohen Preis gezahlt. Und es war noch nicht zu Ende. Ihr Leben ohne Leonie würde sehr einsam sein.

Gerda fuhr vorsichtig, hielt sich an die Verkehrsregeln. Sie durfte nicht auffallen!

Sie war froh, endlich auf die Autobahn fahren zu können.

An dem ersten Rastplatz hielt sie an. Er war nicht besucht, kein Auto stand herum, und das war gut so.

Gerda holte aus ihrer Tasche ihren Personalausweis, ihren Reisepass, dann stieg sie aus, ging zu dem nächsten Abfallbehälter, warf beides hinein, und dann nahm sie aus ihrer Jackentasche ein Benzinfläschchen, ein Feuerzeug.

Sie zündete den Behälter an, es begann zunächst zu qualmen, dann kamen Flammen aus ihm heraus.

Gerda ging zu ihrem Auto zurück, wartete, bis alles niedergebrannt und der Behälter verkohlt war.

Niemand würde in den verkohlten Resten herumstochern und nach etwas suchen, sondern glauben, jemand habe den ­Behälter mutwillig und ohne Grund angezündet.

Das mit dem mutwillig stimmte, aber sie hatte einen Grund.

Sie hatte ihre Vergangenheit vernichtet.

Ehe sie endgültig losfuhr, griff sie in ihre Handtasche, holte einen Personalausweis und einen Reisepass heraus.

Sie sah ihr Bild, nur hieß sie jetzt … Beate Möller. Nach der würde niemand suchen.

Welch ein Glück, dass sie vorgesorgt hatte, und welch ein Glück, dass man für Geld alles kaufen konnte. Auch eine neue Identität.

Sie war ein Mensch, sie hatte auch Gefühle, und die gestattete sie sich jetzt. Sie begann zu weinen, denn sie vermisste Leonie jetzt schon. Es würde sehr schwer sein, ohne sie zu leben.

Sollte sie doch umkehren, sich stellen, alles erzählen? Vielleicht kam sie ja glimpflich davon.

Nein!

Es hatte keinen Sinn, Leonie würde sich von ihr abwenden, und das war schlimmer als eine Gefängnisstrafe, das war unerträglich.

Sie wischte sich energisch die Tränen weg, dann beschleunigte sie das Tempo, auf der Autobahn ging das.

Es war ein Weg ohne Wiederkehr.

*

Leonie stieg am Abend aus dem Bus aus. Sie war müde und glücklich. Der Schulausflug war herrlich gewesen, und sie freute sich darauf, ihre Erlebnisse mit ihrer Mami zu teilen. Die Ärmste würde vielleicht sogar ein wenig lächeln, was sie, seit sie im Sonnenwinkel wohnten, verlernt zu haben schien.

Hoffentlich war die Mami nicht ernsthaft krank. Leonie machte sich ganz große Sorgen. Sie hatte doch nur ihre Mami, die war ihre Familie, ihre Freunde waren der Manuel und Hilda. Doch es ging nichts über Familie. Die Mami musste unbedingt zu der Frau Doktor gehen. Ewig konnte man keine Kopfschmerzen haben, immer konnte man nicht müde sein. Da musste etwas dahinterstecken. Und wegen ihrer Krankheit war die Mami manchmal auch so unleidlich, sie hatte sich wirklich sehr verändert, seit sie im Sonnenwinkel lebten, und nirgendwo war es doch so schön!

Auf jeden Fall würde die Mami ganz gewiss gleich ein bisschen lachen, wenn sie ihr so manch lustige Begebenheit vom Schulausflug erzählte. Da waren aber auch ein paar komische Dinge geschehen, und die hatten alles noch schöner gemacht.

Es war wirklich ein herrlicher Tag gewesen, von dem würde Leonie noch lange zehren, denn immerhin war es der erste Schulausflug ihres Lebens.

Leonie rannte die Straße entlang, sie hatte es eilig.

Verwundert bemerkte sie, dass Blacky, ihr schwarzer Kater, vor der Haustür hockte und kläglich miaute. Warum hörte Mami das denn nicht?

Leonie bückte sich, nahm den Kater auf den Arm, der sofort begann, behaglich zu schnurren.

»Bist der Mami wohl entwischt?«, fragte sie. »Ja, ja, das hat man davon, wenn man nicht hört.«

Sie schloss die Haustür auf, trat ein, ließ den Kater vom Arm, der merkwürdigerweise nicht davonstob, sondern an ihrer Seite blieb.

»Mami, ich bin wieder da, und es war ganz toll«, rief Leonie, »und wenn ich dir erzähle, was …«

Leonie brach ihren Satz ab, ein unbehagliches Gefühl beschlich sie, das sie sich nicht erklären konnte. Auch der Kater war anders als sonst.

»Mami …«

Leonie wusste nicht, warum sie so beunruhigt war, ihre Mutter nicht sofort zu sehen. Sie stand nicht immer parat, wenn sie nach Hause kam, dafür war das Haus viel zu groß, und wenn man sich oben aufhielt, wusste man nicht, was unten los war.

Leonie rannte ins Wohnzimmer, in die Küche, ins Gästebad.

Von ihrer Mutter keine Spur!

Ihr Herz begann zu klopfen, als sie die Treppe hinaufrannte. Ihrer Mami war doch nichts passiert? Schließlich war sie den ganzen Tag weggewesen.

Sie ging ins Schlafzimmer ihrer Mutter. Da war nichts, nur der Kleiderschrank war ein wenig verrückt. Im Badezimmer war auch niemand, nicht im Gästezimmer.

War ihre Mami wieder ein wenig sentimental und hielt sich in ihrem Prinzessinnenzimmer auf? Das tat sie manchmal, wenn sie Sehnsucht nach ihr hatte. Ja klar, nur da konnte sie sein.

»Mami, da bin ich wieder.«

Von ihrer Mutter gab es auch hier keine Spur, doch Leonie entdeckte sofort das kleine Babytäschchen und den dicken Umschlag.

Was hatte das zu bedeuten?

Sie blieb wie angewurzelt stehen, traute sich nicht, auf ihr Bett zuzugehen, weil sie wusste, dass das alles nichts Gutes zu bedeuten hatte.

Ihr Herz schlug wie verrückt, sie merkte, wie sie zitterte, all ihre Freude war wie weggeblasen, Angst beschlich sie.

Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie so dagestanden hatte, irgendwann lief sie auf ihr Bett zu, öffnete zuerst einmal das kleine Täschchen. Darin fand sie eine winzige Babyrassel und eine goldene Kette, auf der ein Name eingraviert war, den sie noch nie zuvor gehört hatte – ›Claire‹.

Was hatte das zu bedeuten?

Warum hatte sie diese Dinge noch nie zuvor gesehen?

Warum hatte die Mami niemals darüber gesprochen?

Wo war dieses Täschchen mit dem unerklärlichen Inhalt aufbewahrt gewesen?

Vor lauter Fragen wurde Leonie ganz schwindelig.

Irgendwann griff sie nach dem Umschlag, öffnete ihn, begann zu lesen, und dann brach sie stöhnend zusammen. Es durfte alles nicht wahr sein. Man spielte ihr einen bösen Streich.

Sie las den Brief wieder und wieder, es war kein böser Streich, es war die bittere Wahrheit, und Mami war nicht mehr da, um ihr eine Erklärung zu geben.

Mami …

Sie begann bitterlich zu weinen, denn ihre heile Welt war zusammengebrochen, war zusammengestürzt wie ein Kartenhaus.

Was sollte sie jetzt tun?

Ihre Tränen versiegten, sie war wie gelähmt, und nicht einmal Blacky konnte sie trösten, der um ihre Füße strich.

So war es also, wenn man allein war, wenn die Welt in Scherben vor einem lag.

Ganz allmählich begriff sie, dass ihre Mami nicht ihre Mami war, und sie war auch nicht Leonie, sie war Claire. Und es gab eine andere Frau, die ihre leibliche Mutter war.

All das war mehr als ein Mensch aushalten konnte. Sie begann zu begreifen, dass es niemals mehr so sein würde, wie es gewesen war. Es war alles aus und vorbei. Und sie hatte keine Ahnung, was kommen würde.

Ihre heile Welt gab es nicht mehr!

Was sollte sie jetzt tun?

Zu Manuel gehen?

Nein, diesen Gedanken verwarf sie sofort wieder. Der arme Manuel hatte seine eigenen Probleme. Was bei den Münsters geschehen war, das war ganz schrecklich.

Aber immerhin hatte man Manuel nicht sein Leben weggenommen. Er war noch immer Manuel, sein Vater noch immer sein Vater, und seine Stiefmutter: Ja, die gab es wirklich, auch wenn die Ärmste jetzt im ­Krankenhaus lag nach diesem schrecklichen Autounfall, den sie durch ihre Raserei selbst verschuldet hatte. Sie hatte ihr ungeborenes Baby verloren, das war schlimm, ihr schnittiger Sportwagen war nur noch ein Haufen Schrott. Wenn man so reich war wie die Münsters, dann konnte man sich leicht einen neuen Sportwagen kaufen, die Verletzungen von Frau Münster würden wieder heilen. Doch ihre eigenen? Sie begann verzweifelt zu weinen, sie hatte niemanden mehr.

Plötzlich richtete sie sich auf. Das stimmte nicht! Warum hatte sie denn nicht an die Frau gedacht, die wie eine Omi zu ihr war? Natürlich! Sie musste zu Hilda, ihrer großmütterlichen Freundin, zu der flüchtete sie sich doch immer, wenn sie Probleme hatte, und Hilda konnte so wunderbar trösten, und sie machte den allerbesten Kakao von der ganzen Welt.

Sie packte das Täschchen und den Brief zusammen, stopfte beides in eine Umhängetasche, dann nahm sie Blacky auf den Arm, lief mit ihm hinunter. Als sie an der Küchentür vorbeikam, begann Blacky zu miauen, sprang von ihrem Arm, lief in die Küche, und da begriff sie, was er wollte. Er hatte Hunger.

»Armer Blacky«, murmelte sie, »du sollst nicht darunter leiden, dass alles so anders ist, so schrecklich.«

Automatisch bereitete sie sein Futter zu, sah, wie gierig er das hinunterschlang.

Sie überlegte, dann fasste sie einen Entschluss. Sie würde niemals mehr in dieses Haus hier zurückkehren, auch nicht in ihr Prinzessinnenzimmer, das sie gekauft hatten, als die Welt noch in Ordnung gewesen war. Sie war so stolz und glücklich gewesen, doch jetzt spürte sie nichts mehr. Aber Blacky durfte nicht zurückbleiben.

Sie griff nach dem Einkaufskorb, den sie sich immer auf den Gepäckträger klemmte, wenn sie einkaufen ging, weil Mami, nein, die war sie ja überhaupt nicht, nicht in der Lage dazu gewesen war.

Es war schrecklich! Sie war durcheinander! Sie war unglücklich! Es war überhaupt nicht zu beschreiben, was sich in ihr abspielte. Aber Blacky, der konnte nichts dafür. Ahnte der Kater etwas?

Er ließ sich in den Korb setzen, und aus dem sprang er auch nicht, als sie ihn auf den Gepäckträger klemmte. Tiere waren schlau. Blacky wusste, dass das seine einzige Chance war.

Sie redete beruhigend auf ihn ein, und dann radelte sie los.

Sie war den Weg nach Rottenburg so oft geradelt!

Mit einem Gefühl der Vorfreude, wenn sie sich zu Hilda geschlichen hatte, um sich von ihr heimlich Klavierstunden geben zu lassen.

Wenn sie traurig gewesen war, weil sie nicht verstehen konnte, was mit Mami los war, die ihre Mami nicht mehr war.

Ihr Verstand begriff das, doch ein Herz ließ sich nicht einfach abstellen. Sie wusste nicht mit den Gefühlen umzugehen, die in ihr waren, die zwischen Enttäuschung, Verzweiflung, aber auch Wut und Ärger schwankten.

Sie radelte, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Blacky gefiel das nicht, doch er sprang nicht aus dem Korb.

Das machte sie froh, denn Blacky war zu ihnen gekommen, als sie in das wunderschöne Haus gezogen waren, und jetzt ging er mit ihr. Sie hätte ihn wirklich nicht zurücklassen dürfen. Es reichte, wenn man sie zurückgelassen hatte, einfach so, ohne Verantwortungsgefühl, ohne daran zu denken, was das alles mit ihr machte.

Sie konnte nichts dafür, die Tränen verschleierten ihren Blick, und sie riss sich erst ein wenig zusammen, als ein Auto sie anhupte, weil sie urplötzlich bis zur Mitte der Fahrbahn gefahren war.

*

Hilda Hellwig freute sich auf einen gemütlichen Fernsehabend. Sie war ein Krimi-Fan, und heute gab es einen Film der Serie, die sie besonders liebte.

Sie stellte schon mal eine Schale mit Chips zurecht, legte eine Tafel Schokolade in die Nähe, man konnte ja nie wissen. Und dann stellte sie ein Glas bereit und eine Flasche Mineralwasser und eine Flasche Rhabarbersaft, den hatte sie für sich entdeckt. Er war köstlich, und am besten schmeckte er, wenn sie ihn als Schorle mit Mineralwasser verdünnt trank. So war er ihr zu süß.

Es würde ein schöner Abend werden, auf den sie sich freute. Hilda überlegte, ob sie sich nicht schon ihren Schlafanzug anziehen sollte, dann wurde es noch gemütlicher.

Mitten in ihre Gedanken hinein läutete es Sturm.

Sie zuckte zusammen.

Hoffentlich war das nicht ihre Tochter Cornelia, die wieder Geld von ihr haben wollte. Cornelia war ihr einziges Kind, doch manchmal dachte Hilda schon, ob man sie im Krankenhaus damals vertauscht hatte. Dieser Meinung war auch ihr verstorbener Mann, Gott hab ihn selig, gewesen. Cornelia war an nichts weiter als an Geld interessiert, und wenn Hilda daran dachte, sie ihre eigene Tochter sie sogar bestohlen hatte, wurde ihr noch ganz anders zumute.

Nein, Cornelia sollte es jetzt nicht sein. Sie fühlte sich schlecht, jetzt solche Gedanken zu haben, doch Cornelia hatte dafür gesorgt, dass alle Gefühle für sie gestorben waren. Natürlich würde sie immer für sie sorgen, und Cornelia war auch versorgt, wenn sie mal nicht mehr war. Aber wünschte man sich als Mutter nicht etwas anderes, als nur als Versorgungsanstalt da zu sein?

Es klingelte erneut, diesmal noch heftiger. Es hatte keinen Sinn, sie konnte nicht so tun als sei sie nicht zu Hause. Es brannte überall Licht.

Hilda ging zur Tür öffnete. Sie prallte beinahe zurück, als sie Leonie bemerkte, die völlig verstört vor ihr stand, und es war nicht zu übersehen, dass das Mädchen geweint hatte.

Es musste etwas ganz Schreckliches geschehen sein, es war nicht zu übersehen, dass Leonie geweint hatte, sie war ja vollkommen aufgelöst. Ob etwas mit ihrer Mutter passiert war?, schoss es Hilda durch den Kopf. Das arme Mädchen!

So, wie Leonie augenblicklich drauf war, das war schlimm, das ließ sich nicht mit einem heißen Kakao beheben.

Es war eine Situation, mit der Hilda nur schlecht umgehen konnte. Sie liebte Leonie, und es war für sie unerträglich, die Ärmste so leiden zu sehen.

»Leonie …«, stammelte Hilda, mehr brachte sie nicht über ihre Lippen.

Der Kater sprang von Leonies Arm, huschte blitzschnell ins Haus hinein.

Eigentlich mochte Hilda keine Katzen, als Haustiere waren ihr Hunde lieber, wenn überhaupt. Wenn man sich ein Tier anschaffte, dann musste man sich klar darüber sein, dass es kein Spielzeug war, das man irgendwann einfach in die Ecke stellen oder entsorgen konnte. Ihr war die Verantwortung zu groß.

Hilda sagte jedoch nichts. Leonie hatte gewiss ihre Gründe dafür, warum sie ihre Katze mitgebracht hatte. Blacky hieß er wohl, erinnerte Hilda sich, und Leonie liebte den ihr zugelaufenen Kater.

Leonie sagte auch nichts, sondern warf sich wie eine Ertrinkende in Hildas Arme, klammerte sich verzweifelt an ihr fest und begann, hemmungslos zu schluchzen.

Um Gottes willen!

Leonies emotionaler Ausbruch machte Hilda Angst. Sie hatte das Mädchen schon traurig, betrübt, unglücklich erlebt, so jedoch noch nie.

Hilda streichelte ein wenig hilflos beruhigend den Rücken des verzweifelten Mädchens, doch es dauerte eine ganze Weile, ehe das Schluchzen verebbte.

Endlich konnte Hilda eine Frage stellen. »Leonie, was ist geschehen?«

Hätte sie das bloß nicht getan. Sofort löste diese Frage bei Leonie einen erneuten Tränenschwall aus, der zarte Mädchenkörper wurde vor Erregung geschüttelt.

Hier draußen konnten sie nicht bleiben. Hilda führte die willenlose Leonie ins Wohnzimmer, drückte sie aufs Sofa, setzte sich daneben, und dann ergriff sie Leonies kalte, schlaffe Hand, streichelte sie behutsam und wartete, bis das Schluchzen verstummt war.

Hilda überlegte kurz, dann erkundigte sie sich leise: »Leonie, Liebes, willst du jetzt mit mir reden über das, was dich so aus der Bahn geworfen hat?«

Leonie zitterte, schluchzte kurz auf, riss sich zusammen, dann nahm sie wortlos die Babytasche aus ihrem Beutel, reichte sie Hilda, die ein wenig verwundert war. Was sollte sie damit? Dieses kleine, unscheinbare Täschchen konnte unmöglich an Leonies Ausbruch die Schuld tragen.

»Hilda, sieh bitte hinein.«

Das tat Hilda.

Sie fand in dem Täschchen eine kleine Babyrassel und eine goldene Kette. Auf dem Anhänger stand der Name ›Claire‹. Es war ein wunderschöner Name, weich und klangvoll, kein Grund, sich deswegen zu erregen.

»Ich weiß damit nichts anzufangen«, Hilda war verunsichert, »was bedeutet das?«

Es folgte ein tiefer Seufzer, dann kam ein: »Claire, das bin ich.«

»Ach so, Claire ist dein zweiter Name, du heißt also Leonie-Claire. Das klingt wunderschön, doch deswegen bist du ja wohl nicht so aufgeregt, oder?«

Leonie weinte erneut, Hilda nahm sie wieder in die Arme, drückte sie fest an sich, sprach beruhigend auf sie ein.

Allmählich hörte das Weinen auf, Leonie-Claire griff erneut in die Tasche und reichte Hilda einen dicken Briefumschlag, der bereits sehr mitgenommen aussah, er war zerknautscht, die Tränenspuren darauf waren nicht zu verkennen.

»Lies das bitte«, sagte das Mädchen dumpf, »dann wirst du alles verstehen.«

Hilda Hellwig zögerte, den Brief aus dem Umschlag zu ziehen, sie ahnte, dass in diesem Umschlag des Rätsels Lösung lag, und das war etwas, was das arme Ding in allen Grundfesten erschüttert hatte.

Sie spürte den Blick des Mädchens auf sich gerichtet, da gab sie sich einen Ruck, zog die eng beschriebenen Blätter aus dem Umschlag. Dabei zitterte ihre Hand.

Sie holte tief Luft, dann begann sie zu lesen. Das ging nicht an einem Streifen, sie musste zwischendurch eine Pause einlegen, denn es war ungeheuerlich, es war erschütternd, was sie da lesen musste. Manche Passagen musste sie ein zweites Mal lesen, weil sie glaubte, dass sie da etwas missverstanden hatte. Sie hatte es nicht.

Der Text des Briefes verschlug einem den Atem.

Sie war außer sich, sie merkte, wie ihr Herz stärker schlug, sie merkte, dass sie feuchte Hände bekam.

Sie war außer sich, wie musste es da in dem armen, armen Mädchen aussah. Hilda wollte etwas Tröstendes sagen, doch sie bekam kein einziges Wort heraus. Welche Worte sollte man denn auch finden? Ihr fielen keine ein.

Hilda legte mit zitternden Fingern den Brief auf den Tisch, dann wandte sie sich ihrer Besucherin zu, nahm sie ganz fest in ihre Arme, hielt sie liebevoll umfasst, eine ganze Weile.

Es war Leonie, die eigentlich Claire hieß, die zuerst anfing zu sprechen.

»Hilda, ich habe eine solche Angst. Man wird mich in ein Heim sperren, vielleicht komme ich auch in ein Gefängnis, denn wir haben ja illegal gelebt.«

Sie musste jetzt die richtigen, die überzeugenden Worte finden, damit das Mädchen nicht wieder anfing zu weinen.

Hilda schickte ein Stoßgebet gen Himmel, jetzt bloß die richtigen Worte finden!

»Du kommst nirgendwo hin, mein Herz, du bleibst bei mir, und ich regele alles für dich. Ich bleibe bei dir, solange du es haben möchtest, ich bleibe bei dir, wohin du auch gehst.«

»Versprochen?«, wisperte Leonie-Claire.

»Versprochen, ich schwöre es. Und ich schwöre dir auch, dass dir nichts passieren wird, wenn, dann nur über meine Leiche.«

Diese Worte überzeugten Leonie-Claire: »Ich möchte, dass wir für immer zusammen sein werden, Hilda, kannst du mir das auch versprechen?«

Hilda wunderte sich über sich selbst, sie wuchs über sich hinaus.

»Wenn du es willst, dann bleiben wir für immer zusammen«, versprach sie.

Das Mädchen kuschelte sich enger, vertrauensvoll an sie.

»Das ist gut, mit dir habe ich keine Angst, ich wusste sofort, dass du so etwas wie eine Omi für mich bist, die ich mir immer gewünscht habe, und die ich leider nicht hatte.«

Vielleicht hatte sie die ja sogar, noch wusste man nicht viel über die Familie. Aber das war Hilda im Augenblick gleichgültig. Sie hatte immer eine Omi sein wollen, sie genoss es, die Rolle spielen zu dürfen.

»Liebes, hast du eigentlich schon etwas gegessen?«, wollte Hilda wissen.

Ein Kopfschütteln war die Antwort.

»Dann wird es höchste Zeit, dass du etwas zu dir nimmst. Auch wenn alles ganz schlimm ist, darf man das Essen nicht vergessen. Was hältst du von Spaghetti?«

Die konnte man immer essen, egal, wie man auch drauf war.

Die Kleine nickte, und Hilda fragte sich, wie sie das Mädchen nun anreden sollte, Leonie ging ja wohl nicht mehr, doch Claire, das war fremd. Ein ganz schönes Durcheinander.

Blacky kam aus einer Ecke hervor.

»Und was bekommt dein Kater?«, wollte Hilda wissen. Er war nun mal da und konnte nichts für den ganzen Schlamassel.

»Den habe ich noch gefüttert, aber darf ich mit dir in die Küche kommen? Ich mag jetzt nicht allein sein, und danke, dass ich bei dir bleiben darf. Ich habe nur noch dich. Und, nicht wahr, Hilda-Omi«, wie selbstverständlich kam das über die Lippen des Mädchens, »solange ich bei dir bin, da muss ich keine Angst haben.«

Hilda war so gerührt, dass sie spontan ihre Arme ausbreitete, Leonie-Claire presste sich schutzsuchend an sie. Die Kleine kam Hilda vor wie ein junges Vögelchen, das aus dem Nest gefallen war. Und irgendwo stimmte der Vergleich ja auch. Sie strich dem Mädchen übers Haar, über den Rücken.

»Du musst keine Angst mehr haben, mein Herzchen, alles wird gut.«

Wie das funktionieren sollte, wusste Hilda nicht. Es war eine Situation, die sie noch nie erlebt hatte, doch mit den Herausforderungen wuchsen auch die Kräfte. Und gab es nicht immer einen Ausweg?

Sie legte einen Arm um die Kleine, dann gingen sie gemeinsam in die Küche, gefolgt von dem Kater, und Hilda stellte fest, dass es überhaupt nicht unangenehm war, so ein Tier um sich zu haben …

*

Vor lauter Erschöpfung und Stress schlief Leonie-Claire, Hilda hatte beschlossen, sie erst einmal so zu nennen, sehr schnell ein. Doch sie selbst konnte keinen Schlaf finden. Die Geschichte ließ sie nicht los. So etwas las man normalerweise in Romanen und zweifelte an der Glaubwürdigkeit. Es real zu erleben, das war wirklich unfassbar. Wie sollte alles weitergehen?

Natürlich würde das Mädchen bei ihr bleiben, aber auf ewig ging das nicht. Sie wusste nicht, ob sie jetzt die Polizei einschalten musste, ob es eine Möglichkeit gab, sich mit Isabella Duncan in Verbindung zu setzen. Das wäre gut, aber wahrscheinlich ging es nicht ohne Polizei, es handelte sich schließlich um eine Straftat.

Hildas Gedanken drehten sich im Kreis. Je länger sie über alles nachdachte, umso unruhiger wurde sie. Sie fühlte sich durch die ganze Situation überfordert. Sie war nicht mehr die Jüngste, und abgesehen von dem Ärger mit ihrer Tochter, war ihr Leben immer gerade verlaufen.

Hatte sie zu vollmundig zu vieles versprochen, was sie nicht halten konnte?

Das arme Mädchen hatte man furchtbar enttäuscht, sie hatte jegliches Vertrauen verloren. Sie durfte sie nicht auch noch enttäuschen.

Was also sollte sie tun?

Hilda hatte keine Ahnung. Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere, sie trank heiße Milch mit Honig. Nichts half!

Irgendwann, der Morgen zeigte sich bereits am Himmel, als ihr eine rettende Idee kam. Warum war sie denn nicht sofort darauf gekommen?

Ja, das war es, sie musste mit Frau Dr. Steinfeld reden, die war nicht nur eine fantastische Ärztin, sondern eine kluge, besonnene Frau für alle Lebenslagen.

Jetzt war Hilda beruhigt, und sie konnte sogar noch ein wenig schlafen, doch nicht lange, sie musste die Frau Doktor erreichen, ehe sie mit der Sprechstunde begann.

Hilda stand auf, zog sich an, kochte sich einen starken Kaffee, dann setzte sie sich an den Tisch und beobachtete die Zeiger ihrer Küchenuhr, die sich viel zu langsam fortbewegten.

Sieben Uhr …, nein, das war wirklich zu früh, sieben Uhr dreißig …, ja, da konnte man es wagen, da war sie bestimmt bereits aufgestanden.

Hilda wählte ihre Nummer, die sie auswendig kannte, und die Frau Doktor meldete sich sofort.

Hilda war so aufgeregt, dass sie nicht die richtigen Worte finden konnte, sie stammelte etwas von Notfall, dass sie die Frau Doktor unbedingt sprechen müsse. Nein, nein, mit ihr sei nichts, alles sei viel schlimmer.

Roberta mochte die alte Dame, doch was die da alles erzählte, das klang einfach ein wenig zu konfus.

»Frau Hellwig, bitte bleiben Sie ganz ruhig, ich setze mich jetzt in mein Auto und komme sofort zu Ihnen, einverstanden? Und dann können Sie mir in aller Ruhe alles erzählen.«

Hilda wollte noch etwas sagen, brachte vor lauter Aufregung kein vernünftiges Wort heraus und bedankte sich schließlich nur noch dafür, dass die Frau Doktor kommen würde.

Als das Telefonat beendet war, bekam Hilda ein schlechtes Gewissen, doch dieser Zustand hielt nicht lange an. Schließlich war sie so etwas wie ein Notfall!

Hoffentlich wachte die Kleine nicht auf, es war besser, sie sprach erst einmal allein mit der Frau Doktor, zeigte ihr diesen ungeheuerlichen Brief.

Sie trank die zweite Tasse Kaffee, wurde noch aufgeregter, dann begann sie eine unruhige Wanderung durchs Haus, und schließlich stellte sie sich in die Haustür, damit die Frau Doktor nicht klingeln musste.

Hilda stellte sich auf eine Wartezeit ein, doch das war überhaupt nicht nötig, die Frau Doktor kam viel schneller als erwartet, sie musste geflogen sein.

Schon als Hilda die Ärztin sah, wurde sie ruhiger, sie wusste, dass jetzt alles gut wurde.

Roberta stieg aus ihrem Auto, griff nach ihrer Arzttasche und kam auf Hilda zugelaufen. Die war blass, wirkte aufgeregt, aber nicht wie ein Notfall.

Ehe Roberta Fragen stellen konnte, bat Hilda sie in ihr Wohnzimmer, sie bat die Ärztin, sich zu setzen, dann reichte sie ihr den Umschlag mit dem verhängnisvollen Brief.

»Bitte, Frau Doktor, lesen Sie das.«

Das klang so eindringlich, dass Roberta keine andere Wahl hatte, als den Brief aus dem Umschlag zu nehmen. Sie faltete die Blätter auseinander, dann begann sie zu lesen.

»Leonie, mein geliebtes Mädchen, ich wünschte mir von ganzem Herzen, du müsstest diesen Brief niemals lesen.

Doch wenn das der Fall ist, dann bin ich nicht mehr bei dir, dann ist unser gemeinsamer Weg zu Ende, für mich die schönste Zeit meines Lebens. Du hast Licht, Glück, Sonne und unendlich viel Liebe in mein Leben gebracht.

Und ich weiß nicht, wie ich ohne dich leben soll.

Es ist aufgeflogen, man weiß Bescheid.

Du bist die Tochter von Isabella Duncan, der weltberühmten Pianistin, und du wurdest entführt.

Doch mit dieser Entführung habe ich nichts zu tun.

Du kamst zufällig auf meinen Weg, und für mich war es ein Geschenk des Himmels.

Als ich dich fand, im buchstäblichen Sinn des Wortes, da war ich am Ende, und ich dachte sogar über einen Suizid nach. Mein Freund hatte mich verlassen, ich hatte meine Arbeit verloren, die Wohnung konnte ich mir nicht mehr leisten. Ich musste alles verkaufen, was sich zu Geld machen ließ, mit den mir verbliebenen Habseligkeiten, die alle in mein klappriges Auto passten, fuhr ich los, zunächst ziellos, dann Richtung Norden. Ich wollte zu einer alten Freundin, von der ich mir Hilfe erhoffte.

Ich verfuhr mich. Als ich einen entlegenen Bauernhof entdeckte, fuhr ich hin, um mich nach dem Weg zu erkundigen.

Ich entdeckte zwei tote Männer auf dem Hof, einen dritten Toten in einem Auto, in dem ein Baby ganz kläglich weinte. Und ich entdeckte noch etwas. Eine Tasche voller Geld.

Ich versuchte, auf dem Hof jemanden zu finden, da war niemand, es gab nur die Toten, das Baby und das Geld. Für mich war es ein Fingerzeig des Himmels.

Ich nahm das Baby, das Geld, dann ging ich zu meinem Auto zurück und fuhr los.

Dass es Unrecht war, darüber dachte ich nicht nach. Ich hatte mich immer nach einem Kind gesehnt, und nun hatte ich es, und das Geld, es war mehr, als man für das Leben brauchte.

Wenn man Geld hatte, konnte man alles mühelos erreichen, man bekam auch Papiere. Aus mir wurde Gerda Schulz, und auch meine Tochter Leonie wurde rechtmäßig in meinem Pass eingetragen.

Es war so einfach.

Natürlich las ich von der Entführung und der Lösegeldzahlung, von den verzweifelten Aufrufen von Isabella Duncan. Sie tat mir leid, einen Moment lang dachte ich daran, den Sachverhalt aufzuklären.

Dann war das süße Gift der Versuchung einfach zu groß. Diese Frau konnte alles wieder haben, aber ich nicht.

Sie war schön, sie war berühmt, sie hatte Geld im Übermaß.

Nein, es ging nicht, diese Chance konnte ich mir nicht entgehen lassen, das Schicksal hat mich auf diesen Hof geführt, und ich wollte endlich auch ein Stück von dem großen Kuchen haben.

Du heißt Claire, aber so konnte ich dich nicht nennen, um nicht aufzufliegen.

Was ich getan habe, das war nicht richtig. Und ich bitte dich, mir zu verzeihen.

Ich habe dir all meine Liebe gegeben, und ich habe alles getan, um dich zu einem ordentlichen Menschen zu erziehen.

Mein Liebling, ich wünsche dir viel Glück, möge Gott auf all deinen Wegen sein.

In Liebe.«

Der Brief war nicht unterschrieben, was hätte diese Frau auch schreiben sollen, deine Mama?

Roberta legte den Brief beiseite, sie war erschüttert. Wie hatte sie sich in dieser Gerda Schulz so täuschen können. Und insgeheim bat sie Abbitte. Sie war verärgert gewesen, hatte Verschwörungstheorien vermutet, dabei war Lars auf der richtigen Spur gewesen. Roberta war sich sicher, dass er diese Frau mit seiner Beharrlichkeit aus der Reserve gelockt hatte.

Was sie getan hatte, das war durch nichts zu entschuldigen.

»Diese Frau muss von der Polizei verhaftet werden. Auch wenn sie das Mädchen nicht entführt hat, sie wusste, wohin das Baby gehörte und hat eiskalt Geld und das Baby genommen und viel, viel Unglück über die leibliche Mutter gebracht.«

Hilda war ganz resigniert.

»Diese Person hat sich längst aus dem Staub gemacht und hat das arme Mädchen eiskalt zurückgelassen, genauso eiskalt, wie sie es an sich genommen hatte.«

»Wir müssen dennoch die Polizei einschalten, und wenn es Ihnen recht ist, dann sofort. Aber lassen Sie mich noch etwas tun, ich rufe meine Frau Hellenbrink an, die soll die Patienten der Vormittagssprechstunde anrufen und absagen, und die unangemeldet kommen, soll sie für den Nachmittag bestellen.«

So war die Frau Doktor!

Sie wusste es und sagte dennoch: »Aber Frau Doktor, das geht doch nicht.«

»Doch, liebe Frau Hellwig, es geht. Oder soll ich Sie mit allem allein lassen?«

Oh Gott, nein!

Sie sprach es nicht aus, aber ihrem Gesicht war wohl anzusehen, dass sie alles überforderte.

Roberta lächelte beruhigend.

»Sehen Sie, Frau Hellwig, nun lassen Sie mich mal machen. Wenn Sie allerdings für mich einen Kaffee hätten, das wäre ganz wunderbar.«

Na klar, sie hatte die Frau Doktor bestimmt vom Frühstückstisch weggeholt, wie peinlich.

Sie stand auf. »Ich hole Ihnen den Kaffee, wie immer nur schwarz?«

Roberta nickte.

Ehe Hilda den Raum verließ, sagte sie: »Frau Doktor, mir fällt ein Stein vom Herzen, wie schön, dass Sie da sind. Nun weiß ich, dass alles gut wird, alles wird gut, was Sie in die Hand nehmen.«

Sie ging, und Roberta blieb ein wenig verlegen zurück. Sie konnte wirklich nicht mit Lob umgehen, weil für sie alles ganz selbstverständlich war, was sie tat.

Das war schon ein Ding, was ihr Lars da aufgedeckt hatte. Wäre er mit seiner Spürnase, mit seiner Beharrlichkeit nicht gewesen, hätte diese Gerda Schulz weiter ihr Unwesen treiben können, und sie wäre weiter unentdeckt geblieben, eine Mutter hätte sich weiterhin die Augen ausgeweint, und ein heranwachsendes Mädchen hätte weiterhin keine eigene Identität gehabt.

Roberta war wütend, doch das durfte sie jetzt nicht sein, sie brauchte ihren klaren Verstand. Zuerst rief sie Ursel Hellenbrink an, auf die sie sich hundertprozentig verlassen konnte, dann wählte sie die Nummer der Polizei, ließ sich mit der Kriminalpolizei verbinden, denn die war in diesem Fall zuständig.

*

Während sich um Claire, wie sie jetzt auch genannt werden wollte, die Ereignisse überschlugen, ging das Leben weiter.

Roberta durfte ihre Patienten nicht vernachlässigen, und so hatte sie mehr Arbeit als gewöhnlich und konnte ganz froh sein, dass Lars mit seinen Kapiteln beschäftigt war, die er unbedingt vor seiner Abreise in die Arktis abgeben musste.

So sehr sie ihn liebte, so gern sie mit ihm zusammen war, viel Zeit hatte sie nicht. Denn obwohl Hilda Hellwig sich rührend um das Mädchen kümmerte, musste auch sie ein Auge auf Claire haben. Eigentlich müsste die jetzt psychologisch betreut werden, doch das wollte sie um keinen Preis, also musste sie das übernehmen. Sie tat es gern, denn Claire durfte jetzt auf keinen Fall einen seelischen Schaden erleiden.

Ach, ihr Lars, der war wirklich ein unglaublicher Mann. Er fühlte sich bestätigt, und eigentlich hätte er jetzt triumphieren können, weil er es gewesen war, der alles ins Rollen gebracht hatte. Nichts davon. Da war er in seinem Job ähnlich wie sie in ihrem, über Selbstverständlichkeiten sprach man nicht.

Heute wollte Roberta nach einem anstrengenden Tag noch mal bei Sophia von Bergen vorbei. Die ersten Tage waren um, sie musste mit ihr die neue Dosierung der Pillen aus Amerika abstimmen, vor allem wollte sie wissen, ob sie überhaupt das Resultat brachten, das Roberta sich erhoffte.

Und einen Blick auf die arme Angela wollte sie auch werfen. Die war medikamentös versorgt, auch die drei Helferinnen sorgten für deren leibliches Wohl, was selbstverständlich war, da sie sich doch um Sophia kümmerten. Die Schmerzen konnte sie Angela nicht nehmen, sie konnte sie lindern. Und das tat Roberta.

In das Haus von Sophia von Bergen konnte Roberta zu Fuß gehen, und sie atmete tief die frische Luft ein und beeilte sich nicht, um recht viel davon zu haben.

Es hatte ganz schön viele Turbulenzen gegeben, und sie durfte den Patienten nicht immer nur predigen, sie sollten auf sich aufpassen. Sie musste es auch tun. Sie war ebenfalls nur ein Mensch, und manchmal überholte sie sich wirklich selbst in der Kurve.

Roberta hatte das Haus erreicht. Es war eines der Häuser, die Carlo von Heimberg gebaut hatte, die zu der Siedlung gehörten, für die er bereits mehrere Preise bekommen hatte.

Der Sonnenwinkel …

Ein Ort, der die heile Welt verkörperte, doch das nur scheinbar. Alles war einem Wandel unterworfen, auch hier lagen Freude und Schmerz beieinander. So war es halt, das Leben.

Vor ihr hatte Enno Riedel, ihr alter Studienfreund, hier praktiziert.

Vor Sophia von Bergen und Tochter hatte es einen Vorbesitzer des Hauses gegeben, Ricky und Fabian Rückert waren am Anfang ihrer Ehe hier glücklich gewesen, waren weggezogen, hatten es vermietet. Und vor der angeblichen Gerda Schulz und ihrer Tochter hatte es Vormieter gegeben, und nun würde es Nachmieter geben.

Oben auf dem Herrenhof, wo die Menschen lebten, die viele Leute glühend beneideten, herrschte auch nicht eitel Sonnenschein. Carlo Heimberg, der zweite Ehemann von Marianne von Rieding, der Erbauer der Siedlung, war krank und hatte unglaubliche Probleme damit, nicht mehr so zu können, wie er wollte.

Und Sandra Münster hatte sich mit ihrem Sportflitzer, weil sie den Geschwindigkeitsrausch liebte, um einen Baum gewickelt. Das Auto war Schrott, sie hatte zum Glück überlebt, doch sie hatte kurz vor der Geburt ihr Baby verloren.

Und das waren nur ein paar Beispiele. Auch im Sonnenwinkel blieb die Uhr nicht stehen, und auch hier lagen Glück und Leid dicht beieinander.

Roberta hatte das Haus ihrer Patientin erreicht, lief durch den Vorgarten, den Angela sehr liebevoll und geschmackvoll gestaltet hatte, ging zur Eingangstür, die vorher ziemlich protzig gewesen war. Die hatte man ausgewechselt gegen ein schlichtes Modell.

So war es halt, warum sollten Veränderungen vor der Haustür Halt machen?

Sie klingelte, drinnen näherten sich energische Schritte, und dann stand sie Teresa von Roth gegenüber.

»Hallo, Frau Doktor, heute haben Sie nur eine Patientin zu besuchen. Angela schläft, und ich glaube, wir sollten die Ärmste schlafen lassen. Sie bekommt ja kaum ein Auge zu, und ich bin überzeugt davon, dass sie Schmerzen hat, aber die können auch nicht kleiner werden, wenn sie sich immerfort Sorgen um ihre Mutter macht. Dabei haben wir doch alles im Griff, Sophia fehlt es an nichts. Gerade haben wir mit ihr zu Abend gegessen, Magnus ist eben gegangen, und ich sorge dafür, dass für die Nacht alles vorbereitet wird. Warum hört Angela nicht auf, sich zu sorgen? Ihre Krankheit kommt ja vom Stress.«

»Stress kann unter anderem ein Auslöser sein, dieser Zoster, wie man die Gürtelrose kennt, kann viele Ursachen haben, neben Stress kann es ein geschwächtes Abwehrsystem sein, dieser Virus, der in jedem schlummert, der mal die Windpocken hatte, kann Jahrzehnte in Lauerstellung liegen, um dann zuzuschlagen, wenn eine Schwäche da ist, die, wie gesagt, alle möglichen Ursachen haben kann. Bei meinem nächsten Besuch werde ich mir Frau Halbach noch einmal vornehmen, eindringlich mit ihr reden. Es ist schön, Frau von Roth, dass Sie sich so selbstverständlich kümmern.«

Teresa winkte ab.

»Wäre es umgekehrt, ich bin überzeugt davon, Sophia würde es auch für mich tun. Es ist schön, dass sie in den Sonnenwinkel gezogen ist. Mit ihr können Magnus und ich über alte Zeiten plaudern, über unser früheres Leben in einem völlig anderen Landstrich. Wir haben eine Vorstellung von unserer alten Heimat, wir haben dort gelebt, hatten eine wundervolle Jugend, waren glücklich, bis …«

Sie brach ab.

»Was soll es, die Vergangenheit ist tot, man kann sie nicht zurückholen, doch manchmal ist es einfach nur schön, sie kurz wieder heraufzubeschwören. Sophia ist im Wohnzimmer, wenn etwas sein sollte, ich habe in der Küche zu tun.«

Sie nickte Roberta zu, dann entfernte sie sich, eine stolze, hochgewachsene alte Dame. Roberta mochte die von Roths sehr gern, nicht nur die, auch die Auerbachs gehörten zu den Menschen im Sonnenwinkel, die sie besonders mochte, und ja, Angela Halbach und Sophia von Bergen mochte sie auch sehr, obwohl die noch nicht lange hier wohnten.

Sophia von Bergen saß auf dem Sofa, daneben stand ihr Rollstuhl, auf den sie seit ihrem Unfall angewiesen war, der ihr gesamtes Leben, aber auch das ihrer Tochter, mit einem Schlag verändert hatte. Sophia lächelte, als sie Roberta erblickte, die Frauen begrüßten einander, Roberta setzte sich, umfasste Sophias schlanke Rechte, an der sie einen wunderschönen Brillantring trug, der ein altes Familienerbstück war, mit ihren beiden Händen.

»Wie fühlen Sie sich mit den neuen Tabletten, Frau von Bergen?«, erkundigte sie sich.

»Ich habe mich noch nie so gut gefühlt, Frau Doktor. Diese Tabletten wirken Wunder.«

Dann erzählte sie ausführlich über die Wirkung, und Roberta freute sich. Das war eine gute Nachricht. Sie verließ sich nicht auf das, was die Pharmavertreter der einzelnen Firmen ihr in ihren Besuchen erzählten, sie informierte sich nicht nur durch die Fachzeitschriften oder auf den Ärztekongressen, nein, sie ging über die Grenzen hinaus und wollte auch wissen, was sich international so tat. Und da war es gut, wenn man weit vernetzt war. Enno Riedel hatte ihr geholfen, und Roberta freute sich, ihn bald zu sehen. Er und seine Familie würden nicht mehr in den Sonnenwinkel oder nach Deutschland zurückkehren, sie hatten ihren Lebensmittelpunkt in Philadelphia gefunden.

Roberta hatte sich entschlossen, das Haus, in dem sie derzeit noch zur Miete wohnte, zu kaufen, und Ennos Kommen wäre nicht nötig gewesen, doch er wollte seinen Aufenthalt damit verbinden, nicht nur Roberta wiederzusehen, sondern auch alte Freunde und Familie.

»Frau von Bergen, das sind gute Nachrichten«, freute Roberta sich, »dann können wir jetzt die Dosis erhöhen, und ich bitte Sie, morgens und abends nicht nur eine von diesen Tabletten zu nehmen, sondern jeweils zwei.«

Sophia nickte, bedankte sich bei Roberta, dann bekam ihr Gesicht einen ganz bekümmerten Ausdruck.

»Ach, Frau Doktor, ich habe ja solche Schuldgefühle. Mir geht es von Tag zu Tag besser. Der Physiotherapeut, der Herr Kuhlmann, den Sie mir besorgt haben, vollbringt wahre Wunder an mir. Ich kann sogar schon an zwei Krücken bis dorthin zur Tür laufen, und er ist überzeugt davon, dass er meine Mobilität wieder herstellen wird, ganz herstellen, sagt er. Ich muss nur Geduld haben.«

Roberta ließ die Hand der alten Dame los, richtete sich auf.

»Das sind doch ganz wundervolle Nachrichten, weswegen blicken Sie denn dann so bekümmert drein?«

Sophia seufzte.

»Weil es auf Kosten meiner Tochter geht«, sagte sie leise und hatte Tränen in den Augen.

»Wie kommen Sie denn darauf?«

Wieder ein Seufzer. »Als ich diesen Unfall hatte, hat sie ihr eigenes Leben für mich aufgegeben, sie ist mit mir hierher gezogen, um immer für mich da zu sein. Dadurch hat sie ihren Ehemann verloren, alle Privilegien, mein Schwiegersohn lässt sich scheiden und lässt sie am langen Arm verhungern. Und als sei das nicht schon genug. Jetzt hat sie vor lauter Stress auch noch diese schreckliche Krankheit bekommen, und die so richtig heftig. Sie haben doch gesagt, dass bei meiner armen Angela nicht nur eine Nervenbahn betroffen ist, sondern mehrere. Warum hat ausgerechnet sie diese Teufelsschmerzen und nicht eine nur ganz schwach ausgeprägte Gürtelrose, die manchmal sogar nur mit einem ausgeprägten Juckreiz der Haut verläuft?«

Sie blickte Roberta an.

»Ich sage es Ihnen, Frau Doktor«, ihre Stimme klang düster, »alles meinetwegen.«

Jetzt fing Sophia auch noch damit an.

»Und ich sage Ihnen, liebe Frau von Bergen, dass das nicht stimmt. Wie gesagt, kann Stress ein Auslöser sein, doch wenn, dann hat es damit viel früher angefangen, in der Ehe Ihrer Tochter. Sie war mir gegenüber sehr ehrlich und hat mir erzählt, wie sehr sie unter ihrem Ehemann gelitten hat, der sie als sein Eigentum betrachtete, als etwas, was er sich gekauft hat.« Roberta wurde ernst. »Frau von Bergen, Sie befinden sich auf dem Weg der Besserung, und Ihre Tochter wird die Krankheit auch überstehen, davon wird man wieder gesund, sie ist nur ­äußerst unangenehm und schmerzhaft. Schuldgefühle sind kein guter Wegbegleiter. Blicken Sie nach vorne.«

Sophia überlegte.

»Es stimmt ja alles, was Sie sagen, und ich habe die Worte meiner Mutter noch im Ohr, die immer sagte, der liebe Gott mutet einem nur das zu, was man auch ertragen kann.«

Zum Glück musste Roberta dazu jetzt nichts sagen, denn in diesem Augenblick kam Teresa von Roth in den Raum.

Sophia begann zu strahlen.

»Mein guter Engel«, rief sie.

Roberta stand auf. »Das ist Frau von Roth wirklich.«

»Und die beiden anderen Damen auch«, erklärte Sophia. »Sie sind alle drei nicht dazu verpflichtet, sich so fürsorglich um mich und meine Angela zu kümmern.«

Roberta verabschiedete sich rasch.

Es war an der Zeit für sie zu gehen. Sie ging zufrieden, denn dass das Präparat aus Amerika wirkte, das war vielversprechend.

Um Sophia von Bergen und um die nette Angela Halbach musste sie sich keine Sorgen machen, das waren starke Frauen, von ebenfalls starken Frauen umgeben.

*

Eigentlich hätte Roberta jetzt nach Hause gehen können, sie hatte noch nichts gegessen, Alma hatte ihr liebevoll etwas vorbereitet, denn sie selbst war auf einer Geburtstagsfeier.

Roberta war ja so froh, dass Alma wieder aufblühte, dass sie das Intermezzo, anders konnte man es nicht bezeichnen, mit diesem Mann zu vergessen begann, diesem Wolf im Schafspelz.

Es war ein schöner Abend, die Luft war mild, kein Lüftchen regte sich.

Roberta registrierte es zunächst nicht einmal richtig, dass sie den Weg zum See einschlug. Als ihr das schließlich bewusst wurde, wurde sie ganz aufgeregt.

Klar, sie wussten beide, dass in manchen Augenblicken die Arbeit wichtiger war als das Privatleben, und sei man noch so verliebt, noch so sehnsuchtsvoll.

Manchmal setzte man sich einfach darüber hinweg, und genau das tat Roberta jetzt ganz impulsiv. Sie würde nicht lange bleiben, sie wollte Lars einfach nur mal sehen, ein paar Worte mit ihm reden, ihn küssen, seine Nähe und seine Wärme spüren. Und dann würde sie wieder gehen. Dieser Gedanke beflügelte sie richtig, und sie begann schneller zu laufen. An der frischen Luft zu sein, sich zu bewegen, das tat so richtig gut. Sie sollte, wenn sie frei hatte, sich wirklich zwingen, nach draußen zu gehen, statt sich aufs Sofa fallen zu lassen und es sich dort gemütlich zu machen. Das war ihr schon klar. Doch wie sagte man so schön? Meist war der Geist willig, doch das Fleisch war schwach.

Roberta erreichte das kleine Haus, das für sie von so großer Bedeutung war, in dem sie wundervolle Stunden erlebt hatte, zuerst mit Kay und jetzt mit Lars. Es war schon merkwürdig, dass ausgerechnet dieses Haus am See von beiden ausgesucht worden war. Doch wenn man es so recht bedachte, dann waren beide Männer ausgeprägte Individualisten, und dann war dieses Haus auch der richtige Rahmen. Doch die Männer selbst unterschieden sich grundlegend voneinander. Darüber machte sie sich jetzt keine Gedanken, es war überflüssig, das mit Kay war Vergangenheit, an ihn dachte sie voller Wärme, weil er ihr über ihre gescheiterte Ehe hinweggeholfen hatte. Bei ihm hatte sie die Leichtigkeit des Seins kennengelernt, aber Lars …

Von Lars hatte sie kennengelernt, was man wirklich unter Liebe verstand, von einer gleichberechtigten Partnerschaft auf Augenhöhe.

Roberta besaß zwar einen Hausschlüssel, doch den hatte sie jetzt natürlich nicht dabei. Ungeduldig betätigte sie den Türklopfer aus Schmiedeeisen. Oder hätte sie das nicht tun sollen? Wenn Lars nun gerade intensiv arbeitete, dann wäre es besser, ihn dabei nicht zu unterbrechen. Roberta wusste aus eigener Erfahrung, wie ärgerlich solche Unterbrechungen waren.

Zu spät!

Solche Überlegungen hätte sie früher anstellen sollen. Die Tür wurde schwungvoll geöffnet.

Lars sah wieder mal umwerfend aus in seiner Jeans und dem blauen Pullover, der das Blau seiner Augen, in die sie sich zuerst verliebt hatte, noch mehr betonte.

Überrascht blickte er Roberta an, dann huschte ein breites Lachen der Freude über sein Gesicht.

»Na, wenn das keine Überraschung ist«, er zog sie ins Haus, »du wirst es nicht glauben, den Gedanken, dich sehen zu wollen, hatte ich vorhin auch. Ich unterdrückte ihn aber, als mir bewusst wurde, dass mein Essen jeden Moment fertig sein muss. Ich hoffe, du hast noch nicht gegessen, und du hast Lust auf ein Ratatouille.«

Roberta bewunderte Lars dafür, wie gut er für sich sorgte. Und wie gut er kochen konnte! Das hatte er bereits mehrfach unter Beweis gestellt.

Sie folgte ihm ins Haus, sagte, dass sie noch nicht gegessen habe und dass sie Ratatouille liebte, dass sie sich schon allein wegen der ganzen Gemüseschnippelei niemals daran wagen würde.

»Bei der Schnippelei kommen einem die besten Gedanken«, lachte er, umarmte sie zärtlich, blickte ihr tief in die Augen.

»Es ist schön, dass du da bist, dass du mal für einen Moment deinen Verstand ausgeschaltet hast und deinem Gefühl gefolgt bist.«

Das war sie wirklich, wie oft hatte Nicki ihr früher geraten, einfach mal ihrem Gefühl zu folgen, doch da hatte sie sich immer im Weg gestanden, auch bei Kay. Jetzt bei Lars, da war alles so anders, so einfach.

Sie lehnte sich an ihn, genoss seine Nähe, und als er sich zu ihr herunterbeugte, um sie zu küssen, schloss Roberta ihre Augen.

Ach, Liebe konnte ja so schön sein!

Sie bereute nicht einen Augenblick, hergekommen zu sein, und ihm machte die Unterbrechung offensichtlich auch überhaupt nichts aus. Dabei sah es hier wirklich nach Arbeit aus, nach viel Arbeit.

Das Essen war fertig, es war köstlich, dazu tranken sie einen guten Rotwein, und sie unterhielten sich. Es war ja so schön, dass sie sich immer etwas zu sagen hatten.

Eines allerdings klammerte Roberta für den Moment aus, sie erzählte ihm nicht, was sie heute von der Kriminalpolizei erfahren hatte. Das konnte warten bis morgen.

Auf jeden Fall blieb Gerda Schulz unauffindbar, trotz einer sofort eingesetzten Großfahndung. Sie war mit keinem Flugzeug unterwegs, mit keinem Leihwagen, obwohl man ihr Auto auf dem Parkplatz eines Flughafens gefunden hatte.

Nein, Gerda Schulz war jetzt wirklich nicht das Thema.

Er schenkte ihr Rotwein nach, nachdem er sich vorher erkundigt hatte, ob sie heute Bereitschaft habe. Hatte sie nicht, das erfreute ihn.

»Na prima, dann können wir trinken, und dann kannst du doch auch über Nacht bei mir bleiben, oder?«

Nichts lieber als das.

»Und deine Arbeit?«, wollte sie wissen.

Er grinste.

»Ach ja, meine Arbeit, mittlerweile habe ich das Gefühl, mich selbst zu sabotieren, um die Abreise in die Arktis hinausschieben zu können. Ich hätte längst fertig sein können, und ehe du jetzt Schuldgefühle bekommst, weil du gekommen bist: Da kann ich dich direkt beruhigen, es ist nicht deine Schuld. Oder vielleicht doch. Seit du in meinem Leben bist, hat sich alles verändert. Weißt du, du hast es mir verdorben.«

Sie schaute ihn an.

»Die Lust am Alleinsein, du hast Ruhe in mein Leben gebracht, du erweckst Sehnsüchte in mir, die ich vorher niemals für möglich gehalten hätte. Roberta, ich liebe dich, ich liebe dich, wie ich noch nie zuvor eine Frau in meinem Leben geliebt habe. Es ist so schön, dass es dich gibt.«

Am liebsten hätte Roberta jetzt angefangen zu weinen, weil es so schön war.

»Ich liebe dich auch, und auch ich habe noch nie zuvor so geliebt«, kam es leise über ihre Lippen, was ihn veranlasste, langsam aufzustehen, um den Tisch herumzukommen, sie von ihrem Stuhl hochzuziehen, sie in die Arme zu nehmen und sie dann zu küssen, zuerst ganz zärtlich, und dann immer leidenschaftlicher.

Liebe fühlte sich ja so gut an, und man musste dabei überhaupt nicht denken. Welch ein Glück, dass sie spontan zu ihm gekommen war, um welch ­wundervolle Stunden hätte sie sich doch gebracht.

*

Manuel Münster stand zögernd vor dem imposanten Verwaltungsgebäude, in dem sich das Büro seines Vaters befand.

Er hatte ein Déjà-vu-Erlebnis.

Er hatte schon einmal so zögernd und nachdenklich hier gestanden, und auch damals war es um seinen Vater und seine Stiefmutter Sandra gegangen.

Damals war er erfolgreich gewesen, die beiden hatten sich versöhnt, und sein Vater und Sandra waren ihm dankbar gewesen für sein Eingreifen.

Und heute?

Es war eine ganz andere Situation. Damals war seine Stiefmutter, die er wirklich über alles liebte, unbegründet eifersüchtig gewesen, und sein Vater hatte sich enttäuscht zurückgezogen.

Jetzt stand eine dicke Mauer zwischen ihnen, weil Sandra leichtfertig ihr eigenes Leben und das Leben des Babys aufs Spiel gesetzt hatte, auf das sie sich alle so sehr gefreut hatten. Dass auch der teure Wagen dabei einen Totalschaden hatte, da war sich Manuel sicher, dass das für seinen Vater kein Grund für eine Verärgerung war.

Papa redete nicht über Sandra, er war, als sie noch im künstlichen Koma gelegen hatte, einfach nach Amerika geflogen, und seine Stiefmutter war ziemlich traurig gewesen, als er sie im Krankenhaus besucht hatte, dabei war sie doch sonst immer so fröhlich. Auch wenn vieles geschehen war, einen Anflug von guter Laune hätte noch da sein müssen. Sie hatte nicht einmal zaghaft gelächelt, und über Blumen freute sie sich sonst auch mehr.

Nein, Manuel war sich sicher, dass seine Stiefmutter, die bei ihm längst neben seiner verstorbenen leiblichen Mutter auf einer Stufe stand, so mutlos wegen Papa war.

Manuel fasste sich ein Herz und ging in das große, moderne Gebäude hinein, grüßte freundlich den Portier, und dann fuhr er mit dem gläsernen Aufzug hinauf in die Chefetage. Er kannte sich hier aus, und so ging er auch nicht in das große Vorzimmer des Chefs, sondern er ging in das Vorzimmer, in dem die Chefsekretärin saß, die Frau Brandt, das war eine ganz Nette, und die steckte ihm immer Süßigkeiten zu, wenn er mal da war, um seinen Vater zu besuchen. Oft war das nicht der Fall, sein Vater hatte viel zu tun, er war ein wichtiger Mann.

Manuel atmete tief durch, klopfte an, trat ein. Das Büro war leer. Das kam auch vor, die Frau Brandt konnte schließlich nicht wie festgenagelt auf ihrem Platz sitzen.

Es würde heute vermutlich keine Süßigkeiten geben, doch deswegen war er schließlich auch nicht hier. Hoffentlich war sein Vater in seinem Büro.

Manuel hatte Glück, sein Vater saß in seinem großen Büro hinter seinem großen Schreibtisch und blickte ganz verwundert auf, als er seinen Sohn erblickte.

»Manuel, ist etwas passiert?«, erkundigte Felix Münster sich besorgt.

Manuel ging zum Schreibtisch, setzte sich auf einen der beiden vor dem Schreibtisch stehenden Stühle, blickte seinen Vater an.

»Papa, ich bin hergekommen, um dich was zu fragen«, sagte er leise.

Felix Münster wusste nicht, was das sollte, und er erkundigte sich auch danach.

Anfangs zögerlich, doch dann sprudelte es immer mehr aus Manuel heraus. Er erzählte seinem Vater alles, angefangen von seinem Besuch im Krankenhaus, wo er Sandra so unglücklich vorgefunden hatte.

»Papa, es ist eine ganz komische Stimmung bei uns, und ich habe große Angst, dass du und Mama …, dass ihr euch trennt …, ich habe doch schon mal eine Mama verloren.«

Natürlich war Felix wegen des ganzen Vorfalls wütend, enttäuscht, verunsichert, aber er hatte nur sich gesehen und sich keine Gedanken darüber gemacht, was seine Befindlichkeiten mit seiner Familie machen würden.

Manuel war ein höchst sensibler Junge, er war mitfühlend, er konnte sich, obwohl er noch so jung war, in andere Menschen hineinversetzen.

Da kam er ganz auf seine leibliche Mutter. Je älter Manuel wurde, umso mehr erkannte Felix all die guten Eigenschaften an ihm, die er an seiner ersten Frau so sehr geliebt und geschätzt hatte.

Manuel wollte wirklich Frieden stiften, wie er es bereits schon einmal mit Erfolg gemacht hatte.

Felix kam sich nicht bevormundet vor, im Gegenteil, er war ganz gerührt, und er nahm seinen Sohn mit seinen Sorgen sehr ernst.

Er erzählte ihm, dass er nicht einen Augenblick daran gedacht hatte, sich von Sandra zu trennen, er sprach aber auch ganz offen über seine Empfindungen.

»Weißt du, Manuel, manchmal ist es gut, wenn man nach einem solchen Chaos neue Wege geht. Was ich dir jetzt anvertraue, das wissen nur Sandra, die Oma Marianne und Carlo, und die Oma Marianne und Opa Carlo finden meine Idee gut, und du kannst mir ja vielleicht dabei helfen, Sandra zu überzeugen. Was die davon hält, das weiß ich noch nicht so richtig.«

Dann erzählte er seinem Sohn von dem geplanten Verkauf der Münster-Werke, von dem Neuanfang auf der Farm in Arizona.

Als er Manuels skeptischen Gesichtsausdruck bemerkte, schob er ihm einfach ein paar Fotos zu. Und davon war Manuel begeistert.

»Und da sollen wir leben? Bekomme ich da auch ein eigenes Pferd?«

Felix lachte.

»Wenn du willst, mein Sohn, mehr als nur eines. Der verstorbene Onkel Friedrich hatte eine berühmte Pferdezucht, und du kannst reiten, reiten, reiten. Es ist eine riesige Farm mit unendlich viel Land, und das alles gehört uns.«

Manuel war ein Junge, der auch Abenteuerbücher las, und das, was sein Vater ihm da erzählt hatte, das war Abenteuer pur.

Seine Begeisterung erhielt allerdings einen Dämpfer, als ihm bewusst wurde, dass sie dann auch ihr Zuhause, den Erlenhof, die Felsenburg verlassen würden, den Sonnenwinkel, seine Freunde. All die Stätten seiner Kindheit.

Doch als er die Fotos erneut anblickte, als er sich daran erinnerte, dass all die Menschen, die er liebte, mitkommen würden, freute er sich wieder.

Doch dann kamen ihm erneut Bedenken.

»Papa, aber die Firma, die hast du doch von deinem Vater geerbt, vorher gehörte sie deinem Großvater, und ganz klein angefangen hat dein Urgroßvater. Es ist ein Familienbetrieb, darf man denn so etwas einfach verkaufen?«

Ach, der gute Junge, Felix war richtig gerührt, sogar darum machte er sich seine Gedanken.

»Manuel, das, was den Familienbetrieb ausmacht, das ist lediglich ein Bruchteil der Münster-Werke und hat auch mit dem, was wir heute produzieren, überhaupt nichts mehr zu tun. Wenn du so willst, dann ist nur noch der Name Münster übrig. Alles zu vergrößern, sich anderen Sparten zuzuwenden, das war richtig. Doch inzwischen ist der Markt noch größer geworden, es wird weltweit agiert, jeder will etwas abhaben vom Kuchen, deswegen herrscht ein gnadenloser Konkurrenzkampf. Wir haben hier ein vergleichsweise hohes Lohnniveau. Die Billiglohnländer können zu ganz anderen Konditionen produzieren, und das nutzen sie eiskalt aus.«

Er blickte seinen Sohn an.

»Weißt du, Manuel, von einem solchen ständigen Kampf wird man müde. Für mich ist es eine unglaubliche Chance, die Firma zu einem fantastischen Preis zu verkaufen. Und ich kann es ganz beruhigt tun, weil alle Arbeitsplätze erhalten bleiben. Die Erbschaft kam mir gerade recht. Sie ist ein Geschenk des Himmels, und ich bin überzeugt davon, dass es dir dort ebenso gefallen wird wie mir damals, als ich in deinem Alter war und Onkel Friedrich besuchte. In Arizona werde ich auf jeden Fall auch viel mehr Zeit für meine Familie haben, ich muss nicht mehr von einem Termin zum nächsten jagen.«

Was sein Vater da erzählte, das klang wirklich verlockend.

Manuel griff erneut nach den Bildern, sah sie sich noch einmal an, als er sie schließlich beiseitelegte, sagte er: »Papa, mich hast du überzeugt. Es ist bestimmt ganz toll in Arizona. Jetzt müssen wir nur noch die Mama auf unsere Seite bringen, ohne die fahre ich nirgendwo hin. Zusammen schaffen wir das bestimmt. Was meinst du, Papa, sollen wir gleich zu ihr fahren und unser Glück bei ihr versuchen?«

Felix fühlte sich ein wenig überrumpelt. Aber er liebte seine Frau, wollte sie nicht verlieren. An dem ganzen Sachverhalt änderte sich nichts, der würde in drei Monaten oder irgendwann noch immer da sein. Man würde anders damit umgehen, weil die Zeit vieles verblassen ließ.

Warum nicht heute anfangen?

Je früher der erste Schritt getan wurde, umso eher war die Chance da für ein normales Leben. Und das wünschten sie sich doch alle.

Eigentlich hatte er noch zwei Nachmittagstermine, aber so wichtig waren die auch nicht, dass man sie nicht verschieben konnte.

Felix stand auf.

»Also gut, mein Sohn, versuchen wir es«, sagte er, und Manuel begann zu strahlen. Sein Papa, der war wirklich toll.

Frau Brandt war wieder an ihrem Arbeitsplatz, rasch besprach Felix mit seiner Sekretärin alles Nötige. Und Manuel bekam auch noch seine Süßigkeiten, weil die Frau Brandt halt eine ganz Nette war.

Und die Schokolade, in der sich auch noch kleine bunte Smarties befanden, mochte er besonders gern.

Er freute sich, und das nicht nur über die Schokolade. Er freute sich auf Arizona, und am meisten freute er sich darüber, jetzt mit seinem Papa ins Krankenhaus fahren zu können, zu seiner Stiefmutter, die so ganz anders war als das, was man sich normalerweise, jedenfalls in Märchen, unter Stiefmüttern vorstellte.

Er war zwar schon groß, aber so groß nun auch wieder nicht, um nicht die Hand seines Vaters ergreifen zu können und mit ihm, Hand in Hand, zu dem Fahrstuhl zu gehen. Es fühlte sich gut an, sehr gut sogar.

*

Als Felix und sein Sohn vor dem Krankenhaus ankamen, wollte Manuel sofort auf den Blumenladen zusteuern, um für Sandra einen üppigen Blumenstrauß zu kaufen. Doch das wusste Felix zu verhindern. So weit war er noch nicht, als Manuel jedoch eine Bemerkung machte, fiel Felix zum Glück eine glaubhafte Ausrede ein.

»Manuel, überleg doch mal. Wir wollen Sandra davon überzeugen, mit nach Arizona zu kommen. Das müssen wir tun, wir allein. So einen Blumenstrauß könnte man doch als Bestechung auslegen, oder?«

Das stimmte, sein Papa dachte wirklich an alles.

Felix atmete auf, das war noch einmal gut gegangen. Es würde eh schwierig werden, in Manuels Gegenwart den richtigen Umgangston zu finden, denn natürlich würde der aufpassen wie ein Luchs. Da musste man wirklich jedes Wort auf die Goldwaage legen.

Als sie das Krankenzimmer betraten, lag Sandra mit geschlossenen Augen im Bett, ihr Gesicht war blass und spitz und beinahe so weiß wie das Kissen, auf dem ihr Kopf lag.

Manuel wollte auf das Bett zueilen, doch Felix hielt ihn zurück. Er wollte nicht, dass Sandra gestört wurde. Die allerdings schien den Besuch bemerkt zu haben, denn sie öffnete die Augen, ein freudiges Lächeln huschte über ihre Lippen.

Jetzt ging Manuel auf das Bett zu, beugte sich zu seiner Stiefmutter hinunter und umarmte sie. Da hatte er überhaupt kein Problem, obwohl er doch ein Junge war.

Sandra strich ihm übers Haar.

»Schön, dass du da bist, Manuel«, flüsterte sie.

Sie war wirklich froh, denn seine Gegenwart machte alles einfacher. Ein wenig wunderte sie sich allerdings schon, wie es kam, dass Vater und Sohn gleichzeitig zu Besuch kamen.

Nun trat auch Felix ans Bett.

»Hallo, Sandra«, sagte er, er umarmte sie noch immer nicht, gab ihr noch immer keinen Kuss. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht.

Felix zog sich einen Stuhl ans Bett, Manuel blieb am Fußende des Bettes stehen. Man musste nicht sensibel sein, um zu sehen, dass es nicht gut um seine Eltern stand. Was sollte er jetzt tun? Konnte er etwas tun?

Noch während er überlegte, sagte Felix: »Sandra, Manuel ist zu mir in die Firma gekommen, um mit mir zu reden. Er hat Angst, dass wir uns trennen. Er will dich nicht verlieren, und …«

Er brach seinen Satz ab, weil Manuel leise das Krankenzimmer verließ. Er wurde jetzt hier nicht gebraucht, er konnte sich draußen auf den Gang stellen und beten und hoffen, dass die beiden sich wieder versöhnen würden wie damals.

Nachdem Manuel gegangen war, blieb es einen Moment lang still, dann erzählte Felix seiner Frau alles, was sich zwischen ihm und seinem Sohn ereignet hatte.

»Kannst du dich erinnern, Sandra? Manuel hat schon einmal die Initiative ergriffen.«

Und ob sie sich erinnern konnte. Wer weiß, was geschehen wäre, hätte Manuel nicht so beherzt eingegriffen. Er war wirklich ein ganz wunderbarer Junge.

Sie nickte, weil sie das Gefühl hatte, einen Kloß im Hals sitzen zu haben.

»Sandra, Manuel hat mir wieder mal die Augen geöffnet. Wir zwei sollten versuchen, einen Weg ohne Schuldzuweisungen zu finden. Vergessen kann ich nicht, aber ich liebe dich, und ich denke, du bist gestraft genug. Wollen wir uns beide bemühen, uns wieder ganz vorsichtig einander zu nähern?«

Wieder nickte sie nur.

»Ich denke, wenn wir oben auf dem Anwesen wohnen bleiben, da holt uns die Vergangenheit ein, da werden die Schatten nie verschwinden. Und deine Mutter und Carlo werden auf jeden Fall verkaufen. Blieben wir, müssten wir uns auf neue Nachbarn im Herrenhaus einstellen, willst du das?«

Diesmal schüttelte sie den Kopf.

»Sandra, hast du einmal über Arizona nachgedacht?«

Endlich sagte sie etwas.

»Ja, Felix, ich habe lange nachgedacht, und ich habe auch mit Mama darüber gesprochen. Sie will es auch, und selbst wenn es nicht so wäre, würde sie es allein schon wegen Carlo tun. Der ist voller Enthusiasmus, dessen Lebensgeister sind wieder erwacht, er hat seine Krankheit vergessen und hat schon so viele Pläne für Arizona. Ich glaube, er kann uns alle anstecken. Und die Kinder, die sind kein Problem, die freuen sich auf etwas Neues, und wenn Pferde im Spiel sind, dann hat man eh gute Karten.«

Sie blickte ihren Mann an.

»Felix, Arizona ist ein Neuanfang …, auch für uns, für unsere Beziehung? Du glaubst nicht, welche Vorwürfe ich mir mache, welche Schuldgefühle ich habe. Es lässt sich nichts rückgängig machen …, ich … ich … ich liebe dich, und ich möchte dich nicht verlieren. Doch ich möchte auch nicht nur neben dir herleben, ich möchte, dass es wieder …«, sie seufzte, »ach, wie es war, so wird es niemals mehr werden, das weiß ich. Es steht zu vieles zwischen uns. Aber …«, sie blickte ihn an, »ich weiß nicht …«

Er nahm ihre Hand, die blass und kraftlos auf der Bettdecke lag.

»Sandra, ich weiß es auch nicht. Doch ich denke, wenn wir beide uns bemühen, dann können wir es schaffen, schon allein der Kinder wegen, und ich …, nun, was immer auch geschehen ist, ich habe nicht aufgehört dich zu lieben. Man kann wütend auf einen Menschen sein, aber Liebe kann man nicht töten, nicht, wenn man wirklich liebt.«

Sie begann zu weinen, und er zog schnell ein Taschentuch aus seiner Tasche und wischte behutsam die Tränen weg.

»Nicht weinen, Tränen machen alles noch schlimmer, ziehen einen herunter.«

Sie wagte ein kleines Lächeln, in dem eine Spur von Zuversicht lag.

»Ich weine doch, weil ich …, nun ja, weil ich Hoffnung habe, dass unsere Liebe stärker ist als all das Schreckliche, das geschehen ist.«

Er steckte sein Taschentuch wieder weg.

»Sandra, das hoffe ich auch. Aber ich denke, jetzt sollte ich mal nach Manuel sehen und ihn hereinholen. Er ist fabelhaft, wäre er nicht zu mir gekommen, dann wäre ich jetzt nicht hier. Dabei ist es doch überhaupt nicht so schwer, kleine Schritte aufeinander zuzugehen.«

»Ja, Felix, Manuel ist wirklich großartig, er hat einen so großartigen Charakter, ein großartiges Herz, eine großartige Seele …, ich liebe ihn, und das von der ersten Sekunde an, als ich ihn sah. Er war damals schon ein ganz besonderes Kind.«

Felix stand auf.

»Ich hole ihn jetzt, einverstanden? Und dann sagen wir ihm gemeinsam, dass du mit nach Arizona gehen wirst. Das wirst du doch, oder?«

Sandra musste ihre Tränen unterdrücken. Sie hätte am liebsten wieder geweint, doch diesmal vor Freude. In all dem Dunkel, in all dieser Düsternis zeigte sich ein kleiner Lichtstreif.

»Meine Mutter ist bereit, mit ihrem Carlo bis ans Ende der Welt zu gehen. Da darf ich ihr doch wohl nicht nachstehen. Ja, ja, ja. Ein Neubeginn in Arizona, das hört sich ganz wundervoll an. Und bitte, hole Manuel herein. Wir sagen ihm, dass alles, was immer auch geschehen wird, wir ihm zu verdanken haben.«

Das stimmte, Felix musste es nicht bestätigen.

Manuel hatte wieder einmal sein großes Herz bewiesen, neben seinem Sohn durfte er nicht klein erscheinen. Ja, Felix war wirklich froh, hergekommen zu sein. Es war noch alles in der Schwebe, er wusste noch nicht, wie er mit Sandra umgehen sollte, aber er wollte nicht nur ablehnend sein und nicht selbstgerecht. Sogar Mörder wurden irgendwann begnadigt, Menschen, die bewusst jemanden umgebracht hatten oder im Affekt. Das Baby …

Sandra hatte es nicht umgebracht. Es war wegen einer Verwicklung unglücklicher Umstände gestorben.

Felix lief durch das Krankenzimmer, öffnete die Tür, sah seinen Sohn, der ihm angstvoll entgegenblickte.

Felix lächelte, und das war für Manuel ein Zeichen. Er stürzte in den Raum, blickte abwechselnd seinen Vater und seine Stiefmutter an und rief: »Wir gehen alle nach Arizona, die ganze Familie.«

Dann umarmte er zuerst seinen Vater und dann Sandra, und das tat er so stürmisch, dass die beiden ein wenig schmerzhaft ihr Gesicht verzogen.

Es gab noch viel zu reden, und die Stimmung wurde immer lockerer, beinahe ausgelassen.

Felix hatte nichts dagegen, als Manuel sagte: »Papa, du hast doch nichts dagegen, dass ich jetzt da unten Blumen für die Mama hole?«

Hatte Felix nicht, und er musste lachen, als Manuel sagte: »Papa, dazu brauche ich aber Geld, mein Taschengeld ist leider alle.«

Felix gab ihm das Geld, und Manuel stob davon. Zwischen Felix und Sandra blieb es still, beide hingen ihren Gedanken nach, doch es war keine unangenehme Stille. Dazu war die Stimmung viel zu friedvoll.

Arizona … Sandra gefiel der Gedanke immer mehr. Ja, das konnte ein guter Neuanfang sein.

Felix ergriff ihre Hand, hielt sie sanft umschlossen.

Wie schön es doch war, wieder von ihm berührt zu werden, und wenn es nur die Hand war …

Sie konnte sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen, weil sie ihn über alles liebte. Dass er hier war, war so unglaublich, und ein bisschen Nähe war bereits da, und somit ein bisschen Hoffnung.

»Sandra, ich kann dir keine Versprechungen machen«, drang seine Stimme an ihr Ohr. »Doch wenn wir beide daran arbeiten, dann finden wir einen Weg, davon bin ich überzeugt.«

»Felix, das bin ich auch.«

Sie hätte gern noch mehr gesagt, doch in diesem Augenblick kam Manuel ins Zimmer gestürzt, atemlos und ungestüm.

»Und wie gefällt dir der Strauß?«, wollte er wissen und hielt Sandra genau einen solchen Strauß Rosen entgegen, wie Felix ihn neulich beinahe gekauft hätte.

Manuel kam zwar auf seine Mutter, aber es war nicht zu verkennen, dass er auch sein Sohn war.

»Er ist fantastisch, Manuel«, sagte Sandra. »Ich habe noch nie so herrliche Rosen gesehen. Du hast einen unglaublichen Geschmack, mein Junge.«

Ein schönes Kompliment, das hätte auch an ihn gehen können, dachte Felix, aber er war halt zu stur gewesen.

»Ich hol mal eine Vase«, sagte er, denn er fand, nun hatten auch Manuel und Sandra ihre Zeit verdient.

*

Wie ein Lauffeuer breitete sich das Verschwinden von Gerda Schulz im Sonnenwinkel aus, obwohl weder Roberta noch Hilda darüber gesprochen hatten, und Hilda wohnte ja noch nicht einmal im Sonnenwinkel.

Doch natürlich war die Polizei da gewesen, um nach Spuren zu suchen, und wo die Polizei war, da war auch die Presse nicht weit.

Inge Auerbach, die sich am Tratsch nie beteiligte, wurde durch mehrere Leute informiert, und Gerdas Verschwinden beruhigte Inge nicht, aber sie machte sich schon ihre Gedanken wegen des Hauses. Es gehörte schließlich ihrer Tochter Ricky und ihrem Schwiegersohn Fabian, und wenn die Mieterin sang- und klanglos verschwunden war, dann gab es keine Mieteinnahmen mehr.

Inge überlegte einen Moment.

Ricky war so glücklich mit ihrer kleinen Teresa, genoss ihr Mutterglück, das bei ihr immer noch genauso innig war wie beim ersten Baby.

Sollte sie diese Idylle zerstören, indem sie ihrer Tochter die Neuigkeiten überbrachte?

Wie schade, dass Werner nicht zu Hause war, damit sie sich mit ihm besprechen konnte. Inge war ein bisschen wütend, wenn es darauf ankam, da war sie immer allein, musste alles allein ausbaden. Das war schon so gewesen, als die Kinder noch klein und daheim gewesen waren, und es hatte nie aufgehört. Wo waren denn Werners vollmundige Versprechungen, kürzertreten zu wollen?

Früher war Inge so stolz gewesen, mit einem berühmten Wissenschaftler verheiratet zu sein, der weltweit gefragt war.

Jetzt wünschte sie sich, ihren Mann auch mal für sich allein zu haben, mit ihm beispielsweise Wanderurlaube zu machen oder Städtereisen mit einem interessanten Kulturprogramm.

Es würde ihr ja schon reichen, wenn er mal mit ihr nach Hohenborn käme, um ein Eis zu essen oder in einem Café ein Stück Torte. Nie hatte er Zeit. Sie schaffen es gerade mal, hier und da in den ›Seeblick‹ zu gehen.

Was sollte sie tun?

Ricky anrufen, weil es wichtig war?

Oder sich erst einmal mit ihren Eltern besprechen? Nein, diesen Gedanken ließ sie sofort wieder fallen. Sie war eine erwachsene Frau, die auch nicht mehr ganz taufrisch war, sie musste ihre Probleme selbst lösen und durfte nicht immer wieder zu ihren Eltern laufen, weil es so angenehm war, sie direkt nebenan zu haben.

Inge kochte sich einen starken Kaffee, der war immer ihr Retter in der Not, und dann griff sie entschlossen zum Telefon. Ja, zum Telefon. Sie fand, dass Wichtiges entweder persönlich oder am Telefon besprochen werden musste. Inge fand die Anonymität der neuen Möglichkeiten, miteinander zu kommunizieren, schrecklich. Und sie konnte sich gut erinnern, wie sehr sie sich aufgeregt hatte, als sie erfuhr, dass der Verlobte einer Nachbarstochter per Smartphone die Verlobung aufgelöst hatte, und das drei Tage vor der Hochzeit. Das war ja schon seelische Grausamkeit!

Schon wollte sie wieder auflegen, als Ricky sich meldete. »Hallo, Mama, schön, dass du anrufst, aber ich habe wirklich nicht viel Zeit.«

Na, das war ja eine Begrüßung.

»Mein liebes Kind, die Zeit wirst du dir jetzt aber nehmen müssen«, sagte Inge spitz.

Mutter und Tochter kannten einander gut, prompt kam also von Ricky: »Mama, ich habe wirklich nur wenig Zeit, Teresa wird gleich aufwachen, weil sie Hunger hat. Und Fabian hat zwei Freistunden und wird jeden Augenblick zu Hause sein. Er kann als stolzer, glücklicher Vater auch nicht genug bekommen von unserer süßen, kleinen Prinzessin.«

Inge wollte momentan nicht über ihre kleine Enkelin reden, obwohl sie in die ganz vernarrt war und normalerweise nicht genug von ihr bekommen konnte.

»Gut, dass Fabian gleich nach Hause kommt, dann kannst du ihm gleich alles erzählen, was ich dir jetzt zu sagen habe. Ricky, ich habe keine guten Nachrichten.«

Und dann sprudelte es aus Inge nur so heraus, doch zu ihrer Verwunderung regte sich Ricky darüber, dass Gerda Schulz verschwunden war, überhaupt nicht auf.

Sie fand ganz entsetzlich, was Gerda dem armen Mädchen angetan hatte, das sie sich widerrechtlich angeeignet hatte wie einen Artikel aus einem Regal im Supermarkt.

»Ricky, es bleiben die Mieteinnahmen weg«, erinnerte Inge ihre Tochter. Ihre Tochter und ihr Schwiegersohn brauchten die Mieten doch, denn auch wenn Fabian sehr gut verdiente, kostete eine so große Familie viel Geld, besonders, wenn man seinen Kindern einiges bieten wollte, und das taten Ricky und Fabian aus tiefster Überzeugung, weil ihre Kinder ihre Welt waren.

»Mama, entspann dich bitte. Ich habe drei Monatsmieten Kaution, und die reichen bis zur Neuvermietung des Hauses. Der Sonnenwinkel ist begehrt, man reißt sich darum, dort wohnen zu dürfen.«

»Und wenn ihr nun doch verkauft?«, wandte Inge ein.

Sofort widersprach Ricky.

»Von einem solchen Gedanken sind wir ab, für Geld bekommt man keine Zinsen mehr, alles ist beliebig vermehrbar, Grund und Boden nicht. Wenn man ein Haus im Sonnenwinkel hat, ist das eine sichere Bank. Die Häuser erfahren ständige Wertsteigerungen. Aber weißt du was, Mama? Über dieses Thema können wir uns persönlich ausführlich unterhalten. Ich habe übermorgen etwas in Hohenborn zu tun, danach mache ich einen Abstecher zu euch. Omi und Opi sind ja auch ganz vernarrt in die kleine Teresa. Die können sie dann auch sehen. Ich rufe dich noch an und sage dir, wann ich genau bei euch sein werde.«

Ehe sie sich verabschiedete, sagte Ricky: »Mama, es ist ganz lieb von dir, dass du dich so kümmerst. Aber du musst dir um uns wirklich keine Sorgen mehr machen. Wir sind erwachsen, und wir wissen, was wir tun … War Jörg schon bei euch?«

Ihr Sohn Jörg kam hier und da auch mal vorbei, sie trafen sich zu den Familienfesten, telefonierten miteinander. Warum erwähnte Ricky das jetzt? Sofort war Inge alarmiert.

»Nein, wieso?«

Diese Frage beantwortete Ricky nicht, sondern beendete rasch das Gespräch und ließ ihre Mutter irritiert zurück. Weswegen sollte Jörg zu ihnen kommen?

Was wusste Ricky, was sie nicht wussten?

War etwas mit den Kindern?

Gab es eine Unstimmigkeit zwischen Jörg und Stella?

Viele Fragen schwirrten ihr durch den Kopf, und sie wusste nicht eine einzige Antwort.

Inge ärgerte sich über sich selbst. Hatte Ricky nicht gerade gesagt, dass sie erwachsen waren und wussten, was sie taten?

Sie musste loslassen, sie durfte sich nicht immer in alles hineinhängen und versuchen, alles zu regeln, wie sie es früher getan hatte. Die Kinder waren wirklich nicht mehr klein. Deswegen war Inge ja so froh gewesen, wenigstens ihre Jüngste noch im Haus zu haben, ihr Nesthäkchen.

Bambi, die nur noch Pam, Pamela genannt werden wollte, die nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollte.

Inge verspürte einen tiefen Schmerz in ihrer Brust und musste sich zusammenreißen, um jetzt nicht zu weinen.

Sie war so hoffnungsfroh gewesen, dass Pam sich nach ihrem langen, reuevollen Brief voller Erklärungen wenigstens melden würde. Dann hätten sie wenigstens irgendwo anknüpfen können. Leider war bislang nichts geschehen, und je mehr Zeit verging, umso hoffnungsloser wurde sie. Sie hatten ihr Nesthäkchen für immer verloren. Es war ein so entsetzlicher Gedanke, der sie beinahe zerriss.

Inge trank noch einen Kaffee, versank in Grübeleien, die sie in die Vergangenheit führten.

Als sie hier im Sonnenwinkel angekommen waren, war die Familie noch komplett gewesen, doch dann war als Erste Ricky gegangen, die sich unsterblich in Fabian Rückert verliebt hatte, dann hatte Jörg das Haus verlassen, und Hannes. Er war nach seinem Abitur auf Weltreise gegangen, doch all ihre Hoffnungen, er würde sich hier in der Nähe niederlassen, anfangen zu studieren, erfüllten sich nicht. Hannes, der Freigeist, hatte seinen eigenen Kopf. Hannes dachte nicht daran, die Erwartungshaltung seiner Eltern, insbesondere die seines Vaters, zu erfüllen. Er war nach Australien gegangen, um dort zusammen mit einem Kumpel eine Tauch- und Surfschule zu betreiben. Ein schrecklicher Gedanke für die Auerbachs, und es machte sie auch nicht glücklich, dass ihr Hannes das Werbegesicht für ein­ neues Surfbrett, ›Sundance‹, war und dabei ordentlich verdiente. Darum ging es den Auerbachs nicht. Es nagte an Werner Auerbach, dass sein jüngster Sohn nicht eine vielversprechende akademische Laufbahn einschlug, dass er seine Talente so verschwendete, mit einem Einser-Abitur standen ihm alle Türen offen.

Inge trank einen Schluck, rührte gedankenverloren in ihrer Tasse herum.

Eines war Hannes auf jeden Fall hoch anzurechnen, dass er seine kleine Schwester zu sich geholt hatte, und es war ein Glücksfall gewesen, dass Pam mit ihm gegangen war, obwohl er doch ein Auerbach war, mit denen sie nichts mehr zu tun haben wollte.

Inge seufzte.

Es war keine vorübergehende Laune, kein vorübergehender Zorn. Nein, sie hatte endgültig mit ihnen gebrochen, sonst hätte sie ihnen geschrieben. Inge wagte nicht, einen weiteren Brief ins ferne Australien zu schicken, und sie wagte auch nicht, Hannes noch mal auf den Brief anzusprechen. Er war ziemlich sauer gewesen, weil sie sich nicht an die Abmachung gehalten hatte, sich nicht zu melden.

Als wenn das so einfach war.

Ein Mutterherz ging eigene Wege.

Ihre Gedanken wanderten zu Jörg. Warum sollte er mit ihnen gesprochen haben? Dieser Gedanke ließ Inge nicht los, und am liebsten hätte sie ihren Sohn angerufen.

Warum war Ricky einer Antwort auf ihre Frage ausgewichen? Sie waren sonst so offen miteinander und hatten keine Geheimnisse voreinander. Es war ein beneidenswertes Mutter-Tochter-Verhältnis.

Oder sollte sie einfach noch mal bei Ricky nachhaken?

Besser nicht, Ricky konnte ganz schön pampig werden, wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlte.

Inge trank den Rest ihres Kaffees aus, stand auf, stellte die Tasse weg, dann verließ sie nicht nur den Raum, sondern auch das Haus.

Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, sie musste sie ablenken, und das konnte sie sehr gut, indem sie sich um Sophia von Bergen und deren Tochter Angela kümmerte. Sie war zwar nicht an der Reihe, als Nächste würde Alma aus dem Doktorhaus kommen, doch ein wenig Abwechslung konnte den beiden Damen nicht schaden, besonders die arme Angela musste von ihren starken Schmerzen abgelenkt werden. Die hatte es wirklich arg erwischt.

Ehe sie die beiden Frauen besuchte, lief sie zu der am Rand der Siedlung gelegenen Gärtnerei und kaufte einen wunderschönen bunten Blumenstrauß. Wenn man den nur ansah, bekam man gute Laune, und die konnten nicht nur die zwei Damen brauchen, sie selbst hatte gute Laune bitter nötig.

*

Während ringsum das Leben weiterging, hatte Hilda Hellwig die aufregendste Zeit ihres Lebens. Es war so gut, dass sie die Frau Doktor an ihrer Seite hatte. Allein hätte sie das nicht geschafft.

Es ging ja nicht darum, Leonie, die nun Claire hieß, nur eine Unterkunft zu geben, nein, es war so vieles mehr. Das Mädchen musste seelisch aufgebaut werden, sie musste alles Unangenehme von dem Mädchen fernzuhalten. Es war eine Gratwanderung, denn Claires Verfassung konnte von einem Augenblick auf den nächsten kippen. Sie war wie ein Blatt im Wind.

Vermutlich konnte man nur annähernd ahnen, wie Claire sich fühlte. Sie war herausgerissen aus ihrem bisherigen Leben, aus ihrer heilen Welt, umringt von Kriminalbeamten, belagert von Fotografen.

Alles machte Hilda schon Angst, wie musste es da in dem armen Mädchen aussehen!

Hilda konnte wachsam sein, aufpassen, denn es war ein Leben am Limit. Hilda durfte nicht zulassen, dass Claire von jemandem belästigt, befragt wurde.

Hilda beschützte Claire. Sie kaufte für sie neue Outfits. Man konnte in diesem Fall wirklich froh sein, dass es das Internet gab und man sich einkleiden konnte, ohne das Haus verlassen zu müssen.

Natürlich gab es in dem alten Haus einen prall gefüllten Kleiderschrank, doch Claire wollte dieses Haus niemals mehr betreten, sie wollte an nichts erinnert werden, sie trauerte nicht einmal ihrem Prinzessinnenzimmer nach, auf das sie so stolz gewesen war.

Sie hatte ihr altes Leben notgedrungen hinter sich gelassen und schwebte in einem luftleeren Raum. Irgendwo gab es zwar ein neues Leben, doch das machte ihr Angst.

Armes, armes Mädchen. Hilda zerfloss beinahe vor lauter Mitleid.

Ach, wenn sie Claire doch bloß etwas von ihrem Leid, von ihrer Seelenpein abnehmen könnte. Hoffentlich trug sie keine großen seelischen Schäden davon, hoffentlich war ihre leibliche Mutter eine nette Person, und Mutter und Kind fanden einen Zugang zueinander. Hoffentlich gab es das, was man immer sagte, die Stimme des Blutes oder so ähnlich.

Auf jeden Fall war alles schrecklich!

Welch ein Durcheinander!

Da gab es die Bezugsperson, die Claire Mutter genannt hatte und die doch keine Mutter war. Sie hatte diese Frau geliebt. Und die hatte Claire, um ihre eigene Haut zu retten, einfach im Stich gelassen, hatte sie fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.

Und dann Isabella Duncan …

Reichte es aus, eine berühmte Pianistin zu sein, um eine Brücke zu Claire zu schlagen? Besaß Isabella genug Fingerspitzengefühl, um ihre Tochter nicht zu überfordern?

Es war so wichtig, gleich am Anfang alles richtig zu machen, um bloß nichts zu zerstören.

Hilda war vollkommen überfordert, doch diese Schwäche durfte sie Claire nicht zeigen. Vor ihr musste sie stark sein, und das kostete viel Kraft.

Hilda sah immer wieder verstohlen auf die Uhr, denn heute sollte die Begegnung zwischen Isabella und ihrer Tochter stattfinden. Frau Dr. Steinfeld hatte vorgeschlagen, dass das erste Treffen in einem dem Mädchen vertrauten Raum stattfinden sollte, bei Hilda. Zum Glück hatte Isabella sofort zugestimmt.

Wo die Frau Doktor bloß blieb?

Sie hatte zugestimmt, bei dem Treffen dabei zu sein.

Ob sie sie noch einmal anrufen und an das Treffen erinnern sollte?

Es war nicht zu erkennen, wer nervöser war, Hilda oder Claire.

Claire sah wunderhübsch aus in ihrem Kleid, das so hervorragend zu ihren grünen Augen und ihren roten Locken passte.

Ungewohnt. Doch Frau Dr. Steinfeld und Hilda waren der Auffassung gewesen, dass sie ihrer Mutter nicht in einer Jeans und einer Sweatjacke gegenübertreten sollte.

Claire kam sich ein wenig verkleidet vor, doch das sagte sie nicht, denn die Frau Doktor und ihre geliebte Hilda meinten es ja nur gut.

Claire hätte jetzt gern den Kater auf den Arm genommen, doch der hatte sich irgendwo im Haus verkrochen. Er spürte wohl auch, dass etwas Ereignisreiches bevorstand.

Endlich kam die Frau Doktor!

Hilda fiel ein Stein vom Herzen, und auch Claire war erleichtert, denn sie lief Roberta entgegen.

Noch eine halbe Stunde!

Roberta klopfte Hilda beruhigend auf die Schulter, danach wandte sie sich an das nicht minder aufgeregte Mädchen.

»Claire, du kannst ganz ruhig sein. Dir kann überhaupt nichts passieren, ich habe mich mit deiner Mutter abgesprochen. Es ist eure erste Begegnung, sie kommt nicht, um dich sofort mitzunehmen, es soll ganz so sein, wie du es möchtest. Deine Mutter ist nur unendlich dankbar, dich nach so vielen Jahren wiedersehen zu dürfen.«

Claire schluckte.

»Aber bei dem Treffen werden Sie doch dabei sein, Frau Doktor, nicht wahr? Und Hilda, die sowieso, ohne die mache ich keinen Schritt.«

Die beiden Frauen blickten sich an. Für das, was jetzt gleich geschehen würde, gab es keinen Plan, da führte niemand Regie.

»Sorg dich nicht, wir werden bei dir sein.«

»Versprochen?«

»Versprochen«, erwiderten beide Frauen wie aus einem Munde, und das beruhigte das Mädchen ein wenig. Wohlgemerkt, ein wenig, denn Claire wippte mit dem Fuß, verschränkte ihre Hände ineinander.

»Liebes«, es war Hilda, die das nicht länger mit ansehen konnte, sie umfasste die schmalen Schultern des Mädchens, sie zog Claire an sich heran, »du musst keine Angst haben, wir sind bei dir, und wie die Frau Doktor schon sagte, dir kann nichts passieren, wenn du es nicht willst.«

Claire lehnte sich vertrauensvoll an Hilda, und die strich ihr behutsam über die wunderschönen Locken Es war eine merkwürdige Situation, wie die Ruhe vor dem Sturm, aber nein, das stimmte nicht. Ein Sturm brachte Zerstörung mit sich, und hier sollte doch gerade etwas aufgebaut werden.

Es klingelte.

Claire richtete sich steif auf, sie umkrallte Hildas Hand, die vor Schmerz beinahe aufgeschrien hätte.

»Du hast es versprochen, Hilda-Omi, du hast es versprochen, immer bei mir zu bleiben.«

Hilda nickte, sie konnte nichts sagen, sie war emotional einfach zu bewegt.

Welch ein Augenblick!

Zum Glück saßen sie, denn Hilda merkte, dass sie ganz weiche Knie hatte.

»Versprochen ist versprochen, das wird auch nicht gebrochen«, diese Worte klangen wie ein Schwur und beruhigten das aufgeregte Mädchen.

Roberta stand auf, um die Tür zu öffnen, auch sie musste, ehe sie den Raum verließ, das Versprechen noch einmal versprechen, nicht von Claires Seite zu weichen. Erst als das geschehen war, konnte Roberta zur Tür gehen, um zu öffnen.

Hilda und Claire starrten zur Tür, lauschten gespannt.

»Wir sollten aufstehen«, flüsterte Hilda dem Mädchen zu, »das macht einen besseren Eindruck.«

Wortlos standen sie beide auf, gingen um den Tisch herum, blieben ein wenig verloren mitten im Raum stehen, und dann war der Augenblick da.

Roberta führte Isabella Duncan ins Zimmer.

Die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter war nicht zu übersehen, klar, dass Lars da sofort einen Zusammenhang festgestellt hatte, zum Glück.

Isabella war mittelgroß, sehr schlank, man konnte sie als zierlich bezeichnen, sie hatte nicht nur das rote Haar wie ihre Tochter, sondern auch die grünen Augen.

Isabella blieb stehen, auf ihrer­ Stirn bildeten sich feine Schweißperlen, sie begann zu schwanken, und hätte Roberta, die neben ihr stand, nicht beherzt zugefasst, wäre Isabella unweigerlich auf dem Parkettboden aufgeschlagen.

Isabella war emotional total bewegt, und das waren die beiden anderen Frauen ebenfalls. Es war ein Gänsehautmoment, dem auch Claire sich nicht verschließen konnte.

Sie starrte die Frau an, die ihre Mutter war, und weil sie sich beide so ähnelten, war sofort eine gewisse Vertrautheit da, sprang ein Funke über. Oder vielleicht war es wirklich die so oft gerühmte Stimme des Blutes.

Hilda wollte sich zusammenreißen, es ging nicht. Es war ein so bewegender Augenblick, sie musste einfach weinen und konnte nur hoffen, dass Claire das nicht mitbekam.

Die schaute ihre Mutter an, sprachlos, atemlos, und dann geschah etwas Unglaubliches. Mutter und Tochter bewegten sich, wie automatisch angezogen, aufeinander zu.

Es war ein magischer Augenblick, von dem auch Roberta und Hilda, die emotional eh schon aufgelöst war, sich nicht verschließen konnten.

Sie hatten sich so viele Gedanken gemacht, sie hatten so viele Szenerien durchgespielt, und nun schien alles so einfach zu sein.

Claire und Isabella standen sich gegenüber, blickten sich an, und dann breitete Isabella spontan ihre Arme aus, und Claire nahm diese Aufforderung an.

Mutter und Tochter lagen sich in den Armen.

Roberta umfasste Hildas Schulter, dann führte sie sie aus dem Raum.

Es lagen Magie und ein Zauber in diesem intimen Moment, den durften Außenstehende nicht stören.

Roberta ergriff die Initiative, setzte Hilda auf einen Stuhl, klopfte ihr beruhigend auf die Schulter.

»Es scheint zu klappen mit den beiden«, sagte Hilda, »dabei haben sie sich seit dieser grauenvollen Entführung nicht mehr gesehen. Endlich ist das zusammen, was auch zusammengehört. Ich bin ja so unendlich froh.«

Das war Roberta auch, doch so ganz konnte sie die Begeisterung von Hilda nicht teilen. Gewiss, die erste Begegnung zwischen Mutter und Tochter hätte nicht besser laufen können. Doch in jedem Leben gab es einen Alltag, und den mussten sie gemeinsam meistern, sie mussten sich kennenlernen, und da war noch die Vergangenheit des Mädchens, die sie unweigerlich einholen würde. Man konnte eine Weile alles verdrängen, doch irgendwann holte es einen ein, dann musste Claire sich mit dem Leben, das sie als Leonie geführt hatte, auseinandersetzen. Und das war so, als fiele man in ein tiefes Loch.

Roberta konnte nicht weiter darüber nachdenken, denn plötzlich stand Claire im Raum, sie hatte vor Aufregung glänzende Augen, ihr Gesicht war gerötet.

»Meine … Mama«, das kam noch ein wenig zögerlich über ihre Lippen, »möchte mich mitnehmen, sie wohnt jetzt in einer Villa am Genfer See, aber ich habe ihr schon gesagt, dass ich ohne dich nirgendwohin gehe, Hilda-Omi, und sie ist damit einverstanden, dass du mit uns kommst.«

Es war so dahergesagt gewesen, jetzt mit solchen Tatsachen konfrontiert zu werden, überforderte die arme Hilda noch mehr. Mit nach Genf zu gehen, das würde ihr ganzes Leben umkrempeln, aber warum eigentlich nicht? Was hielt sie hier? Leider, leider war es ihre Tochter Cornelia nicht.

Claire dauerte das Schweigen zu lange, sie lief zu Hilda, umarmte sie und rief: »Du hast es versprochen.«

Isabella erschien im Türrahmen, sie war vollkommen aufgelöst, bewegt, doch das Glück, das sie ausstrahlte, war nicht zu übersehen.

»Ich habe Claires letzte Worte gehört«, sagte sie, »und ich bitte Sie von ganzem Herzen, mit uns zu kommen. Claire hängt so sehr an Ihnen, und ich kann ihr leider keine Großeltern bieten. Meine Eltern kamen vor vielen Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, und Claires Vater und ich haben uns schon vor deren Geburt voneinander getrennt.«

Hilda überlegte ganz kurz, dann nickte sie.

»Gut, ich komme mit«, versprach sie, »aber wir müssen doch nicht heute schon abreisen?«

Das mussten sie nicht, denn es gab noch einige Formalitäten zu erledigen, auf beiden Seite.

Isabella wollte ihre Tochter nicht einen Augenblick lang missen, und so kam es dazu, dass die berühmte Isabella Duncan in das Gästezimmer bei Hilda ­einzog.

Das Leben konnte manchmal so einfach sein!

Natürlich konnte Roberta nicht bleiben, schließlich hatte sie auch noch eine Praxis, obwohl sie gern geblieben wäre. Wann erlebte man schon eine so anrührende Geschichte.

Sie blieb auf jeden Fall noch, um mitzuerleben, wie Claire sich ans Klavier setzte und spielte. Sie war stolz, und ihre Mutter war von ihrem Talent begeistert.

Es war so schön, seiner Mutter etwas vorspielen zu können, mit ihr eine Leidenschaft zu teilen. Es war befreiend, nicht mehr klammheimlich zu einem Klavier zu schleichen. Das hatte sie bei ihrer Mami, ach nein, die war es ja überhaupt nicht, schmerzlich vermisst. Die hatte böse auf das Wort Klavier allein reagiert, und jetzt wusste man ja auch, weswegen.

Nein, sie wollte nicht daran denken. Wie hatte die Frau Doktor doch gesagt? Sie solle nach vorne blicken, die Vergangenheit hinter sich lassen, und genau das wollte sie tun.

Claire bedankte sich bei Roberta, umarmte sie spontan, und dann waren die drei Personen allein, die künftighin ihr Leben gemeinsam verbringen würden.

Mutter, Tochter und Hilda, für die eine ganz wundervolle Rolle vorgesehen war, die der Großmutter.

Ende gut, alles gut. Ja, das konnte man hier wirklich sagen.

Die nächsten Tage vergingen wie im Fluge, und ohne die Frau Doktor hätten sie alles nicht geschafft.

Isabella und Claire machten vorsichtige Annäherungsversuche, Hilda war in jeder Hinsicht überfordert.

Irgendwann war es doch geschafft, nun wollte Claire sich nur noch von Manuel verabschieden, und dann sollte es losgehen an den Genfer See.

*

Während Isabella und Hilda sich im Haus aufhielten, trafen Manuel und Claire sich auf der Terrasse. Es war ein warmer, schöner und sonniger Tag.

Sie hatten sich seit dem Ereignis, das alles durcheinandergebracht hatte, nicht mehr gesehen, und deswegen saßen sie sich zunächst einmal schweigend und ein wenig scheu gegenüber.

Es war Manuel, der als Erster das Wort ergriff.

»Stimmt das wirklich, was man sich erzählt und was man in der Zeitung lesen kann? Man hat dich als Baby entführt, und deine Mutter war überhaupt nicht deine Mutter? Du bist das Kind von Isabella Duncan?«

Claire nickte.

»Es stimmt, Manuel. Und ich heiße in Wirklichkeit nicht Leonie, sondern mein richtiger Name ist Claire. Daran muss ich mich erst einmal gewöhnen, aber ich kann mich ja nicht mehr Leonie nennen.«

Das konnte Manuel verstehen.

»Manchmal ist es komisch im Leben. Weißt du, meine Freundin Bambi, von der habe ich dir ja erzählt, die hat immer geglaubt, eine echte Auerbach zu sein, und dann auf einmal stellte sich heraus, dass sie adoptiert wurde. Für die war es so schlimm, dass sie nicht mehr im Sonnenwinkel bei ihren Eltern, die ja nicht wirklich ihre Eltern waren, bleiben wollte. Sie wollte nicht mehr Bambi genannt werden, sondern Pam, sie heißt Pamela, und sie ist nach Australien gegangen.«

»Du scheinst all deine Freundinnen zu verlieren, Manuel. Und nun gehe ich hier weg, und das tut mir wirklich sehr leid. Ich habe so gern im Sonnenwinkel gelebt.«

Er grinste.

»Genf ist bestimmt viel schöner, und ich werde ja auch nicht hierbleiben. Ich vertraue dir jetzt etwas an, was sonst hier niemand weiß, nur meine Familie. Mein Papa wird die Fabrik verkaufen, und dann gehen wir nach Amerika, genau gesagt, nach Arizona auf eine riesige Pferdefarm.«

Hatte Manuel sich das jetzt gerade ausgedacht, um sie zu trösten?

Sie fragte ihn, doch er schwor Stein und Bein, dass es wirklich so war, und um sie zu überzeugen, zeigte er ihr Fotos von der Farm, die er auf seinem Handy hatte.

Der Abschied von Manuel, das war noch ein bitterer Wermutstropfen gewesen, doch wenn er selbst von hier wegzog …

Das machte den Abschied leichter.

Jetzt stellte sie ein paar Fragen, und als die beantwortet waren, wollte Manuel wissen: »Und wie ist das denn mit deiner richtigen Mutter?«

Claire wurde ernst.

»Sie ist sehr nett, aber ich kann noch nicht viel sagen, weil ich sie ja überhaupt nicht kenne. Ich bin froh, dass Hilda-Omi mitkommt. Die war immer für mich da, wenn ich traurig war, bei der durfte ich Klavierspielen, die macht den tollsten Kakao auf der ganzen Welt. Ein bisschen Angst habe ich schon, aber nicht wegen der Sprache. Ich spreche ja Französisch, nein, es ist, weil auf einmal alles so anders ist. Ein anderer Name, eine andere Mutter, ein anderer Ort. Ist ganz schön viel, oder?«

»Weißt du«, gab er zu, »ich habe auch ein bisschen Angst. Ist ja auch ein ziemlicher Sprung von hier bis Arizona. Ich hatte ja einen Bammel, es dir zu sagen, dass ich nicht mehr lange hier sein werde. Dabei gehst du nun noch vor mir. Übrigens, ich finde Claire ist ein toller Name. Der passt besser zu dir als Leonie.«

Sie sah ihn zweifelnd an.

»Findest du das wirklich?«

Er nickte.

»Wirklich, sonst hätte ich es nicht gesagt«, bemerkte er im Brustton der Überzeugung. »Es ist schade, dass wir uns nicht mehr sehen werden, und wir können ja versuchen, in Verbindung zu bleiben. Aber ich glaube, so richtig funktioniert so was nicht. Bambi und ich wollten das auch, und es hat nur am Anfang geklappt, danach ist es immer mehr eingeschlafen. Ich glaube, das ist einfach so.«

»Aber wir können in Erinnerung behalten, dass wir hier eine tolle Zeit hatten. Du hast mir sehr geholfen, Manuel, und ich werde nicht vergessen, dass du mir das Fahrrad fahren beigebracht hast. Und du hast mir immer zugehört, hast mich aufgemuntert, wenn ich mal traurig war. Du bist ein guter Freund, und ich werde dich vermissen. Und weißt du noch, wie ich mich einfach an dein Klavier gesetzt habe und anfing darauf zu spielen?«

»Und ob ich das weiß, und erinnerst du dich, dass meine Stiefmutter sagte, dass man so was im Blut hat? Wir haben darüber gelacht, weil deine Mutter, äh, ich meine, die Frau Schulz, das Klavierspiel gehasst hat. Ist alles ganz schön verrückt. Du hast es im Blut, und Isabella Duncan ist deine Mutter. Wie geht man denn mit so einer Künstlerin um?«

Claire zuckte die Achseln.

»Für mich ist sie die Mutter, und da ist sie ganz normal. Sie ist so glücklich, und sie weint andauernd vor Glück. Ich glaube, ich mag sie.«

Ehe Manuel etwas sagen konnte, kam Hilda zu ihnen auf die Terrasse heraus, sie trug ein Tablett mit Getränken und ­darauf war auch eine Schale mit­ köstlichen Schokoladen­keksen.

»Eine kleine Stärkung gefällig?«, erkundigte Hilda sich.

Manuel sprang höflich auf, um Hilda das Tablett abzunehmen, und Claire nutzte die Gelegenheit, ebenfalls aufzustehen und Hilda stürmisch zu umarmen.

»Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich habe?«

Ein wunderbares Kompliment, doch als Hilda bemerkte, dass Isabella im Türrahmen stand, bekamen die Worte einen schalen Beigeschmack. Wie musste ein solches Bekenntnis denn auf Isabella wirken?

Die lächelte versonnen, und da wusste Hilda, dass es ihr nichts ausmachte, weil sie nämlich davon überzeugt war, dass Claire eines Tages solche Worte auch für sie finden würde.

Sie hatte so viele Jahre verzweifelt gehofft, gewartet, da kam es jetzt auf ein paar Tage, Wochen oder gar Monate wirklich nicht an.

Sie hatte ihr Kind zurück, das erfüllte sie mit Staunen, aber auch mit einer unendlichen Dankbarkeit.

Isabella trat auf die Terrasse hinaus, und dann begrüßte sie freundlich Manuel, plauderte ein paar Worte mit ihm, und dann zog sie sich mit Hilda wieder zurück.

Es war ein Abschied, und den durften sie nicht stören.

Claire plauderte munter weiter, doch Manuel musste erst einmal tief durchatmen – wow! Die berühmte Isabella Duncan hatte ihm die Hand gegeben. Wenn das nichts war.

*

Inges Vorfreude, ihre Tochter zu sehen und ihre kleine Enkelin im Arm halten zu dürfen, dauerte nicht lange an, denn Ricky rief an, um den Besuch abzusagen, weil der Termin in Hohenborn angeblich ausgefallen sei.

Es konnte ja sein, doch daran wollte Inge irgendwie nicht glauben. Es hatte etwas mit Jörg zu tun. Ricky wusste etwas und hätte sich beinahe verplappert.

Inge fühlte sich bestätigt, als Jörg anrief und ihr sagte, er wolle mal kurz vorbeikommen.

Sie hatte böse Vorahnungen und hatte alle Mühe, die zu unterdrücken. Sie durfte sich nicht verrückt machen, ehe sie nicht wusste, worum es eigentlich ging.

Sollte sie ihre Eltern herüberholen, dann war sie nicht allein, denn Werner würde erst am nächsten Morgen kommen. Doch würde es Jörg recht sein? Er hatte nicht gesagt, dass die Großeltern dabei sein sollten.

Um sich zu beschäftigen, kochte sie Kaffee, dann holte sie den Käsekuchen aus dem Ofen, den sie gerade gebacken hatte. Der sollte eigentlich für Sophia von Bergen sein, weil die Käsekuchen so gern mochte, aber Jörg aß ihn ebenfalls gern, und sie konnte ihm ja ein Stück davon anbieten.

Inge trat ans Fenster, blickte hinaus in den Garten, in dem gerade die Hortensien in üppiger Pracht blühten. Pamela hatte sich immer welche abgeschnitten, um sie zu trocknen. »Damit fange ich den Sommer ein«, hatte sie immer gesagt. Es gab so viele Erinnerungen, weil sie und ihre Jüngste immer sehr eng gewesen waren. Beinahe jeden Tag musste sie sich an etwas erinnern, und das war schmerzlich, weil sie Pamela so sehr vermisste.

Hoffentlich hatte jetzt Jörg nicht auch eine Hiobsbotschaft!

Inge zwang sich, keine negativen Gedanken zu haben. Warum dachte sie immer zuerst an das Negative?

Warum war für sie das Weinglas nie halb voll, sondern stets halb leer?

Sie zuckte zusammen, als es an der Haustür stürmisch klingelte.

Jörg!

Jetzt musste sie lächeln, sie hatte immer gewusst, welches Kind vor der Tür stand, wenn jemand von ihnen klingeln musste, weil er seinen Haustürschlüssel vergessen hatte.

Jörg klingelte mehrere Male kurz hintereinander.

Inge lief zur Tür, öffnete, es war ihr Sohn.

»Hallo, Mama«, rief Jörg, beugte sich zu seiner Mutter hinunter, umarmte sie, gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

Er stürmte an ihr vorbei in die Küche, die überaus gemütlich eingerichtet war, setzte sich an den großen Familientisch. »Möchtest du einen Kaffee?«, wollte Inge wissen.

Jörg lachte, er war ein wirklich sehr gut aussehender Mann, und er gewann an Format, je älter er wurde.

»Und ob, liebste Mama, dein Kaffee ist der allerbeste, und dann sehe ich diesen wunderbaren Käsekuchen. Kann ich davon auch ein Stück haben? Stella backt den Käsekuchen nach deinem Rezept, aber er schmeckt dennoch nicht so gut wie bei dir, dabei kann sie wirklich sehr gut backen.«

Inge atmete insgeheim auf. Wenn er seine Frau lobend erwähnte, dann konnte er mit ihr keinen Krach haben oder gar Schlimmeres.

Inge brachte ihrem Sohn Kaffee und Kuchen, schenkte sich selbst auch einen Kaffee ein, dann sah sie, wie genüsslich er ein großes Stück des Kuchens aß.

»Köstlich, Mama, ist es unverschämt, wenn ich dich frage, ob ich davon auch etwas mit nach Hause nehmen kann?«

»Du kannst den ganzen Kuchen mitnehmen, Jörg, ich kann einen neuen backen.«

Jörg bedankte sich, dann trank er etwas von seinem Kaffee.

Inge bekam Herzklopfen, sie bemerkte, dass ihr Sohn sich unbehaglich fühlte, dass er einen Anfang für sein Gespräch suchte.

Warum war Werner bloß nicht daheim!

Sie hielt es nicht länger aus, diese Ungewissheit war sehr quälend.

»Jörg, du bist doch nicht hergekommen, um mit mir Kaffee zu trinken und um Kuchen zu essen. Weswegen bist du hier?«

Er stellte seine Tasse ab, legte die Kuchengabel ordentlich beiseite.

»Mama, ich muss mit dir reden, und schade, dass Papa nicht da ist. Zu den Großeltern werde ich gleich gehen, die wissen Bescheid. Es euch allen gleichzeitig zu sagen, dieser Gedanke kam mir nur kurz. Es ist besser, es einzeln zu tun.«

Er atmete tief durch.

»Mama, wir werden nach Schweden gehen, genau gesagt, nach Stockholm.«

So, jetzt war es heraus.

Inge schnappte nach Luft, wollte etwas sagen, brachte kein einziges Wort heraus. Sie musste sich verhört haben, das konnte doch nicht wahr sein.

Sie blickte ihren Sohn an, dem anzusehen war, wie unbehaglich er sich fühlte.

Mutter und Sohn saßen sich schweigend gegenüber, es war Jörg, der erneut das Wort ergriff.

»Mama, hast du das mitbekommen? Wir werden nach Schweden gehen, die ganze Familie.«

Inge riss sich zusammen.

»Ich habe es verstanden, aber ich kann es nicht begreifen. Du hast in den Münster-Werken einen tollen Job, ihr lebt in einem wunderschönen Haus, und Schweden, warum ausgerechnet Schweden?«

»Das hat sich so ergeben, ich bekam ein Angebot des besten Headhunters unserer Branche, dem ich nicht widerstehen konnte. Ich werde der Boss, ausgestattet mit allen Kompetenzen, und die schwedische Niederlassung des Weltführers soll ausgebaut werden, eine wunderbare Herausforderung für mich, nicht nur das, ich werde fürstlich bezahlt und verdiene ein Vielfaches dessen, was Felix Münster mir gezahlt hat.«

Als wenn Geld alles wäre.

Jörgs Job war gut und sicher, sie hatten ihr Auskommen, konnten sehr gut leben.

All das sagte Inge ihrem Sohn, und sie erinnerte ihn daran, dass es ja nicht nur um ihn ging, sondern auch um Stella und vor allem die Kinder.

Ehe Jörg seiner Mutter antwortete, trank er Kaffee, aß von dem Kuchen.

Inge war sauer, das war ja jetzt wirklich nicht nötig, warum die Verzögerung?

Seine Mutter tat ihm leid, sie saß da wie ein Häufchen Elend. Irgendwie hatte sie noch immer nicht begriffen, dass man seine Kinder nicht auf Ewigkeiten um sich haben konnte. Welch ein Drama war es gewesen, als Hannes sich entschlossen hatte, ausgerechnet nach Australien zu gehen, und dann Pamela, nein, daran wollte Jörg nicht denken.

»Mama, ihr hattet großes Glück, Ricky und mich in eurer Nähe zu haben. Zunächst einmal, Felix wird die Firma verkaufen, doch selbst wenn das nicht der Fall wäre, würde ich gehen.«

»Jörg, was redest du da. Die Münster-Werke würde er niemals verkaufen.«

»Doch, Mama, nichts ist für die Ewigkeit bestimmt, Felix wird verkaufen, und ich bitte dich, mit niemandem darüber zu sprechen, weil es noch nicht offiziell ist. Es werden nicht nur die Münster-Werke verkauft, sondern auch das Herrenhaus, die Dependance, das gesamte Anwesen samt der Felsenburg. Alle werden nach Arizona gehen und dort auf einer Pferdefarm leben.«

Inge ächzte, das musste sie erst einmal verdauen, was war denn auf einmal los?

Das, was angeblich mit den Münsters, mit Marianne von Rieding und Carlo Heimberg sein sollte, hätte normalerweise eine ganz andere Reaktion bei ihr hervorgerufen. Das schob sie beiseite, es ging um ihren Sohn und dessen Familie, die nach Schweden ziehen wollte. Das ging nicht, das war unmöglich.

»Jörg, habt ihr euch das alles überlegt? Schweden ist ein fremdes Land mit einer ganz anderen Sprache. Stella kannst du ja vielleicht überreden, aber weißt du, was das mit den Kindern macht? Habt ihr die gefragt?«

Seine Mutter nervte.

»Mama, Schweden ist ein kultiviertes Land, hat die gleiche Zeit wie wir, die gleiche Stromstärke von 220 Volt, hat den Rechtsverkehr, unser Tempolimit, ausgenommen die Autobahnen, auf denen darf man nur bis 110 km/h fahren. In Stockholm gibt es ganz in der Nähe des Hauses, das wir bewohnen werden, eine deutsche Schule, man kann deutsches Abitur machen, und was deine Sorge um die Kinder betrifft, die fiebern dem Aufenthalt in Schweden entgegen, dem Land von Pippi Langstrumpf.«

Inge saß noch immer wie versteinert da.

»Mama, ihr könnt uns jederzeit besuchen, das Haus ist auch mit mehreren Gästezimmern ausgestattet und außerdem, das schwedische Nationalgetränk ist der Kaffee, und eine Spezialität sind köstliche Zimtschnecken.«

Es hörte sich gut an, und Jörg versuchte wirklich alles, seine Mutter zu überzeugen.

»Und es ist sicher?«, wollte sie wissen. »Und was geschieht mit eurem schönen Haus?«

»Es ist sicher, Mama, es geht nächsten Monat los, und das Haus, das haben wir verkauft. Es war kein Problem, einen Käufer dafür zu finden.«

»Und wenn das mit Schweden nicht so wird, wie du dir das vorstellst, was dann?«

»Dann gehen wir woanders hin, in meinem Beruf hat man viele Möglichkeiten, aber ich gehe erst einmal davon aus, dass es uns gefallen wird und dass wir für immer in Schweden bleiben wollen.«

»Aber wenn …«

Jörg unterbrach seine Mutter.

»Mama, du nervst, merkst du denn nicht, wie du mit deinen Einwänden meine Vorfreude zerstörst? Du versuchst, ein Haar in der Suppe zu finden, aber da gibt es keines. Alles ist gut.«

Er stand auf.

»Ich gehe jetzt hinüber zu den Großeltern, ich brauche jetzt einfach eine positive Resonanz auf meine Neuigkeiten, und ich bin davon überzeugt, dass ich sie von Oma und Opa bekommen werde. Die stehen ganz anders im Leben als du, obwohl sie viel älter sind als du.«

Als Inge protestieren wollte, winkte Jörg ab.

»Mama, erinnere dich bitte daran, als Ricky ein Studium aufgenommen hat, du und Papa, ihr wart dagegen, hattet alle nur möglichen Argumente, aber die Großeltern, die haben Ricky ein Auto gekauft, damit sie beweglicher sein konnte. An deinen Eltern kannst du dir eine Scheibe abschneiden.«

Inge schluckte, sie erinnerte sich an die Situation, und leider war es wirklich so gewesen.

»Also dann, Mama, tschüss, denk über alles nach und freue dich mit mir, eine solche Chance bekommt man kein zweites Mal, und ich habe sie bekommen, nicht, weil ich so schöne Augen habe und ein Netter bin, nein, man will mich, weil ich in meinem Beruf gut bin, der Beste.«

Er wollte gehen, Inge hielt ihren Sohn zurück.

»Und der Kuchen?«, erinnerte sie ihn.

»Darauf habe ich jetzt keine Lust mehr, bis bald, Mama.«

Er umarmte sie flüchtig, dann hatte er es eilig, das Haus zu verlassen, wie erschlagen blieb Inge zurück.

Sie hatte keine gute Rolle gespielt, und Jörg war verstimmt, das konnte sie allein schon daran sehen, dass er den Kuchen nicht mitnehmen wollte.

Sollte sie hinüber zu ihren Eltern gehen, ihm den Kuchen bringen?

Nein, das war keine gute Idee, das würde alles nur noch schlimmer machen.

Schweden …

Keine Frage, es war ein schönes Land, und dorthin kam man eher als nach Australien, wo ihr Hannes lebte, aber so um die Ecke war es nun auch nicht. Da konnte man nicht eben mal vorbeifahren, sondern da musste man stundenlang reisen.

Inge schenkte sich einen neuen Kaffee ein, und sie beobachtete, wie ihre Hand dabei zitterte.

Als wenn es sie trösten würde, dass die Schweden am liebsten Kaffee tranken. Doch während sie ihren zu sich nahm, fiel ihr ein, was Jörg da über die Münsters und die anderen Bewohner vom Erlenhof gesagt hatte. Das konnte sie nicht glauben, so ein Anwesen verließ man doch nicht. Aber warum sollte Jörg gelogen haben?

Sie wusste es nicht, ihre Gedanken drehten sich im Kreis.

*

Und ehe sie hier im Haus verrückt wurde, packte sie den von Jörg letztlich verschmähten Käsekuchen auf ein Tablett, deckte alles ab, dann ging sie zu Sophia von Bergen und der armen, noch immer von Schmerzen geplagten Angela.

Die beiden Frauen würden sich freuen, und das nicht wegen des Kuchens …

Es war ein schöner Gedanke, vor allem wurde sie abgelenkt, und das brauchte sie jetzt.

Schweden …

Nein, daran wollte sie jetzt wirklich nicht mehr denken.

Was wohl Werner dazu sagen würde? Und wie nahmen ihre Eltern es auf?

Inge war froh, einer Nachbarin zu begegnen, die einem kleinen Schwätzchen nicht abgeneigt war.

Normalerweise mochte Inge keinen Klatsch und Tratsch, doch augenblicklich war ihr alles recht, was sie von ihren Gedanken ablenkte.

Natürlich ging es erst einmal darum, das Thema Kindesentführung aufzuwärmen.

»Frau Müller, entführt wurde das Mädchen vor vielen Jahren«, erinnerte sie die Frau, die es aufbauschte, als sei die Entführung gerade erst geschehen.

»Gut, aber dass die Frau mit ihrer Tochter ausgerechnet hier bei uns im Sonnenwinkel gewohnt hat, darüber komme ich nicht hinweg.«

Nein, das ging jetzt wirklich nicht, dann wollte Inge lieber ihren Gedanken an das, was Jörg ihr erzählt hatte, ausgeliefert sein.

»Entschuldigen Sie bitte, Frau Müller, ich muss weitergehen. Frau von Bergen wartet auf den Kuchen.«

Sie nickte der geschwätzigen Frau zu, dann ging sie einfach weiter.

Bedauernd sah Frau Müller ihr nach. Schade, sie hätte das Thema sehr gern so richtig ausgewalzt. Aber das konnte man mit der Frau Auerbach nicht, die hielt nicht viel von einem Schwätzchen, aber eine Nette, das war sie wirklich. Man konnte es nicht anders sagen. Es war schön, solche Nachbarn wie die Auerbachs und die von Roths zu haben. Das waren wirklich feine Leute.

Frau Müller ging weiter, vielleicht traf sie ja noch jemanden, der ein bisschen mehr Zeit hatte und ihre Sichtweise auf die Dinge hören wollte.

Der Sonnenwinkel war ruhig, hier passierte nicht sehr viel, und nun, das, was da geschehen war, das war ein regelrechter Hammer.

Dabei war diese Frau Schulz so unauffällig gewesen, nun ja, eigentlich zu unauffällig. Eigentlich hätte man daran fühlen müssen, dass diese Person etwas zu verbergen hatte. Aber das arme Mädchen konnte einem nur leidtun, war immer freundlich und nett gewesen, anders als die Frau Schulz. Nun, die Ärmste hatte hat auch überhaupt keine Ahnung von ihrem Schicksal. Das musste man sich mal vorstellen, sagte das ganze Leben lang Mutter zu einer Person, die …, nein, darüber wollte Frau Müller jetzt nicht nachdenken. Aber eines noch – hoffentlich schnappte man diese grässliche Frau, ins Gefängnis gehörte die, am besten weggesperrt für immer.

Frau Müller lief schneller, denn gerade entdeckte sie eine Frau, die ihr Haus verließ. Die war redefreudiger als die Frau Auerbach.

Frau Müller winkte.

»Hallo, Frau Herkenrath, warten Sie bitte, ich muss Ihnen was sagen.« Hoffentlich kannte die die Geschichte noch nicht …

*

Jörg und Stella Auerbach, geborene Rückert, zogen an einem Strang. Auch für Stella war Schweden eine Herausforderung, ein neues Land, eine neue Sprache. Darauf freute sie sich. Und während Jörg zu seinen Eltern und Großeltern fuhr, um ihnen die wunderbare Neuigkeit mitzuteilen, besuchte Stella ihre Eltern.

Seit ihre Mutter sich verändert hatte, war es ein wenig besser geworden, doch die Vergangenheit ließ sich dadurch nicht ausradieren, in der Stella und ihr Bruder Fabian meist wechselnden Kinderfrauen überlassen gewesen waren, während ihre Eltern High Life machten und unbedingt Mittelpunkt der Gesellschaft sein wollten. Stella war ja noch eher geneigt, unter die Vergangenheit einen Strich zu ziehen und zu versuchen, die Gegenwart erträglich zu gestalten. Schließlich waren es ihre Eltern, da konnte man schon mal eine Faust in der Tasche machen. Fabian blieb distanziert. Es waren seine Eltern, gut, doch lieben musste er sie nicht.

Wahrscheinlich war Fabian so streng, weil er mit der warmherzigen, liebevollen Ricky, geb. Auerbach verheiratet war, die ihm gezeigt hatte, was Leben sein konnte. Und Inge und Werner Auerbach waren ja auch Menschen, die ihre Familie über alles liebten.

Stella war gespannt, wie ihre Eltern die Neuigkeit aufnehmen würden.

Als sie in das Wohnzimmer der prunkvollen Villa kam, saßen die beiden in Rosmaries Salon und blickten ihr gespannt entgegen.

»Stella, der Zeitpunkt, den du für deinen Besuch gewählt hast, ist äußerst ungünstig«, sagte ihr Vater, nachdem sie einander begrüßt hatten, »und hast du keinen Kuchen für uns gebacken?«

Das tat Stella normalerweise, wenn sie nachmittags zu ihren Eltern ging, aber augenblicklich stand ihr nicht der Kopf danach, für sie einen Kuchen zu backen.

»Nein, ist ja auch keine Kaffeezeit«, sagte Stella und setzte sich.

»Ich bin ja gespannt, was du uns zu sagen hast«, sagte Rosmarie, »bist du schwanger?«

Sie wäre es gern, doch das Thema war bei ihnen jetzt wirklich endgültig durch, nachdem Jörg ihr klargemacht hatte, dass für ihn die Familienplanung abgeschlossen sei.

Anfangs war Stella ja ziemlich sauer deswegen gewesen, doch wenn sie jetzt mitbekam, wie viel Arbeit die kleine Teresa machte, dann war sie doch froh, mit Windelwechseln nichts mehr zu tun zu haben, außerdem wäre für Schweden ein Kleinkind eine zusätzliche Belastung. Nein, es war schon gut so wie es war.

»Ich bin nicht schwanger«, sagte Stella, »und ehe ihr mir sagt, dass ein weiteres Enkelkind doch ganz entzückend wäre, ich kann euch damit nicht mehr dienen, unsere Kinder reichen uns.«

Ihr Vater wollte etwas sagen, doch als Stella das bemerkte, kam sie ihm einfach zuvor.

Sie erzählte ihren Eltern von den Plänen, nach Schweden zu gehen, sprach über das großartige Jobangebot für Jörg. Als sie fertig war, blickte sie ihre Eltern an. Begeisterung sah anders aus, vor allem, nachdem Stella auch erzählt hatte, dass das Haus verkauft sei.

»So eine verrückte Idee, gleich alle Brücken abzubrechen, da sind Fabian und Ricky schlauer, die vermieten ihr Haus im Sonnenwinkel, und das hättet ihr auch tun können, ein Haus in allerbester Lage verkauft man nicht so einfach.«

Stella ärgerte sich.

»Wir sind nicht Fabian und Ricky, wir sind Stella und Jörg, und wir treffen unsere eigenen Entscheidungen. Und wenn es in Schweden nicht klappen sollte, wovon nicht auszugehen ist, dann gehen wir halt anderswohin, zurück werden wir nicht mehr kommen.«

»Und an uns denkt ihr wohl nicht«, rief Rosmarie, »dann bekommen wir unsere Enkelkinder kaum noch zu sehen.«

Stella ärgerte sich, sie hätte nicht herkommen dürfen, und wenn, dann mit Jörg, der ging mit seinen Schwiegereltern respektvoll um, doch ihm gegenüber verhielten sie sich zurückhaltender.

»Mama, wann seht ihr denn die Kinder? Es ist zwar besser geworden, aber wenn ich dagegen an meine Schwiegermutter denke.«

Das hätte sie jetzt nicht sagen dürfen, Rosmarie war wütend. Manchmal konnte man halt die Wahrheit nicht vertragen.

»Sie ist anders als du«, Stella versuchte, einzulenken, und deswegen sprach sie schnell über Stockholm, das Haus, das sie gefunden hatten, über die deutsche Schule, die es ganz in der Nähe gab.

»Hört sich alles gut an«, sagte Heinz Rückert. »Doch wenn es nicht klappt, wenn Jörg nicht so schnell eine neue Stelle findet, dann ist das Geld schnell aufgebraucht, und dann?«

»Dann gehen wir an unsere Reserve, wie ihr wisst, habe ich ja noch die Erbschaft von Tante Finchen, die beinahe noch unangetastet ist, weil Jörg für uns sorgen will. Und Tante Finchen hat mir einen ganzen Batzen hinterlassen, wie ihr wisst.«

Die Erbschaft von Tante Finchen …

Wenn Stella geahnt hätte, dass die für ihren Vater noch immer ein rotes Tuch war, hätte sie die jetzt wirklich nicht erwähnt.

»Eine Erbschaft, die normalerweise uns zugestanden hätte, es war unglaublich von Finchen, uns einfach zu übergehen und vor allem, die Arme zu spielen und dabei ein Vermögen zu horten. Uns einfach zu übergehen, ich weiß bis heute nicht, warum sie uns übergangen und dir alles zugeschustert hat.«

Hörte es denn nie auf?

Traurig blickte Stella ihren Vater an.

»Papa, ich habe mir die Erbschaft nicht erschlichen, für mich war Tante Finchen ebenfalls eine arme, verbitterte Frau.

Ich habe mich um sie gekümmert, ich habe sie eingeladen, bin zu ihrem Geburtstag gegangen, ja, ich habe sie sogar finanziell unterstützt. Sie hat uns alle an der Nase herumgeführt.

Außer mir hat es niemand getan. Gönnt mir die Erbschaft doch. Ihr habt genug Geld, mehr als ihr ausgeben könnt. Und müssen wir jetzt wirklich über die Erbschaft reden? Das ist schon eine Weile her, vergesst es endlich.«

Stella wäre jetzt am liebsten gegangen, und sie erzählte nur noch beinahe widerwillig, was auf Jörg, sie und die Kinder zukommen würde. Dass sie sich freuten, dass sagte sie schon gar nicht mehr.

Natürlich hatten ihre Eltern an allem etwas auszusetzen.

Eine Weile machte Stella das mit, doch dann stand sie unvermittelt auf.

»So, jetzt wisst ihr Bescheid, wir kommen dann noch einmal bei euch vorbei, um uns zu verabschieden.«

»Du gehst schon?«, erkundigte Rosmarie sich entsetzt.

»Wir müssen da noch weiterreden, ich will da noch einiges erfahren. Wenn es nicht ausgerechnet Schweden wäre …, von einem großen Headhunter angefragt zu werden, das ist schon was. Aber nun ja, ich habe immer gewusst, dass Jörg seinen Weg gehen wird, der kann schon was. Du kannst froh sein …«, Heinz Rückert brach zum Glück seinen Satz ab, doch Stella wusste, wie er weitergegangen wäre – »dass Jörg dich geheiratet hat.«

Ihr Vater hielt nicht viel von ihr, und er hatte ihre Leistungen immer heruntergemacht.

Stella verabschiedete sich von ihren Eltern.

»Jörg hätte in Frankreich bei den Raymonds arbeiten können. Cecile hat es ihm mehr als nur einmal angeboten.«

»Papa, Jörg hatte viele Jobangebote, immer wieder, weil er wirklich gut ist. Und Cecile, meine so spät aufgetauchte Stiefschwester, die ist wirklich nett, ich mag sie. Du bist ihr Vater, auch wenn du das lange Jahre nicht wusstest. Es ist zunächst einmal deine Baustelle, und wenn Jörg nach Frankreich gewollt hätte, da gab es schon vor Cecile Angebote …, wir gehen nach Schweden, und wir freuen uns.«

Eigentlich hatte sie ihren Eltern anbieten wollen, sie doch zu besuchen, aber das tat sie jetzt nicht. Dazu war sie zu enttäuscht, sie würde sie irgendwann einmal einladen, später, wenn sie in Schweden waren.

Stella ging, es war wie immer, sie hatte Schuldgefühle ihren Eltern gegenüber, dabei hätte es doch genau umgekehrt sein müssen.

Aber so waren sie nun mal, ihre Eltern. Die konnte man sich nicht aussuchen. Und wenn das möglich wäre …, da musste Stella nicht lange überlegen, sie würde ihre Schwiegereltern nehmen oder die Großeltern, Magnus und Teresa von Roth waren auch ganz wunderbare Menschen.

Sie blickte auf ihre Uhr.

Sie hatte für den Besuch bei ihren Eltern mehr Zeit eingeplant, und wenn sie schon mal in Hohenborn war, da konnte sie auch noch einen kleinen Einkaufsbummel machen und sich ganz gemütlich ins ›Calamini‹ setzen, um dort einen Espresso zu trinken oder ein Eis zu essen, das ging immer.

Stella versuchte ihre Gedanken an ihre Eltern abzuschütteln, doch so einfach war das nicht. Die Vergangenheit holte einen immer wieder ein. Und vielleicht war es gut, dass sie nach Schweden gingen, ein wenig Distanz konnte nicht schaden. Es tat ihr nur leid, dass dann die Nähe zu ihrem Bruder Fabian und zu Ricky aufhörte. Doch die waren flexibel, die würden mit all ihren Kindern zu ihnen kommen, und Schweden war wirklich nicht aus der Welt. Man konnte nicht alles haben, aber man würde sich immer einmal wiedersehen.

*

Roberta wollte gerade das Haus verlassen, um mal wieder zum ›Seeblick‹ zu gehen, als ein Taxi anhielt.

Verwundert bemerkte sie, dass Hilda Hellwig ausstieg, was war das denn jetzt? Sie hatte sich doch schon von Hilda, von Claire und von Isabella Duncan verabschiedet.

Sie wunderte sich allerdings noch mehr, als der Taxifahrer ebenfalls ausstieg, den Kofferraum öffnete und einen beeindruckenden, wunderschönen Blumenstrauß daraus beförderte, ihn Hilda reichte.

Die kam auf sie zugelaufen.

»Welch ein Glück, Frau Doktor, dass ich die Blumen nicht vor die Tür legen muss, sondern sie Ihnen selbst überreichen kann.«

»Aber Frau Hellwig …«

Roberta wusste nicht, was sie sagen sollte.

Hilda drückte ihr die Blumen in die Hand.

»Ich musste einfach noch mal herkommen und Ihnen wenigstens ein paar Blumen bringen für alles, was Sie für mich, für Claire getan haben. Das finden übrigens die beiden auch ganz richtig. Wir haben alle gemeinsam die Blumen für Sie ausgesucht. Danke, tausend Dank für Ihre Hilfe und auch Dank dafür, dass Sie sich um mein Haus kümmern wollen. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich das gutmachen soll. Aber wenn Sie nach Genf kommen, und die Einladung von Isabella, Claire und mir gilt wirklich, dann werde ich Sie so richtig verwöhnen. Ach, Frau Doktor, ich bin noch ganz atemlos von allem, was mir in letzter Zeit widerfahren ist. Ich war eine alte, verbitterte, unglückliche Frau, und dann kam Claire in mein Leben, damals noch Leonie, und auf einmal schien für mich die Sonne. Ich bekam Zuneigung, Vertrauen, auf einmal war wieder Freude da. Und nun, ich kann es noch immer nicht fassen, gehe ich in ein neues Leben, und ich werde von Claire wirklich geliebt, und auch Isabella mag mich sehr gern. Ich bekomme auf einmal alles, was ich in meinem Leben vermisst habe. Da hat der liebe Gott dran gedreht, und es gibt sie doch, die Gerechtigkeit. Das mir das auf meine alten Tage noch passiert ist, ich kann es nicht fassen.«

Hilda war glücklich, sie war aufgeregt, und Roberta freute sich unglaublich für die alte Dame, die es wirklich sehr schwer gehabt hatte.

Roberta glaubte zwar nicht an Wunder, aber das, was hier passiert war, konnte man so nennen.

»Frau Hellwig, wenn es jemand verdient hat, dann Sie, ich freue mich sehr für Sie, und es ist auch so schön, dass Isabella Duncan ihre Tochter wieder hat. Sie hat darum gebetet, sie hat es fest geglaubt, und auch hier hat der liebe Gott die Gebete erhört. Ich wünsche Ihnen viel, viel Glück, und Sie wissen, Sie können sich jederzeit an mich wenden, wegen Ihres Hauses und der Stiftung bleiben wir eh in Verbindung.«

Roberta machte eine kleine Pause, überlegte, ob sie es sagen sollte, dann entschloss sie sich, es zu tun. Es musste sein.

»Frau Hellwig, passen Sie gut auf Claire auf. Im Moment hat sie ihre Vergangenheit ausgeblendet, doch es wird sie einholen, und wenn das kommt, dann sollten Sie professionelle Hilfe holen. Ich habe es mit Isabella Duncan abgesprochen, und ich bin auch davon überzeugt, dass sie alles tun wird, damit ihre Tochter glücklich wird. Aber vier Augen sehen mehr als zwei Augen. Und ich denke, Claire wird erst mal zu Ihnen kommen, um sich Ihnen anzuvertrauen. Sie sind ein Herz und eine Seele.«

Hilda strahlte.

»Das sind wir, weiß Gott, das sind wir, und ich bin so unendlich dankbar dafür.«

Der Taxifahrer, der längst wieder ins Auto eingestiegen war, hupte.

Hilda zuckte zusammen.

»Mein Gott, ich muss zum Flughafen, dort warten Claire und Isabelle auf mich, die beiden können auf keinen Fall ohne mich abfliegen.«

Sie umarmte Roberta spontan, bedankte sich noch einmal, sage, welch wundervolle Frau sie doch sei, und dann stolperte sie mit Tränen in den Augen zum Taxi, stieg ein und winkte, bis das Taxi um die Ecke bog.

Ganz gerührt blickte Roberta dem Taxi nach, dann brachte sie die Blumen ins Haus.

Was für eine Geschichte!

So etwas konnte man sich nicht ausdenken, so etwas gab es nur im wahren Leben.

Roberta freute sich, sie freute sich für Hilda Hellwig, und sie war ergriffen, dass Mutter und Tochter sich wiedergefunden hatten, und das allein hatten sie Lars Magnusson zu verdanken, der nicht aufgehört hatte, Nachforschungen anzustellen, der beharrlich geblieben war und Gerda Schulz, oder wie sie wirklich hieß, immer wieder genervt hatte, bis die die Nerven verloren hatte.

Lars war großartig! Doch das war er auch für sie ohne das Wunder, das er da vollbracht hatte. Sie liebte ihn so sehr, er war ihr Mr Right, und sie hatte ihren Traum noch nicht aufgegeben, eines Tages von ihm gefragt zu werden, ob sie seine Frau werden wollte.

Und dann …

Roberta schloss die Augen.

Und dann war der Weg auch offen für gemeinsame Kinder, für eine Familie …

Sie war hoffnungsfroh, denn es passierten die unglaublichsten Dinge, das hatte sie gerade erlebt.

Sie stellte die Blumen ins Wasser, genoss für einen Moment diese Pracht, dann verließ sie das Haus, sie war gerade in der Stimmung, sich an einem weiteren Glück zu erfreuen. An dem von Roberto, von Susanne und der kleinen Valentina.

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht.

Nur bei der armen Nicki klappte es nicht, jetzt wollte sie nur noch den Mann wiedersehen, der so überhaupt nicht in ihr Beuteschema passte, den Mann in seiner nicht ganz modernen Kleidung, dem sie die Currywurst ausgegeben hatte.

Nicki hatte sich verliebt, ja, das hatte sie wirklich, doch leider wusste sie nichts über diesen Mann, außer, dass er Mathias hieß, und ihre Bemühungen, ihn in Hohenborn zu finden, waren ja leider ergebnislos verlaufen.

Nicki war sogar so weit gegangen, in der Tageszeitung und in dem Werbeblättchen Suchanzeigen nach Mathias aufzugeben. Leider vergebens. Dieser Mann war ein Phantom, er schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein.

Das war schrecklich für Nicki.

Roberta kannte ihre Freundin wirklich sehr gut, sie hatten gemeinsam alle Höhen und Tiefen des Lebens erlebt. Nicki war leicht entflammbar, doch eine solche Fixierung auf einen Mann hatte es noch nie gegeben. Bei Nicki drehte sich alles nur noch um Mathias, sie hatte ihn praktisch schon auf einen Sockel gehoben. Was war das bloß für ein Mann, der es geschafft hatte, binnen kürzester Zeit ihre Freundin so sehr in seinen Bann zu ziehen. An der Kleidung konnte es nicht gelegen haben, und Geld schien er auch nicht zu haben, denn sonst hätte er sich nicht von Nicki zu einer Currywurst einladen lassen, was sie freiwillig, ohne mit der Wimper zu zucken, getan hatte. Mehr noch, es hatte Nicki sogar glücklich gemacht, ihn einladen zu dürfen. Verrückte Welt! Verrückte Nicki!

Roberta würde ihrer Freundin so gern helfen, schon allein aus dem Grund, um endlich Ruhe zu haben. Doch sie kannte keinen Mathias, und ihre Umfragen hatten ebenfalls nichts ergeben. Es gab zwar den einen oder anderen Mathias, aber bei denen passte weder das Alter noch das Aussehen.

Es wäre schön, wenn Nicki endlich den Mann fände, mit dem sie glücklich sein konnte, damit sie endlich zur Ruhe käme. Doch Nicki griff immer daneben, bis auf das eine Mal, als sie Roberto Andoni kennengelernt hatte. Er wäre der Richtige gewesen, doch den hatte sie verlassen, und als ihr klar geworden war, dass es ein Fehler gewesen war, da hatte Roberto sich anderweitig orientiert, da hatte er seine Susanne gefunden, mit der er glücklich war, und die Krönung dieses Glücks war die kleine Valentina. Eine Tatsache, die die arme Nicki beinahe zerrissen hatte, denn Valentina hätte auch ihre Tochter sein können, wäre sie mit Roberto zusammengeblieben.

Dieser Mathias hatte sie von Roberto abgebracht, über den redete sie nicht mehr. Aber wo war Mathias?

Es war ganz schön etwas los im malerischen Sonnenwinkel und Umgebung.

Roberta war froh, ihren Lars gefunden zu haben. Sie verbrachten wundervolle Zeiten miteinander. Manchmal bekam Roberta sogar ein schlechtes Gewissen, weil sie so glücklich war, während ihre Freundin Nicki mit dem Schicksal haderte.

Roberta lief eilig zum ›Seeblick‹, traf hier und da Leute aus dem Sonnenwinkel, Patienten. Ja, seit Roberto Andoni der Wirt des ›Seeblicks‹ war, war da ordentlich etwas los.

Aber Roberto gab sich auch alle Mühe, seine Gäste mit kulinarischen Köstlichkeiten zufriedenzustellen, er bemühte sich um alle Gäste. Die Vorbesitzer hatten ihre Sache auch gut gemacht, doch das war kein Vergleich zu dem, was jetzt geboten wurde. Dazwischen lagen Welten, und Roberta wünschte sich, Roberto und Susanne würden noch lange den ›Seeblick‹ betreiben, und das nicht nur wegen des hervorragenden Essens, wegen des stimmigen Ambientes, sondern vor allem, weil Roberto und Susanne ihr gute Freunde geworden waren. Roberto war nicht eine Sekunde sauer auf sie gewesen, weil sie Nickis Freundin war. Das war ja manchmal so, dass bei Trennungen das gesamte Umfeld mit in Mitleidenschaft geriet.

Roberta freute sich auf ein gutes Glas Wein, und natürlich hoffte sie, auch einen Blick auf die kleine Valentina werfen zu dürfen, in die sie so richtig vernarrt war und die vorher nicht gekannte Sehnsüchte in ihr weckte.

Oben angekommen, ging Roberta nicht direkt ins Restaurant hinein, sondern lief um das Haus zur Terrasse, auf der man sich im Sommer tummelte, jetzt standen nur noch ein paar einsame zusammengestellte Tische und Stühle herum, die man irgendwann auch abtransportieren würde. Die schönste Zeit des Jahres war vorbei, in der man bis in die Nacht hinein draußen sitzen konnte. Von diesem Platz hier hatte man einen gigantischen Blick auf den Sternsee, der in seiner ganzen Pracht vor einem lag. Ja, das Restaurant trug seinen Namen ›Seeblick‹ nicht umsonst. Von nirgendwo sonst sah der See so beeindruckend aus wie von hier oben, und das zu jeder Tages- und Jahreszeit.

Ach ja, es war schon schön, in dieser herrlichen Gegend zu leben, in der viele Leute Urlaub machten. Zunächst war der Sonnenwinkel für sie ein Fluchtort gewesen, da hatte sie ihre Wunden geleckt nach diesem schrecklichen Rosenkrieg mit ihrem Exmann Max. Das war längst vorbei, der Sonnenwinkel war ihr Lebensmittelpunkt geworden, hier war sie angekommen. Und Roberta konnte sich nicht vorstellen, hier noch einmal wegzugehen.

Erst als sie fröstelte, wandte sie sich ab und lief in das Restaurant, in dem sie von Roberto Andoni freudig begrüßt wurde. Sie mochte Roberto sehr gern, doch wegen ihm allein war sie nicht gekommen.

»Kann ich jetzt auch noch Susanne und die kleine Valentina begrüßen?«

»Tut mir leid, Susanne ist mit unserem Sonnenschein zu einer Tante gefahren, die leider nicht herkommen kann, weil sie eine Fußverletzung hat, aber Valentia unbedingt sehen möchte. Und da Susanne an dieser Tante hängt, erfüllt sie deren Wunsch. Sie ist gestern gefahren und kommt übermorgen wieder. Die beiden vermisse ich jetzt bereits. Mein Leben, das Haus, alles ist so leer.«

Roberta war ein wenig enttäuscht, und auch wenn sie nichts sagte, war ihr das anzusehen. Roberto Andoni bemerkte es sofort.

»Aber du gehst doch jetzt nicht gleich wieder, sondern du bleibst hier und leistest mir ein wenig Gesellschaft, oder?« Er blickte sie bittend an. »Ich kann gut ein bisschen seelischen Beistand gebrauchen. Außerdem möchte ich dir auch etwas erzählen. Und natürlich ist es immer schön, dich zu sehen, deine kluge Meinung zu hören.«

Selbstverständlich blieb Roberta. Roberto war ihr Freund, sie hatten sich immer etwas zu sagen.

Das Restaurant war wieder gut besucht, doch es war nicht so voll wie sonst, und das war gut so. Da hatten sie mehr Zeit, um miteinander zu reden. Roberta war gespannt auf das, was er ihr sagen wollte. Doch zunächst einmal wurde ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt. Auch wenn es hier im ›Seeblick‹ ein ausgezeichnetes Personal gab, waren die Gäste es gewohnt, dass der Chef sich auch am Tisch blicken ließ, um ein paar Worte zu plaudern. Vor Valentinas Geburt hatten Roberto und Susanne es sich geteilt, und damit waren die Gäste ebenfalls zufrieden gewesen. Seit Valentinas Geburt ließ sich Susanne kaum noch im Restaurant blicken, ihre Interessen hatten sich komplett verlagert. Also lag es bei Roberto allein, die Shake-Hands zu machen.

Ehe er diesen Job machte, bat er Roberta, auf jeden Fall seine neueste Creation, ganz köstliche Frutti die Mare zu probieren und dazu den entsprechenden Wein, den er auch aus allen Angeboten mit sehr viel Sorgfalt ausgewählt hatte.

Ja, so war er der Roberto, immer kredenzte er ihr etwas, manchmal war es Roberta schon peinlich, weil er kein Geld dafür haben wollte. Er war noch immer dankbar, dass Roberta so tatkräftig bei der Geburt der kleinen Valentina eingeschritten war.

Roberta beobachtete ihn, wie er von Tisch zu Tisch wanderte, charmant mit den Gästen plauderte.

Er machte das toll, doch das wussten die Gäste mittlerweile auch.

Nach einer Weile kam Roberto zu ihr zurück an den Tisch, setzte sich, schenkte Wein nach, Roberta schwärmte von den Köstlichkeiten, dann sprach er über seine Susanne und das große Glück seines Lebens, die kleine Valentina.

Roberta wollte ihn nicht unterbrechen, doch das alles kannte sie bereits. Darüber wollte er mit ihr reden?

Schon wollte sie ihn fragen, als er zu sprechen begann. »Roberta, du sollst es als Erste erfahren. Wir planen, unsere Zelte hier abzubrechen.«

Roberta hätte sich beinahe an ihrem Wein verschluckt, sie stellte das Glas ab, blickte ihn ganz entgeistert an.

»Was hast du da gesagt?«

Er nickte entschieden.

»Ja, wir werden nach Italien gehen, vermutlich in die Toscana. Und dort werde ich auf jeden Fall kein Restaurant mehr betreiben.«

Diese Neuigkeit musste Roberta erst einmal verdauen. Als er hergekommen war, hatte ihm die Denkmalschutzbehörde so viele Steine in den Weg gelegt, er hatte seine Pläne nicht verwirklich können, dennoch nicht aufgegeben. Und dann war das entstanden, was Gäste von weit und breit anlockte.

Und das wollte er aufgeben?

Roberta konnte es nicht glauben.

»Warum, Roberto?«, ächzte sie schließlich. »Der ›Seeblick‹ ist ein Schmuckstück, und du hast so lange und so intensiv gekämpft.«

Er nickte.

»Ja, das stimmt. Doch als das der Fall war, da war ich allein, hatte bestimmte Vorstellungen davon, wie mein Leben verlaufen sollte. Es ist ins Wanken geraten, als ich Nicki begegnete, mit einer solchen leidenschaftlichen Liebe hatte ich nicht gerechnet. Nicki hat mich verlassen, und dann kam Susanne. Mit ihr allein hätte es mit dem ›Seeblick‹ ganz wunderbar weitergehen können. Wir zogen beide an einem Strang, Susanne war die Richtige für das Geschäft. Aber dann …«

Er machte eine kurze Pause, sein Gesicht bekam einen schwärmerischen Ausdruck.

»Dann kam Valentina in mein Leben, wir waren auf einmal eine kleine Familie. Wir sind überglücklich, ich danke dem Himmel, dass mir ein solches Glück noch einmal zuteil wurde. Und das möchte ich genießen, ich möchte mein Kind aufwachsen sehen, Zeit mit der Kleinen verbringen, Susanne und ich möchten noch mehr Kinder haben. Mein Job ist nicht dienlich für die Familie, in der halben Nacht zum Großmarkt, das hat ja auch schon Nicki bemängelt, und das war letztlich auch der Grund für unsere Trennung. Und jeden Abend im Restaurant …«

Wieder machte er eine Pause, blickte Roberta an.

»Ich möchte meine Kinder ins Bett bringen, ihnen Gutenacht-Geschichten erzählen, bei meiner Frau sein. Weißt du, Roberta, so etwas begreift man erst, wenn man Kinder hat. Und ich denke, man muss sich entscheiden. Für Karriere oder für die Familie. Ich habe mich entschieden, für die Familie natürlich.

Die ist das Beste, was wir haben, und da lässt sich auch nichts nachholen, Kinder werden groß, gehen aus dem Haus. Man hat sie nur für eine begrenzte Zeit.«

Roberta hätte mit allem gerechnet, mit einer solchen Eröffnung nicht. Sie war ein wenig verwirrt.

»Roberto, und wie soll das gehen? Susanne als Hausfrau, du als Hausmann? Das Leben, Kinder, das kostet alles.«

Er lächelte.

»Ach, jetzt höre ich wieder die vernünftige Roberta. Natürlich will ich nicht das Leben eines Hausmannes führen, das passt nicht zu mir. Aber ich war in meinem Beruf erfolgreich, ehe ich auf die Idee kam, den ›Seeblick‹ zu eröffnen, mich da zu verwirklichen. Ich könnte freiberuflich arbeiten. Das ist ja ohnehin ein Zukunftsmodell und wird jetzt schon praktiziert, dass die Menschen nicht mehr ihre vierzig Stunden und mehr pro Woche an ihrem Arbeitsplatz sind, Homeoffice ist das Zauberwort, Menschen arbeiten tageweise von zu Hause. Eine andere Alternative wäre, ich kaufe einen Weinberg oder alte Olivenbäume. Ich bin ein kreativer Mensch, mir wird schon etwas einfallen, und ganz arm bin ich nicht, und ich denke, für den ›Seeblick‹ kann ich auch einen guten Preis erzielen.«

Er lachte.

»Guck nicht so, freue dich mit mir. Susanne ist total begeistert, und so kompromisslos sie mit mir hier gearbeitet hat, will sie auch mit nach Italien gehen. Susanne liebt Herausforderungen, und ich bin Italiener. Und Italien ist nicht weit, du bist jetzt schon herzlich eingeladen, bei uns deine Ferien oder Kurzurlaube zu verbringen.«

Er meinte es wirklich ernst.

»Roberto, wenn …«

Roberta kam nicht dazu, ihren Satz zu beenden, denn eine der Bedienungen trat an ihren Tisch. Es waren neue Gäste angekommen, die vom Chef nicht nur begrüßt, sondern vor allem beraten werden wollten.

Roberto entschuldigte sich, doch Roberta nahm die Gelegenheit wahr, sich zu verabschieden. Das jetzt würde länger dauern, und sie hatte keine Lust, zu warten und sich derweil das Gehirn zu zermartern.

Sie musste alles erst einmal verdauen.

Roberto umarmte sie, es gab die obligatorischen Küsschen links und rechts.

»Glaub mir, Roberta, alles ist gut.«

Sie nickte, dann ging sie.

Was für Neuigkeiten!

Roberta hätte mit allem gerechnet, damit allerdings nun wirklich nicht.

Was war dann auf einmal los?

Alles war in Bewegung geraten.

Sie war froh, nicht mit dem Auto hergekommen zu sein, dann hätte sie erst einmal nichts trinken können, und dann hätte sie jetzt nicht die Möglichkeit, wieder hinunter in den Sonnenwinkel zu laufen.

Laufen machte den Kopf frei, Roberta glaubte allerdings nicht, dass sie das bis zu ihrem Haus hinbekommen würde.

Toscana …

Klar, war die traumhaft, und klar, Roberto war ein Italiener.

Aber von einen Tag auf den anderen sein ganzes Leben umzukrempeln, und das alles wegen der kleinen Valentina, wegen der Kinder, die er und Susanne noch haben wollten.

So konsequent zu sein, dazu gehörte ganz schön viel Mut.

Wie würde sie handeln? Die Frage stellte sich nicht, sie hatte keine Kinder, sie hatte nicht einmal einen Ehemann, und als sie den hatte, den Schwerenöter Max, da war klar gewesen, dass Kinder erst einmal kein Thema waren, die Praxis musste aufgebaut werden, die den vollen Einsatz erforderte, und Max wollte eh keine Kinder haben.

Und Lars …

Da wusste sie nicht, was kommen würde, und damit wollte Roberta sich jetzt auch nicht beschäftigen, das würde sie nur traurig machen. Traurig genug war, dass sie Roberto und Susanne verlieren würde, unter einem neuen Besitzer würde sich im ›Seeblick‹ auch alles wieder ändern. Und die kleine Valentina würde sie nur nach auf Fotos zu sehen bekommen.

Schade, dass sie Roberto nicht gefragt hatte, ob sie seine Neuigkeiten Nicki erzählen konnte, die würde sie sonst nämlich gleich sofort anrufen. Hinter seinem Rücken und ohne Zustimmung würde sie so etwas niemals tun.

Außerdem war Roberta sich nicht einmal sicher, ob sie Nickis Interesse wecken würde. Die war nur fixiert auf Mathias und sonst nichts.

*

Professor Werner Auerbach kam mit Getöse ins Haus.

»Hallo, mein Schatz, ich bin wieder da«, rief er, als er in die Küche gestürmt kam, wo er seine Frau bei einer Tasse Kaffee am Tisch vorfand.

Normalerweise sprang Inge auf, lief ihm strahlend entgegen, ließ sich von ihrem Mann umarmen, küssen.

Diesmal war es anders, sie blieb sitzen und sagte nur: »Ach, da bist du ja wieder.«

Werner Auerbach blieb vor seiner Frau stehen.

»Bist du jetzt sauer, weil ich meinen Aufenthalt verlängert habe, Inge? Das ist doch nicht das erste Mal, und du hattest nie etwas dagegen. Es waren auf dem Kongress zwei Kollegen, die an einem ähnlichen Thema arbeiten, mit denen musste ich mich unbedingt austauschen. Es war genial, sie vor Ort zu haben, denn der eine kommt aus Hongkong, und der andere Kollege ist in Belo Horizonte, in Brasilien, zu Hause. Bei solchen Entfernungen kommt man doch sonst nicht persönlich zusammen, es war großartig, ich bin mit meiner Arbeit jetzt einen ganzen Schritt weiter, und ich konnte ihnen ebenfalls sehr helfen, es war eine Win-Win-Situation für jeden von uns, in jeder Hinsicht.«

Er setzte sich ebenfalls an den Tisch, ergriff Inges Hand. »Habe ich dich jetzt überzeugt, dass ich überhaupt nicht anders konnte?«

Inge entzog ihm ihre Hand. Normalerweise verstanden Werner und sie sich gut, und so kleine Auseinandersetzungen gab es in jeder Ehe.

Jetzt allerdings war Inge wirklich wütend, sie fühlte sich überfordert, und sie fühlte sich allein gelassen. Als sie jung war, da hatte sie mit allem leichter umgehen können. Es war auch eine andere Situation gewesen, da hatten sie ein Ziel vor Augen, da hatte sie ihm den Rücken freigehalten, da war sie die starke Frau an seiner Seite gewesen.

Er hörte nicht auf, sich zu profilieren, sich in seinem Ruhm zu sonnen, obwohl er ihr nicht nur einmal versprochen hatte, mehr Zeit für sie zu haben. Nichts davon hatte er gehalten, und zunächst hatte es ihr auch nicht so viel ausgemacht, sie hatte ihre Familie, sie hatte ihre Aktivitäten.

Doch ihr Leben flog ihr um die Ohren, alles löste sich auf, zuerst das Drama um ihre Jüngste, dann Hannes, der bis Australien gegangen war, und nun Jörg, der ihr verkündet hatte, dass er samt Familie nach Schweden gehen würde.

Es fühlte sich nicht gut an, dass ihr alles genommen wurde, was ihre Welt ausmachte.

Werner Auerbach hatte sich seine Heimkehr anders vorgestellt, freudig empfangen von seiner Frau, und nun spielte sie die Beleidigte.

Werner hatte ein schlechtes Gewissen, doch das überspielte er einfach: »Wenn du schon nicht mit mir reden willst, kann ich dann wenigstens einen Kaffee haben?«

Sie blickte ihn an, und er fand, dass seine Inge noch eine verdammt attraktive Frau war, und ihr Zorn ließ ihre schönen Augen blitzen.

»Du weißt, wo du die Tassen findest, und du weißt, wo der Kaffee steht.«

Oh, sie war wirklich sauer, dachte Werner und holte sich einen Kaffee, weil er so richtig Lust darauf hatte.

Er musste sie beruhigen!

»So, mein Herz, und willst du mir jetzt nicht erzählen, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist? Ist was mit deinen Eltern? Hat dich diese schreckliche Rosmarie Rückert genervt, oder stimmt was mit der kleinen Teresa nicht?«

Inge merkte, dass das alles jetzt lächerlich wurde. Sie war eine erwachsene, gestandene Frau, und jetzt länger herumzuzicken, das wäre töricht.

Außerdem war sie ja froh, dass Werner endlich wieder daheim war.

»Jörg war hier«, sagte sie.

Er blickte seine Frau an. Weswegen betonte sie das so nachdrücklich.

»Schön, dann hattest du ja während meiner Abwesenheit Gesellschaft, so oft kann Jörg sich nicht freischaufeln.«

»Werner, Jörg war hier, um so ganz nebenbei zu erzählen, dass sie ihr Haus verkauft haben, weil sie nach Stockholm gehen werden. Die ganze Familie. Irgendein Headhunter hat ihn dazu überredet.«

»Jörg lässt sich nicht überreden, und es ist doch großartig, dass er sich einer neuen Herausforderung stellt, auf ewig konnte er nicht in den Münster-Werken bleiben. Dazu ist er viel zu qualifiziert.«

Typisch Mann!

Männer sahen nur sich, ihre beruflichen Vorteile, und die Familie hatte das mitzumachen.

Ahnte er ihre Gedanken?

Werner kam seiner Frau zuvor.

»Inge, denke mal an unsere Vergangenheit zurück, wir sind kreuz und quer durch die Weltgeschichte gezogen, weil das für mich beruflich erforderlich war, und das auch noch, als die Kinder da waren. Es hat weder ihnen geschadet noch uns. Wahrscheinlich können sie problemlos deswegen von einem Land ins andere wechseln. Ich finde das großartig, schade, dass ich nicht hier war, als Jörg es dir erzählte. Wir müssen ihn unbedingt noch mal einladen, ich will alles erfahren. Und wenn er von einem Headhunter angesprochen wird, dann heißt das, dass er in seiner Branche zu den Besten gehört, ich bin begeistert.«

Musste sie ihre Meinung noch einmal überprüfen? Ihre Eltern fanden das gut, Ricky ebenfalls. Hielt sie zu sehr an ihrer Familie fest? Weil sie sonst nichts hatte? Nein, jetzt kein Selbstmitleid, es ging ihr großartig, und sie führte ein beneidenswertes Leben. Sie durfte nicht undankbar sein.

»Hast du Hunger?«, wollte sie wissen, und Werner Auerbach sprang sofort darauf an. »Wenn du zum Kaffee eine kleine Süßigkeit hättest, das wäre wunderbar. Nur eine Kleinigkeit, denn wenn du magst, dann führe ich dich heute in den ›Seeblick‹ aus.«

Dahin wäre sie gern gegangen, doch das hätte er ihr dann früher sagen müssen.

»Da ich ja wusste, da ich zumindest hoffte, dass du heute wieder nach Hause kommen würdest, habe ich für dich einen Schweinebraten und Klöße vorbereitet. Das magst du doch immer, wenn du von einer Auslandsreise kommst.«

Werner strahlte seine Frau an.

»Inge-Maus, du bist die Größte«, rief er begeistert, »und können wir uns jetzt bitte wieder vertragen? Ich mag mit dir keinen Krach haben. Ich verstehe ja, dass du manchmal sauer auf mich bist, aber ich verspreche dir hoch und heilig, endlich kürzerzutreten, und den ersten Schritt habe ich bereits getan. Obwohl man mich beinahe auf Knien gebeten hat, in Montevideo einen Vortrag zu halten, habe ich abgesagt.«

Jetzt musste Inge lachen, sie kannte ihren Mann.

»Werner, du hast nicht meinetwegen abgesagt, sondern weil du Montevideo in schlechter Erinnerung hast. Der Saal war zugig und hatte eine schlechte Akustik, und in dem Hotel waren, trotz der fünf Sterne, die Betten schlecht.«

Sie hatte ihn ertappt.

Ja, dumm war sie nicht, seine Inge.

Werner stand auf, ging um den Tisch herum, und dann zog er sie in seine Arme, hielt sie fest umschlossen.

Inge schloss die Augen, Werner war ihre große Liebe, und daran würde sich niemals etwas ändern.

»Genau darauf habe ich mich gefreut, mein Herz«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Für mich bist du so begehrenswert wie am Anfang unserer Beziehung, du bist mein Anker, du bist mein Hafen.«

Er blickte ihr tief in die Augen.

»Darf ich dich jetzt küssen?«

Er durfte, welche Frage, und mit dem Kuss verschwanden ihr Ärger und ihre Sorgen.

Sie waren halt ein Dreamteam, ihr Werner und sie. Inge wollte nicht daran denken, wie schön es wäre, noch mehr von ihm zu haben. Sie wollte sich ihre Stimmung nicht verderben lassen, und lösen würden sie das Problem heute eh nicht.

*

Es war Samstag, Roberta hatte frei, sie hatte in aller Frühe den letzten Patienten versorgt, nun lag ein unbeschwertes Wochenende mit Lars vor ihr, und das wollten sie gemeinsam im Haus am See verbringen. Es war mittlerweile eine schöne Gewohnheit geworden, Lars bekochte sie und kümmerte sich rührend um sie, und sie genoss nicht nur seine Gegenwart, die ihr noch immer Herzklopfen bereitete, sondern auch die Brise am See.

Sie wohnte im Doktorhaus wirklich sehr schön, doch das hier war etwas anderes. Je öfter sie sich in dem Haus aufhielt, umso mehr konnte sie Kay und Lars verstehen, die sich sofort in das Haus in dieser Traumlage verliebt hatten. Und obwohl sie so unterschiedlich waren wie man unterschiedlicher nicht sein konnte, waren doch beide beseelt von zwei Eigenschaften – und das waren Freiheit und Abenteuerlust.

Roberta sah den Postboten, winkte ihm zu, weil am Sonnabend selten Post für sie kam, doch er hielt sie zurück.

»Warten Sie, Frau Doktor, ich habe eine ganz tolle bunte Karte für Sie.«

Roberta blieb stehen, eine Karte für sie? Nun ja, es konnte sein, dass es ein Urlaubsgruß eines Patienten war, die bekam sie öfters, aber da war der Postbote nicht reinweg aus dem Häuschen gewesen.

Roberta bedankte sich für die Karte, wünschte dem Mann ein schönes Wochenende, dann blickte sie die Karte näher an.

Sie war wirklich wunderschön, der Genfer See in seiner vollen Pracht. Rasch drehte sie die Karte um, die konnte nur von Hilda Hellwig sein.

Meine liebe Frau Doktor, manchmal muss ich mich in den Arm kneifen, um mich davon zu überzeugen, dass ich nicht träume. Der liebe Gott entschädigt mich reichlich für mein bisheriges freudloses Leben. Isabella ist entzückend, und Claire liebt mich über alles. Ich habe sogar Freundschaft mit Blacky, dem Kater, geschlossen. Claire hat auch vor dem Gesetz ihre richtige Identität, und sie macht tapfer immer mehr Schritte in das Leben, das man ihr gestohlen hat. Die Musik gibt ihr sehr viel Kraft, sie ist eine große Begabung. Isabella fördert sie und gibt ihr all ihre Liebe. Die beiden sind auf einem guten Weg. Und ich darf dabei sein. Wir sprechen sehr viel über Sie, voller Liebe und voller Dankbarkeit.

Für heute von Herzen viele Grüße, Ihre Hilda H.

Roberta war ganz gerührt, und sie war unendlich erleichtert. Sie hatte Tränen in den Augen, dann steckte sie die Karte ein und lief zum See, zu ihrem Liebsten.

Sie kam völlig atemlos in dem kleinen Haus an, Lars hatte sie bereits erwartet, er stand schon vor der Tür, nahm sie in die Arme, küsste sie, und als er sie losließ, erkundigte er sich launig: »So eilig hattest du es, zu mir zu kommen, mein Liebling?«

Sie ging auf seinen heiteren Ton nicht ein.

»Ja, so eilig hatte ich es, ich muss dir etwas zeigen.«

Sie kramte die Karte aus ihrer Tasche, reichte sie ihm, er überflog die Zeilen, gab Roberta die Karte zurück.

»Es ist nett von dieser Frau Hellwig, dir so liebevoll zu schreiben, meist vergisst man die Leute, wenn man erst einmal weg ist. Wie heißt es doch so schön? Aus den Augen, aus dem Sinn.«

Roberta hakte sich bei ihm ein, ging mit ihm ins Haus, in dem es bereits ganz verführerisch duftete.

»Eigentlich hättest du die Karte bekommen müssen, denn wärst du nicht gewesen, dann gäbe es keine Claire Duncan, sondern noch immer eine Leonie Schulz, und die arme Isabella würde sich die Augen ausweinen. Du kannst so stolz auf dich sein, und ich verspreche dir eines, sollte sich noch einmal irgendeine Situation ergeben, dann werde ich dir niemals mehr dazwischenreden. Du hast mir bewiesen, dass du mehr kannst als über Eisbären zu schreiben.«

Er schaute ihr tief in die Augen.

Lars konnte mit Lob ebenfalls nicht umgehen. Das hatten sie gemeinsam, und deswegen ging er auch nicht auf das ein, was Roberta gerade gesagt hatte, sondern wollte wissen: »Wichtig ist für mich zu wissen, ob ich dir beweisen konnte, dass ich dich aus tiefstem Herzen aufrichtig liebe?«

Roberta war überwältigt. Es verschlug ihr die Sprache. Sie lehnte sich ganz fest an den Mann, den sie so sehr liebte, sie genoss seine Nähe, seine Wärme und den unvergleichlichen Duft nach Zitrus und edlen Hölzern, der ihn immer umgab, und der sehr männlich wirkte.

Lars liebte sie, natürlich wusste und spürte sie das. Doch es war immer wieder schön, so etwas auch gesagt zu bekommen.

Sie musste endlich damit aufhören, sich Gedanken um eine Heirat, um Kinder zu machen. Ihre Freundin Nicki fiel ihr ein, die immer sagte: »Es kommt, wenn es dir vorbestimmt ist.« Roberta glaubte nicht unbedingt an die Vorbestimmung, doch allmählich war sie geneigt, so etwas zuzulassen. Sie hatte in kürzester Zeit erfahren, dass nichts für die Ewigkeit bestimmt war, dass alles einem ständigen Wandel unterworfen war.

An ihrer Liebe zu Lars würde sich nichts ändern, ob nun mit Ring an ihrem Finger oder ohne. Und sie würde ihn dann auch nicht mehr lieben.

Heirat …

Kinder …

Das waren Wünsche, die in einem erweckt wurden, wenn man solche Bilder von außen sah, dann kamen die Sehnsüchte. Roberta war fest entschlossen, ihr Glück nur noch zu genießen und an nichts sonst zu denken. Der Augenblick zählte. Sie küssten sich, zärtlich, leidenschaftlich und sehr ausdauernd. Sie waren sich unglaublich nahe.

Irgendwann ließ er sie los, blickte sie mit seinen unglaublich blauen Augen erneut lange an, dann lief er zu seinem Schreibtisch, kam mit einem Foto zurück, das in einem wunderschönen, sehr geschmackvollem Silberrahmen steckte. Es war ein Foto von ihm.

Roberta hatte auf ihrem Handy viele Fotos von ihm, aber eines, das man aufstellen, das man in die Hand nehmen konnte, das man immer vor Augen hatte, das besaß eine ganz andere Qualität.

Roberta bekam Herzklopfen. Nicht, weil er auf diesem Foto unglaublich gut aussah, sondern weil sie ahnte, dass es einen Grund dafür gab, dass er ihr ausgerechnet jetzt dieses Foto schenkte.

Sie betrachtete das Foto eine Weile, presste es an sich, dann blickte sie ihn an.

Lars, der Souveräne, der Coole, sagte nichts. Er suchte nach den passenden Worten, und das war jetzt beinahe unheimlich, es konnte nichts Gutes bedeuten. Er räusperte sich, dann führte er sie zum Sofa, sie setzten sich.

Er sollte endlich etwas sagen! Diese Spannung war geradezu unerträglich.

Er ergriff ihre Hand, und dann begann er endlich: »Roberta, Liebes, ich habe die Kapitel fertig, die der Verlag noch haben wollte. Ich konnte es nicht länger hinauszögern.«

Sie schloss die Augen.

Er musste nicht mehr sagen, sie wusste auch so, was das bedeutete.

Seine Abreise stand bevor!

Sie atmete tief durch, ehe sie sich erkundigte: »Und wann fährst du?«

Roberta wunderte sich über sich selbst, wie gelassen sie das ausgesprochen hatte, dabei hämmerte ihr Herz wie verrückt.

»Ich möchte unbedingt das Wochenende noch mit dir verbringen, und ich hoffe, dass wir nicht gestört werden. Am Montagfrüh geht dann mein Flieger.«

Jetzt war es ausgesprochen, und jetzt war der Zeitpunkt da. Sie hätte gewusst, das er zu weiteren Recherchen noch einmal in die Arktis zu den Eisbären musste. Etwas zu wissen oder mit Tatsachen konfrontiert zu werden, darin lag ein gewaltiger Unterschied.

Sie nickte.

Sie machte kein Theater.

Eigentlich hätte Lars Magnusson jetzt mit der Reaktion seiner Freundin zufrieden sein müssen, er war es nicht, weil er sie mittlerweile so gut kannte, um zu wissen, wie es in ihr jetzt aussah, wie enttäuscht sie war.

»Roberta, mein Liebling, ich habe dir von Anfang an nichts vorgemacht, ich habe dir gesagt, worauf du dich einlässt. Mein Beruf bringt es mit sich, dass ich niemals wie ein Beamter von Montag bis Freitag meine acht Stunden im Amt verbringe oder wie sonst jemand, der fest angestellt ist. Bei mir kann es bedeuten, dass ich monatelang weg sein werde. Diesmal werden es lediglich ein paar Wochen sein. Eine echte Liebe muss das aushalten, und du wirst doch auch nicht in einem stillen Kämmerlein sitzen und auf mich warten. Du hast deinen Beruf, der dich ausfüllt, der dich …«

Sie unterbrach ihn.

»Lars, hör bitte auf. Du musst dich nicht rechtfertigen, und du musst mir nicht sagen, was ich zu tun habe. Ich habe nichts von deinen Worten vergessen, ich habe mich auf dich eingelassen. Und ja, du hast von Anfang an mit offenen Karten gespielt.« Sie machte eine kleine Pause.

»Verflixt noch mal, ich liebe dich, ich bin gern mit dir zusammen, und ich bin eine Frau, die Gefühle zeigen darf. Ich bin enttäuscht und traurig, eine andere Reaktion wäre nicht normal, und ich …«

Diesmal ließ er sie nicht aussprechen, er zog sie ganz fest an sich, und dann küsste er sie.

Welch ein Glück!

Sie war dabei gewesen, sich um Kopf und Kragen zu reden. Jetzt genoss sie nur noch seine Gegenwart, und die war so beglückend, dass wenigstens vorübergehend all die grauen Wolken verzogen, die über ihnen schwebten.

Sie hatten noch den Samstag, den ganzen Sonntag, und dann würde sie ihn natürlich am Montag zum Flughafen bringen, das wollte sie sich nicht nehmen lassen.

Und dann …

Oh nein, darüber würde sie sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen, sondern jeden Augenblick genießen, und sie würde noch etwas tun, zum ersten Mal in ihrem Leben, sie würde beide Handys ausschalten. Sie hatte keinen Bereitschaftsdienst, und deswegen konnte sie das guten Gewissens tun. Wer sie erreichen wollte, der konnte das dann am Montag tun. Da hatte sie Zeit für alles und jeden.

»Roberta, ich liebe dich über alles«, gestand er ihr zwischen zwei Küssen, »und glaube mir, ich wäre froh, die Reise nicht machen zu müssen. So sehr mich auch die Eisbären faszinieren, du faszinierst mich viel, viel mehr.«

Sie kuschelte sich noch enger an ihn, obwohl das kaum noch ging.

Zwischen all ihre grauen und trüben Gedanken schob sich ein winziger Lichtblick. Und das war gut so. Sie musste positiv sein, nach vorne blicken. Ändern konnte sie eh nichts, und was waren schon ein paar Wochen. Die ließen sich doch aushalten.

Wenn sie an seine Rückkehr dachte …, für das, was dann sein würde, gab es keine Worte.

*

Heute hatte es Marianne von Rieding eilig, zu ihrer Tochter zu kommen. Sie hatte Neuigkeiten und war gespannt darauf, wie Sandra reagieren würde.

Als sie ins Krankenzimmer kam, blieb sie zunächst einmal irritiert stehen.

Was war geschehen?

Sandra lag in ihrem Bett wie ein Häufchen Elend, und es war nicht zu übersehen, dass sie geweint hatte. Warum das denn? Es hatte sich alles doch so positiv entwickelt, Felix und Sandra waren auf einem guten Weg.

Marianne eilte zum Bett ihrer Tochter.

»Sandra, was ist los?«, wollte sie wissen.

Sandra antwortete nicht sofort, dann flüsterte sie kaum verständlich: »Ich war auf der Neugeborenenstation.«

Marianne setzte sich, weil sie jetzt überhaupt nichts mehr begreifen konnte.

»Ich … ich habe heute einen Gehgips bekommen, und da habe ich gedacht …, nun ja …«

Zunächst einmal sprach Sandra nicht weiter, sondern sie wurde von einem Weinkrampf geschüttelt, und Marianne überlegte schon, ob sie einen Arzt rufen sollte.

Sandra sollte sich doch nicht aufregen!

Allmählich ebbte der Tränenstrom ab, und Marianne wagte ihre Tochter zu fragen, was in aller Welt sie auf der Neugeborenenstation gewollt hatte.

Fast hätte das zu einem neuen Ausbruch geführt, Sandra unterdrückte gewaltsam ihre Tränen, und dann erzählte sie ihrer Mutter, dass sich das zufällig ergeben habe, sie sei, um das Gehen mit dem Gips zu üben, dort gelandet.

»Mama, und dann habe ich durch die Scheibe geblickt und all die Babys gesehen, das hat mir fast das Herz gebrochen. Ich hätte auch ein so liebreizendes Wesen haben können. Ich habe unser Kind umgebracht, und ich wundere mich, dass ich nicht angeklagt werde und dass Felix überhaupt noch mit mir redet, ich wollte so gern noch ein Kind haben und war überglücklich, dass ich nach einigen Fehlversuchen schwanger war.«

Marianne von Rieding war so schockiert, dass sie erst einmal nicht in der Lage war, dazu etwas zu sagen. Wie sich das anhörte … Mord … Gefängnis … Was spielte sich da bloß in Sandra ab!

»Sandra, es war ein Unfall, es war tragisch, doch höre doch jetzt bloß auf, dich in diese Gedanken zu verrennen. Geschehen ist geschehen, und es ist durch nichts mehr zu ändern. Das, was du jetzt tust, ist wahrhaftig nicht der richtige Weg einer Aufarbeitung des Geschehens, des Umgangs mit der Trauer ….« Sie blickte ihre Tochter an. »Weiß Felix von deinem …, von dem, was du mir gerade erzählt hast?«

Sandra schüttelte den Kopf.

»Dann erzähle ihm nichts davon«, beschwor Marianne ihre Tochter. »Ich bin nicht dafür, dass man Geheimnisse vor seinem Partner hat. Doch das, was passiert ist, ist so schwierig. Jeder Mensch geht anders mit seiner Trauer um, verarbeitet sie auf unterschiedliche Weise. Ich bin der Meinung, dass Felix nicht mehr darüber reden will. Das ist seine Art, damit umzugehen. Die Babystation, deine Schuldgefühle, das würde alles wieder aufwühlen. Und ehrlich, Sandra, das wäre nicht gut für eure Beziehung. Es geht mit euch wieder, zum Glück muss man sagen, aufwärts. Doch ihr bewegt euch noch auf einem sehr dünnen Eis. Bitte, erzähle es ihm wirklich nicht, und du tue dir so etwas bitte auch nicht mehr an. Das bringt doch nichts. Egal, was du tust, rückgängig machen kannst du nichts. Es ist gut, dass du morgen nach Hause kommen kannst, da kann ich mich ganz anders um dich kümmern.«

Normalerweise freute sich jeder, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, bei Sandra hatte man nicht den Eindruck. Und das verwunderte Marianne.

»Freust du dich denn nicht?«, wollte sie wissen.

Sandra war wirklich in einer sehr schlechten Verfassung, sie begann wieder zu weinen, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sich beruhigt hatte.

»Mama …, normalerweise würde ich mich freuen, im Krankenhaus zu sein, das ist schrecklich. Doch ich habe Angst, ich habe Angst davor, das Kinderzimmer zu betreten, das Felix und ich voller Vorfreude und mit viel Liebe für das Baby eingerichtet haben.«

Marianne nahm die schmale, blasse Hand ihrer Tochter, tätschelte sie.

»Sandra, mein Kind, ich weiß, dass du Schreckliches durchleidest und dass du Angst davor hast, das Kinderzimmer zu betreten. Deine Sorgen sind unbegründet. Felix hat das Zimmer längst ausgeräumt, und er hat alles verschenkt. Die jungen Leute, die alles bekommen haben, waren außer sich vor Freude, sie konnten ihr Glück überhaupt nicht fassen. Diese Aktion hat seinen Schmerz ein wenig gemildert. Ach, weißt du, Sandra, dein Mann ist wirklich großartig. Man merkt immer wieder, wie sehr er dich doch liebt und welche Sorgen er sich um dich macht. Ich glaube, es ist für uns alle gut, in Arizona einen Neuanfang zu wagen. Bei all dem Neuen, was auf uns alle zukommt, verblasst das Negative, das derzeit unser Leben bestimmt. Weißt du, ich bin so gerührt, dass Felix meinem Carlo und mir sofort spontan angeboten hat, mit euch nach Arizona zu gehen. Es ist nicht selbstverständlich, mit den Schwiegereltern im Gepäck in ein neues Leben zu reisen.«

Sandra konnte nicht sagen, dass die Worte ihrer Mutter sie jetzt erleichterten. Schuldgefühle ließen sich nicht daran festmachen und machten alles leichter, wenn ein paar Möbel und Spielsachen nicht mehr da waren. Das wäre zu einfach. Aber beruhigend war es schon, damit nicht mehr konfrontiert zu werden, was sie mit so viel Vorfreude, mit so viel Glück ausgesucht hatten. Felix war wirklich ein toller Mann, und ihre Mutter hatte recht, es war keine Selbstverständlichkeit, die Schwiegereltern mitzunehmen.

Arizona …

Natürlich würde sie mit ihrer gesamten Familie in ein neues Leben gehen. Auf der einen Seite freute sie sich, auf der anderen Seite erschreckte es sie. Sandra fühlte sich auf dem Anwesen Erlenhof wohl. Im Gegensatz zu ihrer Mutter genoss sie alles, auch all die Privilegien, die sie in ihrem Leben unterhalb der Felsenburg hatte. Sie genoss alles, was ihr Großvater ihnen vererbt hatte. Sie sah das auch nicht so emotional wie ihre Mutter. Sie sah es eher als eine Wiedergutmachung für alles, was dieser hartherzige Mann ihnen angetan hatte, insbesondere ihrem Vater. Den hatte er aus seinem Leben gestrichen, weil der es gewagt hatte, die Frau zu heiraten, die er liebte. Und das war zufällig eine Bürgerliche. Es war bitter, dass ihn weder seine Schwiegertochter noch seine Enkelin interessiert hatten.

Darum musste sie sich keine Gedanken mehr machen. Das war ja jetzt wohl vorbei. Sie würden alles verlassen, verkaufen. Sandra blickte ihre Mutter an.

»Gibt es schon ernsthafte Interessenten für das Anwesen?«, erkundigte sie sich. Am liebsten wäre ihr, es würde sich niemand finden, und sie könnten bleiben. Doch das war nur Wunschdenken.

»Ja, stell dir vor«, Marianne von Rieding wurde richtig lebhaft, »deswegen bin ich in erster Linie auch hergekommen. Es gibt mehrere Interessenten, entweder für die Dependance oder für das Herrenhaus. Es interessiert sich sogar jemand für die Felsenburg. Aber das wollen wir ja nicht. Ernsthaft interessiert am gesamten Besitz sind drei Bieter, wovon zwei den Preis drücken wollen, und der Dritte akzeptiert unsere Forderung. Es ist irgendein Graf, der im Herrenhaus wohnen will und in die Dependance seine Firma legen möchte. So etwas bietet sich ja an.«

»Ein Graf?«, wiederholte Sandra. »Haben die nicht meist selbst ein Schloss oder eine Ritterburg oder etwas in der Richtung?«

»Na ja, das ist nicht zwangsläufig so. Es gibt auch den Etagenadel, also Adelige, die ganz normal in Wohnungen wohnen. Hier soll es wohl so sein, dass es sich bei diesem Interessenten um einen Zweitgeborenen handelt. Und da ist es ja so, wie übrigens auch auf großen Bauernhöfen, dass immer der Älteste den gesamten Besitz erbt, damit der nicht zerstückelt wird und für die nächste Generation erhalten bleibt. Für diesen Grafen war es wohl bitter, leer auszugehen, und er sucht schon lange einen repräsentativen Besitz. Er hat sich sofort verliebt und möchte das Anwesen um jeden Preis kaufen, obwohl er es nur von den Unterlagen des Maklers kennt.«

Marianne zuckte die Achseln.

»Vielleicht hat er sich alles schon mal von außen angesehen, wer weiß. Auf jeden Fall will er schnellstmöglich einen Termin mit uns vereinbaren und dann zum Notar gehen. Er zahlt, ohne mit der Wimper zu zucken, jeden Preis, und glaube mir, den hat mein Carlo ziemlich hoch angesetzt, um einen gewissen Spielraum zu haben. Doch wie es scheint, geht es so in Ordnung.«

Sandra ließ sich in ihr Kopfkissen zurücksinken.

Sie hatten es besprochen, sie hatte zugestimmt, doch jetzt, als es konkret geworden war, machte es etwas mit ihr. Eine leichte Wehmut beschlich sie. In ihrem wunderschönen, von Felix mit viel Aufwand umgestalteten Haus würde sich bald eine Firma befinden, im Herrenhaus würden andere Leute wohnen.

Und die Felsenburg, das Wahrzeichen des Anwesens, die geschichtsträchtige Ruine, die stolz alles überragte, würde auch diesem Grafen gehören.

Marianne von Rieding verstand ihre Tochter nicht. Was war denn nun schon wieder los?

»Sandra, besser geht es nicht. Es ist ein unglaubliches Glück, so schnell einen solventen Käufer zu finden. Das Anwesen hat einen stolzen Preis, und der Unterhalt für alles ist sehr hoch, das kann und will sich auch nicht jeder erlauben.«

Sandra blickte ihre Mutter an.

»Du bist wirklich froh, nicht wahr, Mama? Es tut dir überhaupt nicht leid.«

Oh Gott, fing das wieder an?

»Ja, Sandra, ich bin froh, ich habe alles nicht geliebt, es war für mich eher eine Last, und ich habe mich hier nicht wohlgefühlt, ich kam mir immer wie ein Eindringling vor. Es kann ja sein, dass es anders gewesen wäre, hätten wir den Besitz schon zu Lebzeiten deines Großvaters kennengelernt. Und wenn ich …«

Marianne brach ihren Satz ab.

»Sandra, komm, lass es gut sein, wir müssen uns nicht gegenseitig von unseren Meinungen überzeugen. Da du ja jetzt deinen Gehgips hast, sollen wir im Park einen kleinen Spaziergang machen? Wir können aber auch unten in der Cafeteria etwas trinken. Vorhin, als ich kam, haben sie sehr leckeren Kuchen hineingetragen. Darauf hätte ich jetzt Lust.«

Eigentlich wäre Sandra jetzt am liebsten allein gewesen, um alles noch einmal zu überdenken. Doch sie wusste, dass man sich da sehr schnell im Kreis drehen konnte und man dadurch alles sehr viel schlimmer machen konnte.

»Eine gute Idee, Mama, machen wir doch beides. Du kannst aussuchen, womit wir anfangen.«

Insgeheim atmete Marianne erleichtert auf.

»Gut, dann gehen wir zuerst in die Cafeteria, und hinterher trainieren wir ein paar von den Kalorien ab und gehen in den Park.«

Marianne von Rieding war ihrer Tochter behilflich, aus dem Bett zu steigen, dann reichte sie ihr eine leichte Jacke. Der Sonnenschein draußen war trügerisch, im Schatten war es kühl, und erkälten durfte Sandra sich jetzt nicht auch noch.

Gemeinsam verließen sie das Krankenzimmer.

Marianne nahm vorsichtshalber einen der leichten fahrbaren Krankenstühle mit. Für alle Fälle. Sandras Kondition war noch nicht gut, was auch kein Wunder war. Der Aufenthalt in dem wirklich gut angelegten Park des Krankenhauses würde ihr guttun und sie auf andere Gedanken bringen.

Sandra stand sich so oft selbst im Wege, und sie tat sich, ganz im Gegensatz zu ihr, schwer mit Veränderungen, das war schon immer so gewesen. Schon als Schulmädchen, welche Ängste hatte sie ausgestanden, als der Schulwechsel von der Grundschule zum Gymnasium anstand. Deswegen war schwer zu verstehen, dass sie eine riskante Autofahrerin war, die sich am Tempo berauschte und da alle Vorsicht und Besonnenheit vergaß.

Tja, jeder Mensch tickte anders.

Manches war für Marianne nicht nachvollziehbar, musste es auch nicht sein. Jeder Mensch hatte für alles seine Gründe. Eines allerdings wusste sie, weil sie ihre Tochter in dieser Hinsicht kannte. Irgendwann würde Sandra froh und erleichtert sein, wenn die schwarzen Wolken der Vergangenheit, die jetzt noch drohend über ihr lasteten, sich verzogen hatten.

*

Dr. Roberta Steinfeld war froh, ihren Beruf zu haben, in dem sie ihre Erfüllung fand, den sie über alles liebte und der sie täglich forderte. Vermutlich hätte sie sonst das heulende Elend bekommen. Etwas, was sie niemals für möglich gehalten hätte. Doch nicht sie.

Ihre Liebe zu Lars Magnusson ließ sich nicht mit dem Verstand erklären, das war Gefühl pur, das waren Faszination und Magie. Ja, so war es. Seit sich Lars still und leise in ihr Leben, in ihr Herz geschlichen hatte, war alles anders geworden, und sie konnte über sich nur selbst staunen.

Bei dem Gedanken an ihn bekam ihr Gesicht einen schwärmerischen Ausdruck, allerdings zeigte sich auch eine leise Spur von Wehmut. Sie würden jetzt erst einmal für eine Weile getrennt sein, und es war nicht abzusehen, wann er zurückkommen würde.

Für jemanden, der liebte, waren es schreckliche Gedanken, und eigentlich konnte sie sich nur damit trösten, welch wundervolle Stunden sie miteinander verbracht hatten, davon konnte man eine Weile zehren. Ja, so wundervoll, so magisch war es gewesen. Leider war die Zeit viel zu schnell vergangen. So war es immer, erlebte man unangenehme Dinge, glaubte man, die Zeit bliebe stehen, waren es beglückende Augenblicke, dann raste die Zeit nur so dahin.

Roberta hatte Lars ja zum Flughafen bringen wollen, doch jetzt war sie froh, dass er darauf bestanden hatte, allein zu fahren, weil er Abschiede in vollen Abflughallen hasste.

So hatte es einen liebevollen, innigen Abschied gegeben, nur sie, keine neugierigen Zuschauer. Und Lars war längst schon gegangen, als sie noch immer in dem kleinen Haus am See weilte. Sie konnte sich nicht trennen. Seine Gegenwart war noch so präsent gewesen, und das hatte sie genießen wollen.

Und dann hatte sie ihn gefunden, den Brief, den er ihr noch geschrieben hatte.

Roberta griff in ihre Jackentasche, holte den Brief hervor, der längst deutliche Gebrauchsspuren aufwies, der zerknittert war, weil sie ihn immer bei sich trug und bereits gefühlte unzählige Male gelesen hatte.

Sie faltete das Blatt auseinander, sah seine markante, ausdrucksstarke Schrift.

Meine Liebste, auch wenn wir uns nicht sehen, so bist Du doch immer bei mir, in meinen Gedanken, mehr noch in meinem Herzen. Ich genieße das Wunder unserer Liebe und bin unendlich dankbar dafür, Dich gefunden zu haben.

In ewiger Liebe, Dein Lars.

Es waren wenige Worte, doch die gingen zu Herzen, und sie waren wahr. Lars war der aufrichtigste Mensch, dem sie je in ihrem Leben begegnet war.

Er würde kommen und gehen, das hatte er ihr von Anfang an klargemacht. Und sie hatte keine andere Wahl als es zu akzeptieren. Man konnte nicht alles haben, manchmal musste man einen Teil seiner Träume begraben.

Roberta betrat ihre Praxisräume, Ursel Hellenbrink war bereits da, wirbelte herum.

»Guten Morgen, Frau Doktor«, sagte sie, »Frau Schiffer ist ohne Anmeldung hier, sie hat diffuse Schmerzen im Oberbauch. Ist es in Ordnung für Sie, sie schnell dranzunehmen?«

Es war für Roberta in Ordnung. Der eigentlich Praxisbeginn war in zwanzig Minuten, also konnte niemand herummeckern, es wurde keiner benachteiligt.

So sehr Roberta ihren Lars auch liebte, so gern sie an ihn dachte. Ihr Privatleben musste augenblicklich hintenan geschoben werden, denn jetzt zählten nur noch ihre Patienten, und selbst an den Zettel, den sie immer bei sich trug, durfte sie jetzt nicht denken.

»Also dann, schicken Sie mir bitte Frau Schiffer in mein Zimmer«, sagte Roberta.

Jetzt war sie nur noch die Ärztin, die auf das Wohl ihrer Patienten bedacht war.

Die Patientin kam herein, Frau Schiffer war eine äußerst sympathische Frau, die es allerdings mit ihrer Ernährung nicht so genau nahm, da oftmals über die Stränge schlug.

Roberta begrüßte ihre Patientin.

»Frau Doktor, ich habe Angst, einen Herzinfarkt zu haben.«

Roberta beruhigte die Patientin. »Wo genau sitzt der Schmerz, Frau Schiffer? In der rechten Hälfte des Oberbauches oder in der linken.«

Der Schmerz saß in der rechten Hälfte, und nun erklärte Roberta ihr, dass sich in dem rechten Oberbauch die Leber befanden, dahinter und darüber die Gallenblase, der obere rechte Teil des Dickdarms, die Bauchspeicheldrüse.

»Jede Beeinträchtigung dieser Organe kann Schmerzen verursachen, die sich vor allem in der rechten oberen Ecke des Bauches und unter dem Brustkorb bemerkbar machen.«

Roberta blickte ihre Patientin an. »Es ist kein Herzinfarkt, Frau Doktor, nicht wahr? Bei mir kommen die Schmerzen von der Gallenblase, und da muss ich leider gestehen, dass ich unvernünftig war. Ich habe ein Eisbein gegessen, mit all dem Fett, das reichlich dran war. Aber es schmeckt halt so gut. Ich dachte, einmal ist keinmal und habe mich darüber hinweggesetzt, dass Sie mir eingetrichtert haben, dass ich bei der Gallenblasenentzündung, die Sie bei mir diagnostiziert haben, auf eine strenge Fettreduzierung achten muss.«

Frau Schiffer warf Roberta einen treuherzigen Blick zu.

»Es tut mir ja so leid, aber ich dachte nicht, dass ein Eisbein solche Folgen haben kann.«

Roberta sagte nichts, sie hörte vorsichtshalber die Patientin ab, stellte den Blutdruck fest, der war auch zu hoch, besonders der diastolische, der obere Wert.

»Und wie sieht es mit den Blutdrucktabletten aus, Frau Schiffer, nehmen Sie die regelmäßig?«

Die Patientin wurde rot, blickte beschämt nach unten.

»Nicht immer, die vergesse ich manchmal. Aber ist das denn schlimm?«

Roberta bemühte sich, ruhig zu bleiben. Verflixt noch mal, die Frau war nicht dumm, und sie war von ihr lange und gründlich beraten worden. Das machte Roberta bei allen Patienten.

»Frau Schiffer, einen Herzinfarkt kann ich ausschließen, doch jetzt hören Sie mir bitte noch einmal ganz genau zu.«

Sie klärte die Frau noch einmal auf mit allen Konsequenzen, die es haben konnte, wenn sie sich nicht an die ärztlichen Anweisungen hielt.

»Frau Schiffer, es ist Ihr Leben, mit dem Sie spielen, und jeder ist in erster Linie für sich selbst verantwortlich. Wenn Sie sich nicht an meine Vorschläge halten wollen, dann bitte, ist es Ihre Entscheidung. Doch dann kommen Sie nicht zu mir, sondern fahren Sie nach Hohenborn ins Krankenhaus. Ich möchte meine Zeit nicht verschwenden, sondern sie für die Patienten aufbringen, die hierherkommen, um wirklich gesund zu werden.«

Frau Schiffer zuckte betroffen zusammen, doch das war Roberta egal.

Mit Tränen in den Augen blickte Frau Schiffer die Ärztin an.

»Bitte, tun Sie mir das nicht an. Ich möchte weiterhin zu Ihnen kommen, weil Sie eine großartige Ärztin sind, Frau Doktor.«

»Frau Schiffer, dagegen ist nichts einzuwenden, aber bitte halten Sie sich dann gefälligst an das, was ich Ihnen vorgeschlagen habe. Nehmen Sie pünktlich, wie ich es Ihnen auf den Medikamentenplan geschrieben habe, alles ein, und halten Sie sich auch an die Diätvorschriften. Dann müssen Sie keine Angst haben und nicht panisch zu mir gelaufen kommen. Ihren nächsten Termin haben Sie, dann sehen wir uns wieder.«

Frau Schiffer bedankte sich, verließ das Behandlungszimmer, und Roberta bat die großartige Ursel Hellenbrink, ihr den nächsten Patientin zu schicken.

Diesmal handelte es sich um die Besprechung der Un­tersuchungsergebnisse, Roberta konnte der Patientin gute Nachrichten übermitteln, denn alle Werte hatten sich verbessert, aber diese Frau hielt sich auch an alles, und nur so ging es. Wenn Medikamente ihre Wirksamkeit zeigen sollten, dann musste sie auch pünktlich und nach ärztlicher Vorschrift eingenommen werden.

Mit dieser Patientin war Roberta schnell fertig, und dann ging es zügig weiter. Über Patientenmangel konnte man sich in dieser Praxis wirklich nicht beklagen.

*

Inge Auerbach fand sich selbst unleidlich. Sie wusste nicht genau, was eigentlich mit ihr los war. Irgendwie war früher alles anders gewesen.

Dabei bemühte sich ihr Werner um sie wie in den Anfangszeiten ihrer Liebe, ihm war klar geworden, dass er einiges gutzumachen hatte.

Und auch sonst lief alles rund, Jörg war noch einmal da gewesen, und jetzt, nachdem Inge, gemeinsam mit Werner, alles nicht nur noch mal durchgesprochen hatte, sondern auch, nachdem Jörg Unterlagen vorgelegt hatte, konnte man ihm tatsächlich nur gratulieren. So eine Chance bot sich einem nur einmal im Leben, und er wäre töricht gewesen, da nicht zuzugreifen.

Und Ricky mit ihrem grenzenlosen Optimismus hatte gleich mehrere Interessenten für das Haus an der Hand, ohne sich bemüht zu haben.

Ja, es stimmte wirklich, man riss sich um Häuser im Sonnenwinkel. Jetzt mussten sie und Fabian sich nur noch entscheiden.

Ihre Eltern waren fit, dem Hund Luna ging es gut, er wurde von allen Seiten verwöhnt.

Und Hannes im fernen Australien …

Und ihre geliebte Jüngste …

War es das, was Inge so übellaunig machte? Dass sich Bambi alias Pamela nicht meldete?

Sie machte den Geschirrspüler an, überlegte einen kurzen Moment, was sie jetzt machen sollte, um sich ein wenig abzulenken, Arbeit half ja manchmal.

Inge zuckte zusammen, weil es an der Haustür stürmisch klingelte …, sie kannte das …, doch das konnte nicht wahr sein …, oder doch?

Der neue Sonnenwinkel Jubiläumsbox 4 – Familienroman

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