Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Jubiläumsbox 4 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 7

Оглавление

Inge Auerbach hielt mitten in der Bewegung inne. Sie wurde abwechselnd rot und blass. Sie glaubte, ihr Herz müsse zerspringen. Das Klingeln kannte sie!

Inge wusste, wie jedes ihrer Kinder sich bemerkbar machte. Doch das war unvergleichlich. So stürmisch konnte nur einer klingeln, und das war ihr jüngster Sohn Hannes, der im fernen Australien lebte.

Wieso war er hier? Viele Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Hannes hatte seinen Besuch nicht angekündigt. Es klingelte erneut, diesmal fordernder.

Inge musste zur Tür laufen, ehe er die Klingel abriss. Sie spürte, wie große Freude sie erfüllte und wie ein winziger Hoffnungsschimmer in ihr aufkeimte.

Inge hatte auf ihren langen Brief an ihre Jüngste niemals eine Antwort bekommen, jenen Brief, in dem sie versucht hatte, ihr zu erklären, warum sie und Werner niemals über die Adoption gesprochen hatten. Sie hatte sich dafür entschuldigt, dass Pamela, Pam, wie sie genannt werden wollte, durch Fremde erfahren musste, dass sie keine echte Auerbach war. Und sie hatte mit vielen aus dem Herzen kommenden und zu Herzen gehenden Worten geschrieben, wie sehr sie sie, ihr Herzenskind, doch liebten.

Wenn nun …

Das wäre zu schön, um wahr zu sein! Inge riss die Haustür auf.

Es war Hannes, der vor der Tür stand, braun gebrannt, verwegen, lässig, strahlend, fantastisch aussehend. Er war das Bild eines jungen Mannes, und es war überhaupt nicht verwunderlich, dass man Hannes weltweit vermarktete, als das Gesicht von ›Sundance‹, einem Surfbrett der neuen Generation.

Inge freute sich riesig, ihren Sohn zu sehen, doch irgendwo war ihr ihre Enttäuschung wohl anzusehen, dass er allein vor der Tür stand.

»Was ist das denn für eine Begrüßung?«, erkundigte Hannes sich, nahm seine Mutter in die Arme, wirbelte sie herum. Ja, das tat er wirklich, denn Hannes war groß und stark. »Freust du dich nicht, mich zu sehen? Ich habe extra einen Umweg gemacht, um euch hier hallo zu sagen.«

Inge blickte sich um, da war niemand. Sie kämpfte ihre Enttäuschung herunter, dann realisierte sie erst richtig, dass es wirklich Hannes war, der plötzlich hereingeschneit kam.

Er schmiss, ganz wie gewohnt, seinen Rucksack in eine Ecke, ein altes Ritual.

»Und wie ich mich freue, mein Junge«, rief Inge, und das tat sie wirklich. »Warum hast du deinen Besuch nicht angekündigt, ich hätte mich darauf vorbereitet, dein Lieblingsessen für dich gekocht.«

Er grinste.

»Mama, alles was du kochst ist eine Offenbarung, und ich habe mich nicht gemeldet, weil alles plötzlich kam. Für ›Sundance‹ soll es eine neue Version geben, und auch dafür soll ich wieder das Aushängeschild sein, und sie haben einen Fotografen verpflichtet, der weltweit arbeitet und nur für ein paar Tage Zeit hat.«

Er wollte mehr erzählen, doch da kam Luna aus irgendeiner Ecke gerannt, sie begrüßte Hannes, den sie sehr mochte. Doch als er sie hingebungsvoll streicheln wollte, befreite Luna sich, rannte zur Tür, begann daran zu kratzen.

Das tat sie sonst nie, schon gar nicht, wenn da jemand war, von dem sie Streicheleinheiten bekam.

Luna war außer sich, sie kratzte, sie winselte.

Hannes lief zur Tür, öffnete sie und ließ die weiße Labradorhündin hinaus.

Als Inge zur Tür gehen wollte, um nachzusehen, was das zu bedeuten hatte, hielt Hannes seine Mutter zurück.

»Wahrscheinlich will sie zu den Großeltern, weil es da immer ein Leckerli für sie gibt«, bemerkte er leichthin. »Ich hätte jetzt Lust auf einen Kaffee, und so weit ich mich erinnere, bist du auch die allerbeste Kaffeeköchin der Welt, und du hast ja auch vielleicht ein leckeres Stück Kuchen oder einige von den köstlichen Keksen, die niemand so backen kann wie du.«

Alles war ein wenig komisch.

Hannes wollte sie ablenken, und auch wenn Luna nebenan verwöhnt wurde, dann lief sie niemals weg, wenn jemand sie streicheln wollte.

Da stimmte etwas nicht!

Das musste sie jetzt überprüfen.

Sie ging an Hannes vorbei zur Tür, riss sie auf, und dann stockte ihr der Atem.

Auf der Auffahrt kniete Pam, umarmte Luna, die sich vor lauter Freude überhaupt nicht einkriegen konnte.

Es war ein rührendes Bild, Luna hatte Pam nicht vergessen, die sie nach dem Tod des Collies Jonny aus dem Tierheim geholt hatte.

Obwohl so viel Zeit vergangen war, waren sie wieder ein Herz und eine Seele.

Es war ein berührender Anblick, doch das war es nicht, was Inge beinahe den Boden unter den Füßen wegriss.

Der liebe Gott hatte ihre Gebete erhört!

Ein Traum war in Erfüllung gegangen.

Inge war überwältigt, sie konnte es kaum glauben, ihre Gedanken wirbelten durcheinander.

Ihre Jüngste war wieder zu Hause!

Mit Tränen in den Augen blickte Inge zu Pamela. Wie groß sie geworden war, und wie wunderschön. So richtig erwachsen!

Ja, das war kein Bambi mehr, und spätestens jetzt hätten sie damit aufhören müssen.

Sie konnte sich nicht verstehen, wenn das jetzt ihre Sorgen waren, banaler ging es ja wohl nicht.

Hannes war neben seine Mutter getreten, legte einen Arm um ihre Schultern. Er lachte: »Es hätte alles anders kommen sollen, aber Luna hat uns da einen Strich durch die Rechnung gemacht. Schon verrückt, sie hat Pam durch alles hindurch gerochen. Und du komm jetzt erst mal herunter, Mama, sonst bekommst du noch einen Herzinfarkt, du bist ja vollkommen aufgelöst. Alles ist gut. Gleich wird viel zu erzählen sein, doch eines kann ich dir jetzt schon sagen, Pam ist nach Hause zurückgekehrt, obwohl sie in Australien ein großartiges Leben hatte, hatte sie immer Heimweh nach dem verträumten Sonnenwinkel. Das vorab, sie kann dir gleich alles selbst erzählen, wenn sie und Luna sich hinreichend begrüßt haben. Ich denke, ich gehe jetzt erst mal selbst in die Küche und kümmere mich um meinen Kaffee, den brauche ich jetzt nämlich wirklich.«

Er trollte sich, und Inge war noch immer wie gelähmt, es war alles so unwirklich, sie hatte Angst, aus einem wunderschönen Traum zu erwachen.

Es war kein Traum, das merkte sie spätestens dann, als Pamela sich erhob. Sie schob die sich wie verrückt vor Freude gebärdende Luna beiseite, dann näherte sie sich ganz langsam ihrer Mutter.

Das war für Inge ein Signal, sie hielt es nicht länger aus, rannte die Eingangsstufen hinunter, und dann lagen sie sich in den Armen und umklammerten sich wie zwei Ertrinkende.

Es war, als habe es niemals eine Trennung gegeben, niemals böse Worte, niemals ein langes, verzehrendes Schweigen.

Alles war wie weggewischt.

Sie hielten sich umklammert, weinten, sagten nichts. Doch es gab auch überhaupt keine Worte für das, was sich da gerade abspielte.

Ihre Herzen, die fanden den richtigen Weg.

Sie verloren das Gefühl für Zeit und Raum.

Es war Hannes, der irgendwann sagte: »Darf ich bitten, der Kaffee ist fertig. Außerdem finde ich, müsst ihr nicht ein Schauspiel für Neugierige bieten. Nicht, dass die euch gleich noch applaudieren.«

Inge und Pamela lösten sich voneinander. Es ging die Leute wirklich nichts an, was sich da gerade bei den Auerbachs abspielte.

Außerdem … hatte Hannes da nicht gerade von Kaffee gesprochen? Den brauchte Inge in allen Lebenslagen, und wenn das jetzt nicht der rechte Augenblick dafür war.

Sie nahm Pamelas Hand, und so gingen sie ins Haus hinein. Hannes grinste, blickte seine kleine Schwester an. »Habe ich dir nicht gesagt, dass alles ganz einfach ist? Ich kenne doch meine Eltern. Apropos Eltern, wo ist eigentlich Papa? In seinem Arbeitszimmer?«

»Nein, obwohl er das Gegenteil versprochen hat, ist er schon wieder überall und nirgends. Er kann es nicht lassen. Und ich habe es mittlerweile aufgegeben, darauf zu hoffen, dass Papa irgendwann einmal kürzertreten wird und endlich mehr Zeit mit mir verbringt. Aber das hat er jetzt davon, er hat diesen wundervollen Augenblick verpasst.«

Inge blickte verzückt ihre Jüngste an. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass sie wieder daheim war, und sie konnte sich an ihr nicht sattsehen, weil sie so wunderschön war.

»Du bleibst doch, oder?«

Hannes hatte es ihr zwar zugeflüstert, doch Inge wollte es lieber aus Pamelas Mund hören.

Pamela lächelte, und Inge hatte das Gefühl, die Sonne ginge auf. Wie sehr sie dieses schöne, warme Lächeln vermisst hatte.

»Ja, Mama. Ich bleibe. Der Sonnenwinkel ist das aller-, allerschönste Fleckchen Erde auf der ganzen Welt. Ich möchte hier niemals mehr weggehen. Nicht aus dem Sonnenwinkel, niemals von euch. Ich hatte großes Heimweh, und ich habe euch so sehr vermisst. Es war töricht von mir abzuhauen. Doch man ist erst immer hinterher schlauer.«

Sie strahlte ihre Mutter an.

»Welch ein Glück, dass du mir diesen Brief geschrieben hast. Ach, Mama, er ist schon ganz zerknittert, weil ich ihn immer wieder lesen musste.«

Inge hatte verräterische Tränenspuren in ihren Augen, und wer weiß, wie es weitergegangen wäre, hätte Hannes sich nicht eingemischt.

»Wenn ich wieder weg bin, dann habt ihr Zeit, miteinander zu reden, miteinander zu lachen, zu weinen. Was auch immer, im Augenblick möchte ich auf jeden Fall gern mit euch Kaffee trinken. Und Mama, es ist dir doch recht, dass ich den Kuchen angeschnitten habe, der zum Abkühlen auf der Fensterbank stand, oder? Ich liebe Streusel-Apfel-Kuchen. Unbewusst hast du ja doch etwas für mich getan.«

Er strahlte seine Mutter an, und Inge wurde das Herz weit. Hannes war ein Sonnenschein, und er war so herrlich unkompliziert.

Auch wenn es ein ganz besonderer Augenblick war, beinahe so wie Weihnachten, hatte Hannes nicht im Wohnzimmer den Tisch gedeckt, sondern in der Küche. Die war groß, gemütlich, und in ihr stand ein herrlicher alter großer Tisch. Dieser Tisch war der Lebensmittelpunkt der Auerbachs, an ihm wurde gegessen, getrunken, gespielt, diskutiert. Es wurde gelacht und geweint. Hier hatten die Kinder auch schon mal ihre Hausaufgaben gemacht, während ihre Mutter kochte. Hier hatte Inge von einer schlechten Schulnote erfahren, von einer guten Schulnote und von dem Zoff mit der allerbesten Freundin oder dem allerbesten Freund. Es waren schöne Zeiten gewesen, die Inge vermisste und die sie manchmal wehmutsvoll werden ließen.

Aber es stimmte wirklich – alles hatte seine Zeit.

Sie setzten sich. Jeder von ihnen hatte seinen angestammten Platz, und niemand käme auf den Gedanken, den jetzt zu wechseln, weil die Zeiten sich geändert hatten.

Inge trank erst einmal etwas von ihrem Kaffee, und als sie zur Kuchengabel griff, um etwas von dem Kuchen zu essen, da war Hannes bereits bei seinem zweiten Stück.

Es war schön, ihm zuzusehen, wie er voller Behagen aß, und man konnte sich nur wundern, dass er so schlank war. Doch das kam vermutlich von dem vielen Sport, den er mit Leidenschaft betrieb. Außerdem hatte er die Statur seines Großvaters geerbt. Magnus von Roth konnte auch essen was er wollte, ohne zuzunehmen.

Ihre Eltern …

Die wussten ja noch überhaupt nichts von dem, was sie gerade ereignet hatte.

Noch während Inge überlegte, ob sie ihre Eltern nicht rasch anrufen sollte, ertönte die triumphierende Stimme ihrer Mutter: »Magnus, ich habe mich nicht getäuscht, es ist Hannes.«

Sie stand im Türrahmen, schaute, dann rief sie verdattert: »Aber das glaube ich jetzt nicht …«

Sie war unfähig, ihren Satz zu beenden, sie starrte ihre jüngste Enkelin an wie einen Geist, der sich jeden Moment in Luft auflösen konnte.

Magnus von Roth schob seine Frau beiseite, und dann glaubte auch er nicht, was er da sah … Seine beiden jüngsten Enkelkinder, mit denen er hier im Sonnenwinkel die meiste Zeit verbracht hatte.

Pamela sprang auf, lief jubelnd auf ihre Großeltern zu, umarmte sie abwechselnd, lachte, schluchzte.

»Omi … Opi …, ich bin wieder da, und ich gehe niemals mehr weg. Ich habe euch ja so vermisst.«

Luna bellte dazwischen, war außer Rand und Band.

Es war ein ganz schönes Durcheinander, das Hannes noch vergrößerte: »Hey, ich bin auch noch da«, rief er, dann ließ er sich die Umarmungen seiner Großeltern gefallen, er erwiderte sie sogar, obwohl das nicht cool war.

*

Es war eine fröhliche Kaffeerunde, und Teresa von Roth opferte von Herzen den Kuchen, den ihre Tochter für sie gebacken hatte.

Welch wundervoller Tag!

Nicht nur Luna war außer Rand und Band. Inge Auerbach und ihre Eltern waren es ebenfalls. Wie sehr hatten sie sich das, was gerade geschah, herbeigesehnt. Welche Möglichkeiten hatten sie nicht durchgespielt. Die von Roths waren sogar bereit gewesen, ins ferne Australien zu fliegen, um den Familienfrieden wieder herzustellen.

Und nun schien alles auf einmal so einfach. Sie lachten und unterhielten sich, als sei nichts geschehen. Es war kaum zu glauben.

Pamela war wieder daheim!

Und Hannes, der Weltenbummler, saß wahrhaftig mit am Tisch.

Natürlich standen sie mit Hannes in enger Verbindung. Zum Glück gab es genug Möglichkeiten, über Kontinente hinweg zu kommunizieren, als sei man mit jemandem in Kontakt, der gerade mal um die Ecke wohnte.

Es war schon etwas anderes, wenn man den Menschen, den man liebte, persönlich vor sich hatte.

Insgeheim gratulierten die von Roths sich wieder einmal, dass sie so dicht bei ihrer Tochter wohnten. Sie waren immer dabei, sonst hätten sie diesen wundervollen Moment verpasst.

Es gab ja so viel zu erzählen, und sie waren mitten drin, als eine Stimme erklang: »Hallo, mein Schatz, ich bin wieder zu Hause. Der letzte Vortrag ist ausgefallen.«

Es war Werner Auerbach, der umtriebige Professor, der nicht glauben konnte, was er da sah. Natürlich seine Frau Inge, die er anzutreffen glaubte. Seine Schwiegereltern waren auch hier und da anwesend, wenn er heimkam. Aber jetzt auch noch seinen Sohn Hannes zu sehen und Pamela …

Werner Auerbach blieb mitten im Raum stehen.

Er, der gewandte Redner, der ganze Säle begeistern konnte, war sprachlos.

Pamela sprang auf, rannte auf ihren Vater zu, fiel ihm in die Arme.

»Papi, Papi«, quietschte sie, und Luna bellte begeistert. Sie war ein Familienhund, und das hier war so ganz nach ihrem Geschmack.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe der Professor sich von seiner Überraschung erholt hatte und ehe er auch seinen Sohn begrüßen konnte.

Wenig später saßen sie vereint am Tisch, Werner Auerbach ließ sich Kaffee und Kuchen schmecken, und dann ging die Erzählerei von vorne los.

Irgendwann konnte der Professor es sich nicht verkneifen, seinen Sohn anzusehen und ihn zu fragen: »Nun, Hannes, ist das jetzt nicht der Augenblick, ebenfalls nach Hause zu kommen und endlich mit dem Studium zu beginnen?«

Das hätte jetzt wirklich nicht kommen müssen, aber so war er nun mal, der Werner Auerbach. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass sein Jüngster studieren müsse, was bei einem Ein­serabitur einfach dazugehörte.

Hannes verdrehte die Augen, Inge warf ihrem Mann einen bösen Blick zu, natürlich würde auch sie es freuen, wenn ihr Sohn eine akademische Laufbahn einschlagen würde. Aber das Thema musste doch nicht jetzt aufgegriffen werden.

Nachdem Hannes genüsslich etwas von seinem dritten Stück Kuchen gegessen hatte, wandte er sich an seinen Vater: »Papa, das kannst du begraben, ich werde nicht studieren. Ich bin mit dem Leben, das ich führe, sehr glücklich.«

»Noch, mein Sohn«, sagte der Professor, »du bist jung und abenteuerlustig, glaubst, die Welt aus den Angeln heben zu können. Wie soll es denn später aussehen? Willst du als älterer Herr auf einem Surfbrett stehen, wenn dich Arthritis und Rheuma plagen? Und hast du dir mal Gedanken über deine Altersversorgung gemacht? Das Alter ist etwas, was niemand umgehen kann, es kommt auf jeden zu, und es geraten immer mehr Menschen in die Altersarmut. Viele unverschuldet, du aber provozierst es, und wenn …«

Inge unterbrach ihren Mann. »Werner, kannst du jetzt bitte davon aufhören.«

Ehe es zu einem Eklat kam, sagte Hannes: »Papa, ich stehe nicht nur auf einem Surfbrett herum, ich habe an der Entwicklung der zweiten Version entscheidend mitgearbeitet, und ich habe ein Patent entwickelt, das weltweit geschützt ist. Es gibt nicht nur schwarz und weiß, lieber Papa. Und ich denke, um mich musst du dir keine Sorgen machen. Ich verdiene sehr viel Geld, auch durch die Vermarktung meiner Person, und ich lege eine Menge für mein Alter zurück. Mein Kumpel Steve und ich sind gleichberechtigte Partner, auf dem riesigen Grundstück, das zur Surf- und Tauchschule gehört, bauen wir gerade ein Gesundheitszentrum. Steve lässt sich zum Physiotherapeuten ausbilden, und …«

Werner Auerbach konnte es nicht lassen.

»Der tut immerhin etwas Ordentliches.«

Hannes ignorierte den Einwand seines Vaters.

»Ich werde auf jeden Fall in Australien bleiben«, sagte er. »Da bin ich mir sicher.«

Pamela kicherte.

»Hannes ist verliebt, Joy surft wie eine Weltmeisterin und taucht wie eine Nixe.«

Ehe sein Vater wieder eine unangemessene Bemerkung machen konnte, ergänzte Hannes: »Zu deiner Beruhigung, Papa, Joy ist keine Wilde, sie studiert Medizin.«

Werner Auerbach wollte etwas dazu sagen, doch er fing einen warnenden Blick seiner Frau auf und schwieg.

»Joy ist eine Frau, die ich sehr gern mag, aber es steht in den Sternen, ob aus uns mal ein richtiges Paar wird. Wir sind noch so jung, es wird sich zeigen. Joy findet übrigens ganz toll, was ich da so mache.«

Der Professor hätte dazu wieder etwas sagen können, doch er hielt sich zurück. Also aß auch er ein zweites Stück Kuchen, und dann begann er zu erzählen, was er auf seinem Kongress erlebt hatte. Das interessierte nicht wirklich jemanden, doch sie alle hörten höflich zu. Es war auf jeden Fall besser, das Gespräch in ungefährlichere Bahnen zu lenken.

*

Immer, wenn es besonders schön ist, scheint die Zeit zu verfliegen. Hannes war kaum angekommen, als er schon wieder abreisen musste. Das erfüllte Inge mit Wehmut, aber zum Glück blieb Pamela, das tröstete sie über einiges hinweg.

Und wenn Hannes sein Leben in Australien sah, dann musste sie sich damit abfinden. Jörg und Familie lebten mittlerweile schließlich auch in Stockholm, und es war kein wirklicher Trost zu wissen, dass Schweden längst nicht so weit entfernt war wie Australien.

Sie hatte Glück gehabt, Jörg und seine Familie so lange in ihrer Nähe zu haben. Das war nicht selbstverständlich, und sie hatte lernen müssen loszulassen.

Aber es war schon bitter, dass Hannes ausgerechnet Australien als seinen Lebensmittelpunkt ausgesucht hatte.

Sie blickte ihn wehmutsvoll an, als sie ihm das Essen auf den Tisch stellte, das er sich gewünscht hatte. Schweinebraten mit Klößen und Sauerkraut. Früher hätte er das Gesicht verzogen, wenn sie ihm so etwas vorgesetzt hätte. Doch wenn man an Orten lebte, wo es so etwas nicht gab, dann änderten sich die Wünsche.

Hannes bedankte sich, dann blickte er seine Mutter an.

»Was ist los, Mama?«

Inge riss sich zusammen. Es war schön gewesen, sie hatten die Zeit genossen, sogar Ricky war gekommen, um ihren Bruder zu sehen und um natürlich die Heimkehr von Pamela zu feiern. Die war hinauf zu ihrem Freund Manuel gefahren, und Inge hatte es nicht übers Herz gebracht, ihrer Tochter zu erzählen, dass sich da ebenfalls einiges ändern würde. Sie hatte wieder mal den Kopf in den Sand gesteckt, dabei hätte sie doch aus Erfahrung klug sein müssen.

Dass Pam allerdings geflohen war, dass die Großeltern sich bereits verabschiedet hatten, das konnte Inge verstehen. Bei den Abschieden war es immer am schlimmsten, wenn das Gepäck ergriffen wurde und das Auto vorgefahren kam.

Und Werner hatte wieder wie gewohnt einen Termin.

Inge genoss den letzten Moment mit ihrem Sohn, auch wenn ihr Herz dabei schwer war.

»Ach, Hannes, es macht mich ein wenig traurig, dass du schon wieder gehen musst. Du erfüllst das Haus mit Leben. Außerdem habe ich dir noch nicht dafür gedankt, dass du mir unsere Kleine zurückgebracht hast, und …«

Hannes unterbrach seine Mutter.

»Mama, das hat dein Brief gemacht.«

»Ja, aber du hast sie in der schlimmsten Krise mit nach Australien genommen, du hast dich um Pamela gekümmert, und sie ist ein ganz prachtvolles Mädchen geworden.«

Hannes lächelte.

»Das ist sie, und im Leben ist immer alles für etwas gut. Die Zeit hat viel gebracht, sie ist erwachsener und selbstständiger geworden, und es kann nie schaden, mal über den Gartenzaun zu sehen. Australien hat sie geprägt, und das ist gut so, du hast sie in Watte gepackt, und bitte, Mama, fang nicht wieder damit an. Pam ist ein großes Mädchen geworden, sie hat keine Angst vor Schlangen und Koyoten, und sie war eine ganz hervorragende Schülerin. Mrs Brewster, die Schulleiterin, hat geweint und unsere Pam nur schweren Herzens gehen lassen.«

Inge hätte gern noch so vieles gesagt, doch die Zeit reichte nicht, also ließ sie Hannes erst einmal essen, dann kochte sie ihm noch einen Kaffee, den sie jetzt ebenfalls brauchte, und dann war der Augenblick des Abschieds gekommen.

Mutter und Sohn umarmten sich, natürlich brachte Inge ihn zur Tür, und sie winkte dem Auto nach, bis nichts mehr davon zu sehen war.

Es war vorbei.

Hannes war hier durchgeweht wie der Wind durch die Linde, und auch wenn sie vernünftig sein wollte, wenn sie wusste, dass sie sich um ihn keine Sorgen machen musste, wurde ihr das Herz ganz schwer.

Er würde in Australien bleiben. Das hatte er unmissverständlich zu verstehen gegeben. Er würde heiraten, irgendwann Kinder bekommen, und sie würde ihre Enkelkinder nicht aufwachsen sehen können. Die würden nur wissen, dass es da irgendwo in Deutschland Großeltern gab.

Solche Gedanken zerrissen Inge beinahe das Herz, und sie musste sich alle Mühe geben, sich da nicht noch mehr hineinzusteigern.

Nichts war für die Ewigkeit bestimmt.

Hannes war noch so jung, und es konnte sich noch so vieles ändern, und sie befand sich bereits in einer Endzeitstimmung.

Man konnte auch nicht alles haben.

Pamela war wieder daheim, und dafür musste sie froh und dankbar sein. Und das war sie, das war sie wirklich …

*

Es war ja ihr eigener Wunsch gewesen, wieder nach Deutschland zurückzukehren, und sie war auch glücklich. Sie hätte allerdings nicht für möglich gehalten, dass ihr der Abschied von Hannes so schwerfallen würde. Es hatte sie so traurig gemacht, und sie hätte es nicht bis zum Ende ausgehalten, und deswegen war sie froh, jetzt hinauf zu ihrem Freund Manuel radeln zu können. Der wusste noch nichts von ihrer Heimkehr, und der würde Augen machen.

Pamela freute sich so sehr, den Gefährten ihrer glücklichen Kindheit zu treffen, und sie hoffte sehr, da wieder anknüpfen zu können, wie es aufgehört hatte, als sie überstürzt die Heimat verlassen hatte.

Sie waren in Verbindung geblieben, doch die Entfernung war einfach zu groß gewesen, und es hatte ihrer Freundschaft geschadet, die gegenseitigen Nachrichten waren immer spärlicher geworden.

Aber jetzt war sie ja wieder da, und nun wurde alles gut.

Pamela blieb stehen, wischte sich energisch die Tränen weg, die sie wegen Hannes geweint hatte. Sie konnte Manuel nicht wie eine Heulsuse gegenübertreten. Dann atmete sie tief durch, danach war sie bereit, zu ihrem alten Freund zu gehen und konnte nur hoffen, dass er daheim war.

Sie fühlte sich aufgeregt, als sie das Haus erblickte, in dem sie so schöne Zeiten verbracht hatte, und dann kam auch schon das Herrenhaus in Sicht, und die Felsenburg, die sie in Australien bis in ihre Träume verfolgt hatte, thronte eh über allem. Sie war noch viel, viel beeindruckender und geheimnisvoller, als Pamela sie in Erinnerung hatte.

Ja, jetzt war sie wirklich daheim angekommen, ohne die Ruine ging überhaupt nichts, und bei der hatte ihre Freundschaft zu Manuel auch so richtig begonnen.

Pamela wollte in Erinnerungen versinken, als sich am Haus der Münsters etwas tat.

Das Garagentor ging auf, und Manuel schob sein Fahrrad heraus. Zum Glück war er daheim. Pamela merkte, wie ihr Herz zu klopfen begann, er hatte sich ganz schön verändert und war so richtig erwachsen geworden.

Manuel wollte sich auf sein Fahrrad schwingen, als er sie erblickte. Er stutzte, dann warf er sein Fahrrad hin und kam mit langen Schritten auf sie zugelaufen.

»Ich glaube, ich spinne«, schrie er. »Mensch, das gibt es doch nicht.«

Auch sie hatte ihr Fahrrad hingeworfen, sie standen sich gegenüber. In dem Alter war man scheu, umarmte man sich nicht, wie es Erwachsene taten oder zwei Freundinnen, die fielen sich bei allen nur möglichen Gelegenheiten um den Hals. Ab einem gewissen Alter gingen ein Mädchen und ein Junge behutsam miteinander um. Auch wenn sie Freunde waren.

Manuel wollte wissen, seit wann sie wieder daheim war, und er bedauerte zutiefst, Hannes nicht gesehen zu haben, den er seit frühester Kindheit bewunderte.

Die Münsters waren nicht daheim, und auch das Herrenhaus wirkte wie ausgestorben.

»Komm rein«, rief Manuel, »und dann musst du mir alles erzählen. Bleibst du jetzt für immer?«

Sie betraten das Haus, setzten sich, Manuel holte Limonade und Kekse. Es war wie immer, fast schien es, als habe es die lange Zeit der Trennung nie gegeben. Und doch war etwas anders. Es lag etwas in der Luft, zumindest empfand Pamela es so, ganz besonders, nachdem sie noch einmal beteuert hatte, wie froh sie doch sei, wieder daheim zu sein und dass jetzt alles wieder so werden könne wie früher.

Warum guckte Manuel so komisch?

Pamela kam ein furchtbarer Verdacht. Sie wusste von dieser Leonie, die in den Sonnenwinkel gezogen war und mit der Manuel viel Zeit verbrachte.

Hatte dieses Mädchen ihren Platz eingenommen?

Das musste sie jetzt wissen.

»Manuel, bist du jetzt lieber mit dieser Leonie zusammen?«, erkundigte sie sich.

Zum Glück winkte er ab, aber so richtig freuen konnte Pamela sich nicht.

»Die wohnt überhaupt nicht mehr hier, sondern in der Schweiz, und sie heißt auch nicht Leonie, sondern Claire, und die ist bei einer Frau aufgewachsen, die überhaupt nicht ihre Mutter war, man hat sie als Baby geklaut, und das ist erst jetzt herausgekommen. Das ist voll krass, oder?«

Was redete er da?

Wollte er sie mit dieser Geschichte beeindrucken?

»Manuel, das finde ich nicht komisch. Warum erzählst du mir eine so abenteuerliche Geschichte?«

Er begann zu lachen, klar, wenn man das nicht erlebt hatte, musste man auf solche Gedanken kommen.

»Sorry, es stimmt wirklich«, sagte er, und dann erzählte er seiner Jugendfreundin die ganze Geschichte. Und auch wenn es für dieses Mädchen schrecklich gewesen sein musste zu erfahren, dass die Mutter nicht wirklich die Mutter war, so atmete Pamela doch insgeheim erleichtert auf.

Die Konkurrentin war weg!

Sie war nicht böse darum.

Sie heuchelte ein wenig Mitleid, dann sagte sie: »Dann kann es für uns ja wieder so werden wie damals, ehe ich nach Aus­tralien ging.«

Warum antwortete er nicht sofort, sondern trank Limo, aß Kekse, um Zeit zu gewinnen.

Pamela beschlich ein ungutes Gefühl, und dann ließ er die Bombe platzen, die ihr beinahe den Boden unter den Füßen wegzog.

»Ich …, äh …, wir …, nun, das hier oben ist alles verkauft, und wir werden nach Amerika gehen …, genauer gesagt nach Arizona.«

Sie konnte nicht glauben, was er da sagte.

»Manuel, wie soll das denn gehen, ihr habt hier die Fabrik, und ihr …, ihr gehört doch hierher.«

»Wie gesagt, es ist alles verkauft, und die Fabrik ebenfalls. Papa hat in Amerika geerbt, und dort fangen wir ein neues Leben an, alle.«

Darauf konnte Pamela erst einmal nichts sagen.

Manuel, das Anwesen hier oben, das gehörte zusammen, und wie es die Felsenburg seit gefühlten Ewigkeiten gab, war auch der Platz der Münsters, von Frau von Rieding und von Carlo Heimberg hier und nicht anderswo.

Das, was Manuel da gerade gesagt hatte, das konnte nicht sein!

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und damit konnte Manuel nicht umgehen.

»Pam, unsere gemeinsame Zeit wäre eh irgendwann einmal zu Ende gewesen. Nach dem Abitur wäre ich weggegangen, vermutlich ins Ausland. Darüber habe ich immer geredet.«

»Und die Fabrik, die ist doch seit Generationen im Familienbesitz?«

»Bitte erinnere dich, mein Vater wollte nie, dass ich sein Nachfolger werde, er wollte, dass ich meinen Weg gehe, und der hätte mich niemals in die Fabrik geführt …, weißt du, es ist schade, dass wir gerade jetzt gehen. Wir hätten noch eine schöne Zeit miteinander verbringen können. Aber, wie gesagt, irgendwann wäre eh alles vorbei gewesen. Hier ist viel passiert, und jetzt freuen wir uns alle auf unser neues Leben in Amerika.« Er blickte sie an. »Du kannst uns ja mal besuchen.«

Pamela wusste, dass das nicht so dahergesagt war, aber daran konnte sie sich jetzt nicht hochziehen. Manuel gehörte doch zu ihrem Leben!

Sie hatte sich ihre Rückkehr wahrhaftig anders vorgestellt! Sie blickte ihn beinahe anklagend an, und das wollte er nicht auf sich sitzen lassen.

»Als du nach Australien gegangen bist, da hast du auch nicht gefragt, wie es mir dabei geht. Du hast es überlebt, ich habe es überlebt. Und jetzt ist es halt umgekehrt. Da verlasse ich das alles hier.«

»Aber ich bin wiedergekommen, und du hast gesagt, dass alles verkauft ist.«

Solche Gespräche fand Manuel nicht gut, er hatte Angst, dass sie so richtig in Tränen ausbrechen würde. Sie stand dicht davor, und das musste er um jeden Preis verhindern.

»Was ist, sollen wir, ganz wie in alten Zeiten, mit dem Fahrrad eine Runde um den See drehen?«, schlug er vor.

Zu jeder Zeit hätte Pamela freudig zugestimmt, aber jetzt ging das überhaupt nicht. Mit diesen Neuigkeiten musste sie erst einmal fertig werden. Sie blickte Manuel an, und da wusste sie, dass er das Gespräch nicht mehr fortsetzen wollte. Er war halt ein Junge.

»Ein andermal«, sagte sie, »ich fahr dann erst mal wieder nach Hause.«

»Ich komme mit, ich muss eh an eurem Haus vorbei«, rief er.

Sie wäre jetzt zwar am liebsten allein gewesen, aber sie wollte nicht zickig erscheinen. Also nickte sie. Sie trank den Rest ihrer Limo aus, stopfte sich einen Keks in den Mund, das ging immer, dann verließen sie gemeinsam das Haus, das mittlerweile einem Fremden gehörte.

Es zerriss ihr beinahe das Herz, doch sie durfte sich vor Manuel nichts anmerken lassen.

Sie gingen zu ihren Fahrrädern, fuhren den Hügel hinunter, und jetzt hätte Pamela beinahe gelächelt.

Es war wie früher. Manuel ließ sie absichtlich gewinnen, dabei war er der viel bessere Radfahrer. Es war schön zu wissen, dass sich wenigstens da nichts verändert hatte. Doch Pamela würde lieber jedes Wettfahren verlieren statt Manuel.

Als sie unten an der Auerbachschen Villa ankamen, schoss ihnen Luna entgegen. Sie sprang freudig bellend und winselnd an Pamela hoch.

Wenigstens Luna würde ihr bleiben, dachte Pamela wehmutsvoll und begann die weiße Labradorhündin hingebungsvoll zu streicheln, zu kraulen.

Manuel sah sich das einen Augenblick an, dann fasste er einen Entschluss. »Ich bin dann mal weg«, rief er. Ihm war anzumerken, wie erleichtert er war, nicht weiter diskutieren zu müssen. »Man sieht sich.«

Er radelte los, und Pamela sah ein wenig wehmutsvoll hinter ihm her.

Wie oft würde sie ihn wohl noch sehen?

Sie hatte vollkommen vergessen, Manuel zu fragen, wann die große Reise in das neue Leben losgehen würde.

Inge kam vom hinteren Teil des Gartens nach vorne gelaufen, um nach Luna zu sehen. Sie erblickte ihre Tochter und den Hund, und sie sah gerade noch, wie Manuel Münster davonradelte.

Pamela musste nichts sagen, ihr war anzusehen, dass sie Bescheid wusste. Manuel hatte es ihr erzählt, und nun musste die Ärmste mit dieser Wahrheit fertigwerden.

Arme Pamela!

Wie gern hätte sie ihr diesen Kummer abgenommen. Es ging nicht, da musste sie allein durch!

Inge lief auf ihre Tochter zu, nahm sie in die Arme, drückte sie.

Jetzt begann Pamela zu schluchzen.

»Ach, Mami, es ist ja so furchtbar. Da oben haben sie alles verkauft an einen Fremden, und nicht nur Manuel geht weg, nein, sie gehen alle weg. Aber das kann doch nicht sein, das dürfen sie nicht.«

Inge streichelte ihre Tochter, strich ihr sanft übers Haar. Was sollte sie jetzt sagen?

Es gab Situationen im Leben, da fand man keine Worte. Sie konnte Pamela nur zeigen, dass sie immer für sie da sein würde, dass sie sie über alles liebte.

Eine ganze Weile standen Mutter und Tochter eng umschlungen da, es war Luna, die sich schließlich bellend beschwerte. Sie war schließlich auch noch da.

*

Inge kehrte ein wenig das Laub zusammen, das jetzt immer stärker von den Bäumen fiel.

Der Sommer war endgültig vorbei, man konnte froh sein um jeden schönen Tag.

Früher hatte Inge den Herbst und den Winter gemocht, je älter sie wurde, umso mehr liebte sie den Sommer. Früher hatte sie auch immer davon geträumt, mit ihrem Werner irgendwo im Süden zu überwintern, wenn die Kinder erst einmal aus dem Haus waren.

Inge ahnte, dass es dazu nicht kommen würde, weil Werner einfach zu umtriebig war und von seiner Arbeit nicht lassen konnte.

Sie brachte gerade das zusammengekehrte Laub zur Biotonne, als rasant ein Auto vorfuhr, vor der Villa hielt. Rosmarie Rückert!

Eigentlich hätte Inge jetzt lieber im Garten weitergearbeitet, doch was sollte es, die Arbeit lief ihr nicht davon, und leider würden die Heinzelmännchen nicht kommen, um sie zu vollenden.

Sie wischte ihre Hand an ihrer Gärtnerschürze ab, dann ging sie Rosmarie entgegen. Das Verhältnis zwischen ihnen hatte sich sehr verändert, und eigentlich mochte Inge die Schwiegermutter ihrer Kinder mittlerweile sogar.

»Hallo, Inge«, rief Rosmarie, stieg aus dem Auto, kam auf Inge zu. »Ich möchte dich nicht stören, aber ich war bei der Frau Doktor zur Blutabnahme, und da dachte ich, dass ich dir mal kurz Hallo sagen könnte.«

»Eine gute Idee, Rosmarie. Und da du ja noch nichts gegessen und getrunken hast, komm rein. Ich koche uns einen Kaffee, und du musst unbedingt das Brot probieren, das ich gebacken habe.«

So war sie, die Inge Auerbach, immer freundlich, auch wenn man sie störte bei der Arbeit, und das hatte sie jetzt getan. Und Rosmarie bewunderte sie auch für ihre Koch- und Backkünste. Inge war schon eine besondere Frau, und Rosmarie war froh, dass sie Inge nicht mehr glühend beneidete, sondern dass sie froh war, dass sie mittlerweile sogar so etwas wie Freundinnen waren. Wie oft hatte sie sich schon bei Inge ausgeweint.

Sie gingen miteinander ins Haus, und wenig später stand der Kaffee vor ihnen, und Rosmarie aß mit Behagen ein Leberwurstbrot.

»Köstlich«, rief sie, »nicht nur das Brot, auch die Leberwurst schmeckt.«

Inge erzählte ihrer Besucherin, wo sie die gekauft hatte, und Rosmarie wechselte dann das Thema. Deswegen war sie nämlich auch hergekommen.

»Fabian hat mir erzählt, dass eure Jüngste wieder daheim ist, dass Hannes sie gebracht hat. Ich bin auch hier, um beide zu begrüßen.«

Inge lachte.

»Da bist du zu spät, meine Liebe. Hannes war nur zu einer Stippvisite hier und ist längst wieder abgereist, und Pamela macht mit meinen Eltern einen Ausflug, sie wollen sich etwas ansehen.«

»Pamela …«, rief Rosmarie, nachdem sie sich von ihrer Enttäuschung erholt hatte, »du nennst sie immer noch so, will sie noch immer nicht Bambi genannt werden?«

»Darüber haben wir nicht mehr gesprochen, und ich denke, es ist gut so, sie bei dem Namen zu nennen, den ihre leiblichen Eltern ihr gegeben haben. Du erkennst sie nicht wieder, sie ist ja so erwachsen geworden und so wunderschön. Nein, sie ist kein Bambi mehr, wirklich nicht.«

Rosmarie seufzte. »Davor habe ich auch Angst, irgendwann meine Enkel nicht mehr wiederzuerkennen. Ich war zwar leider niemals eine gute Mutter, und als Großmutter habe ich mir auch keine Lorbeeren verdient. Aber hier und da habe ich Stella und die Kinder ja doch gesehen.«

Sie trank etwas von ihrem Kaffee. »Stell dir vor, Inge, ich war neulich vor dem Haus, und das war ganz schrecklich. Im Vorgarten haben sie alle möglichen Spielgeräte aufgebaut, und Kinder tobten darauf herum. Es sah schrecklich aus, man hätte das ganze Zeug doch auch hinten auf dem Rasen aufbauen können. Dann wäre der Vorgarten nicht so verschandelt. Und als dann auch noch eine fremde Frau aus der Haustür trat, da konnte ich nicht mehr, da musste ich weglaufen. Dieser Anblick war unerträglich für mich.«

Inge trank etwas von ihrem Kaffee, stellte behutsam ihre Tasse ab. So war sie, die Rosmarie Rückert. Immer schnell dabei mit ihrer Kritik. Aber ihr durfte man nichts sagen, da war sie sofort beleidigt. Doch darüber setzte Inge sich jetzt einfach hinweg. Ihr war es egal, ob Rosmarie jetzt sauer sein würde oder nicht.

»Rosmarie, Stella und Jörg haben ihr Haus an eine Familie mit Kindern verkauft, und die neuen Eigentümer können jetzt tun und lassen was sie wollen. Die Leute werden sich schon etwas dabei gedacht haben, die Spielgeräte ihrer Kinder im Vorgarten aufzustellen. Vielleicht hat die Mutter ihre Kinder da besser im Blick. Jörg hat mir erzählt, dass es ganz reizende Menschen sind, und selbst wenn es nicht so wäre, verkauft ist verkauft. Aber ich kann schon verstehen, dass du ein komisches Gefühl hattest, Fremde in diesem Haus zu sehen. Warum bist du überhaupt hingegangen? Weil du neugierig warst?«

Rosmarie wurde rot, und Inge wusste, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.

Inge hatte wirklich für alles eine Erklärung, und sie kannte sie genau, das musste Rosmarie zugeben. Sie kam sich jetzt mit ihrer Kritik ein wenig lächerlich vor, denn es stimmte ja wirklich, dass die Käufer mit ihrem Haus tun und lassen konnten, was sie wollten.

»Es ist wohl am besten, noch etwas Zeit vergehen zu lassen. Ich werde auf jeden Fall nicht so schnell dorthin gehen. Ich rege mich auch nur auf, wenn ich daran denke, wie unnötig dieser Umzug nach Schweden war. Das geht nicht gut, Stella ist viel zu bodenständig, und sie hängt an ihrem Bruder. Und die Kinder in ein Land zu verpflanzen, dessen Sprache sie nicht sprechen. Ich verstehe das alles nicht. Es ging ihnen doch hier so gut, Jörg hatte einen anständigen Job, und wenn es mal nicht gereicht hätte, dann gibt es ja auch noch immer das Erbe von Tante Finchen.«

Nicht das jetzt wieder, Inge konnte es nicht mehr hören. Seit Stella von der Tante das Geld geerbt hatte, wurde es immer wieder erwähnt. Es fehlte nur noch, dass Rosmarie erwähnte, dass eigentlich ihrem Mann und ihr das Geld zugestanden hätte.

Jetzt, wo ihre Kinder ihren eigenen Weg gingen, spielte Rosmarie plötzlich die besorgte Mutter. Das nahm ihr niemand ab.

Inges Reaktion war ein wenig heftig, als sie sagte: »Rosmarie, deine Tochter hat niemand gezwungen, es stand niemand mit gezückter Pistole vor ihr, damit sie nach Schweden ging. Jörg und Stella haben die Entscheidung gemeinsam getroffen, und sie haben sehr wohl an ihre Kinder gedacht, die sie sehr lieben und denen sie niemals schaden würden. Jörg hat den Traumjob seines Lebens gefunden, du weißt, dass er niemals an Tante Finchens Erbe rangehen würde, und die Kinder, die gehen in eine deutsche Schule, und später werden sie vielleicht auf eine internationale Schule gehen. Das ist offen, und es besteht überhaupt keine Eile, denn die deutsche Schule können sie bis zum Abitur besuchen. Sie haben ein wunderschönes Haus, sie kennen bereits einige Leute, die Kinder haben schon Freunde gefunden. Rosmarie, wir sollten uns mit ihnen freuen, so eine Chance bekommt man wirklich nur einmal im Leben. Und wenn du so willst, ist Schweden direkt vor der Tür. Mein Hannes ist in Australien, und wie es aussieht, wird er dort auch bleiben. Ich habe lange gebraucht zu begreifen, dass Kinder nicht unser Eigentum sind.«

Rosmarie war still, starrte vor sich hin, und dann erkundigte sie sich in die Stille hinein: »Kann ich vielleicht noch ein Leberwurstbrot haben?«

Inge lachte, stand auf.

»Meinetwegen auch zwei, und Kaffee ist auch noch da.«

Während Inge das Leberwurstbrot schmierte, wechselte sie das Thema. Es war alles gesagt, manches konnte man auch zerreden.

»Wie sieht es eigentlich mit dem Verkauf eures Hauses aus? Oder wollt ihr doch umbauen?«

Es war keine gute Idee gewesen, das bemerkte Inge, als sie den Teller mit dem Brot vor Rosmarie hinstellte und gleich auch noch Kaffee nachschenkte.

»Inge, das ist das Drama meines Lebens, wir werden das Haus niemals verkaufen, und ein Umbau wird viel zu teuer, das kann man auch vergessen. Es wird niemals jemand nach Hohenborn ziehen und einen solchen Batzen Geldes für das Haus hinlegen, dabei sind wir schon mit dem Kaufpreis runtergegangen.«

Ehe Rosmarie jetzt in Depressionen versank, versuchte Inge sie aufzumuntern.

»Irgendwann verkauft sich alles, sieh mal, kein Mensch hätte damit gerechnet, dass Frau von Rieding und die Münsters das Anwesen so schnell verkaufen würden. Es war sogar jemand dabei, der sich allein für die Felsenburg interessierte, eine Ruine.«

Rosmarie seufzte.

»Dieses Sahnestückchen da oben kann man ja wohl nicht mit einer neu erbauten Villa vergleichen. Ich wäre auch gern dort eingezogen, doch als ich es meinem Heinz gegenüber erwähnte, ist er fuchsteufelswild geworden. Na ja, es war keine gute Idee, da oben ist es ja noch größer, aber Heinz hätte sein Notariat in die Dependance legen können.«

Rosmarie hatte sich wirklich verändert, und sie war in vielerlei Hinsicht sehr vernünftig geworden, aber manchmal ging es mit ihr durch.

»Rosmarie, Heinz denkt darüber nach, sein Notariat zu verkaufen, schon vergessen?«

Rosmarie winkte ab.

»Heinz redet auch nur, im Grunde genommen ist er ein Workaholic wie dein Mann, die kennen nur ihre Arbeit, wissen ansonsten nichts mit sich anzufangen. Aber solange er mich mein Ding machen lässt, ist es okay.«

Luna kam ins Haus, sie hatte sich irgendwo herumgewälzt, ihr weißes Fell war schmutzig. Und Rosmarie quietschte, als der Hund an ihr hochsprang, um sie zu begrüßen.

Sie stand auf, hielt Luna von sich fern.

»Inge, ich muss, meine Beauty wartet auch noch auf ihren Spaziergang. Also die möchte ich nicht mehr missen, und es war die richtige Entscheidung, mir einen Beagle zu nehmen. Das habe ich ja deiner Mutter zu verdanken. Und dir danke ich für das leckere Frühstück und den Kaffee, und danke, dass du mir zugehört hast.«

Sie konnte auch richtig nett sein, die Rosmarie Rückert.

Inge winkte ab, dann machte sie sich an etwas zu schaffen, drehte sich um und drückte Rosmarie ein Päckchen in die Hand.

»Was ist das?«

Inge lachte.

»Ich habe dir ein Brot und eine Dose Leberwurst eingepackt. Es war ein Vergnügen, dir zuzusehen.«

Rosmarie war überwältigt. Sie bedankte sich, dann rief sie: »Irgendwann kommst du in den Himmel, liebe Inge, du bist die Güte in Person.«

Wieder lachte Inge.

»Lass mich noch eine Weile auf der Erde, ich glaube, ich habe hier noch einiges zu tun.«

Rosmarie stimmte in das Lachen mit ein.

Die beiden Frauen verabschiedeten sich voneinander, und Luna schaffte es schließlich doch noch, sie sprang schwanzwedelnd an Rosmarie hoch, und die Schmutzspuren, die sie vermeiden wollte, waren deutlich zu sehen.

Luna verzog sich, Rosmarie zuckte die Achseln. »Was soll’s, wozu gibt es Waschmaschinen.«

Seit sie Beauty aus dem Tierheim geholt hatte, hatte Rosmarie eine andere Sicht auf die Dinge.

Sie ging zu ihrem Auto, und Inge winkte ihr nach. Eigentlich hätte sie jetzt wieder an ihre Gartenarbeit gehen können. Doch dazu hatte sie jetzt keine Lust mehr. Morgen war auch noch ein Tag. Sie ging zurück in ihre Küche, und dort räumte sie erst einmal auf.

*

Es war nicht überraschend für sie gekommen, Lars hatte es ihr von Anfang an gesagt, doch Roberta hätte nicht für möglich gehalten, dass es ihr so schwerfallen würde, ohne ihn zu sein.

Sie vermisste ihn!

Seine Nähe, seine Wärme, seine Zärtlichkeit, sein Lachen, den Blick aus seinen unglaublich blauen Augen.

Lars war nicht zufällig auf ihren Weg gekommen, auch wenn sie seinen Wagen mit ihrem Auto aus lauter Unachtsamkeit gerammt hatte.

Es war ja nicht so ihr Ding, sondern dafür war eher ihre Freundin Nicki zuständig, aber mittlerweile war sie selbst davon überzeugt, dass es Vorbestimmung war. Sie hatten sich begegnen müssen. Lars war ihr Seelenpartner, ihre Lebensliebe …

Und weil es so war, wäre es natürlich ganz wunderbar, er hätte einen bodenständigen Beruf, sie würden heiraten, Kinder bekommen.

Zum Glück tickte ihre biologische Zeituhr nicht, außerdem bekamen die Frauen ihre Kinder immer später. Es war nur mehr als erstaunlich, dass sie, seit sie mit Lars zusammen war, diesen Kinderwunsch verspürte. Bei ihrem Exmann Max war das nur sehr kurz ein Thema gewesen, er hatte keine Kinder gewollt, und für sie war es in Ordnung gewesen. Sie hatte doch ihren über alles geliebten Beruf, der sie erfüllte und den sie niemals aufgeben würde.

Aber Beruf und Kinder …

Das war durchaus vereinbar.

Roberta zwang sich, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Wenn sie über so etwas sinnierte, machte sie sich das Herz nur schwer.

Lars liebte sie, daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel, doch der Gedanke an Heirat und Familie lag ihm fern. Er war ehrlich, da hatte er ihr nichts vorgemacht. Und eigentlich klammerte sie sich ein wenig daran, dass er für später nicht ausgeschlossen hatte, oder richtiger gesagt, er hatte er hatte gemeint, man solle sehen, was die Zukunft bringen würde.

Wie auch immer.

Sie liebte ihn mit ganzem Herzen, und ob er sie nun heiraten würde oder nicht, ob sie einmal Kinder bekämen oder nicht. Sie hatte keine Wahl. Wollte sie ihn nicht verlieren, dann musste sie sich so auf ihn einlassen, wie er war. Das war nur fair, denn er hatte wirklich vom ersten Augenblick an mit offenen Karten gespielt.

Roberta hatte frei, und eigentlich hatte sie ins Haus am See gehen wollen. Dort hielt sie sich gern auf, weil sie Lars nirgendwo so nahe war wie dort. Dort konnte sie von ihm träumen, sich in seinen blauen Pullover kuscheln, der verführerisch nach ihm roch. Manchmal schlief sie sogar im Haus, und auch wenn sie schon vor Lars da gewesen war, dachte sie keinen Moment mehr an Kay, ihren jungen Liebhaber. Das war etwas ganz anderes gewesen. Sie hatte die schreckliche Scheidung hinter sich, Kay war sehr liebevoll gewesen. Doch ihre Liebe hatte niemals eine Chance gehabt. Kay, der etablierte Aussteiger, viel zu jung … Nein!

Kay Holl war eine schöne Erinnerung, und ihre Liebe zu ihm war immer von Zweifeln belastet gewesen.

Wie anders war es doch mit Lars. Sie waren Partner auf Augenhöhe.

Roberta trat ans Fenster, blickte hinaus. Vielleicht hatte sich das Wetter ja geändert, und sie konnte doch noch zum See.

Ihr Wunsch erfüllte sich nicht, im Gegenteil, der Regen war heftiger geworden, und der Wind zerrte an den Bäumen.

Also musste sie es sich zu Hause gemütlich machen. Sie hatte gegessen, Alma hatte mit ihrem Chor irgendwo einen Auftritt. Zum Glück war sie wieder die Alte und hatte das Intermezzo mit diesem Franz Glattberg überwunden, der sich sehr schnell als ein richtiger Despot herausgestellt hatte, kaum war Alma zu ihm gezogen. Alma wohnte wieder in der Einliegerwohnung, alles war gut. Roberta hätte ihr schon einen liebevollen Partner gewünscht, und das hatte dieser Mensch Alma ja auch vorgespielt. Man konnte jedem Menschen wirklich nur vor den Kopf gucken, da war etwas Wahres dran.

Roberta schenkte sich ein Glas Rotwein ein und war nahe daran, wehmütig zu werden. Es war ein Wein von denen, die Lars mitgebracht und den sie gemeinsam getrunken hatten.

Was hatten sie gelacht, geredet, sich geküsst …

Sie zuckte zusammen, als ihr Telefon schrillte, zum Glück das private Telefon. Doch sie hatte keine Eile sich zu melden. Lars konnte es nicht sein, er meldete sich kaum, weil es kaum eine Verbindung gab. Das hatte sie vor seiner Abreise gewusst.

Ihre Freundin Nicki rief an.

»Ist bei euch das Wetter auch so schlecht?«, beklagte sie sich. »Da kann man richtig depressiv werden. Es ist wirklich gemein, dass das Wetter immer schlecht ist, wenn man frei hat.«

Roberta hätte Nicki jetzt korrigieren können, dass es nicht immer so war. Sie sagte nichts, denn Nicki war nicht gut drauf. Sie würde ihr sofort widersprechen und selbst in Abrede stellen, dass die Farbe weiß weiß war.

»Hier regnet es und ist ziemlich windig. Wäre es anders, dann wäre ich jetzt im Haus am See.«

»Dein Lars fehlt dir, nicht wahr?«, wollte Nicki wissen.

»Ja, er fehlt mir sehr«, gab Roberta zu. Sie und Nicki waren sehr offen zueinander, sie konnten über alles reden, weil ihre Freundschaft auf Vertrauen basierte.

Nicki seufzte.

»Roberta, du bist ja so zu beneiden.«

Das verstand Roberta nun überhaupt nicht. »Ich bin zu beneiden? Was ist denn beneidenswert daran, dass mein Freund irgendwo in der Arktis ist und Eisbären nachjagt.« Manchmal hatte Nicki wirklich eine sehr merkwürdige Logik. »Ich würde sofort mit dir tauschen.«

Also, das ging jetzt wirklich nicht. Roberta unterhielt sich sehr gern mit ihrer Freundin, aber sie hatte keine Lust auf einen solchen Unsinn.

»Nicki, hör mit so einem Unfug auf«, sagte sie deswegen auch.

Nicki spürte den Unmut ihrer Freundin und beeilte sich deswegen zu sagen: »Ich mein ja nur, du hast einen Freund, und du weißt, wo er ist, während ich …« Sie brach ihren Satz ab, und es folgte ein weiterer, abgrundtiefer Seufzer.

Oh nein! Nicht das schon wieder!

»Nicki, wenn du jetzt wieder auf diesen Mathias anspielst, dann lege ich sofort auf. Du jagst einem Phantom nach, vermutlich war dieser Mann nur auf der Durchreise, denn niemand hat von ihm etwas gehört, kennt ihn. Und du selbst, mal ganz ehrlich, Nicki, du kannst doch nicht von einem Mann träumen, den du kurz gesehen hast. Euer Erlebnis war, eine Currywurst miteinander zu essen, die du auch noch bezahlt hast.«

Sofort widersprach Nicki.

»Es war viel mehr, wir haben uns ganz wunderbar miteinander unterhalten, zwischen uns gab es besondere Schwingungen …, unsere Seelen waren im Einklang.«

Roberta hätte ihrer Freundin jetzt am liebsten gesagt, dass sie sich das alles nur einredete, weil das Erlebnis mit diesem Mathias etwas war, was Nicki zuvor niemals gehabt hatte. Sie hatte noch nie einen Mann zu einer Currywurst eingeladen, Roberta konnte sich überhaupt nicht daran erinnern, dass Nicki jemals zuvor eine gegessen hatte. Nicki war besessen von diesem Mathias, und das nervte. Sie wusste nicht, was sie jetzt sonst dazu sagen sollte. Anfangs hatte sie das Spiel ja mitgemacht, sie hatte sich stundenlang von diesem Mann vorschwärmen lassen, und sie hatte sich wirklich bemüht, ihn ausfindig zu machen. Einmal musste Schluss sein.

Weil Roberta nichts sagte, bemerkte Nicki: »Du glaubst mir nicht, aber Mathias ist wirklich etwas Besonderes. Ich habe noch nie zuvor einen Mann wie ihn kennengelernt.«

Roberta hatte sich ihren Abend anders vorgestellt. Sie fragte sich, was Nicki wohl zu ihr sagen würde, wäre es umgekehrt. »Nicki, wenn er auf deinen Weg kommen soll, dann wirst du ihn wiedersehen, dann werden eure Wege sich erneut kreuzen.« Trotz ihres Elends musste Nicki lachen.

»Schon gut, ich habe verstanden, du hast mich jetzt mit meinen eigenen Waffen geschlagen. Ich höre auf damit, es bringt ja eh nichts. Weißt du, was schlimm ist? Seit ich ihm begegnet bin, habe ich die Lust auf alle anderen Männer verloren. Und das ist doch bedenklich, oder?«

»Ist es nicht, es ist dir nur noch kein gescheiter Mann über den Weg gelaufen, Nicki. Das kann sich, wie wir wissen, sehr schnell ändern. Aber bitte, lass uns wirklich dieses Thema beenden. Ich werde auch nicht mehr über Lars sprechen. Wie geht es dir denn in deiner neuen Firma? Bist zu zufrieden, hast du es nicht bereut, deine Selbstständigkeit aufzugeben und dich anstellen zu lassen?«

Nicki überlegte einen Moment. »Ich kann mich nicht beklagen, doch das Wahre ist es nicht. Ich bin halt nicht mehr so frei in meinen Entscheidungen wie früher. Die Reiserei fehlt mir mehr als ich dachte, und soziale Kontakte habe ich jetzt auch nicht mehr als zuvor. Aber einen Vorteil hat es schon, ich muss mir keine Gedanken mehr machen, ob und wie ich das Geld für meine Miete und meine sonstigen Ausgaben zusammen bekomme. Ach, weißt du, Roberta. Jedes Ding hat zwei Seiten. Doch wenn ich …«

Da sie Nicki kannte, wusste sie genau, was jetzt kommen würde: »Wenn ich erst mal mit Mathias verheiratet bin«, das konnte sie jetzt nicht hören, also begann Roberta über das Buch zu sprechen, das sie gerade las und von dem sie glaubte, dass es Nicki ebenfalls interessieren würde.

Welch ein Glück, dass ihr das noch eingefallen war, denn nun wurde es noch ein schönes und langes Gespräch.

*

Sandra Münster war wieder daheim, und sie konnte sich mit ihrem Gehgips recht gut bewegen, und auch die anderen Schmerzen besserten sich. Die körperlichen, nicht die ihrer Seele. Sie kam einfach nicht darüber hinweg, was durch ihre Leichtsinnigkeit geschehen war, und sie war sich nicht sicher, ob Felix jemals vergessen würde, dass sie ihr Ungeborenes praktisch umgebracht hatte, als sie mit überhöhter Geschwindigkeit gegen einen Baum gerast war. Den Totalschaden des Wagens hatte er ihr verziehen, über das Baby sprach er nicht mehr.

Es war das Schweigen, das wie eine gläserne Wand zwischen ihnen lastete, das Schweigen um das Kind.

Ihr Alltag war beinahe normal, sie gingen nett miteinander um, nett. Aber es war längst nicht wie vor dem Autounfall. Das durfte sie vielleicht auch nicht erwarten. Sie war es, die alles zerstört hatte mit ihrer Raserei, über die sich vor dem Unfall nicht nur Felix beschwert hatte. Sandra hatte sich viel von ihrer Mutter anhören müssen, und im Sonnenwinkel war sie als Raserin bekannt und gefürchtet gewesen.

Ach, könnte sie doch alles rückgängig machen!

Im Grunde genommen konnte sie froh sein, dass Felix sie nicht zum Teufel gejagt hatte. Ein anderer Mann hätte es bestimmt getan.

Das Zimmer, das sie für das Baby liebevoll eingerichtet hatten, das war leer. Dennoch konnte Sandra es nicht mehr betreten, weil sie schon, wenn sie an der Tür vorbeiging, von ihren Schuldgefühlen beinahe erdrückt wurde.

Sie war die Einzige gewesen, die von dem Gedanken, nach Arizona zu gehen, anfangs nicht begeistert gewesen war. Jetzt konnte sie es kaum erwarten, hier alles zu verlassen, um in Amerika neu zu beginnen.

Doch ging das überhaupt?

Nahm man seine Probleme nicht immer mit?

Wenn Felix nur nicht so nett wäre. Ihr wäre es lieber, er würde mal ordentlich mit der Faust auf den Tisch schlagen, ihr lauthals eine Szene machen.

Heute wollte er, zum ersten Male seit sie wieder daheim war, mit ihr in den ›Seeblick‹ gehen. Da waren sie früher oft gewesen.

Sandra freute sich, doch andererseits hatte sie auch ein wenig Angst. Wählte er einen neutralen Ort, um ihr zu sagen, dass es doch mit ihnen zu Ende war?

Solche Gedanken hätte sie früher niemals gehabt, doch früher war ihre Beziehung auch unbelastet gewesen.

Sandra bemühte sich, alles Negative zu verdrängen, im ›Seeblick‹ war es immer schön gewesen. Sie zog sich mit besonderer Sorgfalt an, und obschon man dann ihren Gehgips unübersehbar mitbekam, wählte sie ein Kleid, eines, das Felix besonders gern an ihr mochte. Und die Leute …, auf die musste sie keine Rücksicht nehmen. Es wusste eh jeder Bescheid, und sie würden ohnehin bald weg sein.

Felix wartete bereits auf sie, und als sie die Treppe heruntergehumpelt kam, sah sie einen anerkennenden Blick, mit dem er sie musterte. Und das bildete sie sich wirklich nicht ein. Seine nächsten Worte bestätigten es auch: »Du siehst wundervoll aus. Dieses Kleid steht dir wirklich ganz besonders gut.«

Sandra wurde rot, seine Worte freuten sie, und sie merkte, wie ihre Stimmung sich schlagartig besserte. Jemand, der seiner Frau den Abschied geben wollte, machte ihr keine Komplimente. Er wollte einfach mit ihr essen gehen, etwas, was sie früher niemals hinterfragt hatte.

Ein leichter Hoffnungsschimmer keimte in ihr auf, und als sie den ›Seeblick‹ erreichten, war sie ganz aufgeregt.

Ein Abend mit Felix allein, in einem schönen Ambiente, bei einem hervorragenden Essen, das war es doch.

Sie wurden von Roberto Andoni begrüßt, und er hatte für sie auch ihren Stammtisch reserviert, obschon sie eine ganze Weile nicht mehr hier gewesen waren.

Von dem Tisch aus konnte man das ganze Restaurant überblicken, saß aber doch ein wenig separat. Und das war gut so, Sandra hatte keine Ahnung, noch keine Ahnung, warum Felix sie eingeladen hatte. Und wenn das Gespräch emotional werden sollte, dann war es gut, wenn niemand ihre Worte mitbekam. Die Münsters und die aus dem Herrenhaus, wie man allgemein sagte, waren ohnehin das Gesprächsthema, und das würden sie noch mehr werden, wenn erst einmal publik wurde, dass sich da oben auf dem Hügel einiges ändern würde. Doch wenn die Wellen überschwappten, dann waren sie längst über alle Berge.

Ein großes Abschiedsfest würde es nicht geben, dazu bestand kein Anlass, man würde sich mit einigen guten Freunden und Menschen zusammensetzen, die wichtig waren.

Die Münsters wurden von allen Seiten begrüßt, Sandra war froh, als sie sich endlich hinsetzen konnten.

Felix bestellte Champagner, doch das tat er immer. Es hatte sich bei ihnen eingebürgert, den Abend mit einem Gläschen vom Feinsten zu beginnen.

Nachdem die Bedienung weg war, ergriff Felix ihre Hand.

»Sandra, so kann es nicht weitergehen.«

Ihr wurde ganz anders zumute. Also doch?

Sie wurde ganz fahrig, doch seine nächsten Worte beruhigten sie wieder.

»Wir können uns mit ge­genseitigen Schuldzuweisungen nicht zerfleischen. Das, was geschehen ist, kann man durch nichts mehr rückgängig machen. Es ist alles ganz traurig. Aber etwas ist gut dabei, du hast diesen schrecklichen Unfall überlebt. Und dafür müssen wir unendlich dankbar sein, auch ich, denn ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen. Ich liebe dich, ich liebe dich über alles. Wir müssen wieder einen Weg zueinander finden, doch das wird nicht gehen, solange wir wie zwei höfliche Bekannte miteinander umgehen.«

Er streichelte ihre Hand, und das löste ein Gefühl des Wohlbehagens bei ihr aus.

»Wir erhoffen uns beide von Arizona sehr viel, ich glaube, das ist normal. Nur finde ich, sollten wir das uns belastende Gepäck nicht mitnehmen, sondern hier zurücklassen. Neu anzufangen bedeutet, frei zu sein. Sollen wir es wagen, alles Belastende abzuschütteln? Gemeinsam sind wir stark, gemeinsam können wir es schaffen, und …«

Er sprach nicht weiter, denn in diesem Augenblick brachte die Bedienung einen köstlichen Antipasti-Teller als Vorspeise. Der war im ›Seeblick‹ besonders gut, und deshalb bestellten sie den auch immer. Warum Experimente machen?

Sie waren wieder allein.

Sie schwiegen.

Doch Sandra wollte sein Angebot ergreifen, sie griff danach wie nach einem Strohhalm, und dann brach es aus ihr heraus. Sie sagte ihm, wie schlecht sie sich fühlte, wie sehr sie ihn liebte, welch große Angst sie hatte, von ihm verlassen zu werden.

»Felix, ich möchte meinen Weg weitergehen mit dir, und ja, wie gern würde ich alles zurücklassen, was nicht gut für uns, für unsere Beziehung ist. Ich kann es schaffen, wenn du mir dabei hilfst.«

Er blickte sie zärtlich an.

»Sandra, Liebes«, zum ersten Mal seit gefühlten Ewigkeiten nannte er sie wieder so, und das überwältigte sie. »Wir müssen uns gegenseitig helfen. Ich brauche deine Hilfe ebenso wie du meine.«

Welch ein Glück, dass sie in den ›Seeblick‹ gegangen waren, zu Hause wären sie sich weiterhin verbindlich freundlich begegnet, und die Mauer zwischen ihnen wäre immer höher geworden.

Und nun schien plötzlich alles so einfach!

Sie mussten einander wirklich verzeihen, das war der richtige Weg, aber auf dem Hintergrund ihrer Liebe konnten sie den beschreiten.

Als Nächstes aßen Sandra und Felix eine köstliche Edelfischplatte, für die der ›Seeblick‹ ebenfalls berühmt war. Es waren, weiß Gott, keine Fische aus dem Sternsee, doch alles war so frisch, dass man sich fragte, wie Roberto Andoni es schaffte, seinen Gästen das Gefühl zu vermitteln, alles sei gerade erst vor der Haustür geangelt worden. Zu diesen Köstlichkeiten aus dem Wasser gab es ein Steinpilzrisotto.

Dazu tranken sie einen herrlichen Wein aus der Toscana, der alles abrundete.

War es der Wein, der sie locker machte, oder lag es daran, dass sie endlich ausgesprochen hatten, dass sie zueinander gehörten, dass sie ohne einander nicht sein wollten?

Felix und Sandra unterhielten sich beinahe wie in alten Zeiten, und sie konnten, was auch seit gefühlten Ewigkeiten nicht vorgekommen war, miteinander lachen. Ja, das konnten sie wirklich. Auf ganz leisen Sohlen begann sich die alte zärtliche Vertrautheit in ihre Herzen zu schleichen.

Welch wundervoller Abend! Jetzt mussten sie sich nur noch auf den Nachtisch freuen, und auch da mussten sie nicht überlegen, da wählten sie immer die ›Überraschung des Hauses‹, die jedes Mal anders war, aber von der man niemals enttäuscht wurde.

Felix hielt ihre Hand, und Sandra fühlte sich so unendlich wohl. Müsste sie diesen Abend auf einer Skala von eins bis zehn bewerten, das ginge überhaupt nicht. Sie würde ganz spontan mindestens die Zahl zwanzig wählen, wenn nicht sogar noch mehr.

Am Himmel ihrer neu entdeckten Zärtlichkeit, ihrer Nähe zueinander zeigte sich nicht das allerkleinste Wölkchen.

Sandra gab sich dieser zärtlichen Stimmung hin, als eine Unruhe im vorderen Bereich des Restaurants sie aufschrecken ließ.

Was war da auf einmal los?

Neugierig blickte Sandra dorthin, und dann erstarrte sie. Alle Farbe wich ihr aus dem Gesicht, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie hätte mit allem gerechnet, damit allerdings nicht.

Wahrscheinlich auf Wunsch von Stammgästen war Susanne ins Restaurant gekommen, die Frau des Besitzers, und auf dem Arm hielt sie die kleine Valentina, die gemeinsame kleine Tochter, die fröhlich im Gesicht ihrer Mutter herumpatschte. Es war ein zu Herzen gehendes Bild. Vermutlich für jeden hier anwesenden Gast. Sandra brach es beinahe das Herz, der Anblick dieses entzückenden, fröhlichen Babys war für sie nicht zu ertragen.

Bilder schoben sich in ihre Gedanken. Sie sah sich und ihr Baby, das ja leider ihretwegen das Licht der Welt nicht erblicken durfte.

Die Schuldgefühle waren wieder da. Sie fielen sie an wie eine Horde wilder, reißender Tiere.

Es war unerträglich!

Sandra wurde abwechselnd rot und blass, sie begann, nach Luft zu schnappen, Sie konnte nicht mehr! Sie sprang von ihrem Stuhl auf, so heftig, dass das Glas umfiel. Der Wein floss auf die blütenweiße Tischdecke, hinterließ dort hässliche Flecken. Das bemerkte sie nicht einmal. Sie rannte, als sei der Leibhaftige hinter ihr her, aus dem Restaurant, nur weg von hier, von diesem seelenvollen Mutter-Kind-Bild. Das war unerträglich. Und es machte Sandra auch überhaupt nichts aus, dass man ihr irritiert hinterherblickte. Sie bekam es nicht einmal mit, dabei achtete sie doch sonst so darauf, was die Leute von ihr dachten.

Felix Münster brauchte einen Moment, um das zu begreifen, was sich da gerade ereignet hatte. Dann legte er einen größeren Geldschein auf den Tisch und folgte seiner Frau.

Draußen konnte er Sandra zunächst nicht finden. Aufgeregt begann er vom Parkplatz zu der Terrasse zu laufen, die im Sommer stark frequentiert war, weil man von hier aus einen unvergleichlichen Blick auf den Sternsee hatte.

Er atmete erleichtert auf, als er sie am Terrassengeländer bemerkte, eine kleine, verloren wirkende Gestalt.

Mit wenigen Schritten war er bei ihr, zögerte einen Augenblick, dann nahm er sie ganz behutsam in seine Arme.

Seine Nähe, seine Fürsorglichkeit lösten die Starre in Sandra, sie begann hemmungslos zu schluchzen. Felix sagte nichts, sondern streichelte beruhigend ihren Rücken.

Hier draußen war es unvergleichlich schön. Der Vollmond hing wie eine pralle helle Scheibe am nachtdunklen Himmel. Sein fahles Licht zauberte gespenstische Schatten auf den tiefdunklen See, dessen Wellen sich leicht kräuselten.

Eine verirrte Möwe flog beinahe lautlos über sie hinweg.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Sandra sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

Sie blickte Felix an, ihr Gesicht war tränennass, und sie wirkte so verloren, dass es ihn rührte.

»Tut mir leid«, sagte sie mit bebender Stimme, »aber ich konnte nicht mehr, als ich Frau Andoni mit dem Baby auf dem Arm sah.«

Er wischte ihr die Tränen weg.

»Sandra, Liebes, es wird immer irgendwo ein Baby geben, du kannst nicht jedes Mal davonlaufen.«

Sie bekam ein schlechtes Gewissen. Natürlich stimmte, was er sagte, aber in solchen Augenblicken ist man doch nicht vernünftig, da reagiert man impulsiv. Sie wollte etwas zu ihrer Rechtfertigung sagen, doch Sandra brachte kein einziges Wort über ihre Lippen. Sie wagte einen erneuten vorsichtigen Blick in seine Richtung. War er jetzt sauer auf sie? Hatte sie durch ihren spontanen Aufbruch das zarte Pflänzchen der Hoffnung wieder zerstört?

Felix nahm sie erneut in seine Arme, presste sie ganz fest an sich, dann berührten seine Lippen ihr seidenweiches Haar.

»Ich …, ich … gehe da nicht wieder hinein«, flüsterte sie mit bebender Stimme. »Ich … kann es nicht …, noch nicht. Ich meine, es wird eine Weile dauern, bis ich mir Babys ansehen kann, ohne davonzulaufen. Verstehst du das, Felix?«

Er streichelte sie.

»Du musst nicht mehr hineingehen, ich habe bezahlt, wir können jetzt nach Hause fahren, und ja, ich versuche, dich zu verstehen, und ich werde dir helfen, meine Liebe. Haben wir vorhin nicht beschlossen, unseren Weg gemeinsam zu gehen? Das bedeutet, auch das Leid gemeinsam zu tragen. Dass Frau Andoni mit dem Baby hereinkam, damit war nicht zu rechnen. Nur, Sandra, davonlaufen, das macht es nicht einfacher.«

Natürlich nicht, Männer hatten eine andere Sicht auf alles, sie reagierten nicht so emotional wie Frauen. Insgeheim atmete Sandra erleichtert auf. Es tat ihr leid, dass sie den Abend verdorben hatte, der so schön begonnen hatte. Aber zumindest war Felix jetzt nicht sauer auf sie. Sie schmiegte sich eng an ihn, und dann murmelte sie: »Danke, Felix.«

Er fragte sie jetzt nicht, wofür sie sich bedankte. Seine Arme umschlossen sie fester, und für kurze Zeit gaben sie sich dem Zauber des kalten Mondes hin, der auf alles seine bizarren Schatten warf. Dann gingen sie Hand in Hand zu ihrem Auto, um heimzufahren.

*

Ricky war in den Sonnenwinkel gekommen, um noch einen letzten Durchgang durch ihr Haus zu unternehmen, das Gerda Schulz nach ihrer Entdeckung fluchtartig verlassen hatte.

Nichts erinnerte mehr an diese skrupellose Frau, die sich ein Kind genommen hatte wie einen Artikel aus einem Regal im Supermarkt. Das war durch nichts zu entschuldigen, auch nicht damit, dass Gerda, oder wie sie in Wirklichkeit auch heißen mochte, das Baby nicht entführt hatte, sondern dass sie es und das Lösegeld auf einem einsamen Bauernhof gefunden hatte.

Einer Mutter einen solchen Schmerz zuzufügen, dazu gehörte schon eine ganz schöne Kaltblütigkeit. Nun, es war vorbei, und Ricky war froh, das Haus nicht verkauft zu haben, wie es ursprünglich vorgesehen war. Sie hätte dann jetzt zwar nichts mehr damit zu tun, aber das Haus wäre von einem Treuhänder verkauft worden, an wen auch immer. Und ein Störenfried in der Siedlung konnte die ganze Gemeinschaft zerstören.

Es war vorbei, Isabella Duncan, die leibliche Mutter des entführten Kindes, wollte mit nichts was zu tun haben, hatte alles im Namen ihrer Tochter freigegeben. Und sie war sogar so großzügig gewesen anzubieten, für alle Kosten aufzukommen, die durch die abrupte Flucht entstanden waren. Wirklich großherzig. Zum Glück war das nicht nötig gewesen, Gerda hatte mehrere Mieten als Kaution bezahlt, und Häuser gingen im Sonnenwinkel weg wie warme Semmeln. Ein Nachmieter war gefunden. Das, was diese Frau zurückgelassen hatte, war verkauft, und ein Heim für behinderte Kinder hatte einen Scheck in Empfang genommen, den Ricky noch großzügig aufgerundet hatte.

Nach einem letzten Durchgang verließ Ricky das Haus, in dem sie und ihr Fabian ihre Ehe begonnen hatten, in dem ihre Erstgeborenen die erste Zeit ihres Lebens verbracht hatten.

Sie blickte auf ihre Armbanduhr, ein bisschen Zeit hatte sie noch, und die wollte sie in ihrem Elternhaus verbringen. Ihren Vater traf sie ja nicht immer an, doch ein Schwätzchen mit ihrer Mutter war immer schön, und wenn die ebenfalls nicht daheim war, dann wohnten nebenan die Großeltern, die Ricky über alles liebte.

Den Sonnenwinkel würde sie immer in schöner Erinnerung behalten, aber zurückkehren würde sie nie mehr. Und das sah auch Fabian so, ihr Ehemann, den sie liebte, seit sie damals hergezogen waren.

Ricky wurde beinahe sentimental, wenn sie daran dachte. Was war seitdem nicht alles geschehen, sie waren verheiratet, aber sie liebten sich noch immer wie am ersten Tag. So war es wohl, wenn man seinen Seelenpartner gefunden hatte. Und sie waren vernarrt in ihre Kinder.

Lächelnd fuhr Ricky vor ihrem Elternhaus vor, dieser wunderschönen Villa, die hier schon gestanden hatte, ehe der Architekt Carlo Heimberg die Siedlung gebaut hatte.

Sie sprang aus dem Auto, klingelte Sturm, ihre Mutter öffnete, und Ricky fiel ihr um den Hals. Die Zeit war auch an ihrer Mutter nicht spurlos vorübergegangen, aber sie war noch immer eine schöne Frau.

»Hallo, Mama«, rief Ricky, »ich hätte Lust auf einen Kaffee, und ich möchte dir etwas sagen.«

Inge Auerbach freute sich immer, ihre Tochter zu sehen, doch jetzt blickte sie ein wenig enttäuscht drein.

»Hast du die kleine Teresa nicht mitgebracht?«, wollte Inge wissen, die ganz verliebt in ihr jüngstes Enkelkind war. Ricky lachte.

»Mama, sie ist doch noch so klein, da braucht sie noch viel Ruhe, und ehe du dich jetzt besorgt erkundigst, für sie ist gesorgt. Oma Holper passt auf sie auf, und sie macht das genauso großartig wie für unsere anderen Kinder.«

Oma Holper war anfangs für Inge so etwas wie ein rotes Tuch gewesen, sie war auf diese Frau eifersüchtig gewesen. Doch das war längst vorbei, Oma Holper liebte die Nachbarskinder und riss sich für sie fast ein Bein aus.

Sie gingen in die Küche, Kaffee stand bereits bereit, als habe Inge geahnt, dass ihre Tochter vorbeikommen würde. Also schenkte Inge schnell den Kaffee ein, stellte einen Teller mit Keksen bereit, den es bei den Auerbachs immer gab, dann blickte sie ihre Tochter erwartungsvoll an, der niemand ansehen würde, dass sie Mutter von so vielen Kindern war. Sie sah selber noch aus wie ein großes Kind mit ihrer schmalen Figur und ihrem kessen Pferdeschwanz.

»Warst du bei deinen Schwiegereltern und hast einen Abstecher hierher gemacht?«, wollte Inge wissen.

Ricky stopfte erst einmal zwei Kekse in den Mund, weil die so lecker waren, dann erzählte sie ihrer Mutter, weswegen sie sich im Sonnenwinkel aufhielt.

»Es ist alles perfekt, der neue Mieter kann einziehen, und er wird den Schlüssel bei dir abholen, ist dir das recht?«

Natürlich war es Inge recht, sie hatte sich ja meistens um das Haus gekümmert.

»Und wer ist es von den Bewerbern geworden, die ihr da an der Hand hattet?«, erkundigte Inge sich.

Ricky lachte.

»Niemand von denen, es ist ganz anders gekommen. Fabian hat auf einer internationalen Lehrerkonferenz einen alten, von ihm sehr geschätzten Kollegen getroffen. Und da kann man mal sehen, wie klein die Welt ist, Herr Dr. Bredenbrock wird zum Schuljahrbeginn am Gymnasium in Hohenborn Mathematik und Physik unterrichten. Er hat unser Haus unbesehen gemietet, und er ist froh, sich um eine Bleibe nicht mehr kümmern zu müssen. Er hat mit dem Umzug und mit seinen beiden Kindern hinreichend zu tun.«

»Und seine Frau, kümmert sich die denn nicht?«

Es war klar, dass ihre Mutter eine derartige Frage stellen musste. Bei den Auerbachs war es Inge, die alles in die Hand nahm, die sich kümmerte, die organisierte.

Ricky trank etwas Kaffee, griff erneut in den Keksteller, aber bei ihr konnte man unbesorgt sein, sie konnte essen was sie wollte und musste sich keinen einzigen Gedanken um eventuelles Hüftgold machen.

»Dr. Bredenbrock ist alleinerziehend«, erklärte Ricky, und ehe ihre Mutter weitere Fragen stellen konnte, fuhr sie fort: »Seine Frau hat ihn und die Kinder verlassen, sie ist mit einem Musiker durchgebrannt, sie wollte sich an dessen Seite verwirklichen.«

Inge musste erst einmal ihre Kaffeetasse abstellen. Natürlich passierte so etwas immer wieder, einmal wurde die Frau verlassen, ein andermal der Mann, wobei es doch häufiger die Männer waren, die ihre Frauen verließen, um sie gegen ein jüngeres Modell einzutauschen. Dass eine Mutter ihre beiden Kinder verlassen konnte, das war etwas, was Inge niemals begreifen könnte. So etwas war für sie unvorstellbar, und für solche Frauen fand sie auch keine Entschuldigung, obwohl Inge sonst eine sehr tolerante Person war.

Ricky wusste, dass ihre Mutter sich über ein solches Thema ereifern konnte. Und darauf hatte sie keine Lust. An der Tatsache, dass diese Frau abgehauen war, war nichts zu ändern, und niemand hier kannte den Grund. Es konnte doch auch sein, dass Dr. Bredenbrock ein unleidlicher Mensch war, bei dem es die Frau nicht ausgehalten hatte, dass er sie so genervt hatte, dass sie fliehen musste.

Ricky hütete sich davor, über Menschen zu reden, die sie nicht kannte. Sie holte schnell ihr Smart­phone aus der Tasche und erkundigte sich: »Mama, willst du die neuesten Fotos von unserem Sonnenschein sehen?«

Und ob Inge das wollte.

Was gingen sie die Bredenbrocks an, die sie nicht einmal kannte.

Aber Teresa …

Inge liebte all ihre Enkelkinder, aber es war normal, dass man den Neuankömmlingen zuerst einmal mehr Aufmerksamkeit schenkte.

»Ach, Ricky, sie ist ja so süß, und ich finde, sie hat wirklich Ähnlichkeit mit Oma.«

Wieder lachte Ricky.

»Finde ich auch, sie hat auf jeden Fall Omis Energie, Teresa weiß schon jetzt, sich zu behaupten. Sie ist viel fordernder, als meine anderen Süßen es in dem Alter waren. Es ist so toll, Kinder zu haben. Apropos Kinder, wo ist eigentlich Pam? Und läuft es bei euch wieder so richtig gut?«

Inge begann zu strahlen. »Es läuft ganz großartig. Es ist so, als sei sie niemals weg gewesen, aber natürlich sparen wir so manches Thema auch aus, das verfänglich werden könnte.«

Typisch ihre Eltern.

»Mama, du weißt aber schon, dass der Schuss nach hinten losgehen kann, wenn ihr wieder den Kopf in den Sand steckt wie Vogel Strauß.«

Inge winkte ab.

»Ricky, das musst du nicht erwähnen, solch gravierende Fehler werden Papa und mir niemals mehr unterlaufen. Aber du hast recht, auch kleine Problemchen darf man nicht unter den Tisch kehren. Von Pamela bekommen wir auch nicht viel mit, sie verbringt die meiste Zeit mit Manuel. Es nimmt sie ganz schön mit, dass der bald nicht mehr hier sein wird, und ich denke, auch Manuel hat daran zu knabbern.«

»Kein Wunder«, wandte Ricky ein, »die beiden sind ja praktisch wie Geschwister aufgewachsen. Sie waren immer ein Herz und eine Seele.«

Inge seufzte. »Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass sich dort oben mal etwas ändern würde.«

»Mama, nichts ist für die Ewigkeit bestimmt.«

»Du hast recht, mein Kind. Ich hätte ja auch nie gedacht, dass Hannes ausgerechnet Aus­tralien als seinen Lebensmittelpunkt wählen würde, und unser Jörg: Ich hätte darauf gewettet, dass er bis zu seiner Pensionierung in den Münster-Werken bleiben würde.«

»Die, wie du weißt, ebenfalls verkauft sind, sicher war es für Jörg gut, unter Felix zu arbeiten, aber der neue Besitzer, der bringt vielleicht seine eigenen Leute für die Führungspositionen mit. Ich finde, Jörg hat es richtig gemacht, indem er rechtzeitig den Absprung geschafft hat. Außerdem, einen solchen Job findet man nur einmal im Leben. Um Jörg müssen wir uns keine Gedanken machen, der ist in Stockholm angekommen, und Stella und die Kinder sind es auch.«

Ricky bekam glänzende Augen. »Im Grunde genommen sind sie zu beneiden, Stockholm ist eine so tolle Stadt. Da würde ich auch hinziehen.«

Musste Ricky sie so schocken? Inges Hand zitterte, und sie schaffte es gerade noch, ihre Kaffeetasse abzustellen, ohne etwas zu verschütten.

»Ricky, was redest du da?«, erkundigte sie sich mit bebender Stimme. »So etwas sagt man niemals im Scherz.«

Ricky blickte ihre Mutter an, die einen wirklich erschrockenen Eindruck machte. Dennoch sagte sie: »Mama, das war kein Scherz, Fabian und ich würden sofort auswandern, wenn wir die Möglichkeit dazu hätten. Doch die wird sich vermutlich niemals bieten. Fabian leitet hier eines der besten Gymnasien, und auch wenn er einen ganz fantastischen Job macht, wird auf Menschen in seiner Position kein Headhunter aufmerksam, wie es sich in der freien Wirtschaft verhält und wie es unserem Jörg widerfahren ist.«

Insgeheim atmete Inge auf, Ricky hatte manchmal wirklich eine merkwürdige Art, sie zu erschrecken.

»Mama, du kannst wieder durchatmen, wir bleiben dir und dem Rest der Familie erhalten, aber jetzt muss ich wirklich gehen, ich darf Oma Holper nicht überfordern. Sag mal, ist es unverschämt von mir, dich zu bitten, mit die restlichen Kekse einzupacken?«

Ricky konnte auch hervorragend kochen und backen, deswegen freute es Inge, dass ihre Tochter die restlichen Kekse mitnehmen wollte.

»Du kannst die Kekse vom Teller haben, und wenn du willst, dann habe ich noch mehr.«

Ricky freute sich. »Mama, ich nehme alles, was ich kriegen kann.«

Inge packte alle Kekse in eine hübsche Blechdose. Ihre Eltern mochten diese Kekse ebenfalls sehr gern, nicht zu vergessen Pamela, die eine richtige Naschkatze war. Aber sie konnte neu backen, und das machte ihr sogar Freude.

Inge begleitete ihre Tochter zur Tür, und sie konnte es sich einfach nicht verkneifen, Ricky zu fragen: »Sag mal, Ricky, selbst wenn sich für Fabian irgendwo im Ausland eine gleichwertige Stellung böte, ihr würdet doch nicht weggehen, nicht wahr?«

Ricky drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Stirn, umarmte sie: »Mama, mach dir nicht immer über alles Gedanken. Wir sind alle erwachsen und für uns selbst verantwortlich, wer weiß denn schon, was noch auf unseren Weg kommen wird. Man soll nie nie sagen.«

Diesen letzten Satz hätte Ricky jetzt besser nicht ausgesprochen, denn bei ihrer Mutter gingen alle Alarmglocken an, sie blickte ganz entsetzt drein.

Ricky blickte ihre Mutter liebevoll an. Ja, so war sie, ihre Mama. Am liebsten würde sie das Leben ihrer Kinder in die Hand nehmen und sie immer behüten. Sie konnte nichts anders, sie musste ihre Mutter jetzt erneut umarmen. »Mama, es gibt bei jedem Menschen Veränderungen im Leben, die nicht voraussehbar sind, niemand kann sein Leben von Anfang bis Ende planen. Wie einfach wäre das. Entscheidend ist immer das Heute, und da muss sich glücklicherweise niemand von uns beklagen. Wir sind gesund, wir sind glücklich, wir haben keine finanziellen Nöte, haben ein schönes Dach über dem Kopf …«, sie erkundigte sich: »Mama, muss ich noch mehr aufzählen?«

Inge schüttelte den Kopf. Ricky hatte ja so recht.

»Ich habe dich lieb, Mama«, rief Ricky, dann lief sie winkend davon, saß kurz darauf in ihrem Auto und fuhr los. Inge sah ihr nach, bis nichts mehr von dem Wagen zu sehen war, den die Großeltern damals gekauft hatten, als Ricky mit einem Studium begonnen hatte.

Nachdenklich ging Inge ins Haus zurück. Man musste nur das Studium nehmen, Ricky hatte mit viel Begeisterung angefangen, Deutsch und Biologie auf Lehramt zu studieren. Und dann war es doch nicht mit Mann und Kindern vereinbar gewesen. Ricky hatte sofort die Reißleine gezogen und hatte mit dem Studium aufgehört, und nun gab es in ihrem Leben die kleine Teresa.

Die anderen Kinder hatten Ricky und Fabian geplant, Teresa hatte ihnen einen Streich gespielt, sie war einfach gekommen und wurde nicht weniger geliebt als die Kinder zuvor. Das war nur ein Beispiel, sie konnte mit anderen Beispielen fortfahren, etwas fiel ihr noch ein, weil das ein gravierender Einschnitt im Leben der Auerbachs gewesen war. Werner und sie hatten Pamela, damals noch Bambi genannt, verheimlicht, dass sie keine echte Auerbach war, sondern, dass man sie nach dem schrecklichen Unfalltod ihrer Eltern adoptiert hatte.

Ricky hatte recht, man musste das Leben nehmen wie es kam und darauf hoffen, dass es nicht zu schlimm wurde.

Inge ging ins Haus zurück und machte sich daran, eine neue Ladung Kekse zu backen. Irgendwie war sie nachdenklich geworden.

*

Teresa und Magnus von Roth waren sehr bewegungsfreudig, und da bot sich der Sternsee natürlich für Spaziergänge an. Besser ging es überhaupt nicht. Wenn sie Lust hatten, dann umrundeten sie den See, und wenn es nicht so war, dann hörten sie mittendrin auf. Sie mussten niemandem etwas beweisen, und hier ging es auch nicht um Pokale oder Medaillen. Es war Spaß, und tief in ihrem Inneren verspürten sie eine große Dankbarkeit dafür, dass es ihnen so gut ging. Sie führten ein schönes Leben, doch das war nicht das Wichtigste, die Hauptsache war, dass sie gesund waren!

Wenn es sich einrichten ließ, dann nahmen sie Luna auf ihre Spaziergänge mit. Das hatte sich so eingebürgert, seit Pamela damals überstürzt nach Australien gegangen war. Ihre Luna hatte sie zurücklassen müssen. Das arme Tier war ziemlich verwirrt gewesen, hatte Pamela überall gesucht. Irgendwann hatte die hübsche weiße Labradorhündin sich ein Leben zwischen den Auerbachs und den von Roths eingerichtet. Ganz schön clever, so hatte Luna ihre Streicheleinheiten überall bekommen. Dass die von Roths schließlich irgendwann den Sieg davongetragen hatten, lag vermutlich daran, dass in deren Haus immer eine Dose voller köstlicher Leckerli bereitstand und dass Magnus von Roth mit Luna die meisten Spaziergänge unternahm.

Das hatte sich geändert, seit Pamela wieder daheim war. Luna wich seitdem nicht mehr von deren Seite.

Teresa und Magnus freuten sich, dass sie heute wieder das Vergnügen haben durften, mit Luna spazieren zu gehen.

Pamela war allein unterwegs. Das war verständlich, sie wollte ihre alte Heimat wieder in ihren Besitz nehmen.

Ja, es hatte sich da wirklich einiges verändert, doch die von Roths verzichteten gern. Sie waren glücklich, dass diese schreckliche Zeit des Schweigens vorüber war. Es freute sich für sie selbst, weil sie ihre Enkelkinder über alles liebten und Pamela schrecklich vermisst hatten. Doch noch mehr freute es sie für ihre Tochter Inge, die an dem Zerwürfnis und an ihren Schuldgefühlen fast zerbrochen wäre.

Es schien wieder die Sonne, und das nicht nur bei den Auerbachs und Famille, sondern auch hier draußen. Es war ein herrlicher Tag, es war so windstill, dass sich auf dem Wasser nicht eine Welle kräuselte, sondern der See lag spiegelglatt, in unterschiedlichen Farbtönen schillernd, da. Hier und da schnatterten Enten, Schwäne glitten majestätisch dahin, über den See flog ein großer Vogel mit buntem Gefieder.

Der neue Sonnenwinkel Jubiläumsbox 4 – Familienroman

Подняться наверх