Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Box 6 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 6

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Das Klingeln an der Haustür sollte aufhören. Das nervte.

Es war Samstag, da sollte man sie gefälligst in Ruhe lassen.

Es hörte auf!

Eigentlich sollte Roberta jetzt zufrieden sein. Sie war es nicht, weil es normalerweise nicht ihre Art war, etwas einfach zu ignorieren.

Roberta hatte sich verändert, war dünnhäutiger geworden, es störte sie die Fliege an der Wand.

Das war ihr bewusst, doch seit Lars einfach gegangen war, war nichts mehr so, wie es gewesen war, ihre kleine, heile Welt war aus den Fugen geraten.

Sie konnte nicht damit um­gehen, dass er wie ein kleines, bockiges Kind davongelaufen war. Sie hätten miteinander reden müssen, und das konnten sie normalerweise ja auch.

Normalerweise …

Nichts war mehr normal.

Hätte sie bloß den Mund gehalten und nicht von einem gemeinsamen Zusammenleben gesprochen. Es hatte sich ergeben, aus einer Stimmung heraus war sie sehnsuchtsvoll geworden und hatte für einen Moment das Unmögliche für möglich gehalten. Das war falsch gewesen, doch man ist erst hinterher immer schlauer.

Sie stand auf, die Neugier trieb sie doch zur Haustür, obwohl von dort nichts mehr zu hören war. Sie riss die Tür auf und prallte zurück, als sie ihre Freundin Nicki sah. Mit der hätte sie überhaupt nicht gerechnet. Seit ihre Freundin mit Dr. Peter Bredenbrock zusammen war, verbrachte sie die Wochenenden mit ihm und seinen Kindern Maren und Tim. Ja, im Sonnenwinkel, in dem Nicki, ihren eigenen Worten nach, nicht einmal tot überm Zaun hängen wollte.

Nicki sah schlecht aus.

Nicki konnte es nicht gewesen sein, die geklingelt hatte, denn der Schlüssel in ihrer Hand war nicht zu übersehen, auch nicht der große Karton, den sie vor sich hertrug.

Nicki sagte etwas von, dass der Karton für sie sei, dass sie ihn angenommen habe, weil niemand aufgemacht hatte.

Das bekam Roberta nur am Rande mit, sie erwartete nichts, alles war Nebensache, sie musste sich um Nicki kümmern.

Sie nahm Nicki den Karton ab, stellte ihn achtlos beiseite, dann erkundigte sie sich: »Nicki, was ist geschehen?«

Diese Frage löste Nickis Erstarrung, sie warf sich so heftig in Robertas Arme, dass die taumelte und sich bemühen musste, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, sonst wären sie unsanft auf dem Boden gelandet.

Bei Nicki konnte man niemals wissen, ob es sich um ein echtes Problem handelte oder ob sie sich wieder einmal in der Rolle einer Staatsschauspielerin gefiel. Für ein wirkliches Problem sprach allerdings das schlechte Aussehen von Nicki, sie war blass, hatte tiefe Ringe unter ihren Augen, die erloschen wirkten.

Da Nicki nichts sagte, übernahm Roberta das: »Komm erst einmal rein, der Kaffee ist fertig, du siehst ganz so aus, als könntest du einen gebrauchen, und dann erzählst du mir, was geschehen ist, ja?« Das war das Schöne an Roberta, die sah nicht nur sofort, wenn etwas aus der Bahn geraten war, sondern sie sprach es auch an.

Das stimmte wirklich, und vermutlich war diese Einstellung auch der Grund dafür, dass sie jetzt wegen Lars und dessen Verhalten so durcheinander war.

Es ging nicht um sie und Lars …

Roberta schob alle persönlichen Gedanken beiseite. Es ging nicht um ihre Befindlichkeiten, sondern um ihre Freundin Nicki. Und dass bei der etwas nicht stimmte, dazu brauchte man keine Worte, da konnte man fühlen.

Beinahe willenlos ließ Nicki sich in die Küche führen, auf einen Stuhl setzen. Den Kaffee, den Roberta vor sie hinstellte, ließ Nicki zunächst einmal unberührt, doch auf die Keksschale stürzte sie sich wie jemand, der gerade im letzten Augenblick eine ganz schreckliche Hungersnot überlebt hatte. Normalerweise hätte Roberta jetzt eine Bemerkung gemacht, denn es war nicht mit anzusehen, wie hemmungslos Nicki die Kekse in sich hineinstopfte. Sie unterließ es, wartete erst einmal ab, und da sie ihre allerbeste Freundin beinahe so gut kannte wie sich selbst, wusste sie, dass es irgendwann einmal aufhören würde. Und so war es auch.

Nicki schob die wunderschöne Kristallschale beiseite, in der jetzt gerade noch drei verträumte Kekse lagen. Dann griff sie zu ihrem Kaffeebecher, trank, und nachdem sie den Becher wieder abgestellt hatte, wandte sie sich Roberta zu, die die ganze Zeit über still auf ihrem Stuhl gesessen hatte.

»Peter hat mir einen Heiratsantrag gemacht«, platzte es aus Nicki heraus.

Dieser Satz schlug bei Roberta ein wie eine Bombe. Nun verstand sie überhaupt nichts mehr. Ihre Freundin war geradezu versessen darauf, geheiratet zu werden. Dr. Bredenbrock war ein sehr netter, sehr gebildeter, sympathischer und überaus gut aussehender Mann. Sie freute sich für Nicki, dass er ihr einen Antrag gemacht hatte.

»Nicki, das ist großartig. Ich freue mich so sehr für dich, ich finde, ihr seid ein tolles Paar, nicht nur optisch. Peter Bredenbrock ist ein Mann, der dich erden kann. Doch eines verstehe ich jetzt nicht so ganz. Warum machst du ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter?«

Nicki zögerte mit der Antwort. Sie glaubte, die Reaktion ihrer Freundin voraussehen zu können, wenn sie ihr jetzt die Wahrheit sagte.

»Nicki«, mahnte Roberta, »so sag doch endlich etwas.« Da fasste Nicki sich ein Herz.

»Ich habe seinen Antrag abgelehnt und nein gesagt.«

So, endlich war es heraus, und jetzt war es Roberta, die nichts sagte. Das, was Nicki da gesagt hatte, war geradezu ungeheuerlich.

»Du hast was?«

»Du hast schon richtig verstanden«, kam es beinahe trotzig aus Nickis Mund, »ich habe ihm gesagt, dass ich ihn nicht heiraten kann.«

»Und warum nicht? Ich denke, du liebst ihn, und du hast mir doch erst vor ein paar Tagen gesagt, dass ihr auf einem guten Weg seid.«

Nicki nickte.

»Ja, Roberta, es stimmt alles, doch als er mir sagte, dass er mich heiraten wolle oder ob ich ihn heiraten wolle, so genau weiß ich das überhaupt nicht mehr, da wurde ich panisch. Wäre er allein, ja, da ginge ich vielleicht das Wagnis ein. Wenn es nicht funktioniert, dann trennt man sich eben. Aber es geht nicht wegen Maren und Tim. Die Kinder sind traumatisiert, sie haben mit ihrer Mutter Schreckliches mitgemacht. Und ich denke, sie werden es niemals richtig verwinden, dass sie verlassen wurden, weil ihre leibliche Mutter ein wenig Spaß haben wollte.«

Nicki machte eine Pause, trank von ihrem Kaffee, als sie den Becher wieder abstellte, zitterte ihre Hand. Daran konnte man erkennen, wie emotional sie bewegt war.

»Roberta, ich kann für nichts garantieren, es wäre unverantwortlich von mir, Peter zu heiraten, wenn es nicht klappt, ihn zu verlassen. Er würde es verkraften, für die Kinder wäre es gruselig …, schon wieder eine Trennung …, schon wieder verlassen werden …, ich … ich kann es nicht.«

Sie starrte vor sich hin, und gerade, als Roberta etwas sagen wollte, fuhr Nicki mit leiser Stimme fort: »Ich habe Peter vorgeschlagen, alles so zu lassen, wie es derzeit ist. Darauf hat er sich nicht eingelassen. Ich glaube, ich habe ihn sehr verletzt.«

Dass sie an die Kinder dachte, dass sie fürchtete, Peter verletzt zu haben, das sprach für Nickis großes Herz, für ihre weiche Seele. Aber Roberta war sich nicht sicher, ob das alles war. Vielleicht sollte Nicki wirklich einmal zu einem Psychotherapeuten oder einer Therapeutin gehen. Sie hatte eindeutig zu Männern ein sehr gestörtes Verhältnis, und das betraf die Auswahl ihrer Partner und die Dauer ihrer Partnerschaften. Keine ihrer Beziehungen war normal gewesen. Bei ihr verlief es immer himmelhochjauchzend, und danach war sie zu Tode betrübt.

Roberta hatte keine Ahnung, was sie jetzt sagen sollte, ihre Beziehung zu Lars hatte, wie es schien, ein unrühmliches Ende genommen.

Jemand, der selbst Schiffbruch erlitten hatte, konnte keinem anderen Schiffbrüchigen helfen.

So, wie Nicki sie ansah, erwartete sie nicht nur eine Antwort, sondern auch einen Vorschlag für die Lösung ihres Problems.

»Und wie seid ihr verblieben?« Mehr fiel Roberta momentan nicht ein.

»Peter ist gegangen, und ich kann erst einmal überhaupt nichts tun, denn er macht mit den Kindern eine Ägypten­reise, das war geplant, und hätte ich keine beruflichen Verpflichtungen, wäre ich mitgefahren. Aber wer weiß, wofür es gut ist. Stell dir mal vor, wir wären die ganze Zeit über ­zusammen gewesen, im Flieger, im Museum, im Hotel, auf dem Schiff …, du, das wäre nicht gegangen, einer von uns wäre schreiend davongelaufen. Nicht einer von uns, sondern ich. Wenn sie von der Reise zurückkommen, ist einige Zeit vergangen, sie sind voll von neuen Eindrücken, schließlich tauchen sie in eine ganz andere Welt ein …, wir haben dann etwas Abstand gewonnen. Ich denke, Peter kann dann mit seinen Kindern reden. Er ist ein sehr sensibler Mann, vielleicht ergibt sich auch schon während der Reise eine Möglichkeit.«

»Das heißt also, Nicki, dass du dir nichts mehr überlegen möchtest, dass du keine Lösung suchst …, du gibst auf.«

»Ich …, ich weiß nicht.«

Sie blickte Roberta an.

»Sag du mir, was ich tun soll.«

»Verflixt noch mal, Nicki, welch unsinnige Forderung stellst du da? Ich kann dir doch nicht sagen, was du tun sollst und was nicht. Wenn du Dr. Bredenbrock liebst, wenn du dir vorstellen kannst, dein Leben mit ihm zu verbringen, dann gibt es doch überhaupt nichts zu überlegen. Kinder sind für Eltern nur so etwas wie eine Leihgabe, wenn sie erwachsen sind, gehen sie aus dem Haus, führen ihr eigenes Leben. Maren und Tim sind keine Kleinkinder mehr. Frag dich, ob du mit Peter und Maren und Tim die nächsten Jahre verbringen möchtest. Wenn du dazu ja sagen kannst, dann rede nach der Rückkehr aus dem Urlaub mit ihm, sag ihm, dass du es dir anders überlegt hast, dass du seinen Antrag annehmen willst, und damit wirst du ihn ganz gewiss sehr glücklich machen.«

Nicki hatte keine Ahnung, was sie sich von dem Besuch bei ihrer Freundin erhofft hatte, auf jeden Fall mehr als das, was bisher gelaufen war.

»Weißt du, Roberta, ich warte erst einmal ab. Manches erledigt sich von selbst.«

Weil sie wusste, dass Roberta mit derartigen Aussagen nicht einverstanden war, stand sie auf.

»Ich gehe jetzt, hole meine Sachen aus dem Haus, werfe den Schlüssel in den Briefkasten, und …«

»Damit versperrst du dir den Weg endgültig«, beendete Roberta den Satz. »Nicki, bleib übers Wochenende hier, wir machen es uns gemütlich, genießen den Augenblick und denken über gar nichts nach.«

»Das wäre schön«, Nicki blickte ganz sehnsuchtsvoll drein, »es geht nicht, ich muss heute Abend auf einer internationalen Konferenz übersetzen, und morgen fliege ich mit meinem Chef nach Kopenhagen.«

»Du sprichst doch überhaupt kein Dänisch.«

Jetzt zeigte sich bei Nicki so etwas wie ein kleines Lächeln.

»Nein, aber es müsste auch bis zu dir durchgedrungen sein, dass international in jeden Bereichen Englisch gesprochen wird. Und wenn einzelne Referenten in ihrer eigenen Landessprache reden, möchte mein Chef, dass ich für ihn das übersetze und aufzeichne. Es wird extra bezahlt, ich kann das Geld gut gebrauchen. Ich habe wieder mal zu viel ausgegeben.«

Nicki würde sich niemals ändern.

»Und was hast du gekauft?«

»Das willst du nicht wirklich wissen, aber es war unnötig. Ich kann dir jetzt aber etwas gestehen, du darfst nicht sauer sein. Nachdem Peter weg war, wollte ich doch wissen, ob ich mich richtig entschieden habe und da …«

»Da bist du zu einem dieser Scharlatane gegangen«, fuhr Roberta dazwischen.

Nicki wurde rot.

»Ich wollte es, ich stand schon vor der Haustür, als ich es mir anders überlegte. Ich bin nicht hineingegangen.«

»Glückwunsch, Nicki, da hast du wenigstens Geld gespart.« Nicki blickte ihre Freundin an.

»Weißt du, Roberta, manchmal wäre ich wirklich gern so wie du. Du gehst deinen Weg, du weißt, was du willst, du lebst ein schönes Leben, hast deinen Lars …, nun ja, das mit Max Steinfeld, das war eindeutig ein Fehlgriff, aber jeder greift in seinem Leben mal daneben. Und diese Ehe und die grässliche Scheidung hast du überwunden, ohne einen Schaden davonzutragen. Du lebst deine Träume.«

»Von denen einige mit einem lauten Knall zerplatzt sind.« Nicki lachte.

»Bei dir doch nicht, du befindest dich auf der Straße des Glücks, toller Mann, tolles Haus, tolle Praxis …«

Sie wurde ernst.

»Roberta, ich neide dir das alles nicht, das weißt du. Ich hätte nur gern ein wenig von deiner Klarheit ab.«

Nicki war angeschlagen, deswegen konnte sie ihrer Freundin augenblicklich nicht erzählen, wie sehr ihr Leben in Trümmern lag. Sie würde es gewiss nicht verschweigen, sondern es ihr später erzählen, wenn Nicki wieder zur Ruhe gekommen war, und wenn sich bei ihr die Wogen wieder geglättet hatten. Möglich, dass sie dann hilfreicher sein konnte.

»Nicki, du musst dir nicht wünschen, eine andere zu sein. Du bist ein ganz wunderbarer Mensch. Wir sind alle verschieden, und das ist gut so. Und sag mal, ergänzen wir uns nicht ganz prächtig, weil wir so verschieden sind?«

Roberta musste sich jetzt verkneifen, hinzuzufügen: »Sogar unsere Lieben haben wir gleichzeitig verloren.« Aber so war es ja nicht. Nicki hätte das haben können, was sie selbst sich so heiß ersehnte. Roberta würde es niemals begreifen, wie man den Antrag eines Mannes, den man liebte, einfach ablehnen konnte, und das ohne eine richtige Begründung. Sie hätte direkt und ohne zu zögern JA gesagt.

Aber so war ihre Freundin Nicki nun einmal, sie war in mancher Hinsicht unberechenbar, was sie allerdings nicht weniger liebenswert machte.

Nicki umarmte Roberta stürmisch.

»Du bist die allerbeste Freundin der Welt, du ahnst überhaupt nicht, wie froh ich bin, dass es dich gibt.« Das musste wieder mal gesagt werden, und nachdem das geschehen war, drückte sie Roberta einen schmatzenden Kuss auf die Wange.

»Und nun gehe ich, und begleite mich bitte nicht zur Tür, denn ich kenne uns, dort werden wir kein Ende finden, und ganz besonders ich werde dir eine Frikadelle ans Knie reden, weil mir immer wieder etwas einfällt. Ich melde mich, und danke noch mal, es geht mir besser.«

Nach diesen Worten stürmte sie davon, ehe Roberta etwas sagen konnte.

In gewisser Hinsicht hatte Nicki recht, sie hatten sich in der Tat immer wieder etwas zu sagen und konnten kein Ende finden.

Außerdem hätte Roberta ihrer Freundin wirklich keinen Ratschlag geben, den Nicki ohnehin nicht befolgen würde.

Peter Bredenbrock und seine Kinder waren erst einmal weg, die Zeit würde es zeigen, ob oder was weitergehen würde.

*

Nachdem ihre Freundin gegangen war, zwang Roberta sich regelrecht, nicht mehr an die geführte Unterhaltung zu denken, auch nicht an Lars. Manche Dinge ließen sich nicht ändern, und wenn man sich immer wieder damit beschäftigte, machte man eine Sache nicht besser.

Um sich abzulenken, da half Roberta nur eines, und das war, sich in die Arbeit zu stürzen. Das lenkte sie ab, weil sie dann hochkonzentriert war und keine anderen Gedanken zuließ.

Und um sich Krankenakten zu holen, da musste sie nicht erst in ihre Praxis gehen, was auch kein Beinbruch wäre, da die ja direkt nebenan war. Nein, sie hatte immer ein paar Fälle in ihrer Privatwohnung von Patienten, die eine schwierige Krankengeschichte hatten oder von Fällen, die sie interessierten.

Sie griff zur nächstbesten Akte, seufzte.

Eine Patientin hatte ihre Tochter mit in die Praxis gebracht, in der Hoffnung, sie könne etwas für Maritta tun.

Es war bitter, dass Roberta nur die Diagnosen der Kollegen bestätigen konnte, die Mutter und Tochter vorher bereits aufgesucht hatten.

Maritta war eine klassische Borderlinerin, das waren Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung. Borderline-Patienten fehlte die Fähigkeit, ihre Gefühle richtig zu regulieren, sie neigten unter anderem dazu, sich in Stresssituationen selbst zu verletzen. Man musste sich nur Marittas Arme ansehen, dann wusste man Bescheid, Maritta ritzte. Eigentlich war sie nicht die richtige Ansprechpartnerin für die Patientin, doch die Mutter wollte partout nicht zu einem Kollegen gehen, der für solche Störungen qualifiziert war. Mutter und Tochter waren, was die Krankheit betrat, in eine Sprachlosigkeit verfallen, sie steckten den Kopf in den Sand.

Was Borderline betraf, war Roberta nicht unwissend, aber sie war …

Sie blickte von ihrer Krankenakte auf, weil in diesem Augenblick Alma in den Raum kam.

»Frau Doktor, ich bin dann so weit und mache mich mal auf den Weg. Für heute Mittag steht für Sie der Salat mit der gebratenen Hühnerbrust im Kühlschrank, und heute Abend möchten Sie ja in den ›Seeblick‹ gehen. Und morgen bin ich wieder da.«

»Alma, ich wünsche Ihnen bei der Silberhochzeit Ihrer Freundin viel Spaß. Es ist eine schöne Idee, die Gäste auch in dem Gasthof übernachten zu lassen, in dem die Feier stattfindet.«

Das bestätigte Alma und fügte hinzu: »Fünfundzwanzig Jahre, das ist eine ganz schön lange Zeit. Und Edith und ihr Mann sind wirklich glücklich miteinander. Sie sind zu beneiden, meine Ehe lag schon lange vor der Zeit in Trümmern.«

»Alma, trösten Sie sich, meine auch. Und wenn man der Statistik glauben kann, dann sind wir keine Einzelfälle. Die Leute gehen heute viel früher auseinander.«

»Oder sie heiraten gar nicht erst, sondern leben so zusammen, auch wenn sie Kinder haben. Vielleicht ist das gar nicht so dumm, dann kann man leichter auseinander gehen.«

»Nicht, wenn man für den Partner Kreditverträge unterschrieben hat, wie Sie es taten, Alma. Und wenn ich an meinen Exmann denke, der hätte auch ohne Ehering versucht, sich alles unter den Nagel zu reißen. Doch über unsere Vergangenheit müssen wir jetzt wirklich nicht reden. Da werden wir beide nur traurig, und das müssen Sie jetzt nicht sein, freuen Sie sich auf das Fest, freuen Sie sich an dem Glück eines Paares, das es geschafft hat. Sie sehen übrigens ganz toll aus, Alma, dieses taubenblaue Kleid steht Ihnen ganz hervorragend, Sie sollten sich öfters mal etwas in dieser Farbe kaufen, die Ihre Augen so richtig leuchten lässt.«

Alma wurde rot vor lauter Freude, doch eines hatte sie mit ihrer Chefin gemeinsam, sie konnte nicht mit Komplimenten umgehen, die machten sie verlegen. Also verabschiedete Alma sich, und Roberta wollte sich ihrer Krankenakte wieder zuwenden, als Alma zurückkam.

»Haben Sie etwas vergessen, Alma?«, erkundigte Roberta sich.

»Nein, äh …, in der Diele steht ein ziemlich großer Karton. Soll ich Ihnen den hereinbringen, oder soll er dort stehen bleiben.«

Der Karton, den Nicki mit ins Haus gebracht hatte, den hatte sie vollkommen vergessen.

Roberta sprang auf.

»Lassen Sie mal, Alma, danke. Ich kümmere mich darum.«

Nun ging Alma endgültig, doch es dauerte noch eine Weile, ehe Roberta, beinahe ein wenig lustlos, in die Diele ging.

Es konnte nichts Wichtiges drin sein, sie vermutete, irgendein Demonstrationsobjekt eines Arzneimittelherstellers, und weil die Praxis heute geschlossen war, hatte man den Karton versucht an ihrer privaten Tür abzugeben.

Weil sie die Tür nicht geöffnet hatte und Nicki gerade gekommen war, hatte die den Karton ins Haus geschleppt.

Nachsehen konnte sie ja mal, was in dem Karton steckte.

Sie schleppte ihn in die Küche, stellte ihn auf einen Stuhl, dann griff sie nach einem scharfen Messer und öffnete ihn.

Und dann …

Sie konnte kaum glauben, was sie da sah, der ganze Karton war gefüllt mit roten Rosen, ganz oben lag ein Brief, auf dem ihr Name stand.

Sie kannte diese ausgeprägte, schöne Handschrift.

Jetzt musste Roberta sich erst einmal hinsetzen, weil ihre Beine ihr sonst den Dienst versagt hätten, ihr Herz begann stürmisch zu klopfen, ihr Blutdruck stieg.

Der Brief war von Lars …

Und demzufolge die wunderschönen roten Rosen ebenfalls!

Nach ihrer ersten Auseinandersetzung, an die sie sich am besten nicht erinnern wollte, war er gegangen. Und sie hatte fest geglaubt, dass sie ihn niemals mehr wiedersehen würde, dass es aus mit ihnen war.

Und nun das!

Roberta stand auf, doch ehe sie nach dem Brief griff, musste sie erst einmal ein Glas Wasser trinken, weil sie einen ganz trockenen Hals hatte.

Sie nahm den Brief, setzte sich wieder, zögerte. Dabei konnte doch nichts Schlimmes drinstehen, denn wenn man Schluss machen wollte, dann schickte man keine roten Rosen. Rote Rosen standen für Liebe, für Leidenschaft, sie waren ein Versprechen, ach, man konnte in rote Rosen so vieles hineininterpretieren, und sie motivierten Dichter.

Mit zitternden Fingern riss Roberta den länglichen, cremefarbenen Umschlag aus feinstem Büttenpapier auf.

Sie war so aufgeregt, dass sie noch eine Weile brauchte, den ebenfalls cremefarbenen Brief herauszuziehen.

Endlich war sie dazu in der Lage, sie faltete ihn auseinander, schloss die Augen, dann begann sie zu lesen: »Meine Liebste, ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass ich Dich noch so nennen darf. Es war dumm von mir, einfach zu gehen, denn durch diese törichte Handlung habe ich uns um Tage des Glücks gebracht. Ich bekam auf einmal eine solche Angst, vielleicht vor der Verantwortung, die ein Zusammenleben mit sich bringst. Es kann auch sein, dass ich Bindungsängste habe.

Roberta, ich liebe Dich über alles, ich möchte Dich nicht verlieren. Du bist mein Leben, bist für mich Inspiration. Bitte hab etwas Geduld mit mir. Ich weiß nicht, was kommen wird. Du hast mein Leben verändert, und Du hast mir so manches verdorben, was früher wichtig für mich war.

Nimm diese roten Rosen als ein Zeichen meiner Liebe, verzeih mir, und lass mich bitte nicht vor verschlossener Tür stehen, wenn ich das nächste Mal komme. Niemand kann sagen, wohin unsere gemeinsame Reise geht, doch lass uns bitte ausprobieren, wo wir ankommen werden.

In großer Liebe, Dein Lars.«

Roberta hatte keine Ahnung, wie oft sie diese Zeilen gelesen hatte. Sie kannte sie beinahe auswendig, und wären da nicht diese herrlichen roten Rosen gewesen, hätte sie noch stundenlang träumen können.

Sie hatte ihn nicht verloren, ihren Lars, ihren Mr Right, ihre Lebensliebe!

Roberta nahm sich in diesem Augenblick ganz fest vor, sich nicht mehr auf eine Heirat mit ihm, auf gemeinsame Kinder zu fixieren. Dadurch machte sie sich selbst nur Stress, war sie nicht mehr sie selbst.

Nach diesem Brief war alles offen. Lars wollte mit ihr gemeinsam auf eine Lebensreise gehen mit offenem Ausgang. Und sie würde ihn begleiten, und ob sie das wollte.

Irgendwann legte Roberta den Brief beiseite, den sie im Laufe des Tages, des Abends, wahrscheinlich auch in der Nacht, immer wieder lesen würde. Der Brief würde auf ihrem Nachttisch landen, sie wollte ihn immer bei sich haben, um ihn erneut lesen zu können.

Sie war jetzt nicht die erfolgreiche, gestandene Ärztin, sondern sie war nicht mehr als eine Frau, die mit allen Fasern ihres Herzens liebte. Das war Gefühl pur, und das konnten alle Menschen leben, ob jung ob alt, ob arm, ob reich. Man musste sich nur auf das einlassen, was man Liebe nannte.

Roberta begann die Rosen auszupacken. Sie mussten jetzt unbedingt versorgt werden, wenn sie noch lange Freude an ihnen haben wollte. Die Rosen waren wunderschön, und ihre Anzahl überwältigte Roberta. Lars war verrückt, er musste ein Vermögen dafür ausgegeben haben. Sie fühlte sich ein wenig überfordert, weil sie nicht wusste, ob sie überhaupt so viele Vasen im Haus hatte, um sie unterzubringen.

Sie hatte genügend Vasen, und nachdem sie alle Rosen untergebracht hatte, setzte sie sich überwältigt hin und betrachtete mit klopfendem Herzen die ganze Pracht.

Rote Rosen …

Viele rote Rosen …

Roberta war aufgeregt wie ein kleines Mädchen zu Weihnachten, dem man einen Herzenswunsch erfüllt hatte. Es waren nicht nur die roten Rosen, die sie so unendlich glücklich machten, nein, es war vielmehr die Tatsache, dass zwischen ihr und Lars die Welt wieder in Ordnung war. Ein Leben ohne ihn wäre schrecklich gewesen. Gut, sie musste ihn mit Eisbären, mit Vulkanen, mit Highlandtigern und was auch immer teilen. Aber wenn er da war …

Ihr Gesicht bekam einen verträumten Ausdruck, und dann erinnerte sie sich an etwas.

Der Ring!

Sie hatte ihn in einem Anflug von Zorn abgelegt. Der gehörte nirgendwohin als an ihren Finger, und auch wenn er nicht als Symbol für ein Eheversprechen galt, so war er immerhin von Lars, und er war wunderschön.

Roberta rannte in ihr Schlafzimmer, wo der Ring auf dem Nachttisch lag, sie steckte ihn wieder an ihren Finger und schwor sich, ihn niemals mehr abzusetzen. Und dann hatte sie noch etwas zu tun!

Sie war sich sicher, dass Lars jetzt wieder für sie erreichbar war, daran gab es nach dem Brief, nach den Rosen, überhaupt keinen Zweifel.

Ehe sie ihm eine Nachricht sandte, las sie seinen Brief noch einmal durch, der schon ganz zerknittert war und deutliche Gebrauchsspuren trug, dann warf sie einen verklärten Blick auf die roten Rosen.

Sie überlegte nicht lange, und sie machte auch nicht viele Worte.

»Mein Liebster, danke. Auf ewig Dein, Roberta.«

Im Gegensatz zu seinem Brief waren das eher spärliche Worte, doch sie war einfach nicht in der Lage, ihm jetzt mehr zu schreiben. Er kannte sie, es musste reichen. Es war auf jeden Fall besser, eine Nachricht kurz und knapp abzufassen als mit vielen Worten wenig zu sagen.

Roberta fasste einen Entschluss. Sie würde heute das Haus nicht mehr verlassen, und sie würde sich auch keine Patientenakten mehr ansehen.

Sie würde von Lars träumen, seinen Brief lesen, sich die Rosen ansehen …

Das Leben war schön!

*

Hannes war weg, er hatte seine Geschäfte erfolgreich abgewickelt, und vermutlich war er jetzt bereits auf seinem Weg, der ihm Klarheit bringen sollte oder was immer er auch davon erwartete, dem berühmten Jakobsweg.

Inge hatte sich daran gehalten, zunächst nichts von ihrem Gespräch zu sagen, sie war sogar länger still gewesen, als sie es mit Hannes vereinbart hatte. Auch wenn sie ein schlechtes Gewissen deswegen hatte, fühlte es sich richtig an, sie musste alles erst einmal für sich verarbeiten.

Es war wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen, und sie hätte niemals damit gerechnet, dass er sein Leben in Aus­tralien aufgeben würde.

Hannes war stark und klar. Er schien es weggesteckt und sich damit abgefunden haben.

Inge war sich nicht sicher, ob es wirklich so war, man konnte einem Menschen immer nur vor den Kopf sehen, niemand wusste, wie es in ihm aussah. Außerdem war Hannes sehr rücksichtsvoll, Inge war sich sicher, dass sie nicht die ganze Wahrheit kannte.

Heute auf jeden Fall wollte sie ihr Schweigen brechen, sie wollte wenigstens mit ihrer Mutter darüber reden, die konnte es dann weitergeben, und sie selbst würde den richtigen Zeitpunkt abpassen, mit Werner zu reden. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander, aber manchmal war es ratsam, nicht sofort mit der ganzen Wahrheit herauszukommen.

Da sie einen Schlüssel besaß, stand Teresa von Roth plötzlich im Raum. Inge hatte es nicht mitbekommen, weil sie in ihre Gedanken versunken gewesen war, sie zuckte zusammen, als ihre Mutter sich erkundigte: »Da bin ich, mein Kind, was hast du mir zu sagen?«

So war sie, ihre Mutter, immer direkt.

»Mama, setz dich erst einmal, möchtest du Tee oder Kaffee? Und wie ist es mit einem Stückchen Kuchen? Oder hättest du lieber Kekse?«

»Inge, ich bin nicht zum Kaffeeklatsch gekommen, später trinke ich vielleicht einen Kaffee, zunächst möchte ich von dir erfahren, weswegen ich hier bin. Was ist wichtig, so wichtig, dass du es mir am Telefon nicht sagen wolltest?«

Inge wäre es lieber gewesen, sie wären es langsam angegangen, sie würde liebend gern erst einmal einen Kaffee trinken, doch sie traute sich nicht, sich jetzt einen zu holen. Sie war zwar eine erwachsene Frau, die Kinder und Enkelkinder hatte, das besagte nichts. Man blieb immer Kind.

Also kam Inge ohne Umschweife auf das Thema, weil sie dadurch die Chance hatte, früher ihren heiß geliebten Kaffee zu bekommen.

»Mama, ich möchte mit dir über Hannes reden, und es wäre nett, du würdest danach Papa informieren. Hannes macht gerade eine ziemliche Krise durch, ihm ist gerade sein Leben um die Ohren geflogen, und er befindet sich derzeit …«

Inge kam überhaupt nicht dazu, ihren Satz zu beenden. Ihre Mutter sprach dazwischen und sagte: »Auf dem Jakobsweg, ich finde, das ist eine gute Entscheidung.«

Inge starrte ihre Mutter an.

»Mama …, du … du weißt es …, aber woher?«

»Von wem wohl, von Hannes natürlich. Er bekam wohl ein schlechtes Gewissen, weil er Papa und mir nichts gesagt hat, und deswegen hat er uns über alles informiert. Ja, es ist schon ein ziemlich starker Tobak, was gerade in seinem Leben los ist.

Doch Hannes wird es packen. Um den Jungen müssen wir uns keine Sorge machen. Und wie heißt es doch so schön? Wenn eine Tür sich schließt, dann öffnet sich eine andere. Das ist ein Satz, den ich voll unterschreiben kann. So war es in unserem Leben auch, es war voller Brüche, Veränderungen. Wir sind nicht daran zerbrochen, es hat uns stark gemacht. Man lernt, mit Krisen umzugehen, wenn man sich nicht in sein eigenes Elend hineinsteigert, jammert und glaubt, vom Schicksal benachteiligt zu sein. Wir haben alle unser vorbestimmtes Leben, den einen Menschen trifft es mehr, den anderen weniger. Und viel Geld zu besitzen, das ist, weiß Gott, kein Allheilmittel. Hannes ist aus dem richtigen Holz geschnitzt, er ist ein großartiger junger Mann, und wer weiß, welche Chancen sich ihm noch eröffnen. Er ist jung, die Welt steht ihm offen.«

Teresa blickte ihre Tochter an. »Inge, mach kein so sorgenvolles Gesicht, alles wird gut. Du könntest durchaus auch ein wenig optimistischer sein. Das kann niemals schaden. So, wenn es das war, dann können wir uns jetzt dem geselligen Teil zuwenden. Jetzt würde ich gern einen Kaffee trinken, und gegen ein Stück Kuchen hätte ich ebenfalls überhaupt nichts einzuwenden.«

Inge sprang auf, rannte zu ihrer Kaffeemaschine, Kaffee …

Sie kam sich vor wie eine Verdurstende, die lange durch die Wüste gelaufen war und nun mit allerletzter Kraft die rettende Oase erreicht hatte.

Ihre Eltern wussten es also, und sie hatten sich nicht dazu geäußert. Wäre das bloß geschehen, das hätte bei ihr manch schlaflose Nacht verhindert. Aber Hannes und die Großeltern, die waren eine ­verschworene Gemeinschaft, ebenso wie Pamela und Omi und Opi. Es war auch nicht anders mit Ricky und Jörg.

Großeltern waren abgeklärter, sie befanden sich auf einer Einbahnstraße und hatten längst erkannt, dass das Leben viel zu kurz war, um es sich schwer zu machen. Im Alter wurde man nachsichtiger, einsichtiger, toleranter.

Inge wirbelte herum.

»Mama, ich gehe mal davon aus, dass Pam längst eingeweiht ist, und auch Ricky und Jörg wissen es mittlerweile. Dann ist es ja nur noch Werner, der ahnungslos ist oder nichts weiß.«

Werner war unvermittelt in den Raum gekommen, sofort erkundigte er sich: »Wovon weiß ich nichts?«

Inge wünschte sich, der Erdboden möge sich auftun, sie verschlingen.

Inge konnte sich mit nichts entschuldigen. Sie hätte es ihrem Ehemann längst erzählen können. Sie hatte es nicht getan. Diese Situation jetzt war wieder einmal das Resultat einer verpassten Möglichkeit. Die Vergangenheit holte sie ein. Es war wie damals, ein Déjà vù. Es nahm ihr beinahe den Atem. Sie schloss die Augen. Werner und sie hatten niemals den richtigen Zeitpunkt gefunden, Pamela zu erzählen, dass sie adoptiert worden war. Sie waren für ihre Feigheit, für ihre Nachlässigkeit bestraft worden. Etwas, was sie stets verhindern wollten, war eingetreten.

Pamela hatte es ganz zufällig und ganz nebenbei von klatschsüchtigen fremden Frauen erfahren, dass man sie adoptiert hatte. Pamelas Welt war zusammengebrochen, und das hätte beinahe ihre Familie zerstört.

Was würde nun passieren? Wie würde Werner reagieren?

Inge war einfach nicht in der Lage, jetzt etwas zu sagen. Sie dankte dem Himmel, dass ihre Mutter cool genug war, es Werner zu erzählen, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, was sich da im Leben seines jüngsten Sohnen ereignet hatte.

Werner sagte nichts. Er nahm es erst einmal wortlos zur Kenntnis, doch Inge kannte ihren Ehemann lange und gut genug, um zu sehen, wie es in ihm arbeitete.

Werner rührte den Kaffee nicht an, den Inge vor ihn hingestellt hatte, und den Kuchenteller schob er sogar beiseite. Das war kein gutes Zeichen, das war überhaupt nicht gut, denn Werner liebte Kuchen über alles.

Bei Teresa war es ganz anders. Die genoss Kaffee und Kuchen. Sah sie nicht, wie durch den Wind Werner war, oder wollte sie es nicht sehen? Anzumerken war ihr nichts.

Inge brauchte jetzt erst einmal ihren starken schwarzen Kaffee, sonst konnte sie überhaupt keinen klaren Gedanken fassen. So war es immer bei ihr, obwohl sie längst wusste, dass sie sich da etwas vormachte. Sie warf Werner einen vorsichtigen Blick von der Seite zu.

Warum sagte er nichts?

Das jetzt im Raum lastende Schweigen wurde immer schwerer, Inge hatte das Gefühl zu ersticken.

Warum hatte sie nur so lange geschwiegen?

Warum hatte sie nicht längst Werner alles erzählt?

Jetzt hatte sie die Quittung, jetzt holte es sie ein!

Sie wusste, dass alles, was sie sich jetzt vorwarf, nichts brachte. Es war zu spät. Sie hätte früher den Mund aufmachen müssen!

Teresa schien nichts von allem bewusst zu sein. Sie trank ihren Kaffee, lobte den Kuchen, von dem sie unbedingt gleich ein Stück für ihren Magnus mitnehmen wollte.

Vielleicht versuchte Teresa, mit einem derartigen Verhalten so etwas wie Normalität herzustellen. Inge wurde auf jeden Fall das Gefühl nicht los, dass ihre Mutter damit genau das Gegenteil erreichte. Doch das konnte auch nur ihre subjektive Meinung sein.

Endlich brach Werner das Schweigen!

»Bei Hannes hat sich grundlegend etwas verändert. Alle waren darüber informiert, bis auf mich. Ich wusste bis eben nichts davon. Habt ihr vergessen, dass ich der Vater bin?« Seine Stimme klang anklagend, auch ein wenig beleidigt. Inge war nicht in der Lage, dazu jetzt etwas zu sagen. Zum Glück rettete ihre Mutter die Situation. Sie und Werner verstanden sich ganz ausgezeichnet. Sie schätzten einander sehr, auch wenn sie nicht immer einer Meinung waren. Für Teresa war Werner nicht der bekannte, überaus geschätzte Professor Werner Auerbach, sondern er war ihr Schwiegersohn, der Ehemann ihrer einzigen Tochter Inge, vor dem musste sie nicht vor lauter Ehrfurcht versinken. Wenn sie ihm etwas zu sagen hatte, dann tat sie das auch, ohne ein Läppchen vor den Mund zu nehmen.

»Ja, es ist zutreffend, mein lieber Werner, du bist der Vater«, bestätigte Teresa, »doch du darfst nicht vergessen, dass Hannes volljährig ist. Er kann entscheiden, wem er was sagen will. Er hat sich entschieden, dich zunächst einmal nicht einzuweihen, das zu tun, hat er Inge überlassen.«

»Und das hielt meine liebe Frau nicht für nötig«, jetzt klang seine Stimme bitter, auch wirklich ein wenig beleidigt. Der Herr Professor war es nicht gewohnt, hintenan gestellt zu werden. Er blickte Inge anklagend an. »Wann hättest du es mir denn erzählt, Inge? Überhaupt nicht? Dann kann ich ja von Glück reden, dass ich rechtzeitig genug in die Küche gekommen bin, um mitzubekommen, was da hinter meinem Rücken geschieht.«

Werner gefiel sich in der Rolle des Hintergangenen, und Inge war noch so sehr von ihrem schlechten Gewissen geplagt, dass sie wie gelähmt war.

Sah Teresa, dass von ihrer Tochter jetzt keine Erklärung kommen würde?

»Werner, Hannes hat dir nichts gesagt, weil er dich kennt, dich und deine Ansprüche an ihn. Du hättest doch direkt wieder damit angefangen, dass Hannes endlich studieren, eine akademische Laufbahn einschlagen sollte. Das wollte er vermeiden. Hannes muss sich erst einmal sortieren, er muss herausfinden, wie sein Weg weitergehen soll.«

»Und um das herauszufinden, muss er den Jakobsweg gehen, da kommt ihm die Erleuchtung«, bemerkte Werner. »Du liebe Güte, das ist eine Modeerscheinung. Es ist derzeit chic, den Weg zu laufen, seit so ein Schauspieler oder was auch immer dieser Mann ist, ein Buch darüber geschrieben hat, mit dem er sehr viel Geld verdiente. Und noch verdient, weil es immer neue Auflagen gibt. Um intensiv nachzudenken, da reicht es, um unseren wunderschönen Sternsee zu laufen. Es ist gewiss traurig für Hannes, dass sich der Traum von einem Leben in Australien zerschlagen hat. Vielleicht ist es ja auch überhaupt kein Fluch, sondern ein Segen.

Hannes hat, weiß Gott, mehr in seinem Kopf, als nur zu tauchen, zu surfen und dieses Surfbrett zu promoten. Mit dem Abitur, das er hingelegt hat, ist viel mehr drin, da ist alles, was er gemacht hat, Perlen vor die Säue geworfen.«

Inge hatte ihr Tief überwunden!

Das war wieder einmal typisch Werner!

»Werner, du hättest dir jetzt mal zuhören müssen, dann könntest du verstehen, warum Hannes nicht wollte, dass du es sofort erfährst. Du siehst Hannes nicht so, wie er wirklich ist, sondern so, wie du ihn gern hättest.«

Werner Auerbach sprang auf.

»Was für ein Glück, dass du ihn richtig sehen kannst, Inge. Du bist die Liebste, die Beste, die Person, die für alles Verständnis hat. Weißt du was? Ich fühle mich hintergangen, und ja, ich hätte Hannes die Flausen aus dem Kopf getrieben … Jakobsweg …, was für ein Unsinn. Den geht man vielleicht, wenn man mal eine Auszeit braucht, um sich alles mal anzusehen. Es gibt ja unterwegs wunderbare Kirchen, Bauten, es ist eine abwechslungsreiche Landschaft. Man geht diesen Weg nicht in der Situation, in der Hannes sich befindet. Er hat, verdammt noch mal, genug Zeit verloren. Ja, es ist richtig, was da gesagt wurde. Hannes ist erwachsen, aber er soll sich gefälligst auch wie ein Erwachsener benehmen. Als ich in seinem Alter war, da habe ich …«

Inge unterbrach ihren Mann.

»Werner, erspar uns das jetzt. Ja, ja, du warst großartig, du warst der Klügste, der Beste, du warst einzigartig. Doch um dich geht es jetzt nicht.«

Werner schnappte nach Luft, starrte seine Frau an, dann drehte er sich um, rannte aus der Küche und schlug krachend die Tür hinter sich zu.

Einem Reflex folgend, wollte Inge ihm nachlaufen, doch ihre Mutter hielt sie zurück.

»Inge, lass das, Werner wird sich schon wieder beruhigen. Er ist ein lieber, netter Kerl, doch manchmal kann man ihn einfach nicht verstehen.«

Das stimmte.

»Mama, aber ich hätte …«

Teresa unterbrach ihre Tochter.

»Hätte … hätte. Inge, was soll das, du hast nicht. Jetzt weiß er es, und vielleicht überdenkt dein Göttergatte mal sein Verhalten. Ich will jetzt wirklich nicht hetzen, das weißt du. Werner ist nun mal nicht der Nabel der Welt, auch wenn er sich zuweilen dafür hält. Mach nicht so ein bedröppeltes Gesicht. Ich trinke jetzt noch einen Kaffee mit dir, und dann gehe ich nach Hause. Hast du wieder neue Bilder von der kleinen Teresa, unserem Sonnenschein?«

Ihre Mutter wollte sie ablenken, das war lieb gemeint. Inge war sich nämlich sicher, dass sie viel mehr und viel aktuellere Bilder von der Kleinen hatte.

Sie stand auf, holte ihr Smartphone, setzte sich neben ihre Mutter, zeigte ihr alles, was sie in letzter Zeit von Ricky bekommen hatte. Ihre Mutter war keine gute Schauspielerin, sie heuchelte Begeisterung, dabei kannte sie die Fotos. Inge hatte sich nicht getäuscht.

Auf jeden Fall entspannte Inge sich, und damit hatte ihre Mutter ihr Ziel erreicht.

Inge war eine begeisterte Großmutter, sie liebte all ihre Enkelkinder, und es tat ihr noch immer in der Seele weh, dass der Kontakt zu Jörgs Kindern vollkommen abgebrochen war, seit Stella mit ihnen und ihrem neuen Lover nach Brasilien ausgewandert war.

Die kleine Teresa, das Nesthäkchen bei Ricky und Fabian, die war etwas ganz Besonderes. Man konnte nicht genug von ihr bekommen, und so begannen sowohl Großmutter als auch Urgroßmutter so richtig zu schwärmen.

Das Zerwürfnis mit Werner war vergessen, sie machten sich keine Sorgen um Hannes, dachten nicht an Jörg oder Ricky, an die anderen Kinder.

Teresa …

Das war jetzt ihr Thema, und es wäre vielleicht noch eine ganze Weile so weitergegangen, wenn nicht Magnus von Roth gekommen wäre, der sich schon Sorgen machte, weil seine Teresa nicht nach Hause kam.

Er war allerdings sofort besänftigt, als er den Kuchenteller sah, und dann noch seinen Lieblingskuchen.

Magnus war ganz anders drauf, er hatte gegen seinen Partner im Schach verloren, und deswegen grämte er sich sehr, weil er es nämlich normalerweise war, der gewann …

»Papa, man muss auch mal verlieren können, das hast du mir früher eingetrichtert, und ich habe es verinnerlicht.«

Magnus lachte.

»Na ja, ich bin nicht sauer, und wenn, dann auf mich, weil ich einen Augenblick lang unachtsam war, und das hat mein Gegner ausgenutzt. Aber jetzt genug davon. Inge, bekomme ich zu dem Kuchen auch einen Kaffee?«

Den bekam er, und Inge schenkte sich auch gleich einen ein, weil sie ihrem Vater schließlich Gesellschaft leisten musste, das sah Teresa ebenfalls so, sie nahm noch ein Stückchen Kuchen.

Tochter und Eltern verstanden sich, es gab viele gemeinsame Berührungspunkte. Die dunklen Wolken begannen sich zu verziehen.

*

Draußen tobte ein schweres Gewitter, den zuckenden Blitzen folgte unmittelbar darauf ein krachendes Donnern. Es war beängstigend.

Doch das Wetter passte zu ihrer Stimmung, dachte Rosmarie. Sie und Heinz lebten nur noch aneinander vorbei, und sie brachte nicht den Mut auf, ihre Drohung in die Tat umzusetzen, einfach mal zu verreisen.

Wahrscheinlich nahm Heinz sie nicht mehr ernst, weil sie vieles ankündigte und nichts in die Tat umsetzte.

Rosmarie war von einer merkwürdigen Unruhe erfüllt, die auch die Hunde spürten. Beauty und Missie hatten sich verzogen, von ihnen war nichts zu sehen. Aber vielleicht hatten sie auch nur Angst vor dem Gewitter.

Rosmarie stand auf, trat ans Fenster, presste ihre Stirn gegen das kühle Glas der Scheibe.

Es tobte nicht nur ein Gewitter, Sturm heulte um das Haus, und Regen klatschte gegen die Fensterscheiben. Draußen bogen sich die Bäume, der Sturm riss an ihren Ästen und Zweigen, einen Baum hatte es bereits umgerissen. Er lag entwurzelt mitten auf dem gepflegten Rasen, der jetzt übersät war von heruntergefallenem Laub.

Entwurzelt, so fühlte sie sich ebenfalls.

In ihr tobte es ebenfalls.

So konnte es nicht weitergehen.

Rosmarie wandte sich vom Fenster ab, durchquerte eilig den Salon und ging nach nebenan ins Fernsehzimmer, wo Heinz sich, trotz des Gewitters, ein Fußballspiel ansah. Das war nichts weiter als ein Alibi, denn die beiden Vereine, die da gegeneinander spielten, interessierten ihn nicht. Er wollte nur nicht mit ihr reden.

Doch das wollte Rosmarie jetzt, genau das.

»Heinz, wir müssen miteinander reden.«

Es gab keine Reaktion.

Als Rosmarie ihren Satz wiederholte, antwortete er: »Kannst du mal zur Seite gehen und gefälligst still sein, ich möchte mir das Spiel ansehen.«

Rosmarie wurde wütend.

Sie rannte zum Tisch, griff nach der Fernbedienung, machte den Fernseher aus, und seine Proteste waren ihr gleichgültig.

»Heinz, es tut mir leid, zuerst reden wir, dann kannst du tun und lassen, was du willst.«

»Ich habe dir nichts zu sagen. Und wenn zwischen uns jetzt die miese Stimmung herrscht, dann liegt das einzig und allein an dir. Ich habe mich nicht verändert.«

Wollte er ihr das ewig vorwerfen? Sie suchte jetzt die Verteidigung im Angriff.

»Das ist richtig, Heinz, du hast dich nicht verändert. Du machst dein Ding, glaubst, mit Geld alles auf die Reihe zu bringen. Geld ist nicht alles, und ich bin froh, dass ich noch rechtzeitig die Kurve bekommen habe, sonst wäre ich nämlich emotional verhungert. An Gold, an Schuhen, an Handtaschen, an Klamotten kann man sich nicht wärmen. Vielleicht habe ich mich früher damit auch nur überschüttet, weil ich die Leere in mir gespürt habe, dein liebloses Verhalten. Wir waren eine funktionierende Zweckgemeinschaft, jetzt, wo meine Gefühle erwacht sind, ob für Tiere, für alte, hilflose Menschen, da wird mir erst bewusst, dass ich an deiner Seite beinahe erfroren wäre. Heinz, es geht mir nicht darum, unsere Ehe aufzugeben, doch so, wie sie derzeit läuft, das mache ich nicht länger mit. Ich werde jetzt packen, und sobald das Gewitter vorbei ist, fahre ich los. Ich werde zu Cecile fahren. Ist es nicht verrückt? Sie ist deine Tochter, dennoch hat sie einen viel engeren Kontakt zu mir. An mir kann es also nicht allein liegen.

Zwischen uns herrscht schon lange diese Gleichgültigkeit, vielleicht schon immer, weil es nicht die große Liebe war, als wir heirateten. Wir haben nicht an einem Strang gezogen, jeder hat seine Interessen verfolgt, die Kinder sind auf der Strecke geblieben. Ich danke Gott, dass ich jetzt zu Fabian einen guten Kontakt habe, Stella haben wir vermutlich für immer verloren. Wie auch immer, nichts lässt sich rückgängig machen. Aber man kann vieles verändern, doch dazu muss man bereit sein. Heinz, ich habe dir viele Brücken gebaut, weil ich wirklich mit dir mein Leben verbringen möchte. Warum bist du nicht darüber gegangen?«

Das hatte traurig geklungen, und so war ihr auch zumute. Rosmarie konnte kaum ihre Tränen zurückhalten.

»Hier hast du deine Fernbedienung, guck dir alles an, dann kannst du dich ablenken, musst nicht über dich, über uns, über dein Leben nachdenken.«

Sie warf ihm die Fernbedienung zu, die landete neben ihm, doch das war ihr egal. Rosmarie stürmte aus dem Zimmer und ließ einen sprachlosen Heinz zurück.

Gewittern sagte man nach, dass sie eine reinigende Wirkung hatten. Auf sie traf es auf jeden Fall zu. Sie war jetzt bereit zu gehen, und sie hatte keine Ahnung, wann sie zurückkommen würde, nicht einmal, ob überhaupt.

Je weiter sie sich entwickelte, umso deutlicher wurde ihr bewusst, wie sehr sie und Heinz aneinander vorbeilebten.

Rosmarie stürmte in ihr Schlafzimmer, riss alle Schränke, alle Schubladen auf, begann, alles wahllos herauszureißen, doch dann besann sie sich.

Von Inge Auerbach wusste sie, dass man auch mit kleinem Gepäck reisen konnte. Was Inge konnte, das konnte sie auch.

Rosmarie holte sich einen Koffer und eine Reisetasche, das musste langen, mehr würde sie nicht mitnehmen.

Ein wenig mulmig war ihr schon zumute. Sie war in all den Jahren ihrer Ehe nie allein verreist, bis auf das eine Mal, wo sie, ohne darüber nachzudenken, kopflos weggefahren war. Da hatte sie noch nicht geahnt, wer Cecile wirklich war, hatte sich die wildesten Gedanken gemacht. Da hatte sie Angst gehabt, Cecile könne die Geliebte ihres Mannes sein, später, als die Wahrheit herausgekommen war, hielt sie Cecile für eine Mitgiftjägerin, die hinter dem Geld der Rückerts her war. Dafür schämte Rosmarie sich jetzt noch. Cecile war liebenswert, außerdem waren die Rückerts gegen das, was deren Familie besaß, arm.

Es war so vieles falsch gelaufen in ihrem Leben, in ihrer Partnerschaft. Das war bedauerlich, ließ sich nicht rückgängig machen. Auf jeden Fall bereute sie nicht, Heinz geheiratet zu haben. Gut, es war nicht die große Liebe gewesen, aber Heinz hatte ihr Halt gegeben, er war wie ein Fels in der Brandung. Jetzt hatten sie eine so große Strecke nebeneinander, leider nicht miteinander, zurückgelegt. Heinz hatte ihr Sicherheit gegeben.

Ihr Herz klopfte.

Vielleicht war es ja auch Liebe, was sie miteinander verband, nur war es keine der romantischen Art. Die gab es ja vermutlich auch nicht in Wahrheit, sie wurde beschrieben, besungen, man erlebte Augenblicke, die waren wie Sternenstaub, der sich aber schnell verflüchtigte.

So viele Jahre warf man nicht weg …

Rosmarie begann zu zweifeln. Auch wenn es ihr schwerfiel, sie musste hart bleiben, Heinz glaubte ihr schon lange nicht mehr, weil sie immer nur drohte, nicht handelte.

Koffer und Reisetasche waren gepackt, alles waren nur praktische Sachen, die man untereinander kombinieren könnte.

Daran konnte man sehen, wie sehr sie sich verändert hatte. Auch von der Kosmetik und den sonstigen Pflegeartikeln packte sie nur wenig ein, von dem ihr noch verbliebenen Schmuck überhaupt nichts. Da reichte eine Armbanduhr, und ja, ihren Ehering, den würde sie natürlich nicht ablegen.

Sie wollte nicht fahren, um sich von Heinz zu trennen, sondern, um den Weg für eine Gemeinsamkeit zu finden.

Das Gewitter war weitergezogen, man hörte nur noch von ferne hier und da ein Gewittergrollen, auch der Regen hatte nachgelassen. Der Sturm hatte sich weitgehend gelegt.

Rosmarie schleppte ihr Gepäck hinunter, es fiel ihr schwer, und sie musste jetzt da durch, sie durfte nicht umkehren, denn dann würde sich niemals etwas ändern. Sie standen mit ihrer Ehe bereits kurz vor dem Abgrund, noch ein, zwei Schritte, und sie schlitterten hinein.

Auch wenn sie nur das Notwendigste mitgenommen hatte, waren die Gepäckstücke doch ziemlich schwer, der Koffer glitt ihr aus den Fingern, fiel krachend die Treppe hinunter.

Das Poltern hörte Heinz, er kam aus dem Fernsehzimmer, erfasste mit einem Blick die Lage. Er wurde blass, wirkte verunsichert, weil er niemals für möglich gehalten hätte, dass seine Frau ernst machte.

Rosmarie war, jetzt nur noch mit der Reisetasche in der Hand, unten angekommen. Sie standen sich gegenüber.

Heinz Rückert machte es sich in verschiedener Hinsicht einfach, doch er war nicht dumm, er besaß einen scharfen Verstand. Den brauchte man nicht einmal, um zu erkennen, dass Rosmarie gehen wollte.

Sie sahen sich an.

»Rosmarie, bitte geh nicht«, sagte er mit vor Erregung rau klingender Stimme.

So hatte er noch nie zu ihr gesprochen!

Schon wollte sie einlenken. Dann besann sie sich, hinter diesem Satz verbarg sich nichts. Er wollte nur seine Gewohnheiten nicht aufgeben, zumal in der nächsten Woche ein großes gesellschaftliches Ereignis stattfand, bei dem sie an seiner Seite sein sollte. Heinz und Rosmarie Rückert gehörten zu der Creme der Gesellschaft, und Rosmarie verstand zu repräsentieren.

Das machte ihr so schnell niemand nach.

»Heinz, ich muss gehen, denn sonst bleibt alles, wie es war, und wir fangen an, uns zu zerfleischen. Ich möchte mich wieder versöhnen, doch da musst auch du einen Schritt in meine Richtung machen. Und das muss mehr sein als das Zugeständnis, dass ich mir kaufen kann, was ich will.«

Heinz antwortete nicht sofort, man merkte, wie es in ihm arbeitete.

»Ich hätte nach Adrienne suchen müssen, ich hätte diese Liebe nicht aufgeben dürfen. Nachdem ich sie verloren hatte, habe ich alle Gefühle abgeschaltet, mich auf die Arbeit gestürzt. Als du in mein Leben kamst, da sah ich eine Chance für einen neuen Beginn, weil du nichts von mir gefordert hast, du warst mit dem zufrieden, was ich bereit war zu geben. Das war nicht viel, denn mit Adrienne waren auch meine Träume verschwunden. Rosmarie, wir hatten beide unsere Gründe, es miteinander zu ­wagen. Und schlecht war es doch nicht. Hättest du dich nicht so sehr verändert, dann hätte es auch weiter so laufen können. Wir haben funktioniert, und …«

Sie unterbrach ihn.

»Du sagst es, wir haben funktioniert, doch Heinz, das kann nicht alles gewesen sein. Das reicht mir nicht mehr. Ich weiß nicht, was ich wirklich will, ich weiß nicht, was kommen wird. Aber ich bin neugierig auf etwas, was neu beginnen kann. Anders. Ich möchte es auf einen Versuch ankommen lassen, und es wäre ganz wundervoll, dich dann an meiner Seite zu haben.«

Er antwortete noch nicht, man sah ihm allerdings an, wie es in ihm arbeitete.

»Heinz, wir haben so viele Jahre nebeneinander verbracht, ohne uns zu kennen. Ist es jetzt nicht an der Zeit, dass sich etwas ändert?«

Sie reichte ihm schon wieder die Hand. Es war an der Zeit, dass er sie endlich ergriff.

»Wir haben viel zu wenig miteinander geredet. Aber ich denke auch, dass es nie zu spät ist für einen Neuanfang …, ich habe mal irgendwo gelesen, dass Veränderung keine Angst machen darf, sie erfordert Mut …, ich glaube, mit dir an meiner Seite kann ich es schaffen, Rosmarie. Ich will dich wirklich nicht verlieren. Ich komme mit, nicht zu Cecile, zu der können wir später reisen, nein, nur du und ich …, aber lass mir bitte noch etwas Zeit.«

Dieser letzte Satz gab den Ausschlag. Es würde sich nichts verändern, denn für Heinz würde es tausend Gründe geben, nicht sein Büro zu verlassen.

Sie musste jetzt konsequent sein.

»Ich gebe dir Zeit bis morgen Mittag. Du hast hervorragende Mitarbeiter, die dich während deiner Abwesenheit würdig vertreten können. Denen kannst du die Vorgänge übergeben.«

»Und der Ball?«

Rosmarie winkte ab.

»Heinz, sie werden ohne uns tanzen und feiern. Ich lasse keine Ausreden mehr gelten. Wenn du es wirklich willst, dann kommst du morgen mit mir. Wir fahren einfach los und sehen, was kommt. Mit dir an meiner Seite fahre ich bis ans Ende der Welt, Heinz, und das ist nicht nur dahergesagt. Das meine ich auch so. Du machst klar Schiff in dem Notariat, ich hier im Haus. Da wir beide weg sein werden, ist es notwendig, Meta das Zepter zu übergeben. Sie wird auch auf Beauty und Missie aufpassen, da können wir ganz unbesorgt sein.«

Heinz Rückert zögerte. Man konnte ihm ansehen, wie es in ihm arbeitete. Dann gab er sich einen Ruck.

»Einverstanden, Rosmarie, machen wir es so. Aber wir nehmen auf jeden Fall meinen Wagen.«

Typisch Mann.

Rosmarie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Klar nehmen wir deinen Wagen, mein Lieber, der ist ja viel bequemer.«

Sie spürte, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel, wie sich ein Gefühl von Leichtigkeit, aber auch leiser Hoffnung in ihr ausbreitete. Damit hatte sie nicht gerechnet, sie war so überwältigt, dass sie einfach nichts sagen konnte.

Als sie die zwei Schritte auf ihn zuging, die sie voneinander trennten, wurde ihr bewusst, dass sie die ganze Zeit über in der eleganten Diele gestanden hatten, neben dem heruntergefallenen Koffer. Und so hatten sie Gespräche geführt, die, wenn sie Glück hatten, ihr Leben veränderten.

Sie umarmte ihn, und dann küsste sie ihn sehr sanft und sehr zärtlich. Dabei hatte sie Herzklopfen, war aufgeregt, als tue sie etwas Verbotenes. Dabei küsste sie doch nur ihren Ehemann.

Überrumpelte sie ihn jetzt?

Sie hatte keine Ahnung, sie hatten sich schon lange nicht mehr geküsst.

Auf jeden Fall schien es ihm zu gefallen, denn nach anfänglichem Zögern erwiderte er ihren Kuss, und das fühlte sich sehr gut an. Es war schön.

War das jetzt bereits der Beginn eines Neuanfangs?

Es fühlte sich gut an.

Sie waren sich sehr nahe, und das schien nicht nur sie zu spüren. Heinz umfasste sie ebenfalls, und als er sie schließlich küsste, konnte Rosmarie nur noch staunen. Eine solche Leidenschaft hätte sie ihrem Heinz überhaupt nicht zugetraut.

Da das Gewitter endgültig vorüber war, trauten sich Beauty und Missie aus ihrem Versteck heraus, kamen auf sie zugelaufen, um sich ihre Streicheleinheiten zu holen, vielleicht auch ein Leckerli.

Beide zogen kurze Zeit später beleidigt von dannen, Frauchen und Herrchen hatten sie nicht einmal beachtet, die waren mit sich beschäftigt …

*

Nicki wusste, dass sie für sich selbst entscheiden musste, wie es mit ihr und Peter Bredenbrock weitergehen sollte, eigentlich war es ja bereits entschieden, er hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht, den sie abgelehnt hatte. Er war gegangen, doch die Schonfrist war vorbei. Er würde von seiner Ägyptenreise mit Maren und Tim zurückkommen, vielleicht waren sie ja auch schon wieder daheim.

Wenn man so wollte, dann hatte sie genügend Zeit gehabt, diese Entscheidung zu treffen, die nur bedeuten konnte, ja zu einem Leben mit ihm und den Kindern oder eine Trennung. Und die fiel ihr so unendlich schwer, weil sie die Kinder nicht verletzten wollte, insbesondere Maren nicht, die so sehr an ihr hing.

Maren und Tim waren noch traumatisiert davon, dass ihre Mutter sie von Knall auf Fall verlassen hatte, um sich zu verwirklichen. Würden sie eine neue Trennung verkraften? Sie war noch nie zuvor in einer solchen Zwickmühle gewesen. Alles machte sie antriebslos, dabei hatte sie den Tag heute dazu benutzen wollen, endlich mal ihre Wohnung aufzuräumen, Wäsche zu waschen, ihre Post durchzusehen. Nichts davon hatte sie gemacht, nur herumgetrödelt. Jetzt ärgerte sie sich, denn dann hätte sie auch zu Roberta fahren können. Alma hätte lecker gekocht, und vielleicht hätte sie mit ihrer Freundin doch noch einmal über dieses brisante Thema sprechen können, obwohl sie deren Meinung ja kannte.

In den Sonnenwinkel zu fahren, dazu war es zu spät, und zu allem anderen hatte sie keine Lust.

Nicki blätterte in einer Zeitschrift und ärgerte sich bereits, sie gekauft zu haben, weil nichts Gescheites drin stand, nur Geschichten über B-Promis, die sie nicht kannte und über deren Leben sie auch nichts wissen wollte.

Als es an ihrer Wohnungstür klingelte, zuckte sie zusammen, klappte ihre Zeitschrift zu, steckte sie weg.

Peter?

Ihr Herz begann zu klopfen.

Sollte er doch schon wieder daheim sein?

Es klingelte erneut, diesmal fordernder.

Sie hatte keine andere Wahl, sie stand auf, ging zur Tür und öffnete, prallte zurück.

Sie hätte wirklich mit allem gerechnet, mit diesem Besucher allerdings nicht.

Vor ihrer Tür stand kein anderer als Mathias Graf Hilgenberg!

Sie starrte ihn an, war unfähig, etwas zu sagen. Das musste sie erst einmal verdauen, schließlich brachte sie nur ein ungläubiges: »Du?«, hervor.

»Entschuldige bitte, dass ich dich so überfalle, ich hatte in der Nähe zu tun.«

Sie wollte allem etwas Leichtigkeit geben, indem sie sagte: »Und ich dachte schon, du willst mir einen Heiratsantrag machen. Die Blumen sind doch für mich, oder?«

Er ging auf ihren scherzhaften Ton nicht ein, blieb ernst.

»Ja, die Blumen sind für dich, darf ich reinkommen?«

Das mit dem Heiratsantrag kommentierte er nicht, und Nicki bereute, es erwähnt zu haben.

Sie führte ihn in ihr Wohnzimmer, in dem alles Mögliche herumlag, zum Glück hatte sie die Klatsch- und Tratsch-Zeitschrift verschwinden lassen.

Sie bot ihm Platz an, er blickte sich neugierig um.

»Schön hast du es«, bemerkte er, und Nicki glaubte ihm kein Wort, er wollte nur höflich sein.

»Aber einziehen würdest du in eine solche Wohnung nicht, nicht wahr, Mathias?«, konnte sie sich nicht verkneifen zu sagen.

»Bei dir muss alles groß sein.«

Er sagte nichts, sie entschuldige sich, weil sie die Blumen in eine Vase stellen wollte. Der Strauß war wirklich wunderschön. Als sie zurückkam, stand er vor ihrem Bücherregal, in dem standen Bücher, die sich sehen lassen konnten.

Sie bot ihm etwas zu trinken an, zum Glück wollte er nur ein Wasser trinken, das holte sie rasch, kam mit einer Flasche und zwei Gläsern zurück. Er hatte mittlerweile wieder Platz genommen, sie setzte sich ebenfalls, blickte ihn an.

»Weswegen bist du hier, Mathias?«, wollte sie wissen.

»Ich bin gekommen, um mich von dir zu verabschieden. Ich werde das Anwesen verkaufen.«

Nun verstand Nicki überhaupt nichts mehr.

»Aber du bist doch gerade erst eingezogen, hast aufwändig alles umgebaut. Ich hätte nicht gedacht, dass du so wankelmütig bist und Immobilien kaufst wie andere Leute Briefmarken.«

Er ging darauf nicht ein.

»Mein Bruder ist krank, ich werde an seiner Stelle Schloss Hilgenberg, den gesamten Besitz übernehmen und alles für die nächste Generation bewahren. Für mich erfüllt sich ein Traum, wenngleich es mich schmerzt, dass der sich auf Kosten meines Bruders erfüllt. Die Hausgesetze wurden geändert. Das, was seit vielen Generationen den Hilgenbergs gehört, muss weiterhin in der Familie bleiben. Ein Hilgenberg zu sein, ist eine Verpflichtung.«

Er tickte anders, Nicki hatte das sofort erkannt, und insgeheim dankte sie Gott, dass er sie vor einer großen Enttäuschung bewahrt hatte.

Er erwartete eine Antwort, deswegen sagte sie brav: »Mathias, ich freue mich für dich. Es ist immer schön, wenn sich Träume erfüllen.«

Er warf ihr einen skeptischen Blick zu.

»Ich freue mich wirklich für dich«, bestätigte sie noch einmal, und sie wunderte sich, dass es ihr überhaupt nichts ausmachte. Dabei war sie doch besessen von ihm gewesen. Stopp! Von Mathias, den sie zufällig kennengelernt und in den sie etwas hineininterpretiert hatte. Es war vorbei gewesen, als sich herausgestellt hatte, wer er wirklich war. Welch ein Glück, dass sie sich nicht auf eine vorsichtige Annäherung eingelassen hatte, dann würde sie jetzt vermutlich dasitzen und weinen.

Graf Hilgenberg von Schloss Hilgenberg, das war eine andere Welt, in die sie nicht hineinpasste.

»Nicki, ich bin gekommen, weil es mir wirklich wichtig ist, mich von dir zu verabschieden. Die Begegnung mit dir, das war etwas Besonderes, das war ein ›Magic Moment‹, den ich niemals vergessen werde. Für einen Moment vergaß ich, wer ich wirklich bin, mit dir war alles so leicht, so unkompliziert.«

»Deswegen hat es dir auch nichts ausgemacht, mich glauben zu lassen, dass du nicht einmal das Geld für eine Currywurst hast.«

Die Currywurst, die würde sie immer erwähnen!

»Darüber haben wir mehr als nur einmal gesprochen, du wolltest es so sehen, hast meine Bemerkung, dass ich schon lange keine Currywurst mehr gegessen hatte, falsch interpretiert. Nicki, das muss jetzt wirklich nicht wieder aufgewärmt werden. Ich möchte mich bei dir bedanken, für unvergleichliche Stunden, die ich so noch nie zuvor erlebt habe, vermutlich auch nicht mehr erleben werde.«

»Jetzt musst du dein Schloss verwalten, dir eine Frau suchen, natürlich aus den richtigen Kreisen, dann musst du unbedingt Kinder haben, damit der Fortbestand der Hilgenbergs gesichert ist.«

Warum hatte sie das jetzt gesagt?

Das war so unnötig gewesen wie ein Kropf.

»Bitte entschuldige, Mathias, das war jetzt dumm von mir.« Er blickte sie ernst an.

»Nicki, das meiste stimmt von dem, das du da gerade gesagt hast. Aber ich muss keine Frau aus den richtigen Kreisen heiraten, sondern eine, für die ich etwas empfinde, die ich liebe. In den regierenden Königshäusern wird bürgerlich geheiratet, warum sollte das nicht für die Hilgenbergs gelten?«

Nicki antwortete nicht.

Für eine Weile war es still zwischen ihnen. Sie hingen ­ihren Gedanken nach, doch es war kein unangenehmes Schweigen.

Mathias von Hilgenberg war es, der als Erster anfing zu sprechen: »Nicki, es ist schade, dass du uns keine Chance gegeben hast, uns kennenzulernen. Ich denke, es hätte etwas mit uns werden können.«

Nein!

Er sollte nicht so reden, das war wie süßes Gift. Er hätte nicht kommen dürfen. Es war beinahe so, wie bei ihrer ersten zufälligen Begegnung, wo sie zwei Fremde gewesen waren, die nichts voneinander wussten und sich doch so angezogen fühlten. Nicki verspürte eine leichte Aufgeregtheit, eine Stimme in ihr sagte, dass sie jetzt nichts tun durfte, was sie hinterher bereuen würde.

Mathias Graf von Hilgenberg und Nikola Beck, die selbst kaum noch wusste, dass sie so hieß, weil jeder sie nur Nicki nannte. Nein, nochmals nein!

Es ging nicht, es wäre nicht gegangen …

»Mathias, das glaube ich nicht«, sagte sie rasch. »Ich habe es einfach nicht mit dem Adel. Ich wäre nicht die richtige Frau für dich. Glaub mir das bitte. Du hast jemanden verdient, dem es Spaß macht, sich an deiner Seite zu präsentieren, zu repräsentieren.«

Mathias lachte.

»Nicki, woher hast du diese Weisheiten? Aus Glanzzeitschriften? Nein, das glaube ich nicht, dass du so etwas liest, wo den Lesern eine Welt vorgegaukelt wird, die fernab ist jeglicher Realität. Die Wirklichkeit sieht so ganz anders aus. Um alles erhalten zu können, müssen wir hart arbeiten, das Geld zusammenhalten. Wir leben wie Hinz und Kunz, nur in größeren Häusern. Und das tun noch nicht einmal alle Adeligen, nicht jeder hat ein Schloss oder ein repräsentatives Anwesen, sondern lebt auf einer Etage, manchmal sogar nur zur Miete. Aber darüber will ich jetzt auch nicht länger reden, und ich will dich nicht aufhalten. Nicki, ich kenne deine Einstellung, und ich respektiere sie. Es war mir einfach wichtig, dir zu sagen, dass die Begegnung mit dir mir unvergesslich bleiben wird. Du bist ein besonderer Mensch, und der Mann, der dich gewinnen kann, ist zu beneiden.«

Jetzt war der Moment, etwas zu sagen, sie holte tief Luft, doch er ließ es nicht dazu kommen.

»Nicki, sag jetzt nichts. Darf ich dich zum Abschied in meine Arme nehmen?«

Sie nickte.

Abschied …

Seine Arme umschlossen sie sanft, und sie kam sich vor wie auf einem sicheren Floß, das er unbeschadet durch gefährliche Gewässer führte.

Das alles hätte sie haben können …

Sie gab sich dem Gefühl hin, genoss seine Nähe, und dann war es vorbei. Er ließ sie los, lächelte, strich ihr sanft über die Wange, etwas, was sich anfühlte wie ein Flügelschlag, dann sagte er: »Lebwohl, und pass auf dich auf.«

Nach einem letzten Blick wandte er sich ab, verließ sehr rasch ihre Wohnung. Sie zuckte zusammen, als die Tür zuschlug.

Sie war allein.

Allein mit einem wunderschönen Blumenstrauß und einem Duft nach Sandelholz und Citrusfrüchten, der noch im Raum ging, sich aber allmählich verflüchtigte.

Gäbe es die Blumen nicht, würde sie jetzt glauben, geträumt zu haben.

Es war kein Traum, Mathias war hier gewesen, und er hatte wunderbare Worte gebraucht, die in ihr nachklangen, »Magic Moment«, magischer Moment. Er hatte es ebenfalls so empfunden. Sie hätten an ihrer ersten wunderbaren Begegnung anknüpfen können, sie hatte sich gewehrt, weil sie mit einem Grafen nichts zu tun haben wollte. Dabei waren Grafen auch nur Menschen, und sie hätte sich auf eine vorsichtige Annäherung einlassen sollen.

Hätte … hätte …

Sie hatte nicht, und sie wusste noch, wie aufgebracht sie deswegen gewesen war und ihm vorgeworfen hatte, er erwarte von ihr wie in der Schule gute Noten. Was für ein Unsinn! Mathias war ein ernsthafter Mensch, der sich nicht auf eine unverbindliche Liebelei einließ. Und sie war eine dumme Gans, anders konnte sie sich nicht bezeichnen, die immer wieder ihr Glück mit Füßen trat.

Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen.

Was wollte sie eigentlich vom Leben?

Der Prinz auf dem weißen Pferd würde nicht kommen, so etwas gab es nicht im wahren Leben.

Und wenn da mal ein wirklich guter Mensch da war, dann vermasselte sie es sich selbst.

Roberto Andoni …

Sie hatte ihn geliebt, er war von ihr beinahe besessen gewesen, wollte alles für sie tun.

Und sie?

Sie hatte sich von ihm getrennt, weil es ihr nicht passte, dass sie wegen seiner Arbeitszeiten nur selten mit ihr gemeinsam frühstücken konnte. Wie absurd war das denn, alles von einem Frühstück abhängig zu machen. Ihre Nachfolgerin war schlauer gewesen, sie hatte sich auf ihn eingelassen, und sie war belohnt worden. Sie lebte jetzt mit Roberto in der wunderschönen Toscana auf einem herrlichen Landsitz zwischen Weinbergen und uralten Olivenbäumen, und sie hatten zwei gemeinsame Kinder.

Das alles hätte sie haben können …

Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Und wenn man Mathias nahm.

Wie besessen war sie ihm nachgejagt, hatte versucht, ihn zu finden, war zu Kartenlegern, Wahrsagern, Kaffeesatzlesern gegangen, hatte sich aus der Kristallkugel lesen lassen. Sie hatte sich und ihre Umwelt verrückt gemacht.

Und dann …

Dann hatte sie Mathias zufällig getroffen, auf seinem Landsitz unterhalb der Felsenburg, als den Besitzer, als den Grafen von Hilgenberg.

Da hatte sich bei ihr ein Schalter umgelegt, sie war geradezu geflohen, und sie war stur geblieben, selbst als er sie aufgesucht hatte, um ihr alles zu erklären, um eine Chance zu bitten.

Er hatte alles getan, sie war stur geblieben.

Roberto …

Mathias …

Zwei wahre Lieben, denen sie sich verweigert hatte, aber einem Malcolm Hendersen, der verheiratet war, und wie sie alle sonst noch hießen, hatte sie jede Chance gegeben, hatte sich vor ihnen beinahe erniedrigt.

Mit ihr stimmte etwas nicht!

Sie hatte Angst vor einer ernsthaften Beziehung!

Sie sollte mal zu einem Psychiater gehen und das untersuchen lassen.

Sie weinte still vor sich hin, um sich, um ihre verlorenen Lieben …

Aber da gab es doch noch Peter Bredenbrock!

Sie war sich so sicher gewesen, ihn zu lieben.

War das nur ein Strohfeuer gewesen? War er interessant, weil er nur mit seinen beiden Kindern im Gepäck zu bekommen war?

Nicki verstrickte sich in Gedanken, die sich im Nichts verloren, weil sie sich da etwas zusammenkonstruierte, was in der Realität keinen Bestand hatte.

Sie versuchte, Peter und die Kinder separat zu sehen.

Sie versuchte, ihn mit Roberto und Mathias zu vergleichen. Das ging überhaupt nicht. Doch es machte ihr etwas klar. Sie mochte Peters besonnene Art, sie hatte auch ein wenig Mitleid mit ihm, weil er von seiner Ehefrau verlassen worden war, sie hatte ihn mit den Kindern sitzen gelassen.

Konnte und wollte sie in deren Rolle schlüpfen?

Die Kinder taten ihr leid …

Doch Mitleid war kein guter Begleiter, denn es brauchte sich irgendwann auf. Und was blieb dann?

Nicki bekam vor lauter Aufregung feuchte Hände.

Was immer es auch gewesen war, wie sie zu Peter Bredenbrock hingezogen hatte, Liebe war es nicht. Zumindest nicht das, was sie sich unter Liebe vorstellte.

Vielleicht verlangte sie ja wirklich nach etwas, was es im wahren Leben nicht gab. Sie war noch jung genug, weiterhin zu suchen, zu warten.

Und wenn nicht …

Nirgendwo stand geschrieben, dass man, um durchs Leben zu kommen, verheiratet sein musste.

Vielleicht war es ihr Schicksal, als Single durchs Leben zu gehen?

Viele Gedanken wirbelten durch Nickis Kopf, sie lachte, sie weinte.

Am Ende ihres Gedankenkarussells kam auf jeden Fall heraus, das es richtig gewesen war, den Heiratsantrag abzulehnen.

Sie konnte keinen Mann mit pubertären Kindern heiraten. Das würde sie überfordern. Sie würde mit Peter, mit Maren und mit Tim sprechen.

Nicki fühlte sich, was die Bredenbrocks betraf, ein wenig erleichtert, wenn sie allerdings an Mathias dachte, war sie ein wenig traurig, doch das nur ganz kurz.

In einer Wohnung wie dieser hier, vielleicht ein bisschen größer, konnte sie es sich vorstellen, mit ihm zu leben. In einem Schloss? Nein! Das ging überhaupt nicht!

Mathias würde nicht zurückkommen, damit war nicht zu rechnen. Dennoch konnte es nicht schaden, ein wenig ihre Wohnung aufzuräumen.

Ja, das war eine gute Idee, die sie auch direkt in die Tat umsetzte.

Was für ein Tag …

*

Rosmarie war müde und aufgeregt zugleich. Sie und Heinz hatten beinahe die ganze Nacht über geredet. Doch das war so reinigend gewesen wie die Luft nach einem Gewitter, und das hatte nun mal über ihnen getobt.

Heinz wollte wirklich mit ihr verreisen, doch ganz konnte Rosmarie es noch nicht glauben, denn Heinz war überfällig.

Er hätte bereits vor einer halben Stunde hier sein müssen.

Rosmarie blickte auf das Gepäck, das bereitstand, es war alles geregelt, Meta, ihre treue Haushälterin, würde nicht nur auf die Hunde aufpassen. Auf sie war Verlass.

War auch Verlass auf Heinz?

Er hatte ihr schon viele Versprechungen gemacht, er hatte kürzertreten wollen, um mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Das war eine ganze Weile her. Professor Auerbach hatte es durchgezogen, und auch der war mit seiner Arbeit verheiratet gewesen.

Was sollte sie jetzt tun?

Seinen Koffer stehen lassen und einfach allein losfahren? Welche Konsequenz würde das haben?

Bedeutete das die endgültige Trennung, und war alles, was in der Nacht gesagt worden war, Worte, die der Wind verwehte?

Meta war mit den Hunden unterwegs, sie waren unruhig gewesen, hatten eine Veränderung gespürt, Rosmarie wollte ihnen den Abschied erleichtern. Aber Meta würde gleich zurückkommen, und dann?

Rosmarie gab sich einen Ruck.

Heinz würde nicht kommen, wahrscheinlich hatte er alles vergessen, was er versprochen hatte, war von seiner Arbeit gefangen, fühlte sich unentbehrlich, unersetzlich.

Sie stand auf. Gerade, als sie nach dem ersten Gepäckstück greifen wollte, kam Heinz hereingestürzt.

»Entschuldige, ich wurde aufgehalten«, rief er, »und ich hatte eine Riesenangst, du könntest ohne mich losgefahren sein. Ich kenne dich.«

»Und dass es Telefone gibt, das hast du vergessen?«

»Habe ich nicht, aber ich wollte verhindern, dass ich mich am Telefon verraten könnte.«

Verraten?

Er nahm sie in seine Arme, lachte sie an.

»Rosmarie, ich hoffe, du bist damit einverstanden, dass ich da etwas geändert habe. Ich habe einen komfortablen Wohnwagen gemietet und einen Jeep, der ihn zieht. Wie du weißt, habe ich an meinem Wagen keine Anhängerkupplung. Mit einem Jeep fahren wollte ich schon immer, und wenn ich mich recht daran erinnere, hattest du damals einen Traum von einem Urlaub in einem Wohnwagen, als Fabian und Familie davon schwärmten. Ich habe es nicht vergessen.«

Weil Rosmarie nichts sagte, fuhr er fort: »Ich dachte, wenn schon ein Neuanfang, dann richtig. Mit einem Wohnwagen sind wir frei und ungebunden, können fahren, wohin wir wollen, können anhalten, wo wir möchten.« Er lachte sie an. »Was ist, bist du dabei?«

Rosmarie schluckte.

Dieser Mann war ihr Heinz, der dröge Notar?

»Welche Frage, natürlich bin ich dabei. Mein Gott, Heinz, ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Du musst nichts sagen, wie wäre es denn mit einer Umarmung?«

In welchem Film spielte sie jetzt eigentlich mit?

Solche Worte aus dem Mund ihres Mannes?

Rosmarie war nicht nur sprachlos, sie stand wie angewurzelt da, weil sie das erst einmal verarbeiten musste.

Heinz machte ein paar Schritte auf sie zu, umfasste sie und sagte: »Wir müssen los, ehe Meta mit den Hunden zurück ist. Sie zurückzulassen, das ist ein wenig bitter. Aber mit ihnen dabei hätten wir nicht alle Möglichkeiten, etwas auszuprobieren. Ich bin aufgewacht, danke, dass du mir die Augen geöffnet hast.« Sie bedauerte, dass er sie jetzt nicht küsste, sondern nach zwei Gepäckstücken griff.

Sie hatten Zeit, hoffentlich viel Zeit.

Sie schnappte sich eine Reisetasche, und als sie Heinz folgte, war sie überwältigt. Vor der Villa stand er Jeep in einem satten Grün, und dahinter war der Wohnwagen zu sehen, der erstaunlich groß war.

Heinz verstaute die ersten Gepäckstücke im Kofferraum, dann wandte er sich, stolz wie ein kleiner Junge, an Rosmarie: »Und, was sagst du?«

Sie sagte nicht, dass sie jetzt doch ein paar Bedenken hatte. Konnte Heinz mit einem solchen Gefährt umgehen? Würde sie in einem Wohnwagen schlafen können? Wäre ein Aufenthalt in einem Hotel nicht komfortabler?

»Ich freue mich.«

Er lachte.

»Dann lass uns das letzte Gepäck holen, und dann geht es los. Ich freue mich ebenfalls, weißt du, ich fühle mich auf einmal jung und unternehmungslustig. So, wie ganz früher, ehe meine Leichtigkeit verloren ging.«

Er lief zurück ins Haus, sie folgte ihm. Sie hatte Herzklopfen, und in ihr war ein Gefühl, das sie nicht kannte.

Sie sah die beeindruckende Villa, viel zu groß, viel zu bombastisch, aber sehr komfortabel. Das würde sie eintauschen gegen die Enge eines Wohnwagens. Konnte man sich darauf wirklich freuen?

Ja, das konnte man.

Heinz und sie fuhren nicht nur ins Unbekannte, nein, es war auch eine Reise zu sich selbst.

Das war nicht ganz ungefährlich. Mit Nähe konnten sie beide nicht umgehen. Aber lernen konnte man in jedem Alter, das hatte sie gerade erst unter Beweis gestellt, sie war eine andere geworden, und sie wollte niemals mehr zurück in ihr altes Leben.

Sie blickte Heinz an, der sie anstrahlte.

»Steig ein, mein Herz, unsere Reise beginnt.«

Er half ihr galant in den Jeep, der längst nicht so bequem und komfortabel war wie sein Auto, aber er war zuverlässiger und er konnte das ziehen, was für hoffentlich eine lange Zeit ihr Zuhause sein würde.

Es war verrückt!

Die Rückerts waren mit Jeep und Wohnwagen unterwegs!

Darauf hätte sie selbst niemals gewettet. Daran konnte man sehen, wie schnell sich etwas ändern konnte. Manchmal reichten ein heftiges Gewitter und ein Sturm, der alles durcheinanderbrachte.

Sie verließen die stille Villenstraße, Rosmarie warf keinen Blick zurück.

Es konnte nur besser werden, und ihr Heinz, wie er strahlte, und wie geschickt er den Jeep mit dem Wohnwagen lenkte.

Sie sah ihn plötzlich mit ganz anderen Augen, und das war gut so.

Ihre Hände ruhten auf ihrem Schoß. Rosmarie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Heinz sie plötzlich mit seiner Rechten berührte.

»Wahrscheinlich habe ich es dir noch nie zuvor gesagt, dann tue ich es jetzt: Rosmarie, ich möchte mit dir alt werden.«

Solche Worte aus seinem Mund waren mehr als eine Liebeserklärung, mehr als die Worte – ich liebe dich.

Sie hatte Tränen in den Augen, als sie leise erwiderte: »Das möchte ich doch auch.«

Dann musste er seine Hand wegnehmen, denn er musste die Fahrbahn wechseln, und das erforderte seine volle ­Konzentration.

*

Pamela befand sich mit ihrer Klasse für ein paar Tage im Schullandheim, und Inge beschloss, ihrer Tochter eine Freude zu machen. Pamela wünschte sich unbedingt ein rotes Kleid, und leider hatten sie bislang nirgendwo eines gefunden, das ihren Wünschen entsprach. Aber es gab ein Foto, und deswegen war es für Inge einfach, roten Stoff zu kaufen, und Pamela das Kleid ihrer Träume zu nähen.

Inge war nicht nur eine sehr gute Hausfrau, eine ebenso gute Bäckerin, nein, sie konnte ganz hervorragend nähen und hatte schon manches wunderschöne Kleidungsstück gezaubert.

Sie war sich sicher, dass Pamela sich freuen würde, und das motivierte sie noch mehr.

Sie saß an ihrer Nähmaschine, als Werner ins Zimmer kam.

Sie hielt inne, blickte erstaunt auf.

»Ich nähe gerade«, sagte sie, »doch wenn du einen Kaffee haben möchtest, dann unterbreche ich meine Arbeit.«

Werner winkte ab.

»Einen Kaffee möchte ich nicht, aber ich will mit dir reden, Inge.«

Oje!

Werner hatte offensichtlich noch immer nicht verwunden, dass Hannes ihn nicht in seine Pläne eingeweiht hatte, das nagte an seinem Ego. Der bewunderte Professor Auerbach wurde von seinem jüngsten Sohn ignoriert. Sie hatten mehr als nur einmal darüber diskutiert. Konnte Werner nicht aufhören damit? Deswegen störte er sie bei ihrer Arbeit? Das Kleid musste fertig sein, wenn Pamela wieder nach Hause kam, das war viel wichtiger als Werners Befindlichkeiten.

»Werner, wenn du jetzt wieder von Hannes anfangen willst, dann lass es bleiben.«

»Wollte ich eigentlich nicht«, sagte Werner ganz irritiert, »doch wenn du es schon mal in den Raum wirfst, dann kann ich nur sagen: Ich finde es unmöglich, dass Hannes mich übergangen hat, ja, ich gebe zu, dass es mich noch immer kränkt.«

»Werner, du hast Probleme damit, wenn du nicht im Mittelpunkt stehst. Hannes ist nicht einer deiner Studenten, die du früher, als du noch an der Uni lehrtest, durchs Examen peitschen musstest, wolltest, was auch immer. Hannes ist dein Sohn, ein selbstbewusster, aber auch ein sensibler junger Mann, dem gerade sein Leben um die Ohren fliegt. Da braucht er Zuwendung, keine Ratschläge.«

»Willst du damit sagen, dass ich meine Kinder nicht liebe?«, begehrte der Professor auf.

Inge verdrehte die Augen.

»Nein, Werner, will ich nicht. Aber du weißt so gut wie ich, dass du dich gern in deren Leben einmischst, dass du gern Vorgaben machst und dass du enttäuscht bist, wenn diese nicht befolgt werden. Das war bei Ricky so, bei Jörg, Pamela ist noch zu jung. Aber mit Hannes hast du es besonders, weil er sich dem, was du für ihn geplant hast, am liebsten sofort wieder planen würdest, widersetzt.«

»Ich kam doch überhaupt nicht dazu, hätte er mir bloß etwas gesagt, dann hätte ich ihm diese Flausen mit dem Jakobsweg ausgetrieben.«

»Wie du versucht hast, ihm Australien zu vermiesen, das mit Sundance I und II.«

»Aber zu der Weltreise nach dem Abitur habe ich Hannes ermuntert«, rief Werner.

Inge nickte.

»Ja, Werner, das stimmt, doch das hast du nicht für Hannes getan, sondern weil du durch ihn deinen alten Traum leben wolltest. Er sollte die Weltreise machen, die du nicht machen konntest, nicht machen durftest.«

Er wurde ein wenig verlegen, weil das tatsächlich stimmte.

»Hätte ich geahnt, was sich daraus entwickelt, hätte ich niemals zugestimmt und Hannes auch nicht unterstützt.«

»Werner, du hast es getan, es­ ist vorbei, wir müssen darüber nicht mehr reden. Wenn sonst nichts ist, dann lass mich bitte an dem Kleid für Pamela weiternähen, damit es fertig ist, wenn sie nach Hause kommt.«

»Es ist ja schön, dass du für sie nähst, aber sag mal, Inge, muss es ausgerechnet ein rotes Kleid sein?«

Werner mischte sich wirklich in alles ein, sie hielt es jedoch für besser, ihm das nicht vorzuwerfen.

»Es muss ein rotes Kleid sein, Werner, weil sich unsere Tochter ein rotes Kleid wünscht.«

Sie wollte sich wieder ihrer Arbeit zuwenden, als er sagte: »Wir sollten vielleicht auch mal etwas Verrücktes tun wie Rosmarie und Heinz, das würde unsere Ehe ganz bestimmt ein wenig beleben.«

Was hatte er da gesagt?

Rosmarie und Heinz?

Inge begann prustend zu lachen.

»Werner, sollte das jetzt ein Witz sein? Die beiden ersticken doch in Langeweile. Nein, danke, mit Rosmarie und Heinz möchte ich nicht tauschen, und ich möchte auch nichts davon erleben, was deren Leben prägt. Heinz verbringt sein Leben in seinem Notariat, und Rosmarie kann ihrem Mann nicht nahebringen, dass sie sich verändert hat und ihr altes Leben nicht mehr führen möchte.«

Werner setzte sich wieder.

Inge wollte sich endgültig ihrer Näharbeit zuwenden. Sie hatte unnötige Zeit verloren.

»Inge, warte. Ricky hat vorhin angerufen, sie konnte dich nicht erreichen, ich habe das Telefon zufällig gehört und abgenommen …«, er machte eine kurze, bedeutsame Pause, »gut, dass du sitzt. Ricky hat mir nämlich erzählt, dass ihre Schwiegereltern mit einem Jeep und Wohnwagen zu einer Reise ins Unbekannte aufgebrochen sind.«

Werner musste sich verhört haben.

»Werner, ich habe vorgestern mit Rosmarie telefoniert, sie hat sich darüber beklagt, dass sich bei Heinz nichts ändert, dass sie zu Cecile fahren will, um Klarheit über ihr Leben zu bekommen. Und so, wie sie es gesagt hat, hörte es sich überhaupt nicht gut an, für Heinz, meine ich.«

»Es hat sich alles geändert, das Gewitter hat wohl dazu beigetragen, hat sie aufgerüttelt. Auf jeden Fall haben sie gemeinsam beschlossen zu verreisen, und Heinz hat eines draufgesetzt und den Jeep und den Wohnwagen gemietet. Sie sind weg. Und niemand weiß, wohin sie gefahren sind und wie lange sie bleiben werden.«

Inge schob ihre Näharbeit beiseite, jetzt hatte sie nicht die Nerven, sich darauf zu konzentrieren, sie würde ja keine gerade Naht zustande bringen.

Rosmarie und Heinz waren mit einem Jeep und einem Wohnwagen unterwegs!

Es war für Inge einfach unvorstellbar. Gut. Rosmarie war nicht mehr das Luxusweibchen, das sie mal gewesen war. Aber Inge konnte sich die Gute in einem Wohnwagen einfach nicht vorstellen, und Heinz in einem Jeep mit einem Wohnwagen im Schlepp, diese Vorstellung überstieg ihre Fantasie.

»Sie sind wirklich unterwegs«, beteuerte Werner.

Inge wandte sich ihrem Mann zu.

»Würdest du mit mir ebenfalls zu einer solchen Reise aufbrechen, Werner?«

Er zögerte.

»Na ja, Jeep und Wohnwagen, ich glaube, das wäre nicht unbedingt mein Ding, aber zu einem Segeltörn würde ich mit dir aufbrechen.«

Das würde Werner niemals tun, deswegen versuchte Inge, es ein wenig ins Lächerliche zu ziehen. »Natürlich rund um die Welt.«

Er ging auf ihren Ton nicht ein, sondern blieb ernst.

»Nö, das nicht, aber rund um Mallorca würde ich mit dir segeln. Weißt du noch, wir waren gerade erst kurz verheiratet, da haben wir das gemacht. Und es war wunderschön.«

Inge nickte.

»Ja, Werner, das war es in der Tat, doch ich muss dich korrigieren, wir waren noch nicht verheiratet. Im Yachthafen von Portals Nous, zwischen all den beeindruckenden Yachten hast du mir nämlich einen Heiratsantrag gemacht.«

Er sagte nichts, versank in Erinnerungen.

»Weißt du es wieder, Werner?«

Beinahe empört blickte der Professor seine Frau an.

»Ich bitte dich, Inge, wie könnte ich das jemals in meinem Leben vergessen.«

Ihr Werner vergaß schnell, denn sonst könnte er sich vermutlich daran erinnern, dass er gerade erst vor ein paar Minuten steif und fest behauptet hatte, sie seien damals miteinander schon verheiratet gewesen.

Ach, was sollte es. Darauf kam es wirklich nicht an.

Mit dem Segelboot um Mallorca …

Das war so unbeschreiblich schön gewesen. Mit dieser Reise waren die herrlichsten Erinnerungen verbunden. Nicht nur wegen des Heiratsantrages, den er ihr gemacht und den sie natürlich freudigen Herzens angenommen hatte. Sie waren jung, unbeschwert und so unglaublich verliebt gewesen. Sie hatten sich sorglos treiben und die Seele baumeln lassen, sie waren hart am Wind gesegelt. Sie hatten Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge genossen, sie hatten sich, von Wind und Sonne umspielt, geliebt, hatten die Welt vergessen. Es gab nur noch sie, liebkost von den Elementen, begleitet vom Gekreische der Möwen. Die Zeit hatte still gestanden …

Inge wollte jetzt nicht sentimental werden.

»Ich brauche jetzt unbedingt einen Kaffee«, sagte sie, und den brauchte sie wirklich. »Trinkst du einen mit?«

»Ja, natürlich, sehr gern sogar. Aber sag mal, Inge, hast du vielleicht noch etwas von diesem köstlichen Käsekuchen? Davon würde ich jetzt sehr gern ein Stückchen essen.«

»Den kannst du haben«, versprach Inge.

Während sie hinunter in die große, gemütliche Wohnküche gingen, den Raum, der der ­Lebensmittelpunkt der Auerbachs war, blieb Inge still, während Werner unaufhörlich redete.

Inge hörte ihrem Mann kaum zu. Sie musste sich erst einmal sortieren, das mit den Rückerts verdauen. Es war unglaublich, was Werner ihr da erzählt hatte. Doch viel mehr noch tauchte sie in die Vergangenheit ein. Es waren so unglaubliche Erinnerungen voller Liebe und Zärtlichkeit, voller Unbeschwertheit und Lebensfreude.

Wie schön es gewesen war …

So etwas sollte man sich immer wieder mal aus der Kiste der Erinnerungen holen.

Werner war die Liebe ihres Lebens. Sie waren trotz aller Unterschiedlichkeit seelenverwandt. Ohne ihren Werner war Inge nicht vollständig.

Dieses Déjà vù beflügelte ihre Fantasie.

Inge hakte sich bei ihm ein, blickte ihn an. Überwältigt von ihren Gefühlen sagte sie: »Werner, ich liebe dich.«

Er blieb stehen.

Was war denn mit seiner Inge los?

Das hatte sie ihm ja schon seit gefühlten Ewigkeiten nicht mehr gesagt. Doch es war schön.

Er umarmte sie, dann sagte er ganz gerührt: »Und dafür bin ich dir unendlich dankbar, mein Herz. Du weißt schon, dass ich dich ebenfalls über alles liebe, oder? Du bist das Beste, was mir in meinem Leben passieren konnte. Ohne dich wäre ich nicht das geworden, was ich bin. Du großartige Frau hast mir immer den Rücken freigehalten, du hast niemals gemurrt, hast unsere Kinder zu großartigen Menschen erzogen. Du bist einzigartig, und ich bin froh, dass es dich gibt, dass du mich wolltest, dass du mich noch immer erträgst, obwohl ich manchmal unleidlich bin. Es ist so schade, dass es keinen Preis gibt für die allerbeste Ehefrau, die allerbeste Mutter von der ganzen Welt. Ich sage dir, du würdest ihn sofort bekommen.«

Dann küsste er sie, und es fühlte sich beinahe so an, wie damals in dem unbeschwerten Sommer auf dem Segelboot vor Mallorca …

*

Sophia von Bergen trank gerade ihren Tee, als ihre Tochter Angela ins Zimmer kam.

»Du bist schon da, mein Kind?«, erkundigte Sophia sich. »Hast du heute früher Schluss gemacht?«

Angela holte sich eine Tasse, schenkte sich ebenfalls einen Tee ein, trank etwas, dann sagte sie: »Es ist vorbei, Mama. Heute war mein letzter Arbeitstag.«

Es war damit zu rechnen gewesen, seit bekannt war, dass Mathias von Hilgenberg, dank einer für ihn glücklichen Fügung, der neue Schlossherr von Schloss Hilgenberg werden würde.

Aber wenn der Tag erst einmal da war, riss er einem den Boden unter den Füßen weg. Angela war so glücklich gewesen, einen Job oben im Anwesen bekommen zu haben, und es hatte ganz den Anschein gehabt, als sei er für viele Jahre gesichert.

Ja, ja, es kam immer anders als man dachte.

Sophia wusste nicht, was sie jetzt sagen sollte, denn sofort meldete sich bei ihr ihr schlechtes Gewissen. Wäre sie nicht krank geworden, wären sie nicht hier, dann hätte Angela ihr altes Leben, vor allem keine finanziellen Probleme.

Angela blickte ihre Mutter an.

»Mama, mach jetzt bitte nicht ein solches Gesicht. Es ist nichts passiert. Ich habe nur meinen Job verloren. Das passiert täglich einer Vielzahl von Menschen. Im Gegensatz zu denen darf ich mich nicht beklagen. Mathias hat mich, ohne dass er dazu verpflichtet gewesen wäre, sehr großzügig abgefunden. Das Geld reicht erst einmal für eine Weile.«

»Es hat dir Spaß gemacht, mein Kind.«

Angela ergriff die feine, schmale, aristokratische Hand ihrer Mutter.

»Mama, erinnere dich bitte, was dir in deinem Leben schon alles Spaß gemacht hat, es wurde dir genommen, und niemand hat Rücksicht genommen. Das Leben geht weiter, ich bin gesund, und ich danke dem Himmel jeden Tag erneut, dass er dir deine Gesundheit weitgehend wieder geschenkt hat. Erinnere dich bitte, um dein Leben hat niemand auch nur einen Pfifferling gegeben. Gesundheit ist das höchste Gut auf Erden, und solange man gesund ist, kann einem nichts passieren. Und sagst du nicht immer, dass man nach vorne blicken soll?«

Sophia von Bergen konnte ihrer Tochter keine Antwort geben, denn draußen war jemand drauf und dran, die Türklingel abzureißen.

Angela sprang auf, rannte zur Haustür, und dort wurde sie sofort umarmt.

»Wir sind wieder da, und unser erster Weg führt uns zu dir und zu Sophia.«

Es waren Maren und Tim Bredenbrock, die an ihr vorbeistürmten, Sophia um den Hals fielen, die zu strahlen begann. Die Kinder hatten ihr gefehlt.

»Was ein Glück, dass wir Schokolade im Haus haben, die mögt ihr doch noch, nicht wahr? Setzt euch, erzählt, wie war es in Ägypten.«

Angela war froh, dass das Jobthema jetzt erst einmal vom Tisch war. Sie lief in die Küche, weil sie unbedingt Kakao kochen wollte, Tim folgte ihr, weil er die versprochene Schokolade holen wollte, aber auch, um Angela ein wenig für sich allein zu haben. Er hing sehr an ihr, und sie wäre noch immer seine erste Wahl, wenn sie bloß ein wenig jünger wäre. Er würde Angela wollen, auch wenn Nicki ganz nett war.

Sie umarmte den Jungen, strich ihm über das strubbelige Haar, dann wollte sie wissen: »Und was hat dir am besten gefallen, Tim?«

Er überlegte.

»Eigentlich war alles schön, aber besonders cool war, als wir auf Kamelen durch die Wüste reiten durften, von einer Tempelanlage zur nächsten. Maren hatte ganz schön Schiss, ich glaube, die war froh, als sie von dem Kamel wieder unbeschadet heruntersteigen konnte.«

Unbemerkt war Maren in die Küche gekommen. »Angela, glaub kein Wort. Es war anders herum. Tim hat sich wie ein Irrer festgehalten, ich glaube, er hatte die Hosen voll.«

Tim wirbelte herum.

»Du spinnst, das ist überhaupt nicht wahr.«

Schon wollte er auf seine Schwester losgehen, als Angela dazwischentrat. »Ihr habt es beide überlebt, als ich damals in Ägypten war, da hätte man mich nicht für Gold und gute Worte auf ein Kamel bekommen. Die sind ganz schön hoch.«

Tim grinste. »Das sind sie, aber glaub mir, ich hatte wirklich überhaupt keine Angst.«

»Kann ich schon mal die Schokolade haben?«, erkundigte Maren sich, deswegen war sie schließlich in die Küche gekommen.

Angela reichte ihr die Schokolade, und plötzlich hatte auch Tim es eilig, die Küche wieder zu verlassen. Er traute seiner großen Schwester nicht.

Maren und Tim hingen sehr aneinander, besonders, seit das mit ihrer Mutter passiert war. Aber sie waren Geschwister, da gab es immer Rivalitäten, besonders, wenn da eine sehr dominante große Schwester war. Aber um die beiden musste man sich keine Sorgen machen, sie waren ganz wunderbare Kinder und für die Damen von Bergen auf jeden Fall eine große Bereicherung.

Angela beeilte sich mit dem Kakao, und als sie den in das schöne Wohnzimmer brachte, stand auf dem Tablett auch noch eine Schale mit Keksen, von denen sie wusste, dass die beiden die sehr mochten.

Nachdem sie ihren Kakao genossen hatten, natürlich auch die Kekse, und von der Schokolade war außer dem Papier längst nichts mehr zu sehen, sagte Maren: »Wir haben euch aus Ägypten auch etwas mitgebracht.«

Sie griff in ihre Tasche und holte für Sophia einen kleinen Skarabäus hervor, aus weißem Alabaster.

Tim schenkte Angela ebenfalls so einen kleinen Mistkäfer, den man in Ägypten an jeder Ecke fand, allerdings war der türkis, und natürlich hatte Maren dazu sofort etwas zu sagen: »Angela, Tim war nicht davon abzubringen, den zu kaufen, obwohl es kein echter Türkis ist, er ist nur angemalt.«

Tim hätte beinahe angefangen zu weinen, das allerdings verhinderte Angela, indem sie sagte: »Es ist aber genau richtig für mich, türkis ist zufällig eine meiner Lieblingsfarben, und ich hatte schon mal einen türkisen Skarabäus, doch der hat sich scheinbar in Luft aufgelöst, danke, dass ich jetzt einen neuen habe.«

Tim begann zu strahlen, warf seiner Schwester einen triumphierenden Blick zu, und die war sauer, jetzt keine Punktlandung erreicht zu haben.

Es war schnell vergessen, weil es sehr viel zu erzählen gab, und so wurde es für alle so richtig schön. Gewiss wäre es so weitergegangen, wenn Marens Handy nicht geklingelt hätte. Ihr Vater wollte, dass sie nach Hause kamen.

»Schade, ich komme morgen wieder«, rief Tim, umarmte Angela und Sophia.

»Ihr habt uns wirklich gefehlt«, sagte Maren, und dann umarmte auch sie die beiden Damen, doch sie tat es anders herum. Sie fing bei Sophia an, dann kam Angela. Und die begleitete ihre Besucher noch zur Tür, winkte, bis von den beiden nichts mehr zu sehen war.

»Sie sind so wonnig«, strahlte Sophia, als ihre Tochter wieder ins Wohnzimmer kam, »jetzt erst merke ich, wie sehr sie mir gefehlt haben. Und ist es nicht rührend? Sie haben an uns gedacht und uns sogar etwas mitgebracht.«

Sie sprachen über Maren und Tim, und Angela atmete insgeheim auf.

Das mit dem verloren gegangenen Job interessierte ihre Mutter nicht mehr. Vorerst nicht. Wie sie ihre beharrliche Mutter kannte, würde sie darauf zurückkommen. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Aber sie liebte sie über alles, ihre Mama, und Angela bedauerte nicht einen Augenblick lang, dass sie für ihre Mutter ihr altes Leben aufgegeben hatte.

An ihren Exmann dachte sie nicht einmal mehr, und sie war so unglaublich froh, dass sie auf Teresa von Roth gehört und ihren Mädchennamen wieder angenommen hatte. Angela von Bergen, das klang viel, viel schöner als Angela Halbach, doch darum war es ihr nicht gegangen. Es war für sie nur unerträglich gewesen, den Namen eines Mannes zu tragen, der ihre Mutter eiskalt in ein Heim gesteckt hätte und der grausam darauf bestanden hatte, dass der seinerzeit abgeschlossene Ehevertrag Punkt für Punkt umgesetzt wurde. Obwohl sie für diesen Mann alles getan hatte, war ihr aus dieser Ehe nicht ein einziger Cent geblieben.

Es war vorbei!

Alles war gut, wie es war!

Es gab Sprüche, die sich immer wieder bewahrheiteten, sie glaubte an »Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.«

Das hatte sich für sie mehr als nur einmal erfüllt, sie glaubte daran, und auch an »Wenn eine Tür sich schließt, tut sich eine andere auf.«

Oben auf dem Anwesen bei Mathias von Hilgenberg hatte sie den Traumjob schlechthin gehabt, sie war Eventmanagerin gewesen für einen exklusiven Personenkreis. Sie hatte es genossen, doch sie wusste, dass das jetzt nicht das Ende war. Sie fühlte es, es würde noch mehr kommen, etwas, was das gerade übertraf.

Ob sich ihr Traum erfüllen würde, doch noch einen Partner zu finden, jemandem, der so tickte wie sie, für den eine Verbindung ein gegenseitiges Geben und Nehmen war, jemanden, mit dem sie sich blind verstand, jemanden, dem klar sein musste, dass sie mit ihrer Mutter im Gepäck reiste, denn ohne die würde sie niemals mehr etwas tun. Sie war sehr verwundbar geworden, und auch wenn es ihr Wunsch war, wusste sie wohl, dass der sich vermutlich nicht erfüllen würde.

Das Leben ging weiter.

Sie konnte dankbar sein, besonders dafür, dass es ihrer Mama wieder so gut ging, dass sie sich allein unterwegs mit einem Rollator, daheim mit einem Stock oder sogar ohne eine Gehhilfe bewegen konnte.

Das Leben war schön!

Und sie würde das bekommen, was das Schicksal für sie bereit hielt …

*

Nicki fand in ihrer Post eine Ansichtskarte von der Tempelanlage von Carnac, und spätestens seit dem Zeitpunkt wusste sie, dass Peter und die Kinder wieder daheim waren. Sie mussten vor der Postkarte angekommen sein.

Was hatte das zu bedeuten?

Nicki wusste es nicht, eigentlich konnte sie augenblicklich eh keinen klaren Gedanken fassen. Seit Mathias bei ihr gewesen war, hatte sich alles geändert. Sie hatte sehr über ihr Leben nachgedacht, und damit war sie längst noch nicht fertig.

Sie hatte einen Gedanken gefasst, mit dem sie sich immer mehr beschäftigte, doch da er für sie so ungeheuerlich war, traute sie sich nicht, laut darüber nachzudenken, schon gar nicht, mit jemandem darüber zu sprechen. Nicht einmal mit ihrer Freundin Roberta, und das hatte schon etwas zu bedeuten, denn mit der sprach sie eigentlich über alles.

Doch ehe sie sich wirklich aufraffte, musste sie Klarheit in ihr Leben bringen, Tabula rasa machen.

Und so etwas war verdammt schwer! Besonders, wenn man ja nicht einmal wusste, was man wirklich wollte.

Sie betrachtete die Karte, las die liebevollen Worte, und sie zuckte zusammen, als ihr Handy klingelte.

Die Anruferin war Maren, an die sie gerade erst noch gedacht hatte. Wenn das keine Gedankenübertragung war.

Sie meldete sich und versuchte, ihrer Stimme einen munteren Klang zu geben.

»Maren, wie schön, dass du anrufst, ich habe gerade deine wunderschöne Ansichtskarte aus Ägypten aus meinem Briefkasten geholt. Vielen Dank dafür.«

Maren ging darauf nicht ein, sie hatte offensichtlich überhaupt keine Lust auf einen Small Talk, und Roberta fragte sich, ob Peter mit seinen Kindern gesprochen hatte.

»Du kommst nicht mehr zu uns«, sagte Maren auch sofort, ohne auf das einzugehen, was Nicki da gesagt hatte.

Nicki schluckte.

»Wie kommst du denn darauf?« Das war eine dämliche Frage, und Nicki bereute die auch sofort, Maren war ein sehr sensibles, feinfühliges Mädchen.

Nicki bekam nicht sofort eine Antwort und erkundigte sich deswegen ein wenig angstvoll: »Maren, bist du noch da?«

»Der Papi hat schlechte Laune und ist traurig, du hast deine Sachen abgeholt, und dein Schlüssel lag bei uns im Briefkasten.«

Es stimmte, und Nicki war spätestens jetzt klar, dass es nicht sehr sensibel gewesen war, es so zu handhaben. Sie war nur nach ihrer eigenen Befindlichkeit gegangen, ohne darüber nachzudenken, was ein derartiges Handeln mit den Kindern, vielleicht auch mit Peter, machen würde.

Manchmal hatte sie wirklich das Gemüt eines Fleischerhundes!

»Maren, ich …, du …«

Sie war nicht in der Lage, einen vernünftigen Satz auf die Reihe zu bringen.

»Also stimmt es«, sagte Maren leise. »Willst du wegen Tim und mir nicht mit dem Papi zusammen sein? Wir können auch in ein Internat gehen, dann stören wir nicht.«

Nicki begann am ganzen Körper zu zittern.

»Maren, was redest du da für einen Unsinn, bitte höre sofort damit auf. Es stimmt nicht, und das, was mit eurem Vater und mir ist, das hat …«

Sie brach ihren Satz ab, weil sie fürchtete, sich immer mehr in etwas zu verstricken, Worte auszusprechen, die sie hinterher bereuen würde.

»Maren, ich setze mich jetzt sofort in mein Auto und komme in den Sonnenwinkel. Wir zwei müssen unbedingt reden, und wenn Tim daheim ist, mit dem spreche ich auch, und vor allem mit eurem Vater.«

Maren antwortete nicht sofort, und Nicki hatte schon Angst, sie habe aufgelegt.

»Maren …«

»Ich bin noch da, also gut, dann komm jetzt«, sagte sie, erst dann legte sie auf.

Da hatte sie sich etwas eingebrockt. Sie war auf überhaupt nichts vorbereitet und wagte sich in die Höhle des Löwen.

Sie hatte keine Angst vor einem Gespräch mit Peter, nein, es machte sie panisch nicht zu wissen, was sie Maren und Tim sagen sollte. Sie wollte die beiden nicht verletzen, sie wollte auch nicht, dass die Schuldgefühle hatten. In ein Internat, wie schräg war das denn. Das war auch überhaupt keine Lösung. Sie musste Maren solche spinnerten Gedanken unbedingt ausreden. Aber würde Maren ihr denn überhaupt noch vertrauen?

Es war alles ganz schrecklich!

Nicki war ziemlich gleichgültig, wie sie aussah. Sie hatte eine olle Jeans an, die es eigentlich schon hinter sich hatte, einen ausgeleierten Pullover. So lief sie gern zu Hause herum, weil das gemütlich war. Normalerweise ging sie so allerdings nicht auf die Straße. Egal. Sie schlüpfte in ein Paar bequeme Schuhe, riss ihre Jacke vom Haken, schnappte sich ihre Tasche, dann verließ sie ihre Wohnung. Und weil der Fahrstuhl nicht direkt kam, rannte sie die Treppen hinunter.

Es ging ihr überhaupt nicht gut.

Sich von einem Mann zu trennen, von einem Mann verlassen zu werden, das war bitter. Trennungen waren immer schmerzhaft, weil sie auch eine Form des Versagens waren, weil man es nicht geschafft hatte. Doch Erwachsene konnten damit ganz anders umgehen als Pubertierende. Ganz besonders konnte man es nicht, wenn man das Gefühl des Verlassenwerdens hautnah erlebt hatte. Und das war bei Maren und Tim der Fall. Erschwerend kam bei den beiden hinzu, dass es ihre Mutter gewesen war, die gegangen war. Mütter waren für ihre Kinder die wichtigsten und engsten Bezugspersonen überhaupt. Zumindest sollte es so sein und war es zum Glück auch.

Oh Gott! Oh Gott!

Was hatte sie bloß wieder angerichtet?

Warum hatte sie nicht ihren Verstand gebraucht, sondern einzig und allein ihre eigenen Befindlichkeiten gesehen?

Es war kaum auszuhalten!

Zum Glück musste Nicki jetzt ihren Wagen nicht aus der Tiefgarage holen. Aus lauter Bequemlichkeit hatte sie den direkt vor der Haustür geparkt. Sie sprang hinein und fuhr mit quietschenden Reifen los, wie man es normalerweise nur bei Verfolgungsjagten in Krimis im Fernsehen sah. Das brachte Nicki so manches Kopfschütteln ein, allerdings auch eine Anzeige, weil sie viel zu schnell fuhr und die angezeigte Begrenzung deutlich überschritt. So etwas ärgerte sie normalerweise, weil es vermeidbar war.

Heute bekam sie es nicht einmal richtig mit, weil ihre Gedanken davongaloppierten wie eine Herde aufgescheuchter Wildpferde.

Wie sollte sie sich verhalten?

Was sollte sie sagen?

Sich eine Geschichte ausdenken oder bei der Wahrheit bleiben?

Wie bekam sie es hin, dass die Kinder ihren Glauben an das Gute nicht ganz verloren?

Wie enttäuscht musste insbesondere Maren von ihr sein, die doch so große Stücke auf sie hielt, die ihr vertraute. Und sie hatte das Vertrauen mit Füßen getreten.

Sie hätte abwarten müssen. Es war überhaupt nicht gut gewesen, klammheimlich die Sachen aus dem Haus zu holen und den Schlüssel in den Briefkasten zu werfen. Das war nicht durchdacht gewesen, sie hatte nur sich gesehen, nicht die Folgen, die ein derartiges Verhalten hatte.

Sie hatte wieder einmal alles falsch gemacht, weil sie ihren Verstand nicht gebraucht hatte, sondern ihren Emotionen gefolgt war, auf die, das wusste sie aus Erfahrung, leider keine guten Ratgeber waren.

Zu spät!

Nickis Augen füllten sich mit Tränen.

Sie hatte den Kopf in den Sand gesteckt. Sie hatte gewartet. Worauf eigentlich? Sie hätte sich melden müssen. Nun war das Kind in den Brunnen gefallen!

Nicki war eigentlich eine rücksichtsvolle Fahrerin, davon war heute nichts zu spüren, sie benahm sich wie ein Verkehrsrowdy.

Insgeheim atmete sie erleichtert auf, als sie Hohenborn erreichte. Jetzt war es nicht mehr so weit. Sie entspannte sich ein wenig, wenn das überhaupt möglich war.

Und dann hatte sie das Haus der Bredenbrocks erreicht. Peters Auto stand vor der Tür, also war er daheim. Seit seinem Heiratsantrag, den sie abgelehnt hatte, hatten sie nichts mehr voneinander gehört, und die Karte aus Ägypten hatten auch nur Maren und Tim unterschrieben, von Maren war sie gekommen.

Schmollte er?

War er beleidigt?

Würde er überhaupt noch mit ihr sprechen?

Diese Gedanken waren unerträglich, und am liebsten wäre sie jetzt zurückgefahren. Aber das ging überhaupt nicht. Sie zwang sich, auszusteigen, und dann ging sie langsam durch den Vorgarten, auf das Haus zu, und sie bemerkte sofort, dass sie Haustür nur angelehnt war.

Hatte Maren die Tür für sie geöffnet?

Wollte sie vermeiden, dass Nicki vor der geschlossenen Haustür stehen bleiben musste, weil man ihr nicht öffnen wollte? Wenn bloß nicht all die Gedanken wären!

Sie ging die Steinstufen hoch, blieb stehen, atmete tief durch, dann ging sie ins Haus.

Als sie Stimmen aus der Wohnküche hörte, ging sie auf diese zu.

Es war nicht zu verkennen, dass das Haus Ricky und Fabian Rückert gehörte. Es sah hier beinahe so aus wie in der Auerbach-Villa, alles nur in kleiner. Vor allem die große Küche war damals für Ricky ein Muss gewesen. Und das war etwas, was alle nachfolgenden Mieter auch sehr geschätzt hatten, auch die Bredenbrocks.

Warum ging ihr das eigentlich ausgerechnet jetzt durch den Kopf? Nicki hatte keine Ahnung, vielleicht wollte sie sich durch Normalität ablenken, ihre Gedanken beruhigen. Damit war es allerdings vorbei, als sie die Küche betrat.

Peter, Maren und Tim waren um den großen Küchentisch versammelt und blickten ihr entgegen. Und Nicki wurde das Gefühl nicht los, jetzt vor einen Richtertisch getreten zu sein.

»Hallo«, ihre Stimme klang dünn. Das wurde wenigstens erwidert, und Peter forderte sie auf, sich doch zu setzen. Zum Glück, konnte man nur sagen, denn Nicki hatte ganz weiche Knie und war froh, sich setzen zu dürfen.

Maren sprang auf, brachte ihr unaufgefordert ein Glas Wasser, ehe sie sich wieder hinsetzte.

Alle blickten sie erwartungsvoll an, und Nicki wusste, dass es jetzt an ihr war, sich zu erklären.

Sie begann, von sich zu erzählen, wie ihr Leben bisher verlaufen war, wie schön es war, ihnen zu begegnen.

Sie blickte die Bredenbrocks der Reihe nach an.

»Ihr müsst mir glauben, dass es eine Bereicherung für mich war, ich habe die Wochenenden genossen, ich liebe euch alle. Aber kein Mensch kann über seinen Schatten springen. Ich kann auf Dauer kein Teil von euch werden, weil ich die Verantwortung nicht tragen kann. Ich komme nicht einmal mit mir selbst zurecht, wie soll ich es dann mit anderen können? Man kann Fremdsprachen lernen, kochen, nähen, meinetwegen auch Möbel restaurieren. Menschen sind keine Gebrauchsgegenstände, sie sind nicht in einen Topf zu werfen. Familie kann man nicht lernen, in die muss man hineinwachsen. Vielleicht können das ­manche Leute. Ich kann es nicht, mich überfordert es, und­ mit einer solchen Haltung darf man sich auf so etwas nicht einlassen, das wäre unaufrichtig.«

Sie machte eine kurze Pause.

»Ich wollte, es wäre alles anders gekommen«, fuhr sie dann leise fort.

Sie blickte Peter an, der bislang kein einziges Wort gesagt hatte, niemand von ihnen hatte geredet.

»Peter, vermutlich hast du Maren und Tim erzählt, dass ich deinen Heiratsantrag abgelehnt habe.«

Die Reaktion zeigte, dass es so war, deswegen wandte Nicki sich jetzt an die Kinder.

»Es hat nichts mit euch zu tun. Ich hätte euren Vater auch nicht geheiratet, wenn es euch nicht gäbe …, ich glaube, ich werde niemals heiraten …, ich habe Angst vor Bindungen. Tja, nun wisst ihr alles, und ich wünsche mir sehr, dass ihr nicht zu sauer auf mich seid.«

Nach diesen Worten war es still.

»Aber es war doch so richtig schön mit uns«, sagte Tim schließlich.

»Ja, Tim, das war es. Aber es reicht nicht für ein Zusammenleben, ich war eher so etwas wie eine Verwandte, eine Freundin, die zu Besuch kam.«

»Wenn es den Besuchern so richtig gut gefällt, dann können sie auch bleiben, müssen nicht wieder gehen«, wandte Maren ein. Ihr war anzusehen, wie enttäuscht sie war. Doch Nicki hoffte, dass es ihr gelungen war, Nicki von dem Gedanken wegzubringen, in ein Internat zu gehen, um das Lebensglück ihres Vaters zu retten.

Jetzt begannen sie, alle miteinander zu reden.

Die Bredenbrocks waren alle liebenswert!

Nicki fühlte sich in deren Gesellschaft unendlich wohl, dennoch wusste sie, dass sie sich richtig entschieden hatte. Es wäre nicht gegangen. Irgendwann hätte sie es nicht mehr ausgehalten, und dann hätte sie einen viel größeren Schaden angerichtet. Das hatten sie nicht verdient.

Unter anderen Umständen wäre sie gern als Freundin geblieben, doch das ging jetzt nicht mehr. Dazu waren Peter und sie sich viel zu nahe gekommen. Nicki wusste nicht, was sie in ihm gesucht hatte. Ohne die Kinder wäre er vermutlich für sie so etwas wie ein Lebensabschnittsgefährte geworden. Auf Dauer hätte ihr etwas gefehlt. Zumindest der Person, die sie derzeit war, die sie nicht mehr sein wollte.

Irgendwann hatte Nicki das Gefühl, dass es an der Zeit für sie war, zu gehen. Es war alles gesagt worden. Außerdem mussten die Kinder ins Bett gehen, sie sahen müde und erschöpft aus, und morgen würde die Schule wieder beginnen.

Verrückt, dass ihr solche Gedanken durch den Kopf gingen. Nicki stand auf, verabschiedete sich einzeln von ihnen, und als sie zur Tür ging, hielt sie noch einmal inne, drehte sich um und sagte: »Ob ihr es nun glaubt oder nicht, ich werde euch in schönster Erinnerung behalten, mit euch, das war eine wun­dervolle Zeit, und …«, ihre Stimme brach ab, »es … es tut mir alles wirklich …, es tut mir … leid.«

Dann rannte sie davon, bekam nicht mit, dass Peter und Maren ihr folgen wollten. Sie sprang in ihr Auto und fuhr los.

Tränen verschleierten ihren Blick, nahmen ihr die Sicht. Zum Glück herrschte um diese Zeit im Sonnenwinkel so gut wie kein Verkehr mehr. Die Leute waren daheim. Außerdem musste Nicki nicht weit fahren. Wie unter einem inneren Zwang lenkte sie ihr Auto zum Doktorhaus.

Roberta hatte keine Ahnung davon, dass sie im Sonnenwinkel war. Sie hatte ja zuvor ebenfalls keine Ahnung gehabt, es war eine spontane, sehr emotionale Entscheidung gewesen. Es war allerdings etwas, was sie nicht bereute. Dieser Besuch bei den Bredenbrocks war notwendig gewesen, für alle Beteiligten.

Es war auf jeden Fall richtig, aber es tat unglaublich weh, ja, das tat es wirklich …

*

Vermutlich musste man bis an seine Grenzen gehen, sei es nun körperlich oder emotional, um in der Lage zu sein, plötzlich Klarheit über etwas zu haben, was einem im Unterbewusstsein längst klar war, was man aber immer beiseitegeschoben hatte.

Nicki war wie vom Blitz getroffen!

Ja, das war es!

Das würde sie tun!

Sie stieg ein wenig benommen aus ihrem Auto, lief durch den Vorgarten, hastete zur Haustür, und schon wollte sie aus alter Gewohnheit klingeln, als sie sich darauf besann, dass sie einen Hausschlüssel hatte.

Ein wenig umständlich holte sie den aus ihrer Tasche, und dann zögerte sie kurz.

Konnte sie Roberta jetzt einfach überfallen? Diese Frage war nicht unberechtigt, sie weinte sich immerzu bei ihrer Freundin aus. Auch Freundschaften durfte man nicht überbeanspruchen.

Sie schloss auf, trat in die Diele. Durch einen Spalt der Wohnzimmertür drang ein Lichtschein.

Nicki atmete tief durch, dann lief sie auf die Tür zu, stieß sie auf, trat ein.

Überrascht blickte Roberta hoch. Sie war gerade mit der Akte einer Patientin mit einer Diabetes I beschäftigt. Das war eine Krankheit, die durchaus gut behandelbar war, man konnte die Patienten richtig einstellen. Doch dann mussten die Patienten auch diszipliniert sein, und das war diese Patientin leider nicht.

Roberta klappte die Krankenakte zu, blickte Nicki an und sagte: »Nicki, was ist los? Du siehst aus, als sei dir der Leibhaftige begegnet.«

Nicki begann zu schluchzen, und das veranlasste Roberta, aufzustehen, auf ihre Freundin zuzueilen, sie beruhigend in die Arme zu nehmen.

»Nicki, was ist passiert?«, erkundigte sie sich noch einmal.

Nicki kämpfte ihre Tränen nieder, beruhigte sich, dann befreite sie sich aus den Armen ihrer Freundin, ließ sich in einen Sessel fallen.

»Roberta, kann ich heute Nacht hierbleiben? Hast du Zeit, mir zuzuhören? Es ist etwas passiert.«

So war sie, die Nicki, sie liebte Dramatik.

»Nicki, welche Frage, du kannst kommen und gehen wie du willst, das weißt du. Und habe ich dir schon einmal nicht zugehört?«

Nicki schüttelte den Kopf.

»Also gut, dann hole ich dir jetzt etwas zu trinken.«

»Ich brauche nur ein Glas, ich trinke von dem Rotwein, der auf dem Tisch steht, und da ich ja heute nicht mehr fahren muss, bekomme ich vorher einen Schnaps? Den brauche ich jetzt, auch wenn du so etwas immer in Abrede stellst.«

Roberta holte ihr ein Glas, dazu schüttete sie Nicki einen Grappa ein, und der stand noch nicht einmal, als Nicki sich den schnappte und herunterkippte.

Den Wein rührte sie erst einmal nicht an, nachdem Roberta einen Augenblick gewartet hatte, blickte sie Nicki an. Die riss sich zusammen, und dann erzählte sie von ihrem Besuch bei den Bredenbrocks.

Sie hatte es also wirklich beendet!

Nicki hatte das Gefühl, dass Roberta damit nicht so ganz einverstanden war, deswegen versuchte sie, sich ein wenig zu rechtfertigen.

»Roberta, hier geht es doch nicht um eine kurze Liebe, die man jederzeit beenden kann. Es ist eine Entscheidung fürs Leben. Wenn Kinder dabei sind, sollte es zumindest so sein. Ich habe mir vorher nicht wirklich ernsthafte Gedanken gemacht. Aber es ist halt so, Väter und Kinder bekommt man nur im Paket. Ich kann die Verantwortung einfach nicht tragen. Ich hoffe, Peter und die Kinder halten mich jetzt nicht für leichtfertig, nicht für wankelmütig, sondern nehmen mir ab, dass es mich überfordert hätte.«

Roberta antwortete nicht sofort, sie musste es erst einmal verdauen. Doch Nicki deutete das Schweigen ihrer Freundin falsch.

»Du kannst mein Verhalten nicht verstehen, nicht wahr? Du hältst mich für wankelmütig, flatterhaft. Du denkst, ich hätte es mir vorher überlegen sollen. Roberta, ich habe mich ernsthaft bemüht. Vielleicht wäre es ja weitergegangen, Peter hat mich mit seinem Heiratsantrag vollkommen überrumpelt.«

»Nicki, hör auf, dich zu rechtfertigen. Hinterher ist man immer schlauer, und vielleicht ist es ja gut, dass du es jetzt wirklich beendet hast, denn was dich heute belastet, belastet dich in ein paar Wochen, Monaten noch immer. Es hat dich bestimmt viel Kraft gekostet, aber das hast du gut gemacht. In solchen Situationen kann nur die Wahrheit helfen. Einen Vorwurf kann man dir machen. Du gehst einfach zu schnell Liebesbeziehungen ein, von denen du dir etwas erhoffst, was es in Wirklichkeit nicht geben kann. Hast du dir darüber schon mal Gedanken gemacht? Ich denke an Roberto, an den Grafen Hilgenberg, nun an Dr. Bredenbrock. Es sind alles gute, gestandene Männer, und dennoch lässt du dich auf nichts ein. Und bei Roberto und dem Grafen kannst du keine Kinder vorschieben, die hatten keine, als sie mit dir zusammen waren beziehungsweise zusammen sein wollten.«

Nicki griff nach ihrem Weinglas, trank einen großen Schluck.

»Du musst nicht weiter reden, Roberta, es trifft alles zu. Ich habe einen Entschluss gefasst, und um nicht wankelmütig zu werden, habe ich, ehe ich zu dir ins Haus kam, bei meinem Chef fristlos gekündigt.«

Roberta wollte eigentlich auch etwas trinken, doch sie stellte ihr Glas erst einmal ab.

Hatte sie sich verhört?

Das musste sie hinterfragen.

»Nicki, du hast was getan?«

Beinahe trotzig sagte Nicki: »Du hast schon richtig verstanden. Ich habe fristlos gekündigt.«

»Nicki, bist du von Sinnen? Das ist ein toller Job, du verdienst gut, hast viele Freiheiten, die Arbeit macht dir viel Spaß. So etwas gibt man nicht einfach aus einer Laune heraus auf. Willst du wieder selbstständig sein, jedem Auftrag hinterher jagen? Es war doch so beruhigend für dich zu wissen, dass du jeden Monat deine Miete pünktlich zahlen kannst, ohne Klimmzüge zu machen. Nicki, ich glaubte bisher, dich einigermaßen zu kennen, das jetzt begreife ich nicht. Warum?«

Nicki zögerte.

»Roberta, halte mich jetzt nicht für verrückt, für überspannt. Es arbeitet schon länger in mir, ich habe es nur immer wieder unterdrückt. Ich muss herausfinden, was mit mir los ist, ich ticke nicht richtig. Und entweder begebe ich mich in psychotherapeutische Behandlung, oder …«

Sie brach ihren Satz ab, stand auf, ging zum Schrank, goss sich einen zweiten Grappa ein. Den brauchte sie jetzt, sie musste etwas trinken, was mehr Umdrehungen hatte als ein Wein. Es half nicht über Probleme hinweg, das war ein Trugschluss, doch es beruhigte sie. Damit konnte sie es vor sich rechtfertigen.

Als Nicki wieder saß, bemerkte Roberta: »Nicki, du hast deinen Satz nicht beendet. Oder … was soll die Alternative zu einer Therapie sein?«

Sie war sich sicher, doch wenn Roberta sie so kritisch anblickte, traute sie sich nicht, es auszusprechen. Doch das musste sie jetzt einfach tun, dann hatte sie ihre Ruhe.

»Ich werde meine Wohnung untervermieten, in der Lage nehmen dir Firmen Wohnungen wie diese mit Kusshand für Angestellte ab, die nur vorübergehend da sind. Und dann …«

Diesmal unterbrach Roberta ihre Freundin.

»Nicki, so lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen. Komm auf den Kern der Sache. Was willst du tun?«

Sie musste es sagen!

Nicki holte ganz tief Luft, und dann schmetterte sie es heraus: »Ich werde den Jakobsweg gehen und mir dabei alle Zeit der Welt lassen, dabei werde ich über mein Leben nachdenken, darüber, was bei mit verkehrt läuft, und ich werde hoffentlich Erkenntnisse erlangen.«

Roberta blickte ihre Freundin an, als habe gerade ein Geist zu ihr gesprochen. Nicki war ja für alle Überraschungen gut, doch das jetzt schlug dem Fass den Boden aus. Wenn sie jetzt gesagt hätte, dass sie eine Schweigewoche in einem Kloster machen wollte, trommeln, Lachyoga oder etwas von den Angeboten in Anspruch nehmen wollte, die man jetzt gerade anpries. Das hätte sie ihr abgenommen, aber der Jakobsweg?

Sie musste sie davon abhalten.

»Nicki, ich weiß nicht, welche romantischen Vorstellungen du da hast. Denkst du dabei an den französischen Film, den wir uns gemeinsam angesehen haben? Ich glaube, er hieß Jakobsweg auf Französisch oder so. Nicki, das ist keine Realität, das ist ein Film. Wenn man es ernst meint und konsequent durchzieht, dann bedeutet das Strapazen und Entbehrungen. Und das willst du auf dich laden? Und dabei willst du Erkenntnisse darüber gewinnen, wie es in deinem Leben weitergehen soll? Nicki, Nicki, worin hast du dich denn jetzt wieder verrannt.«

Roberta war ernsthaft bekümmert und besorgt, und das nahm Nicki ihr sogar ab.

»Roberta, ich bin nicht so wie du. Ich sehe nicht alles so klar. Ich weiß nicht, wie du, was ich will.«

»Ach, Nicki, es kommt nicht darauf an, was man will. Wenn es danach ginge, da hätte ich so viele Wünsche, die sich jedoch leider nicht erfüllen. Beispielsweise Lars …«

Roberta wurde von Nicki unterbrochen.

»Bei euch ist eitel Sonnenschein, er liebt dich über alles, das hat er ja wohl jetzt durch die wunderschönen roten Rosen bewiesen. So etwas habe ich noch nie bekommen.«

»Lars wird nie ganz der Mann an meiner Seite sein, er wird mich nicht heiraten, wir werden keine Kinder haben, und wenn ich …«

»Roberta, du wirfst mir vor, dass ich mir da etwas zusammenreime. Das kann ich an dich weitergeben. Wo, bitte schön, willst du noch Mann und Kinder in deinem Leben einbauen? Du bist voll ausgelastet, du liebst deinen Beruf über alles, gehst in ihm auf. Lars ist perfekt für dich, er macht sein Ding, und wenn er da ist, dann ist er es für dich, ohne Einschränkungen, er liebt dich. Es gibt keine andere Frau in seinem Leben, es gibt nur dich, ihr seid beide autark, ihr braucht niemanden. Anders ginge es nicht, und es würde auch überhaupt nicht funktionieren. Du bist zu beneiden. Und dabei bleibe ich. Ich werde den Weg gehen, schaden kann es nicht.«

Nickis Worte hatten Roberta schon ein wenig nachdenklich gemacht.

Träumte sie sich da eine heile Welt zusammen, wie Nicki glaubte, auf dem Jakobsweg die Wahrheit über sich herauszufinden?

»Wenn du dich beeilst, triffst du vielleicht auf Hannes Auerbach, der hat sich ebenfalls den Jakobsweg ausgesucht, um herauszufinden, wie es mit ihm weitergehen soll.«

Darauf sagte Nicki nichts, sondern griff nach ihrem Glas und trank.

»Roberta, hast du vielleicht ein paar Chips im Schrank? Die könnte ich jetzt brauchen.«

»Nicki, es tut mir leid. Was ich gerade gesagt habe, war blöd. Aber Hannes Auerbach ist wirklich auf dem Jakobsweg unterwegs. Dem ist gerade ganz gehörig sein Leben um die Ohren geflogen. Ich will es ja auch nicht abwerten. Es gibt viele Menschen, die auf den Jakobsweg schwören. Und wenn du der Meinung bist, dass du ihn gehen musst, dann tue es. Versprich dir nicht zu viel davon, dann kannst du auch nicht enttäuscht werden. So, und jetzt hole ich die Chips. Was hättest du denn gern? Natur, Paprika, Sour Cream?«

Nicki lachte.

»Ich kann mich nicht entscheiden, am besten bringst du sie alle mit.«

Roberta verließ das Wohnzimmer, um die Chips zu holen, Nicki blieb allein zurück. Ihre Freundin war nicht begeistert von ihrem Vorhaben, doch für sie fühlte es sich immer besser an. Sie würde es tun, sie war davon überzeugt, es tun zu müssen. Und das war eine Entscheidung, die sie aus eigenen, freien Stücken getroffen hatte, es war keine Empfehlung einer Kartenlegerin, es hatte niemand es aus einer Kristallkugel vorausgesagt, kein Kaffeesatz war beteiligt gewesen, nichts.

Das war ein Zeichen, ein gutes Zeichen.

Roberta kam mit den Chipstüten zurück, und Nicki riss zuerst die mit dem Sour Cream auf.

Die Chips schmeckten köstlich.

Nicki war froh, hergekommen zu sein. Nicht wegen der Chips. Roberta war der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Sie würde ihr fehlen. Dennoch, sie würde den Jakobsweg gehen …, um das zu untermauern, legte Nicki demonstrativ den Hausschlüssel auf den Tisch.

»Den brauche ich erst einmal nicht mehr.«

Roberta ersparte sich, das jetzt zu kommentieren, sie sagte auch sonst nichts mehr zu diesem Thema. Nicki war erwachsen, sie war für sich selbst verantwortlich. Und auch wenn in ihrem Leben so einiges schiefgelaufen war, Nicki hatte immer noch rechtzeitig die Kurve bekommen.

Sie würde den Jakobsweg nicht aus den Gründen gehen, die Nicki genannt hatte. Sie war aber auch nicht Nicki.

Da Nicki zuweilen auch ein wenig sprunghaft war, wollte sie jetzt unbedingt einen Film im Fernsehen sehen. Dieser Film hatte keine guten Kritiken, aber was sollte es, im Moment war alles gut, um sich abzulenken, auch ein schlechter Film.

Nicki griff in die Chipstüte, diesmal in die mit Paprika.

»Weißt du was, Roberta, ich bin ja so froh, dass du meine Freundin bist und letztlich alle Verrücktheiten akzeptierst, die ich mir so ausdenke. Doch das mit den Jakobsweg ist nicht verrückt, das fühle ich.«

»Nicki, jeder hat für alles seine Gründe, das weißt du doch, und jetzt halte gefälligst den Mund, denn der Film fängt an.«

Nicki verließ ihren Platz, setzte sich neben Roberta aufs Sofa, die Gläser und Chipstüten in Reichweite. Es war alles so wie früher, und es war etwas, was sie auf dem Weg zu sich selbst vermissen würde …

*

Pamela kam von ihrer Reise ins Schullandheim zurück, und es war wohl nicht so gelaufen, wie sie sich das vorgestellt hatte. Sie schmiss ihren Rucksack in die Ecke, begrüßte Luna, dann warf sie sich ihrer Mutter in die Arme.

»Mami, es war ganz schrecklich. Es war langweilig, das Wetter war schlecht, das Essen hat nicht geschmeckt. Und die Rosalie und ich hatten ein so tolles Zimmer. Und weißt du, was dann passiert ist? Man hat die Jennifer zu uns gesteckt, weil die sich mit ihrer Zimmernachbarin verkracht hat. Mami, ausgerechnet die Jennifer, die niemand leiden kann. Die hat uns alles verdorben, und ich fahre niemals mehr mit ins Schullandheim, ich gehe dann zu der Frau Doktor, und die soll mir ein Attest ausstellen.«

Inge kommentierte das jetzt nicht, weil sie genau wusste, dass Pamela es nicht tun würde. Sie war impulsiv, aber sie konnte auch sehr schnell wieder verzeihen, und sie würde spätestens in einer Woche wieder mit Jennifer reden als sei nichts geschehen.

»Mami, ich brauche jetzt unbedingt eine heiße Schokolade mit ganz viel Sahne, ich brauche Kekse, und dann brauche ich unbedingt noch etwas zum Freuen.«

Insgeheim atmete Inge erleichtert auf, als wenn sie es geahnt hätte. Es war ihr tatsächlich gelungen, das rote Kleid zu nähen.

Inge strich ihrer Jüngsten über die wilden braunen Locken, drückte sie fest an sich.

»Mein Liebes, dann lauf mal rasch hinauf in dein Zimmer, ich glaube, dort ist etwas, worüber du dich freuen wirst, und ich kümmere mich derweil um die heiße Schokolade.«

Die schlechte Laune war wie weggeweht.

»In meinem Zimmer? Dort gibt es etwas, worüber ich mich freuen werde?«

Inge nickte, Pamela befreite sich aus der Umarmung ihrer Mutter, stürmte aus der Küche, und Luna hechelte ihr, wie konnte es auch anders sein, hinterher.

Inge blickte ihnen lächelnd hinterher, dann kümmerte sie sich um die heiße Schokolade, das war wirklich etwas, was alle Kinder gern mochten, auch dann, wenn sie nicht mehr klein waren und sich längst im Teenageralter befanden. Kekse stellte sie ebenfalls auf den Tisch.

Doch wo blieb Pamela?

Die hätte längst wieder in der Küche sein müssen.

Gefiel ihr das Kleid nicht? Entsprach es nicht ihren Vorstellungen?

Schon wollte Inge hinaufgehen und nachsehen, als Pamela die Treppe heruntergepoltert kam. Es hatte so lange gedauert, weil sie das Kleid direkt angezogen hatte.

»Mami, Mami, es ist ein Traum, und sieh nur mal, wie perfekt es passt! Genau so habe ich es mir gewünscht. Du bist so lieb, die bist die Beste. Doch ich kann dich jetzt nicht umarmen, ich möchte nicht, dass mein Traumkleid zerknautscht.«

Sie war aufgeregt, hochrot im Gesicht und diese Farbe wetteiferte beinahe mit der des Kleides.

Luna bellte vor lauter Begeisterung mit, und Inge strahlte.

Durch das Gebelle und Pamelas Kreischen angelockt, kam Professor Auerbach in die Küche. Er wollte seine Tochter umarmen, doch die wich zurück. »Papi, umarmen müssen wir uns später. Ich möchte nicht, dass an mein schönes neues Kleid etwas drankommt. Ist es nicht wundervoll? Und es passt haargenau. Die Mami ist eine Künstlerin, und ich habe jetzt auch wieder gute Laune und ärgere mich überhaupt nicht mehr über die dumme Jennifer.«

Professor Auerbach war ein wenig ratlos. Er hatte ja vorher nichts mitbekommen.

Pamela drehte sich vor ihrem Vater um ihre eigene Achse, lief auf und ab.

»Und, Papi, wie findest du es? Ist das Kleid nicht ein Traum? Ich könnte wetten, dass so ein schönes rotes Kleid sonst niemand hat.«

Pamela war wirklich außer Rand und Band, der Professor fühlte sich ein wenig überfordert.

»Willst du nicht erst einmal deinen Kakao trinken, ehe er kalt wird?«, erkundigte er sich.

»Papi, das ist kein Kakao, das ist eine heiße Schokolade, das ist ein gewaltiger Unterschied. Und weißt du was, so gut bereitet sie auch nur die Mami zu.«

»Ja, mein Kind, das glaube ich dir sogar. Aber du, pass jetzt mal auf, dass du vorsichtig trinkst, damit dein schönes neues Kleid keine Flecken bekommt.«

Pamela überlegte einen Augenblick, blickte verlangend zu ihrer Trinkschokolade und den verlockend aussehenden Keksen, dann traf sie eine Entscheidung.

»Ich ziehe mich ganz schnell um, und dann kann ich dich auch umarmen, Papi.«

Sie rannte hinaus, natürlich Luna auch diesmal hinterher, Professor Auerbach blickte seine Frau an.

»Was ist denn mit unserer Tochter los?«, wollte er wissen.

Inge lachte.

»Sie freut sich, mein Lieber. So ein rotes Kleid war ihr Traum.«

»Den du ihr natürlich sofort erfüllt hast. Das Kleid ist ja wirklich schön, wie du das wieder gemacht hast. Aber weißt du, was ich mir wünsche?«

»Du wirst es mir sagen.«

»Dass unsere Kleine auch einmal so quietscht, wenn sie etwas von mir bekommt.«

»Werner, das heißt ja jetzt wohl nicht, dass du eifersüchtig auf mich bist, oder?«

Werner Auerbach ging auf seine Frau zu, nahm sie in seine Arme, blickte sie zärtlich an.

»Liebes, das versuche ich erst überhaupt nicht. Gegen dich hätte ich überhaupt keine Chance.«

Nach diesen Worten küsste er sie.

Pamela hatte sich erstaunlich schnell umgezogen. Sie kam in die Küche gestürzt, Luna ihr natürlich hinterher.

Mitten im Raum blieb sie ganz verblüfft stehen, ehe sie ausrief: »Mami, Papi, ihr seid ja noch immer verliebt.«

Der Professor ließ seine Frau los, lachte, ehe er sagte: »Ja, mein Kind, das sind wir, und so soll es auch bleiben.«

Inge war verlegen und voller Freude zugleich, Werner war vergnügt, und Pamela stürzte sich auf ihre heiße Schokolade, und die Keksschale war erstaunlich schnell leer.

Ja, es war wieder schön bei den Auerbachs, alle dunklen Wolken hatten sich verzogen. Nun ja, nicht ganz, da gab es ja noch Jörg, der gerade dabei war, die Scherben seiner Vergangenheit aufzuheben. Doch mit seiner Charlotte hatte er eine Chance. Und Hannes? Eigentlich musste man sich um den keine Sorgen machen, Hannes würde seinen Weg immer gehen. Doch er war ihr Kind, und um seine Kinder machte man sich immer Sorgen, egal, wie alt sie waren.

Pamela begann über ihren Aufenthalt im Schullandheim zu reden, und auf einmal war alles überhaupt nicht mehr so schlimm, auch nicht die Tatsache, dass man die schreckliche Jennifer in ihrem Zimmer einquartiert hatte. Lag das alles an dem neuen roten Kleid?

Nun, wenn das so war, wenn man so schnell Probleme lösen, Ärgernisse beseitigen konnte, dann würde Inge ihre Nähmaschine häufiger anschmeißen.

*

Es war ganz schön viel passiert. Bis zuletzt hätte Roberta nicht für möglich gehalten, dass ihre Freundin Nicki tatsächlich ihren ein wenig wahnwitzigen Plan in die Tat umsetzen würde, den Jakobsweg zu gehen, angefangen in Frankreich, und enden sollte er, wie bei allen Pilgern, in Santiago de Compostela. Eine solche Konsequenz hätte Roberta ihrer Freundin nicht zugetraut. Sie hatte ein Ziel, und Nickis letzte Worte klangen noch immer in ihr nach: »Ich gehe diesen Weg, um zu begreifen, wer ich bin und was ich will.«

Würde sie es herausfinden?

Es war ihr zu wünschen, doch Nicki war kaum unterwegs, als sie Roberta bereits fehlte. Vielleicht traf das augenblicklich besonders zu, weil sie von Lars derzeit nicht viel hörte. Es war typisch für ihn, einfach abzutauchen und zu erwarten, dass es für alle okay war.

Die so verschwenderische Pracht der roten Rosen war längst verwelkt, und der Brief war in einer Schublade verschwunden. Aus einer Sentimentalität heraus, hatte sie wenigstens eine Rosen trocknen wollen und die als Erinnerung aufbewahren. Sie hatte sich dagegen entschieden, Erinnerungen bewahrte man im Herzen auf, und Briefe, waren sie noch so gefühlvoll, verloren ein wenig ihren Zauber, wenn ihnen nichts folgte.

Im Grunde genommen war es wie immer. Eines hatte sich allerdings verändert. Roberta hatte sich dafür entschieden, ihre Träume aufzugeben.

Und um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, hatte sie nicht den Jakobsweg gehen müssen.

Nein!

Es war gemein, sie konnte nicht predigen, dass jeder für alles seine Gründe hatte und sich dann mokieren, wenn jemand etwas tat, was ihr niemals in den Sinn käme.

Sie liebte Lars, sie würde ihn immer lieben. Er war wie er war, und entweder gab sie sich damit zufrieden, oder aber sie trennte sich von ihm. Und was hatte sie dann?

Gut, ihren wundervollen Beruf hatte sie, der würde ihr bleiben, der füllte sie aus, und da war sie auch schon bei dem, was Nicki ihr gesagt hatte, nämlich, dass für sie der Beruf und das, was sie sich wünschte, einen Ehemann zu haben und Kinder, überhaupt nicht vereinbar sei. Nicki kannte sich aus im wahren Leben, sie hatte gesunde Instinkte und wahrscheinlich damit ins Schwarze getroffen. Sie war halt nicht nur Ärztin, sondern sie war auch eine Frau, und der Traum von dem Ritter auf einem weißen Pferd war wohl in jeder Frau drin, auch wenn sie ein Prädikatsexamen gemacht hatte und viele Zusatzausbildungen hinterher.

Schluss damit.

Sie blickte auf den Ring, der verheißungsvoll an ihrer linken Hand, am linken Ringfinger blitzte. Er war schön, und es grämte Roberta nicht mehr, dass es kein Verlobungsring war.

Es hatte sich bei ihr wirklich etwas verändert. Und das war gut so.

Ihr nächster Patient war Mathias von Hilgenberg.

Weswegen war er wohl gekommen? Er war beneidenswert gesund, alle Routineuntersuchungen waren abgeschlossen, und die nächsten würde er bei einem anderen Arzt machen, weil er dann bereits Chef des Hauses Hilgenberg sein würde.

Schade, dass er hier nur ein sehr kurzes Gastspiel gegeben hatte. Aber so war es halt, nichts war für die Ewigkeit bestimmt. Das Schicksal mischte jederzeit die Karten neu.

Sie ließ den Grafen hereinkommen. Auch heute trug er eine ausgebeulte Cordhose, ein wenig abgeschabtes Tweedsakko, darunter einen allerdings sehr teuren Pullover. Er sah aus, wie man sich einen englischen Lord vorstellte, wie man ihn aus Filmen kannte. Und er war ja auch so etwas Ähnliches, nur wurde er in Deutschland Graf genannt. Doch das war, seit der Adel abgeschafft wurde, nicht mehr als ein Bestandteil seines Namens.

»Graf Hilgenberg«, begrüßte Roberta ihren Patienten, »was führt Sie zu mir?«

»Ach, ich bin da ein wenig pingelig, das sagt man ja den Menschen nach, die unter dem Sternzeichen Jungfrau geboren sind. Ich habe festgestellt, dass bei mir eine Impfung nachgeholt werden muss gegen Wundstarrkrampf. Die ist für mich künftighin wichtiger als alle anderen Impfungen. Wenn ich auf Schloss Hilgenberg lebe, werde ich nicht mehr durch die Welt reisen, aber in den Wäldern werde ich mich herumtreiben, und da kann schnell etwas passieren, zumal ich es liebe, mit der Kettensäge zu arbeiten.«

Das konnte Roberta sich kaum vorstellen, aber warum nicht? Der Graf hatte ein bewegtes Leben hinter sich. Ein Leben, in dem er eine ganze Menge erreicht hatte. Roberta kannte sich mit den Sternzeichen nicht so aus. Das war eher das Metier ihrer Freundin Nicki. Doch die konnte sie jetzt nicht fragen, die war unterwegs. Auf jeden Fall schien neben der von ihm erwähnten Pingeligkeit auch Beharrlichkeit und Fleiß dazu zu gehören.

Die Impfung war schnell nachgeholt.

Nachdem sie die eingetragen hatte, reichte sie dem Grafen den Impfpass.

»Das war ja jetzt wohl meine letzte Amtshandlung. Wann reisen Sie ab, Graf Hilgenberg?«

»Noch in dieser Woche, einesteils kann ich es kaum erwarten. Doch ich gehe auch mit einem weinenden Auge. Es hat sich unterhalb der Felsenburg gut gelebt. Und das Anwesen war wirklich das Beste, was ich finden konnte. Doch es gibt nichts auf der ganzen Welt, was vergleichbar ist mit Schloss Hilgenberg.«

Er machte eine kurze Pause, hatte einen ganz verklärten Blick, dann wurde er sehr ernst.

»Das Schloss war immer mein Sehnsuchtsort, dass es mir praktisch einmal in den Schoß fallen würde, damit hätte ich niemals gerechnet. Und um diesen Preis hätte ich es auch nicht haben wollen. Mein Bruder hat mir meine Schuldgefühle genommen. Er ist zwar krank geworden, doch er empfindet es als einen Segen, endlich die Verantwortung losgeworden zu sein. Er wollte die Rolle niemals spielen, in die ihn die Hausgesetze der Hilgenbergs gedrängt hatten. Die sind, wie Sie bereits wissen, zu meinen Gunsten geändert worden, mein Bruder fühlt sich frei, und ich glaube, er wird wieder gesund werden, die ­Verantwortung, das Leben, das er gezwungenermaßen führen musste, haben ihn krank gemacht.«

»So etwas gibt es, man kann krank werden, wenn Körper und Seele nicht im Einklang sind«, bestätigte Roberta. »Machen Sie sich von Schuldgefühlen frei, freuen Sie sich, dass es so ist. Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären jetzt an der Reihe, Verantwortung zu übernehmen und befänden sich in einer ähnlichen Situation wie Ihr Bruder.«

Er schüttelte den Kopf.

»Frau Dr. Steinfeld, das kann ich mir nicht vorstellen, es ist fern jeder Vorstellung. Schloss Hilgenberg, die Verantwortung zu übernehmen, alles für die nächste Generation zu bewahren, das war schon immer mein Traum.«

Roberta lächelte.

»Ich wünsche Ihnen viel Glück«, sagte sie. Sie hätte noch sehr gern ein wenig mit ihm geplaudert, doch das Wartezimmer war voller Patienten, und sie hatte auch noch Hausbesuche zu machen.

»Danke, und ich hoffe, dass wir uns einmal wiedersehen werden. Unsere Feste sind berühmt, dazu würde ich Sie herzlich einladen. Und das ist nicht nur so dahergesagt, ich finde Sie großartig, als Ärztin und als Mensch. Es ist sehr schade, dass ich Sie nicht als meine Hausärztin behalten kann, dazu ist die Entfernung zu groß. Ich hoffe, die Menschen hier wissen, was sie an Ihnen haben.«

Die Tür wurde aufgerissen, Ursel Hellenbrink steckte den Kopf zur Tür herein, sie war aufgeregt.

»Frau Doktor, bitte entschuldigen Sie, aber im Wartezimmer ist eine Patientin kollabiert.«

Roberta hätte sich zwar gewünscht, sich anders vom Grafen verabschieden zu können. Das ging jetzt nicht, wenn es einen Notfall gab, dann musste alles andere zurücktreten.

Sie sagte ein flüchtiges: »Auf Wiedersehen, alles Gute für Sie, Graf Hilgenberg«, dann rannte sie Ursel hinterher. Mathias verließ langsam die Praxis. Schade, er hätte sich gern noch nach Nicki erkundigt.

*

Nach ein paar trüben, regnerischen und kalten Tagen war das Wetter wieder so richtig schön geworden, und es war kein Wunder, dass es die Menschen nach draußen drängte.

Da bildeten Maren Bredenbrock und Pamela Auerbach keine Ausnahme. Sie waren mit ihren Fahrrädern unterwegs und machten gerade eine kleine Pause.

Sie teilten die Gummibärchen, die Maren mitgebracht hatte und ebenso die Schokolade von Pamela.

»Wenn der Graf jetzt den Zugang nicht abgesperrt hätte, dann hätten wir hinauf zur Felsenburg gehen können«, maulte Pamela, ehe sie sich ein Stück Schokolade in den Mund schob.

»Mein Papa hat gesagt, dass er das tun musste. Er ist ja jetzt nicht mehr da, es handelt sich um einen Privatweg, und wenn da jemandem etwas passiert, ist der Graf dafür verantwortlich. Wer weiß, wer das jetzt alles kaufen wird. Es kann ja sein, dass es dann für immer vorbei ist. Die Felsenburg ist ja auch Privatbesitz.«

Pamela seufzte.

»Ach, Maren, es ist ja so schade, dass du nicht mehr mitbekommen hast, wie es früher war, als Manuel und seine Familie hier noch lebten, als ihnen alles gehörte.«

Maren und Pamela verstanden sich immer besser, sie verbrachten viel Zeit miteinander, und sie vertrauten einander und sprachen über alles, was sie bewegte. Da hatte sich eine ganze Menge zwischen ihnen verändert.

So war es überhaupt kein Wunder, dass Maren sich erkundigte: »Du vermisst Manuel sehr, nicht wahr?«

Pamela nickte heftig.

»Ja, er war ein Stück Kindheit von mir, er war wie ein Bruder für mich, anfangs war Hannes noch dabei, doch später haben Manuel und ich ganz viel Zeit miteinander verbracht. Und die Felsenburg, die gehörte so richtig zu unserem Leben, wir konnten zur Ruine hinauflaufen, wann wir wollten, dort spielen, uns die abenteuerlichsten Geschichten ausdenken.«

Pamela seufzte abgrundtief.

»Pam, es ist nicht wirklich die Felsenburg, die jetzt für dich auch nicht mehr das ist, was sie mal war, es ist Manuel.«

Maren hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, Pamelas Augen füllten sich mit Tränen.

»Es ist schlimm, dass sie weggezogen sind, aber viel, viel schlimmer ist, dass er mich nicht mehr in seinem Leben haben will. Ich höre nichts mehr von ihm, und auch wenn meine Omi immer sagt, dass ich ihn als eine schöne Erinnerung in meinem Herzen behalten soll …, das …, das tue ich ja. Aber er ist nicht tot, er lebt vergnügt auf dieser Farm, und es macht mich sehr traurig, dass alles, was hier war, für ihn nicht mehr von Bedeutung ist. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sich das anfühlt.«

Maren zögerte einen Moment, aß erst mal ein paar Gummibärchen, gelbe, denn die hatte sie am liebsten, dann stieß sie mit ihrem Fuß einen Stein weg.

»Pam, ich kann es mir vorstellen, denn die Nicki, du weißt schon, die Freundin von der Frau Doktor, die kommt ebenfalls nicht mehr zu uns. Dabei dachte ich, dass sie und Papa ein Paar sind, dass sie für immer bei uns bleiben wird. Aber die ist jetzt auf dem Jakobsweg, stell dir das mal vor. Ist schon ganz schön verrückt, oder?«

Das fand Pamela nun überhaupt nicht.

»Den läuft mein Bruder Hannes jetzt ebenfalls«, sie kicherte, »alles ist unterwegs, da kann es auf dem Weg ganz schön voll werden.« Danach wurde sie wieder ernst, weil sie merkte, dass Maren das gar nicht lustig fand.

»Maren, ich finde die Frau Beck so richtig nett, aber sie passt nicht zu deinem Papa.«

»Was willst du denn damit sagen? Dass mein Papa keine Frau wie die Nicki verdient? Dass er langweilig ist, schließlich ist unsere Mutter ihm davongelaufen, und die Nicki hat es bei ihm ebenfalls nicht ausgehalten.«

»Maren, hör auf, einen solchen Unsinn zu reden. Ich finde deinen Vater supertoll.«

»Du kennst ihn ja kaum, die paar Male, die du ihn bei uns gesehen hast.«

»Stimmt nicht, meine Liebe«, widersprach Pamela sofort. »Weil unser Lehrer krank ist, hatten wir deinen Vater jetzt immer als Vertretung in Mathe. Das war super, und eigentlich sollte ich mir wünschen, dass unser Mathelehrer noch lange krank ist. Dein Vater kann supertoll erklären, er gestaltet den Unterricht so, dass man ihm zuhören muss, weil das spannend ist, da hat man keine Lust, sich mit was anderem abzulenken.«

»Na gut, Lehrer ist etwas ­anderes als Freund oder Mann.«

Pamela teilte den letzten Schokoriegel mit ihrer Freundin, schob sich den in den Mund, dann sagte sie, noch immer kauend, was ihre Mutter entsetzen würde: »Hannes hat seine Freundin Joy verlassen, mein Bruder Jörg ist von seiner Frau verlassen worden, Manuel will nichts mehr mit mir zu tun haben, er ist zwar nicht mein Ehemann, aber immerhin war er mein bester Freund, er hat mich verlassen.«

»Aber deine Eltern sind zusammen, deine Großeltern, deine Schwester Ricky hat ihren Mann und glückliche Kinder. Ich wünschte mir, es wäre auch bei uns so.«

»Die Frau Doktor Steinfeld lebt ebenfalls allein, sie hat zwar einen Freund, aber der ist nie da, und die Wirtin vom ›Seeblick‹ hat auch keinen Mann …, du musst damit aufhören, dir Gedanken um deinen Papa zu machen, um Nicki. Die hat dir immerhin noch mal geschrieben, und ich finde, das war ein richtig guter Brief. Sie mag dich, sie mag auch Tim und­ deinen Papa, mit ihm und ihr hat es halt nicht gepasst.«

»Pam, mal ganz ehrlich, glaubst du wirklich, dass das so einfach ist?«

Pamela nickte heftig.

Maren stand auf.

»Komm, lass uns weiterfahren, und du …, überleg dir unterwegs mal, warum du dann noch immer um Manuel jammerst.«

Pamela stand ebenfalls auf, warf die Verpackung der Schokolade, die leider aufgegessen war, ordentlich in den neben der Bank stehenden Papierkorb.

»Maren, du hast recht, es passt nicht zusammen, was ich daherrede und was ich fühle. Das Leben ist ganz schön kompliziert. Machen wir eine kleine Wettfahrt? Bis zu den Birken?«

Die Mädchen fuhren los.

War es ein Zufall, oder wollte keine als Siegerin hervorgehen?

Die beiden Mädchen kamen gleichzeitig bei den Birken an.

Sie freuten sich über den gemeinsamen Sieg, bedauerten, nun keine Schokolade mehr zu haben, um das gebührend feiern zu können.

Pamela dachte ein wenig wehmutsvoll an früher. Da hatte Manuel sie immer gewinnen lassen.

Pamela wollte jetzt nicht traurig werden. Sie musste sich daran gewöhnen, dass es vorbei war. Sie hatte jetzt Maren, und mit der verstand sie sich richtig gut, auch wenn sie Manuel nicht ersetzen konnte.

Warum hielt sie sich nicht endlich daran, was ihre Omi immer sagte, nämlich, dass alles seine Zeit hatte.

Maren kramte in ihrer Satteltasche herum, brachte etwas zum Vorschein, was bereits ziemlich mitgenommen aussah. Aber es war Schokolade, und die wurde jetzt geteilt.

Es war schon gut, dass die Bredenbrocks in den Sonnenwinkel gezogen waren, das war es.

*

Teresa von Roth war auf dem Weg zu ihrer Tochter, als vor der Auerbachschen Villa Ricky vorgefahren kam.

Teresa begann zu strahlen, doch als Ricky ihr Auto abschloss, machte sich Enttäuschung bei ihrer Großmutter breit.

»Wo ist die kleine Teresa? Hast du die nicht mitgebracht?«, erkundigte sie sich.

Ricky lief auf ihre Großmutter zu, umarmte sie.

»Nein, Omi, die ist daheim. Fabian ist bei ihr, er kann heute von zu Hause aus arbeiten, was dringend notwendig ist, und ich habe mich bereit erklärt, in seinem Elternhaus nach dem Rechten zu sehen. Du weißt ja, dass er nicht gern in diese Villa geht, zu der er auch keinen Bezug hat, weil er darin nie gelebt hat, die Villa wurde erst gebaut, als Fabian und Stella längst erwachsen waren.«

»Ja, es war eine Schnapsidee, aber komm, lass uns ins Haus gehen, ich bin gespannt, was es Neues von Rosmarie und Heinz gibt. Da das auch deine Mutter interessiert, musst du es nicht doppelt erzählen. Du siehst gut aus, mein Kind. Niemand käme auf den Gedanken, dass du die Mutter in einer so großen Familie bist. Du siehst so jung aus, aber ein bisschen zunehmen könntest du schon. Du bist dünn geworden.«

Ricky umfasste ihre Großmutter, ging an deren Seite ins Haus.

»Omi, das sagst du immer, dabei halte ich seit Jahren mein Gewicht, ich nehme nicht zu, ich nehme nicht ab.«

Teresa konnte nichts sagen, denn Inge hatte die Ankunft ihrer Mutter und ihrer Tochter mitbekommen, stürzte sich auf Ricky.

»Kind, warum hast du nicht angerufen, dass du kommst? Ich hätte für euch etwas gebacken.«

»Mama, ich wusste heute früh selbst noch nicht, dass ich nach Hohenborn fahren würde, und ich kann auch überhaupt nicht lange bleiben. Da ich nun mal in der Nähe war, wollte ich euch wenigstens hallo sagen, und einen Kaffee trinken möchte ich auch. Doch wie ich dich kenne, liebe Mama, steht der längst bereit. Du ohne Kaffee, das geht überhaupt nicht.«

Inge wollte diese kleine Sucht, die sie wirklich hatte, besser nicht bestätigen, deswegen sagte sie nichts, sondern ging voraus, und wenig später saßen sich die drei Frauen gegenüber. Ricky rührte es immer wieder, wenn sie mit ihrer Mutter und ihrer heiß geliebten Omi zusammen war. Es waren beide großartige Frauen, es waren ihre Vorbilder, und ihr innigster Wunsch für die Zukunft war, einmal auch so innig vertraut mit ihren Kindern zusammensitzen zu dürfen.

So neugierig Inge und Teresa auch waren, etwas über Rosmarie und Heinz zu erfahren. Wichtiger war es für sie, zunächst einmal zu hören, was die Kinder machten, ganz besonders die kleine Teresa, die nicht mehr geliebt wurde als die anderen Geschwister, die aber, weil sie die Jüngste war, die meiste Aufmerksamkeit brauchte. Und für Teresa war es natürlich ein ganz besonderes Glück, dass man den kleinen Nachkömmling, der überhaupt nicht geplant gewesen war, ganz im Gegensatz zu den Kindern zuvor, nach ihr benannt hatte.

Ricky zeigte Fotos, erzählte, und irgendwann sagte sie: »Oh, so spät ist es? Hier vergeht die Zeit immer wie im Fluge, ich trinke meinen Kaffee noch aus, und dann muss ich mich sputen. Fabian macht sich sonst Gedanken, und ich will ihn auch nicht überfordern.«

Beide Frauen blickte Ricky ganz entsetzt an.

»Und deine Schwiegereltern?«, erkundigte ihre Omi sich schließlich. »Willst du uns über die nichts erzählen?«

Ricky lachte.

»Damit hättet Ihr früher kommen müssen, aber meinetwegen, obwohl es da nicht viel zu erzählen gibt. Sie lassen kaum etwas von sich hören, und das ist auch so vereinbart. Sie genießen ihre Reise. Heinz hat ein neues Spielzeug gefunden, das ihn so glücklich macht, dass er an seine Kanzlei überhaupt nicht mehr denkt. Sie parken an Plätzen, die sie besonders schön finden, und ich weiß nicht, ob das überhaupt erlaubt ist. Im Augenblick erkunden sie Portugal.«

»Wo es ja auch wunderschön ist«, wandte Teresa ein. »Das Land hat viele Gesichter und darf nicht auf die Touristenhochburgen und den Fado reduziert werden. Ich finde es großartig, und ehrlich gesagt, hätte ich so etwas weder Rosmarie und schon überhaupt nicht Heinz zugetraut.«

»Omi, wir auch nicht. Fabian kann nicht fassen, was da gerade geschieht. Mit seiner Mutter war er ja, zum Glück, auf einem guten Weg. Dass sein Vater mal als Camper unterwegs sein würde, darauf hätte Fabian nicht gewettet. Er muss das alles erst einmal verarbeiten, und er fragt sich immer wieder, was da eigentlich passiert ist.«

»Das kann ich dir sagen, mein Kind«, wandte Inge ein, »Rosmarie hat sich neu erfunden, Heinz konnte damit nicht umgehen. Die beiden lebten sich immer mehr auseinander, und es gab nur zwei Möglichkeiten, entweder die Reißleine ziehen und alles anders machen oder sich zu trennen.«

»Rosmarie wollte allein verreisen, Heinz kam im letzten Moment zur Besinnung, dann allerdings hat er seine Frau überrascht«, lachte Teresa, »den Jeep und den Wohnwagen oder wie man so ein Ding auch nennt, hätte sie ihm nicht zugetraut.«

»Omi, ihr seid erstaunlich gut informiert, woher wisst ihr das?«

Als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, antwortete Teresa: »Von Rosmarie natürlich, sie hat uns vor ihrer Abreise informiert. Und das, als sie schon unterwegs waren und sie neben Heinz im Jeep saß. Ich finde, das haben wir auch verdient, sie hat sich schließlich bei uns genug ausgeheult.«

Ricky nickte.

»Euch liebt sie, sie vertraut euch, und eigentlich hat sie ja auch überhaupt keine Freunde. Es ist schon verrückt, meine Schwiegereltern geben nicht nur in Hohenborn den Ton an, sie sind bekannt wie bunte Hunde, sie kennen Gott und die Welt, doch wenn es darauf ankommt, dann haben sie niemanden.«

»Rosmarie hat uns«, sagte Inge. »Aber Heinz, ich glaube, der macht alles mit sich selbst aus.«

Ricky stand auf.

»Vielleicht ändert sich ja da auch etwas. Erstaunlich ist schon, was da gerade passiert. Warten wir es ab, sie stehen ja erst noch am Beginn ihrer Reise. Und wie wir alle wissen, kann auf einer Reise viel passieren. Jede Veränderung zum Positiven hin ist eine gute Veränderung. Es würde mich für Fabian so sehr freuen, wenn er zu beiden Elternteilen irgendwann ein entspanntes Verhältnis hätte. Er ist ein so sensibler Mann. Es wäre wundervoll für ihn, wenn die Schatten der Vergangenheit aus seinem Leben verschwänden.«

»Weiß Stella eigentlich, was sich da gerade ereignet?«

Rickys Gesicht verschloss sich.

»Nein, und von uns wird sie es auch nicht erfahren. Das Verhältnis zwischen ihr und Fabian ist sehr abgekühlt. Sie scheint in ihrem Leben in Brasilien vollkommen angekommen zu sein.

Sie braucht auch ihren Bruder nicht mehr. Sie meldet sich nicht, beantwortet keine Mails. Sie weiß überhaupt nicht, wie sehr sie Fabian dadurch verletzt.«

Teresa nickte. »Undank ist der Welten Lohn, das bewahrheitet sich bei Fabian und Stella wieder einmal. Es ist wirklich ganz schrecklich, denn Fabian war immer für sie da, und sie hat ihn dauernd in Anspruch genommen. Aber glaube mir, mein Kind«, sagte Teresa, »es wird Stella einholen. Und dann sitzt sie zwischen allen Stühlen.«

Das nahm Ricky zum Anlass, zu sagen: »Und damit mein Fabian mir meinen Stuhl nicht vor die Tür stellt, fahre ich jetzt nach Hause.«

Teresa und Inge lachten, und die sagte: »Das würde Fabian niemals tun, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Er liebt dich über alles.«

Dazu sagte Ricky nichts, es gab auch nichts zu sagen, weil es stimmte. Fabian und sie hatten sich gesucht und gefunden, und glücklicher als sie es waren, konnte niemand sein.

Es war so wunderbar, nach Jahren der Ehe, nach so vielen reizenden gemeinsamen Kindern, die in Liebe und Harmonie aufwuchsen, noch sagen zu können, dass man von der berühmten Wolke Sieben niemals heruntergekommen war. Es hatte hier und da auch Turbulenzen gegeben, die hatten ihnen nichts ausgemacht. Und Ricky war sich sicher, dass auch der schrecklichste Sturm nichts zerstören würde. Er würde über sie hinwegfegen, das taten Stürme nur mal, aber zusammen würden sie allem trotzen.

Sie war ein Glückskind, dabei war es doch ihr kleiner Bruder Hannes, der an einem Sonntag geboren war. Und normalerweise sagte man den Sonntagskindern ein glückliches Leben nach.

Ricky umarmte stürmisch ihre geliebte Omi, dann ihre Mutter, die doch noch Kuchen und Kekse aus einer Ecke hervorgezaubert hatte, was sie ihrer Tochter nun mitgab.

»Mami, du bist die Allerbeste«, freute Ricky sich, »Fabian und die Kinder werden sich freuen.«

Winkend lief sie zur Tür und bekam gerade noch mit, wie ihre Omi sagte: »Gib allen Kindern einen Kuss von mir, einen besonderen aber der kleinen Teresa-Sonnenschein.«

So wurde die Kleine genannt, und das war auch vollkommen zutreffend, sie war ein Sonnenschein, der einen festen Platz in den Herzen aller Familienmitglieder hatte.

Inge und ihre Mutter waren wieder allein, und während Teresa versonnen in ihrer Tasse herumrührte, sagte sie: »Es macht mich immer wieder glücklich zu sehen, wie unsere Ricky ihr Leben … wuppt. Anfangs hatte ich schon meine Bedenken, von der Schulbank in den Ehehafen, noch dazu mit einem Lehrer. Das hätte schiefgehen können.«

»Mama, nicht, wenn die große Liebe im Spiel ist. Und unsere Ricky und Fabian haben sich von der ersten Sekunde an geliebt, bei denen war es die sprichwörtliche Liebe auf den ersten Blick.«

»Was nicht immer eine Garantie dafür ist, dass diese Liebe auch hält.«

»Stimmt, Mama, aber es ist alles anders, wenn man seinen Seelenpartner gefunden hat, sein anderes Ich. «

Teresa lachte.

»Nun werd nicht wieder sentimental, mein Kind. Dein Papa und ich führen eine harmonische Ehe, weil bei uns von Anfang an alles gepasst hat. Unsere Herkunft, unsere Lebensauffassung, unsere Charaktere, unsere …«

Inge unterbrach ihre Mutter.

»Mama, Papa und du, ihr seid ein Vorzeigepaar, ich lasse mir meine romantische Vor­stellung von Liebe nicht nehmen.«

Teresa nickte.

»Das hast du weder von Papa und mir, da kommst du ebenfalls auf deine Großmutter väterlicherseits.«

»Liebste Mama, manchmal frage ich mich wirklich, ob es eigentlich irgendwelche Eigenschaften gibt, die ich von Papa oder dir geerbt habe. Denn was immer auch ein wenig anders ist, das habe ich von dieser Oma geerbt, die ich leider nicht kennengelernt habe, ich kann also nichts überprüfen.«

Teresa winkte ab.

»Musst du auch nicht, mein Kind. Es sei nur so viel gesagt, deine Oma war eine großartige Frau, und …, nun ja, das bist du ebenfalls. Papa und ich erfreuen uns jeden Tag aufs Neue an dir und deiner großartigen Familie.«

Sie stand auf.

»So, jetzt ist genug geredet. Ich muss zu meinem Magnus zurück. Wir wollen gleich noch einen Spaziergang machen, und ich denke, wir nehmen Luna mit. Mit einem Hund lernt man ständig neue, nette Leute kennen.«

»Mama, noch mehr Leute?«

Teresa fiel in das Lachen mit ein.

»Stimmt auch wieder. Aber wir nehmen Luna trotzdem mit, wir holen sie gleich ab. Wo ist sie eigentlich?«

»Draußen im Garten, da hat sie immer etwas zu entdecken.«

Als habe Luna mitbekommen, dass gerade über sie gesprochen worden war, kam sie an die Terrassentür, kratzte. Und Teresa beeilte sich, ganz schnell das Weite zu suchen. Sie liebte Luna über alles, aber nicht so, wie sie jetzt aussah, von dem schönen weißen Fell war kaum noch etwas zu erkennen.

Luna war von oben bis unten mit Dreck verschmiert, aber sie war, wie es schien, bestens gelaunt.

Darum sollte Inge sich jetzt mal kümmern …

*

Julia Herzog hatte manchmal noch immer das Gefühl, in einem Traum zu sein, aus dem sie jeden Augenblick erwachen musste in eine Realität, die so ganz anders war.

Es war kein Traum, oder richtiger gesagt, sie liebte ihren Traum, auch wenn der inzwischen ein wenig gestutzt war. Doch das machte nichts.

Wenn sie daran dachte, welche Existenzängste sie hatte, wie leer ihr Restaurant immer gewesen war.

Es war schrecklich, und eigentlich wollte sie sich an diese Zeit nicht mehr erinnern.

Wäre Rosmarie Rückert nicht gewesen, dann gäbe es sie an diesem herrlichen Fleckchen Erde längst nicht mehr, dann hätte der ›Seeblick‹ einen neuen Besitzer.

Seit jener Veranstaltung hatte sich das Blatt gewendet, es war immer voll. Und ganz verrückt war, dass sie, seit man bei ihr auch herkömmlich essen konnte, Speisen die sie für ihren früheren Chef einen Stern erkocht hatte, mehr vegetarische und auch vegane Gerichte verkaufte. Als der ›Seeblick‹ ein rein vegetarisches und veganes Restaurant gewesen war, ihr eigentliches Konzept, hatte sich kaum jemand zu ihr verirrt. Jetzt fanden die Leute es chic, auch mal etwas anderes essen zu können.

Was für eine verrückte Welt!

Darüber wollte und konnte Julia nicht länger nachdenken, man durfte nicht an der Vergangenheit hängen bleiben, sondern man musste nach vorne blicken, Visionen haben, groß denken.

Sie würde auch für den ›Seeblick‹ einen Stern erkochen, das hatte Julia sich fest vorgenommen, und damit ihr Traum sich teilweise erfüllen würde, sollte es mit einem vegetarischen Gericht sein.

Sie würde nichts überstürzen, aber es war schön, sich das auszumalen, sie wusste schließlich, wie es sich anfühlte, wenn man einen Stern bekam, und das nicht, weil man sympathisch war, weil endlich mal eine Frau an der Reihe kommen sollte. Nein, es war ein erbitterter Wettkampf gewesen, den sie als einzige Frau unter Männern geführt hatte. Es war ein hart erkämpfter Sieg gewesen, allerdings einer mit einem bitteren Beigeschmack. Ihre Partnerschaft war dabei zerbrochen, und es war wohl für jede Frau bitter, ihren Lebensgefährten zusammen mit der besten Freundin im Bett zu erwischen.

Schwamm darüber …

Es war vorbei, und wer weiß, wofür es gut war, denn wären sie zusammengeblieben, hätte es den ›Seeblick‹ nicht gegeben. Jedes Ding hatte zwei Seiten.

Heute Mittag war das Restaurant nicht so gut besucht, doch das machte Julia keine Sorgen, für den Abend war der ›Seeblick‹ ausgebucht. Die Gäste kamen wohl alle lieber abends, obwohl es mittags sehr viel preiswerter war und es täglich mehrere wechselnde Gerichte gab.

Julia verabschiedete gerade Stammgäste, die täglich kamen. Es waren ein Architekt und seine Angestellten, als noch ein Gast kam.

»Haben Sie schon geschlossen?«, erkundigte er sich.

Julia verneinte es, und sie wurde das Gefühl nicht los, diesen Mann schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Vermutlich erinnerte sie sich daran, weil er ihr Herzklopfen verursachte.

Der Mann war ungefähr einen Kopf größer als sie, es war nicht schwer, das zu überbieten, denn Julia war klein, und für eine Köchin war sie auch sehr schlank. Sie entsprach in keiner Weise dem Bild, das man sich von einem Koch oder einer Köchin machte. Die sah man meist rundlich.

Der Gast hatte wie sie braune Haare, braune Augen. Und wenn er sie anblickte, bekam sie Herzklopfen.

Das war verrückt!

Wer war dieser Mann?

Woher kannte sie ihn?

Vor allem, warum verwirrte er sie so sehr?

Fragen über Fragen, die sie allesamt verdrängte und ihm ganz professionell aufzählte, was für ein Angebot es auf der Mittagskarte gab. Zusätzlich legte sie ihm die sehr geschmackvoll gebundene Speisekarte auf den Tisch, die er ausgiebig studierte, sich dann aber für eines der angebotenen Mittagsgerichte entschieden, knusprig gebackenes Hühnerfleisch mit Ratatouille und ­gebratenen Kartoffelspalten. Dazu bestellte er ein Mineralwasser mit wenig Kohlensäure.

»Das haben Sie doch?«, erkundigte er sich.

»Bei mir bekommen Sie Mineralwasser ohne, mit wenig und mit viel Kohlensäure«, sagte Julia, dann ging sie, und sie brachte dem Gast das Wasser nicht selbst, sondern ließ es ihm durch ihre Bedienung servieren.

Sie ging in die Küche, konnte es aber nicht lassen, immer wieder nach dem Gast zu sehen.

Wer war er?

Sie hatte ihn nicht im Sonnenwinkel, Hohenborn, am See oder sonst irgendwo in der Gegend gesehen, da war Julia sich sicher, und er arbeitete auch nicht bei einem ihrer Lieferanten oder auf dem Großmarkt, in dem sie häufig anzutreffen war.

Julia ließ dem Gast das Essen servieren, freute sich aus der Entfernung, dass es ihm offensichtlich mundete.

Sie gab ihrem Souschef frei, sagte dem Küchenpersonal, dass es ebenfalls gehen können, wenn die Küche wieder ajour sei.

Das konnte sie, weil sie wusste, dass jetzt niemand mehr kommen würde, dazu war es zu spät.

Sie ging wieder hinaus, das Restaurant hatte sich mittlerweile bis auf den verspäteten Gast geleert. Die Bedienung erkundigte sich: »Frau Herzog, kann ich jetzt auch gehen? Dann schaffe ich es noch rechtzeitig zum Friseur, ich möchte heute Abend, wenn die Gäste kommen, ordentlich aussehen, meine Haare müssen unbedingt geschnitten werden.«

»Ja, ja, gehen Sie nur, ich komme allein zurecht.«

»Ist ja auch nur noch dieser eine Gast da, und der scheint ziemlich pflegeleicht zu sein. Und weitere Wünsche scheint er nicht zu haben, ich habe mich erkundigt.«

Die Bedienung war froh, gehen zu können, und Julia gestand sich ein, dass es ihr nicht einmal unangenehm war, mit diesem Gast allein zu sein.

Sie hatte keine Ahnung, warum er sie so faszinierte, woher dieses Herzklopfen kam. Weil sie schon eine ganze Weile abstinent lebte? Nein, das konnte es nicht sein. Es kamen auch Männer allein ins Restaurant, und es hatte auch hier und da schon Flirtversuche gegeben, auf die sie allerdings nicht eingegangen war, weil keiner der Männer in ihr den Wunsch erweckt hatte, ihn näher kennenzulernen.

Sie blickte zu dem Gast hin, gerade in dem Augenblick, schaute er zu ihr herüber, ihre Augen versanken ineinander, Julia bildete es sich nicht ein, es war wie Magie.

War sie jetzt dabei, den Verstand zu verlieren?

Bekam ihr das Alleinsein hier oben nicht?

Sie versuchte, sich zu beschäftigen, griff nach einem Glas, das fiel scheppernd zu Boden.

Was war denn los mit ihr?

Als sie erneut aufblickte, sah sie, wie er seine Rechte winkend hob, und sie bekam ein schlechtes Gewissen. Normalerweise verhielt sie sich nicht so, da war bei ihr der Gast König, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie konnte sich die Frage noch tausendmal stellen, sie hatte keine Ahnung, was mit ihr los war.

Sie atmete tief durch, dann ging sie langsam auf den Tisch zu, an dem dieser Mann saß.

»Was kann ich für Sie tun? Haben Sie noch einen Wunsch?«

Er blickte sie an, sie vermied den direkten Blick in seine Richtung, auch wenn das ebenso töricht war wie ihr ganzes Verhalten.

»Ich hätte gern noch einen doppelten Espresso, und … hätten Sie Zeit, sich für einen Moment zu mir zu setzen?«, erkundigte er sich, und ihr fiel bewusst auf, wie angenehm seine Stimme klang.

»Hat … hat es Ihnen nicht geschmeckt?«, fragte sie und kam sich töricht vor. Hätte es eine Reklamation gegeben, hätte sie das von ihrer Angestellten erfahren, die das benutzte Geschirr abgeräumt hatte, und da war der Teller übrigens leer gewesen, wie er leerer nicht sein konnte.

Er lächelte, zeigte ein Gebiss, das die Freude eines jeden Zahnarztes und Zahnpastaherstellers sein würde.

»Im Gegenteil, es war köstlich, und es war auch nicht anders zu erwarten gewesen.«

Was sollte das nun wieder?

Hatte er früher in dem Restaurant gegessen, in dem sie angestellt gewesen war? Aber da hatte sie kaum unmittelbaren Kontakt zu den Gästen gehabt, ihr Revier war die Küche gewesen.

Sie spürte, wie er ihr nachblickte, sie hatte das Gefühl, kaum einen Schritt neben den anderen setzen zu können.

Sie hatte den Verstand verloren!

Etwas anderes fiel ihr nicht ein, doch sie riss sich zusammen. Sie benahm sich wie ein Teenie bei einer flüchtigen Begegnung mit dem angebeteten Idol. Sie war kein Teenie, sie war eine gestandene Frau mit der Verantwortung nicht nur für den ›Seeblick‹, sondern auch für die Angestellten, die bei ihr arbeiteten. Das machte sie mit Bravour, sie hatte schlimme Stürme überstanden, hatte ums Überleben gekämpft, und nun bekam sie weiche Knie, nur weil ein attraktiver Mann sie anblickte. Das passte überhaupt nicht zusammen!

Sie bediente die Espressomaschine, einen doppelten Espresso für den Gast, einen doppelten Espresso für sich, und sie wunderte sich, wie ruhig sie auf einmal war, als sie seinen Tisch erreichte, den Espresso vor ihn hinstellte und sagte: »Der geht aufs Haus.«

Dann setzte sie sich, blickte ihn an, und weil sie fürchtete, seinem Blick nicht unbeschadet standhalten zu können, beschäftigte sie sich mit ihrem Espresso, sammelte sich, dann erkundigte sie sich: »Worüber möchten Sie mit mir reden?«

Seine Antwort kam prompt, unerwartet und brachte sie erneut aus dem Tritt, als er sagte: »Über Sie, Frau Herzog. Es hat lange gedauert, Sie zu finden. Sie waren plötzlich wie vom Erdboden verschluckt, und Ihr früherer Chef war wohl sauer, weil Sie gegangen sind, nachdem das mit dem Stern so gut für ihn gelaufen ist. Er hat mir nicht verraten, wo ich Sie finden kann …, aber jetzt bin ich ja hier.«

Mit ihrer zur Schau getragenen Selbstsicherheit war es vorbei, wer war er?

Was wollte er von ihr?

Auf jeden Fall wusste er eine ganze Menge über sie.

Sie konnte überhaupt nicht anders, sie musste ihn anstarren, und hätte sie das besser nicht getan. Gegen das, was nun geschah, war sie machtlos, ihre Blicke versanken ineinander. Und da war sie wieder da, die Magie, ein Zustand, der keine Worte brauchte …

Hätte man Julia gefragt, wie lange dieser Zustand angedauert hatte, dann hätte sie keine Antwort darauf gewusst. Für sie hätte es Ewigkeiten andauern können, und wie es schien, für den Fremden ebenfalls.

Ihr Telefon klingelte, sie ließ es klingeln, aber immerhin brachte das schrille Geläute sie in die Wirklichkeit zurück, ihr wurde bewusst, dass sie Chefin eines gut gehenden Restaurants war, dass gleich die Helfer vor die Vorbereitungen des Abendessens kommen würde, kurzum, dass es für sie eine Menge zu tun gab.

»Ich …, äh …, nun haben Sie mich gefunden …, was wollen Sie von mir? Hat Ihnen das Essen bei meinem früheren Chef nicht gemundet, und jetzt möchten Sie, dass ich mich bei Ihnen entschuldige?«

Welchen Unsinn redete sie da?

Er langte über den Tisch, ergriff ihre Rechte, die ein wenig kraftlos neben der Espressotasse lag.

Sie erschauderte, wagte kaum zu atmen.

Was war das?

Liebe auf den ersten Blick? Der Coup de foudre, Blitzschlag der Liebe, wie die Franzosen es so klangvoll ausdrückten?

»Tut mir leid, das war blöd von mir«, korrigierte sie, weil sie ahnte, dass er ihr auf einen derartigen Unsinn keine Antwort geben würde. »Woher kennen wir uns?«

»Ich habe damals, als Sie den Stern bekamen, versucht, ein Interview mit Ihnen zu machen. Sie haben … herumgezickt, es ist nicht dazu gekommen.«

»Und nun sind Sie hier, um das nachzuholen?«

Er lächelte, und sie hatte das Gefühl, die Sonne ginge auf.

»Wenn es gut für Ihr Geschäft ist, meinetwegen. Aber deswegen bin ich nicht hier …, ich hatte damals, wie auch heute, das Gefühl, dass da etwas zwischen uns ist …, so etwas hatte ich noch nie zuvor in meinem Leben, das war damals so, es ist heute wieder der Fall …, ich finde, wir sollten gemeinsam die Straße des Lebens gehen, es kann sehr spannend werden.«

Julia wurde abwechselnd blass und rot, er sprach ihr aus dem Herzen, aber was er sagte, das war doch unmöglich, sie waren zwei Fremde, die sich jetzt zum zweiten Male begegneten, und jetzt fiel ihr auch alles wieder ein. Er hatte sie schon damals fasziniert, doch da lag gerade diese entwürdigende Trennung hinter ihr, sie hatte von Männern die Nase voll, auch von denen, die so anders zu sein schienen.

Sie blickte ihn an.

»Ich weiß nicht, was ich jetzt sagen soll.«

Er lächelte.

»Als Antwort braucht es nur ein Wort …, entweder ja oder nein. Das NEIN wäre sehr schade, denn ich bin überzeugt davon, dass wir uns begegnen mussten.«

Es war verrückt, was er sagte, aber es war schön, und im Grunde genommen war er so etwas wie der Prinz, den sich jede Frau erträumte, nur dass er ohne ein weißes Pferd gekommen war.

»Er hatte sie gesucht, die Mühe machte sich ein Mann doch nicht, wenn er bloß ein flüchtiges Abenteuer wollte, oder?«

Seine braunen Augen wirkten warm und herzlich, sein Gesicht war offen, er gefiel ihr, daran gab es keinen Zweifel, er war genau der Typ Mann, der in ihr Beuteschema passte, wenngleich so etwas in diesem magischen Moment beinahe zynisch klang.

Wie unter einem inneren Zwang sagte sie leise: »Ja, aber ich weiß nicht, wie es gehen soll.«

Er atmete befreit auf, und seine Stimme klang beinahe fröhlich, als er bemerkte: »Das weiß ich auch nicht, aber wir können es herausfinden, und, ach, falls du es vergessen haben solltest«, jetzt duzte er sie einfach, »ich bin Daniel … Daniel Sandvoss, und ich arbeite als freier Journalist, und da ich noch ein paar große Aufträge habe, werden wir uns nicht so oft sehen, aber es gibt andere Kommunikationsmittel, sich kennenzulernen, sich behutsam anzunähern …«

Er stand auf, kam um den Tisch herum, dann zog er sie sanft zu sich empor, nahm sie in seine Arme, und dann küssten sie sich, ganz ohne Eile, und ehe sie sich ganz ihren Gefühlen hingab, ihren Verstand ausschaltete, weil der in diesem magischen Augenblick nur störte, fiel ihr die Zeile eines Gedichtes von Hermann Hesse ein, das sie über alles liebte – »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne …«

Woher hatte Hermann Hesse das gewusst?

Wie schade, dass sie ihm nicht mehr persönlich sagen konnte, wie zutreffend es war.

Sie versanken in einem Meer aus Zärtlichkeit, vergaßen alles. Doch sie befanden sich in einem Restaurant, die Realität holte sie schnell wieder ein, weil das Telefon nicht nur einmal klingelte, einer der Angestellten kam. Julia hatte keine Ahnung, wie sie die nächsten Stunden überstehen sollte.

Sie war bis über beide Ohren verliebt!

So etwas hatte sie noch nie zuvor erlebt, und ihm schien es nicht anders zu gehen, aber zumindest war Daniel wieder in der Lage, seinen Verstand zu gebrauchen, und so tauschten sie alle Nummern aus, unter denen sie zu erreichen waren.

»Und wann sehen wir uns wieder?«, wollte Julia wissen, die schon jetzt süchtig nach ihm, seinen Küssen war.

»Bald«, versprach er, »eigentlich hätte ich überhaupt nicht herkommen dürfen, doch nachdem ich endlich herausbekommen hatte, wo ich dich finden würde, nachdem ich wusste, dass es keinen Mann an deiner Seite gibt, musste ich kommen. Ich finde, wir haben schon viel zu viel Zeit verloren …, wir werden einen Weg finden …, du musst übrigens keine Angst haben, dass ich direkt bei dir einziehen möchte …, ich möchte alle Stolpersteine vermeiden, die sich uns in den Weg stellen können, und anfangs zu viel Nähe schadet einer Beziehung. Ich weiß das, denn darüber habe ich einen langen, langen Artikel geschrieben …«

Sie wurden unterbrochen, weitere Angestellte kamen, jetzt war es endgültig mit der Romantik vorbei, aber das warme Gefühl im Herzen blieb.­

Noch einmal versanken ihre Blicke ineinander, Julia war es gleichgültig, ob ihre Mitarbeiter es mitbekamen, ob sie über sie redeten.

Dieser Augenblick gehörte noch einmal Daniel und ihr, sie küssten sich, und obwohl er jetzt ging, war es kein Abschiedskuss, es war ein Versprechen, eine Verheißung.

Eine letzte Umarmung, ein letzter Kuss, dann murmelte er: »Ich glaube, das heute ist der schönste Tag in meinem Leben.«

So etwas sagten in der Regel nur Frauen, wenn sie ganz besonders sentimental waren, und natürlich hätte sie das jetzt gern bestätigt, sie konnte es nicht. Julia erlebte gerade das, was sie vorher niemals für möglich gehalten hätte …, man konnte tatsächlich sprachlos sein vor lauter Glück.

Was für ein Tag.

»Wir sehen uns …, bald …, und wir hören voneinander …«

Es folgten noch weitere Worte, die allerdings an Julia vorbeirauschten wie der Wind durch die Linde.

Von einem Augenblick auf den anderen hatte sich ihr Leben verändert. Und wäre Daniel nicht so beharrlich gewesen, hätte er sie nicht gesucht, dann wäre die große Liebe an ihr vorübergegangen, nur weil sie damals unaufmerksam, vielleicht auch angstvoll gewesen war.

Die Reise konnte beginnen, doch erst einmal fing sie in ihrer Küche an, in der Julia sich über die Auberginen hermachte, die für heute Abend brauchte.

Daniel …

Die Sehnsucht hatte einen Namen …

*

Während die Wirtin des ›Seeblicks‹ im siebten Himmel schwebte, sah es für Dr. Peter Bredenbrock überhaupt nicht gut aus. Er litt sehr unter der Trennung von Nicki, weil er sich mehr ausgemalt hatte als nur ein flüchtiges Glück.

Er hatte keine andere Wahl als es zu akzeptieren, und vor den Kindern durfte er sich nicht anmerken lassen, wie enttäuscht er war, sie waren es ebenfalls, ganz besonders Maren, die ja bereits in Nicki vernarrt gewesen war, ehe er mit ihr zusammengekommen war.

Er war froh, mit seinen Lehrerkollegen übers Wochenende verreisen zu können, und das war auch nur möglich, weil Angela von Bergen und ihre Mutter Sophia sich bereit erklärt hatten, die Kinder bei sich aufzunehmen. Die beiden waren wirklich so richtig gute Freunde geworden, und vor allem fühlten auch Maren und ganz besonders Tim bei ihnen wohl.

Angela war gerade bei ihm, um sich die letzten Instruktionen zu holen. Ihr hätte es auch nichts ausgemacht, im Lehrerhaus zu übernachten, weil ihre Mutter mittlerweile sehr gut allein zurechtkam, doch Maren und Tim fanden es spannender, anderswo zu schlafen.

Angela und Peter tranken einen Kaffee miteinander, und weil sie mittlerweile wirklich sehr gute Freunde geworden waren, traute Angela sich auch, ihn etwas zu fragen.

»Es nimmt dich noch immer sehr mit, dass Nicki gegangen ist, nicht wahr?«

»Ja, das ist richtig. Und ich finde es so schade, dass sie jetzt so weit weg ist, dass ich keine Chance habe, noch einmal mit ihr zu reden. Ich kann ihr schließlich nicht nachreisen, ich weiß ja nicht einmal, wo sie sich gerade befindet …, der Jakobsweg …, ich hätte nicht für möglich gehalten, dass eine Frau wie Nicki so etwas machen würde.«

»Ich kenne Frau Beck nicht, ich habe sie nur einige Male kurz erlebt, wenn sie bei der Frau Doktor war oder sich mit ihr im ›Seeblick‹ aufhielt, und, nun ja, es gab auch ein paar Begegnungen hier bei euch im Haus. Ich hatte schon den Eindruck, dass sie sich bei euch wohlfühlt, dass sie sich mit Maren und Tim versteht. Aber auf mich wirkte sie auch angespannt. Und das kann ich verstehen, Peter. Tim, Maren und du, ihr seid eine gewachsene Einheit. Ihr funktioniert auch ohne Worte, für Frau Beck war alles neu, Familie kann man nicht lernen.

Ich denke, es hat sie überfordert, und weil sie sich allem nicht gewachsen fühlte, ist sie gegangen. Ich finde, es zeigt Größe, wenn man geht, obwohl man es eigentlich nicht möchte, weil man liebt, sich hingezogen fühlt …, sie wollte dich und die Kinder nicht verletzen, davon bin ich fest überzeugt, und um mit sich ins Reine zu kommen, macht sie den Weg, nimmt sie sich diese Auszeit.«

»Angela, das kann ich jetzt nicht nachvollziehen, ich habe ihr einen Heiratsantrag gemacht, dadurch gezeigt, wie ernst es mir ist. Sie hätte mit mir noch einmal reden müssen, gemeinsam hätten wir es durchgestanden. Ja, sie hat uns wunderschöne Briefe geschrieben, Erklärungen zu finden versucht. Zu richtigen Ergebnissen kommt man nicht durch Monologe, sondern durch Dialoge.«

»Peter, für Frau Beck war alles gesagt, dein Heiratsantrag war es, was sie erschreckt hat, damit hast du leider genau das Gegenteil erreicht. Dadurch ist ihr bewusst geworden, dass es eine große Verantwortung ist, einen Mann zu heiraten, der Kinder hat. Soll ich dir ehrlich mal was sagen, Peter, und ich bin älter, schon etwas länger auf der Welt. Ich wollte immer Kinder haben, es hat nicht sollen sein. Ich glaube, ich hätte mir ebenfalls nicht zugetraut, mich mit einem Mann zusammenzutun, der Kinder in Marens und Tims Alter hat.«

Er blickte sie an.

»Das heißt, dass ich dann jetzt allein bleiben muss?«, erkundigte er sich, und seine Stimme klang bitter.

»Nein, natürlich nicht. Mit einer Frau, die selbst Kinder hat, wäre es vermutlich einfacher, weil die sich auskennt, aber ehrlich mal, es kann niemand Patentrezepte fürs Leben liefern. Ich glaube, es ist wirklich eine Glückssache, einen Partner fürs Leben zu finden, nicht nur einen Lebensabschnittsgefährten, wie es heute so schön heißt. Ich habe, wie du weißt, eine gescheiterte Beziehung hinter mir mit einem sehr unerfreulichen Ende. Dennoch fände ich es schön, einen Mann zu finden, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen kann.«

»Angela, du wirst ihn finden, du bist eine so wundervolle Frau, du bist warmherzig, klug, du siehst toll aus.«

»Und ich bin nicht mehr ganz taufrisch, in meinem Alter hat man wohl eher die Chance, von einem Terroristen erschossen zu werden, als noch einen Mann zu finden. Männer, die altersmäßig zu mir passen, sind entweder verheiratet, in einer anderweitigen festen Bindung oder sie suchen sich eine Jüngere, um mit der einen zweiten Frühling zu erleben. Ach, Peter, lass uns damit aufhören. Meine Mutter sagt immer, dass es kommt, wie es kommen soll. Und ich denke, das stimmt. Vor allem muss man an das Leben glauben. Hätte meine Mutter nicht so gekämpft, hätte sie nicht alle Energie daran gesetzt, wieder gesund zu werden. Sie säße noch heute im Rollstuhl.«

»Und du wärst noch immer verheiratet, wenn du dem Wünsche deines Exmannes gefolgt wärst und deine Mutter in ein Heim gesteckt hättest.«

Angela winkte ab, weil sie an diese düstere Zeit ihres Lebens nicht mehr erinnert werden wollte.

»Wim war grausam, und ich sage dir, es wird ihn einholen. Der liebe Gott verzeiht vieles, aber nicht alles. Irgendwann zahlen wir alle unseren Preis für das, was wir getan haben.« Sie sah in sein Gesicht und fuhr fort: »Beziehe das jetzt nicht auf dich, Peter, manchmal ist es auch so, dass wir geprüft werden, ehe wir wachsen. Es macht alles Sinn in unserem Leben, auch wenn wir das nicht sofort begreifen, und eines steht ebenfalls fest, der liebe Gott mutet uns nur das zu, was wir auch ertragen können.«

»Du hättest Pastorin werden sollen«, bemerkte Peter. Wenn es so war, dann hatte er nicht nur ein Päckchen getragen, sondern ein ziemlich großes Paket. Hatte es nicht gereicht, dass Ilka ihn verlassen und die ganze Familie zerstört hatte?

Ahnte Angela seine Gedanken?

»Peter, auch für dich wird die Sonne wieder scheinen. Du bist ein wunderbarer Mann, wer weiß, was das Schicksal noch mit dir vorhat. Eines möchte ich dir auf jeden Fall sagen. Mama und ich sind für dich und die Kinder immer da, und Freundschaft ist auch etwas ganz Wunderbares, Kostbares. Mama und ich fühlen uns durch die Freundschaft zu dir, Maren und Tim bereichert. Ihr habt viel Sonne und Wärme in unser Leben gebracht.«

»Umgekehrt war es ebenfalls so, Angela, das musst du mir glauben.«

Sie konnten sich nicht weiter unterhalten, denn Maren und Tim kamen die Treppe heruntergestürmt. Aber eigentlich war ja auch alles gesagt, manches konnte man zerreden, wenn man immer wieder davon anfing.

»Papa, Tim und ich haben eine Idee. Können wir schon heute bei Angela und Sophia schlafen? Dann hast du deine Ruhe, kannst dich auf deinen Ausflug mit den Kollegen vorbereiten.«

»Ja, Papa, und ich denke, besonders Sophia wird sich freuen, wenn wir heute schon kommen. Und ich weiß, dass die Betten in den Gästezimmern für uns schon bezogen sind«, fügte Tim hinzu.

Es war Angela anzumerken, wie sehr sie sich freute. Sie blickte den Kindesvater an und sagte: »Tja, Peter, wenn du nichts dagegen hast, dann nehme ich Maren und Tim gleich mit zu uns, Mama könnten wir damit glücklich machen, sie ist in Maren und Tim vernarrt und ist froh um jede Minute, die sie gemeinsam mit ihnen verbringen kann.«

»Und wir freuen uns auch«, bestätigte Maren.

»Um bei Sophia zu sein oder weil es da immer all die leckeren Süßigkeiten gibt, die ich euch vorenthalte?«

Diese Frage beantwortete Maren besser nicht, musste sie auch nicht, denn in diesem Augenblick umarmte Tim seinen Vater stürmisch und rief: »Danke, Papa.«

Peter befreite sich aus der stürmischen Umarmung seines Sohnes. »Hoppla, mein Sohn, ich habe überhaupt nicht zugestimmt.« Tim grinste.

»Aber ich weiß, dass du es tun wirst, weil du nämlich der allerbeste Papa von der ganzen Welt bist, weil du möchtest, dass Maren und ich glücklich sind.«

Peter war gerührt.

Er hatte zwar die Frau verloren, die er liebte und das leider nicht zum ersten Male. Doch er hatte seine Kinder, mit denen er durch ein unsichtbares Band für immer fest verbunden war. Daran würde sich niemals etwas ändern.

»Also gut, meinetwegen geht.«

»Dann holen wir nur noch unsere Sachen«, schrie Tim begeistert. »Wir haben nämlich schon gepackt.«

Maren und Tim polterten los, Angela und Peter waren vorübergehend wieder allein, es würde nicht lange dauern, bis die Kinder zurückkamen, doch die Zeit reichte Angela, um ihm sagen zu können: »Peter, du bist so reich. Maren und Tim sind ein Geschenk, für das du ewig dankbar sein musst.«

Peter hätte jetzt gern etwas dazu gesagt, er kam nicht dazu. Seine Sprösslinge mussten geflogen sein.

Jetzt fiel Maren ihrem Papa um den Hals und flüsterte: »Papa, wenn du dich allein fühlst, dann komm einfach rüber. Sophia und Angela haben gewiss nichts dagegen einzuwenden.«

»Bestimmt nicht«, bestätigte Tim, dann allerdings hatte er es eilig, zu den von Bergen zu kommen. Sophia hatte ihn bei ihrem letzten Spiel tatsächlich geschlagen, und das war ganz gegen seine Jungenehre, er wollte Revanche.

Die Kinder verabschiedeten sich von ihrem Vater, und dann rannten sie schon mal los.

»Danke, Angela«, sagte er und begleitete sie zur Tür. »Ich weiß überhaupt nicht, wie ich das jemals gutmachen soll.«

Sie umarmte ihn flüchtig.

»Indem du unser Freund bleibst«, erklärte sie, »mache dir nicht all die Gedanken, alles wird gut.«

Daran konnte er noch nicht glauben, im Augenblick war es um ihn herum ganz schön düster. Und es kostete viel Kraft, sehr viel Kraft, das nicht vor den Kindern zu zeigen.

Sie verabschiedeten sich voneinander wie gute Freunde, und das war wohltuend. Nachdem Angela gegangen war, blickte er hinauf zum Himmel, der heute übersät war mit Sternen.

Er dachte an Nicki.

Ob auch sie den Sternenhimmel sah?

Ob sie an ihn dachte?

Wohl eher nicht, denn würde sie für ihn das empfinden, was er für sie empfand, dann hätte sie seinen Heiratsantrag nicht abgelehnt.

Sie waren sich so nah gewesen.

Vielleicht war es sich deswegen auch so sicher gewesen, dass der Antrag sie glücklich machen würde.

Angelas Worte fielen ihm ein, die Nicki praktisch in Schutz genommen hatte. War sie überfordert gewesen, und er hatte zu rasch vorausgesetzt, dass es für sie so etwas sein würde wie ein Spaziergang auf einer Sommerwiese?

Er blickte noch einmal in den Himmel, ehe er ins Haus zurückging, und genau in diesem Augenblick sah er eine Sternschnuppe. Zu spät fiel ihm ein, dass man sich da etwas wünschen konnte. Er hatte einen Wunsch, doch er hatte es verpasst, ihn auszusprechen. Schade, sehr schade.

*

So, Roberta beschloss, endlich Schluss zu machen und sich nicht länger in den Fall zu vertiefen. Sie musste für diesen neuen Patienten bei den Kollegen, bei denen er vorher in Behandlung war, die Unterlagen anfordern, und sie musste auch einmal ein Gespräch mit seiner Frau führen und sich deren Sicht der Dinge anhören. Doch da sie sich kannte und wusste, dass sie nicht einfach aufhören konnte, wenn sie sich mit etwas beschäftigte, klemmte sie sich die Krankenakte unter den Arm, und dann verließ sie die Praxis.

Wieder einmal wurde ihr bewusst, welch ein Privileg es doch war, die Praxisräume direkt neben ihrer Wohnung zu haben. Sie löschte das Licht, stieß die Tür zu ihrer Wohnung auf. Zuerst sah sie Schmutzspuren auf dem hellen Fußboden, dann die Scherben einer zerschlagenen Fensterscheibe, danach entdeckte sie in einem Sessel jemanden.

»Du?«, rief sie überrascht. »Bist du durchs Fenster eingestiegen?«

Der neue Sonnenwinkel Box 6 – Familienroman

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