Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Jubiläumsbox 3 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 5
ОглавлениеGerda Schulz war wie gelähmt. Sie wusste nicht, was es war, was sich da in ihrem Inneren abspielte – waren es Angst und Entsetzen? Sie hatte keine Ahnung, aber eines wusste sie, sie war nicht allein im Haus!
Sie hatte noch das scheppernde Geräusch in ihrem Ohr, das eindeutig das Indiz dafür war, dass jemand etwas unachtsam heruntergerissen hatte.
Sie konnte jetzt nicht schicksalsergeben darauf warten, was nun kommen würde. Sie war eine Kämpferin und war schon durch mehrere Höllen gegangen. Sie riss sich zusammen, schlich sich leise in die Küche, und dort nahm sie vorsichtig eines der beiden Küchenmesser in die Hand. Mit dem Messer bewaffnet lief sie an den Ort, von dem das Geräusch gekommen war, ins Wohnzimmer. Und richtig, eine große Vase war heruntergefallen, die jemand hier im Haus zurückgelassen hatte und die Leonie unbedingt aufgestellt haben wollte.
Um die Vase war es nicht schade, Gerda fand sie hässlich. Aber sie hatte sicher und fest auf einer Anrichte gestanden, und wenn sie nun zertrümmert auf dem Boden lag …
Gerda blickte sich suchend um.
Es war nichts zu sehen, sie ging zur Diele, lief zur Haustür, die war abgeschlossen. Sie inspizierte die Fenster, alle waren geschlossen, keines war beschädigt.
Gäbe es nicht die zertrümmerte Vase, wären ihr jetzt Zweifel gekommen. Die Scherben sprachen eine deutliche Sprache.
Gerda ging ins Obergeschoss, in den nicht möblierten Zimmern war nichts zu sehen, sie inspizierte ihr spärlich eingerichtetes Schlafzimmer, nichts. Jetzt gab es nur das Zimmer von Leonie. Die Tür war nur angelehnt, Gerda machte die Tür ganz auf, ging hinein und blieb wie angewurzelt stehen.
Mitten auf Leonies Bett hatte es sich eine schwarze Katze mit funkelnden grünen Augen bequem gemacht und sah ihr neugierig entgegen.
Gerda verspürte ein unglaubliches Gefühl der Erleichterung.
Es gab keinen Einbrecher, es gab niemanden, der ihr Böses wollte.
Eine Katze …
Beinahe hätte sie angefangen hysterisch zu lachen, wenn sie daran dachte, welche Angst sie hatte, welches Entsetzen sie beim Klirren des Glases verspürt hatte.
Eine Katze …
Wie war die ins Haus gekommen?
Wahrscheinlich war sie an Leonie vorbeigeschlüpft, als die das Haus verlassen hatte, um zur Felsenburg zu laufen, oder sie war durch die geöffnete Terrassentür geschlüpft, als Leonie im Garten war.
Für Leonie war es noch immer ganz wunderbar, ihre Umgebung zu ergründen, und sie konnte sich an einer vertrockneten Blume freuen, einer Blume in ihrem Garten!
Leonie platzte beinahe vor Glück, weil sie jetzt ein Zuhause hatte, und Gerda versuchte, kein allzu schlechtes Gewissen zu haben, weil sie ihre Tochter jahrelang durch halb Europa geschleppt hatte, immer beseelt von einem Gefühl der Sicherheit für sie beide, ohne daran zu denken, dass ein Kind ganz andere Bedürfnisse hatte, dass es einen festen Platz in seinem Leben brauchte.
Das war Gerda ganz deutlich geworden, als sie das Entzücken, die Verzückung ihrer Tochter bemerkt hatte beim Aussuchen ihres Prinzessinnenzimmers, ihr Glück und ihre Freude darüber, dass sie den Sonnenwinkel entdeckt und das Haus gefunden hatten. Richtig war, dass Leonie es entdeckt hatte und wie besessen gewesen war. Wäre es nach Gerda gegangen, die hätte sich niemals für den Sonnenwinkel und ein Haus dort entschieden. Für sie hätte es immer so weitergehen können, wie es in all den Jahren gelaufen war.
Ein Haus an einem idyllischen Ort …
Warum alles so gekommen war, warum Leonie es entdeckt hatte. Fragen über Fragen, doch darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken, sondern sie musste sich erst einmal um diese schwarze Katze kümmern.
Ganz langsam näherte Gerda sich dem Bett, sprach dabei beruhigende Worte. Die Katze blieb still und unbeweglich sitzen, ließ sie aber nicht aus den grünen Augen.
Als Gerda das Bett erreicht hatte und nach der Katze greifen wollte, sprang die blitzschnell auf und entwischte ihr.
Sie rannte aus dem Zimmer, und Gerda dämmerte, dass es nicht einfach sein würde, das Tier einzufangen.
Ein wenig merkwürdig war schon, dass die Katze es sich in Leonies Zimmer gemütlich gemacht hatte. Und ein wenig bedauerte sie auch, dass Leonie nicht daheim war. Die hätte an der Katze ihre helle Freude gehabt.
Aber diesen Gedanken setzte Gerda besser nicht fort. Die Katze musste weg!
Und sie musste weg sein, ehe Leonie wieder nach Hause kam.
Dieses Haus im Sonnenwinkel war schon eine ziemliche Herausforderung. Sie hatten dafür wenigstens die nötigsten Möbel kaufen müssen, und das allein schon war für Gerda ein Klotz am Bein.
Nun auch noch die Verantwortung für ein Tier übernehmen? Das ging überhaupt nicht!
In ihr gab es da ganz verschiedene Gefühle, zum einen, dass die Katze verschwinden musste, zum anderen sagte sie sich, dass Leonie sich riesig freuen würde. Die hatte sich schon immer ein Tier gewünscht.
Und war es nicht ein Zeichen, dass diese schwarze Katze einfach so ins Haus gekommen war und es sich ausgerechnet in Leonies Zimmer gemütlich gemacht hatte?
Nein, es war kein Zeichen!
Katzen liefen überall draußen herum, und mittlerweile waren es so viele, dass man ernsthaft überlegte, sie kastrieren zu lassen. Und dagegen hatte nicht einmal der Tierschutz etwas, weil Katzen mehrfach im Jahr Junge bekommen konnten.
Doch auch darüber musste sie sich jetzt keine Gedanken machen, sie ging ins Wohnzimmer, öffnete die Terrassentür in der Hoffnung, die Katze würde hinauslaufen.
Das würde sie bestimmt tun. Entweder war es eine Katze aus der Nachbarschaft oder eine von denen, die draußen herumstreunten.
Es war ein hübsches Tier, das musste Gerda zugeben, doch das änderte nichts daran, dass sie sich wünschte, die Katze würde hinauslaufen, und sie würde es für sich behalten und Leonie nichts davon erzählen. Und deswegen musste sie zuerst einmal die Scherben zusammenfegen, und sollte Leonie etwas sagen, dann konnte sie es auf sich nehmen und ihr erzählen, sie sei gegen die Vase gestoßen.
Wo war bloß die Katze?
Ehe Gerda sich an die Scherben heranmachte, unternahm sie eine weitere Untersuchung der Räume.
Wo war bloß die Katze?
Sie schien wie vom Erdboden verschluckt, und ihre letzte Hoffnung, sie könnte sich wieder in Leonis Zimmer zurückgezogen haben, erfüllte sich nicht.
Gäbe es die Scherben nicht, hätte Gerda jetzt arge Bedenken bekommen. Und dann ausgerechnet auch noch eine schwarze Katze zu sehen, das war in der Psychiatrie ein bedenkliches Merkmal.
Sie holte einen Handfeger und ein Kehrblech, dann fegte sie die Scherben zusammen und brachte sie in den Müll.
Eine Nachbarin von nebenan grüßte freundlich, setzte sich in Richtung Gartenzaun in Bewegung, Gerda ergriff sehr schnell das Weite.
Vermutlich kannte hier jeder jeden und war miteinander vertraut. Das mochte ja sein, doch sie würde sofort ganz klare Grenzen ziehen.
Dieses Haus, der Sonnenwinkel, das war die Welt ihrer Tochter. Ihre würde es niemals werden, und sie hatte, kaum, dass sie hier lebte, das ungute Gefühl, dass sich etwas über ihr zusammenbraute. Und das war gar nicht gut!
Dagegen musste sie ankämpfen, weil es nur in ihrer Fantasie existierte. Ihr konnte nichts passieren, nicht nach all diesen Jahren!
Gerda fröstelte, und deswegen beschloss sie, sich einen Kräutertee zu kochen.
Während sie in die Küche ging, sah sie sich unentwegt um. Von der Katze gab es keine Spur!
Leonie war ganz aufgeregt, als sie den Hügel hinauf Richtung Felsenburg ging. Diese Ruine zog sie magisch an. Vor allem war sie glücklich, dass ihre Mama sich darauf eingelassen hatte, dass sie allein gehen durfte.
Aber da hatte sie ganz schön reden müssen. Ihre Mutter sah sie immer noch als das ganz kleine Mädchen, das unentwegt beschützt werden musste.
Sie war nicht mehr klein, und hier im Sonnenwinkel musste sie keine Angst haben. Hier in diesem Paradies konnte ihr überhaupt nichts passieren. Sie hatte so sehr das Gefühl, dass das hier der Anfang zu etwas ganz Wunderbarem war. Begonnen hatte es auf jeden Fall superschön, da musste sie nur an ihr Prinzessinnenzimmer denken. Wenn man sich in dieses Bett legte, da kam man sich wirklich vor wie eine Prinzessin. Ach, ihre Mami, die war ja sooo lieb!
Ehe Leonie den Weg hinauf zur Felsenburg einschlug, blieb sie für einen Augenblick stehen, um sich die beiden Häuser anzusehen, eines davon war sehr modern und das andere sah so richtig toll aus, es war beinahe ein Schloss.
Schade, dass sie noch so überhaupt nicht wusste, wer da wohnte. Ob das ein Fürst war oder wenigstens ein Graf?
Es machte nichts, sie waren ja gerade erst angekommen, und sie würde alles herausfinden. Darauf freute sie sich jetzt schon.
Sie wollte gerade weitergehen, als jemand von den Häusern mit seinem Fahrrad heruntergebrettert kam.
Leonie erkannte ihn sofort. Es war der Junge, den sie bei ihrem Haus gesehen hatte.
Neugierig blieb sie stehen.
Das tat der Junge mit dem Fahrrad ebenfalls. Und er blickte nicht minder neugierig drein.
»Hi«, sagte er ganz cool. »Du wohnst jetzt also in diesem Haus.«
Leonie sagte ebenfalls »hi« und nannte ihren Namen. »Ja, ich wohne jetzt mit meiner Mama im Sonnenwinkel.«
»Und jetzt? Was machst du jetzt?«, erkundigte er sich. Leonie erzählte ihm, dass sie hinauf zur Felsenburg laufen wollte, was er für keine so gute Idee hielt.
»Warum nicht?«, wollte Leonie wissen. »Ist es verboten, zu der Ruine zu laufen? Haben die Leute, die da oben wohnen, etwas dagegen?«
Manuel schüttelte den Kopf.
»Nein, zu der Felsenburg kann jeder gehen, und die Leute, die da wohnen, das ist meine Familie, da wohnen mein Papa, meine Stiefmutter, meine Geschwister und Oma Marianne und Opa Carlo.«
Für einen Moment war Leonie beeindruckt.
»Und seid ihr so etwas wie Earls oder so?« Sie erinnerte sich, dass sie nicht in England war und korrigierte sich sofort: »Ich meine Grafen oder Fürsten.«
Manuel lachte.
»Also mein Papa und ich, wir heißen einfach nur Münster, und meine Stiefmutter ist eine geborene von Rieding, aber ich weiß nicht einmal, ob sie das von vor ihrem Namen nur so haben oder ob sie auch einen Titel haben. Weißt du, ein Titel hat in Deutschland nichts zu bedeuten. Das wurde abgeschafft, es ist nur noch der Bestandteil eines Namens. Aber sag mal, wie kommst du auf Earl?«
Leonie erzählte, dass sie zuletzt in England gelebt hatte, was ihn total beeindruckte.
»Cool«, sagte er, »ich war gerade mal mit meinen Eltern in der Schweiz, in Holland, und einmal in Spanien, aber das war im Urlaub, und da waren wir meistens im Hotel oder am Strand.«
Der Junge war richtig nett.
Normalerweise war Leonie nicht so, aber jetzt wollte sie doch ein wenig angeben: »In Spanien haben wir auch gewohnt und in England, Frankreich, Portugal, Schottland und Irland. Irland hat mir am besten gefallen.«
Manuel konnte zuerst einmal überhaupt nichts sagen. Wie sie das sagte, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt.
»Ist dein Vater Diplomat?«, wollte er wissen.
Leonie schüttelte ihre roten Locken, dass sie nur so flogen.
»Ich kenne meinen Vater nicht, ich war mein Leben lang immer nur mit meiner Mama zusammen.«
»Und sonst hast du keine Familie?«, erkundigte er sich.
So etwas hatte sie noch niemals jemand gefragt, und deswegen hatte sie sich auch noch niemals zuvor Gedanken darum gemacht.
Merkwürdig!
Sie kannte wirklich nur ihre Mama.
Sie war irritiert, und sie hatte keine Lust, jetzt weiter über ein Thema zu sprechen, von dem sie nichts wusste.
»Ich glaube, ich gehe jetzt weiter zur Felsenburg hinauf«, sagte sie, um abzulenken.
Wieder widersprach Manuel.
»Das ist wirklich keine gute Idee, es ist zu spät, gleich ist es dunkel, und da siehst du dort oben überhaupt nichts.«
Er grinste.
»Weißt du, da oben gibt es nämlich keinen elektrischen Strom. Da kann man nicht einfach Licht anknipsen.«
Schon hatte sie eine heftige Erwiderung auf den Lippen, als er wieder ernst wurde.
»Wenn man zum ersten Mal zur Felsenburg geht, dann sollte man viel Zeit mitbringen, und dann sollten die Lichtverhältnisse stimmen. Es gibt so vieles zu sehen, da befinden sich sogar noch die Überreste einer Folterkammer, und es gibt einen Geheimgang, der aber mittendrin zugeschüttet ist. Und die Legende sagt, dass die Seelen früherer Bewohner dort noch herumgeistern. Das sind bestimmt die, die böse waren und nun keine Ruhe finden.«
Leonie sah ihn zweifelnd an. Das mit den herumgeisternden Seelen war ihr nicht neu, so etwas gab es in Irland und Schottland beinahe überall. Aber hier? Und glaubte er daran? Er sah nicht so aus.
»Wenn du magst, können wir gemeinsam die Ruine erkunden, ganz früher, als ich mit meinem Papa hierher kam, hat es Sandra von Rieding getan, die später meine Stiefmutter wurde.«
»Und deine richtige Mama?«
»Die ist tot, die starb, als ich noch ein ganz kleiner Junge war, und die Erinnerung an sie verblasst immer mehr. Aber sie hat mir Sandra geschickt, denn ehe die in Papas und mein Leben kam, da lebte eine ganz schreckliche Tante bei uns. Die sind wir zum Glück losgeworden. Und jetzt ist alles gut.«
Manuel gefiel ihr immer besser. Sie glaubte auch an so etwas wie Vorbestimmung, auch wenn sie das Wort dafür nicht kannte. Was Manuel da gerade so entwaffnend gesagt hatte, gefiel ihr, weil sie nämlich auch der festen Meinung war, dass irgendwo irgendwer daran gedreht hatte, dass sie hierher in den Sonnenwinkel gekommen waren.
Er hatte wohl auch keine Lust, dieses Thema zu vertiefen, sondern erkundigte sich: »Was ist, machen wir den Ausflug zur Felsenburg gemeinsam?«
Sie wäre lieber sofort hinaufgegangen, aber vielleicht hatte er ja auch recht. Und jemanden an seiner Seite zu haben, der sich auskannte, das hatte auch etwas.
Sie nickte.
»Ja, dann gehe ich mal wieder nach Hause«, sagte sie.
Das fand er nun überhaupt nicht gut. »Wir können noch ein bisschen quatschen, wenn du magst, dann können wir zu mir nach Hause gehen. Meine Mutter hat bestimmt nichts dagegen. Aber wir können uns auch dort drüben auf die Bank setzen. Da habe ich mich immer mit Bambi getroffen.«
»Bambi, du hast dort ein Reh getroffen, und das ist zu der Bank gekommen?«, erkundigte sie sich und hatte ganz große Augen.
Er lachte herzhaft.
»Nö, Bambi ist eine Freundin von mir, wir sind zusammen aufgewachsen.«
»Und jetzt triffst du dich nicht mehr mit ihr? Habt ihr euch verkracht?«
Beinahe hätte Manuel wieder gelacht, aber das war jetzt leider nicht zum Lachen, auch wenn diese Leonie so komische Fragen stellte.
»Bambi wohnt bei ihrem Bruder in Australien, und jetzt will sie auch nicht mehr Bambi genannt werden, sondern Pam, das ist die Abkürzung von Pamela, so heißt sie eigentlich.«
»Ich weiß«, sagte Leonie.
»Entschuldige, hab vergessen, dass du ja weit gereist bist und dich auskennst.«
Eigentlich wollten sie sich gerade auf die Bank setzen, doch Leonie hatte keine Lust mehr. Sie fühlte sich von ihm auf den Arm genommen.
»Immer irgendwo anders zu sein, das ist nicht so toll, das kannst du mir glauben. Ich wäre in all den Jahren auch lieber immer an einem so wunderschönen Ort gewesen wie dem Sonnenwinkel. So, und jetzt gehe ich.«
Er hielt sie am Arm fest.
»Bitte bleib«, bat er, »ich verspreche dir auch, keine dummen Bemerkungen mehr zu machen. Weißt du, ich kann gut mit Mädchen umgehen, und wenn Bambi …, äh Pam hier wäre, ich glaube, ihr würdet euch auch sehr gut verstehen. Und glaube mir, wir hatten auch manchmal Zoff. Ich glaube, das ist so, weil Jungen und Mädchen eben so verschieden sind.«
Er war ja ein Netter, und Leonie war wieder versöhnt, sie setzte sich neben ihn auf die Bank, und zum Glück stellte er keine Fragen mehr nach ihrem Vater. Die konnte sie nicht beantworten. Und sie musste unbedingt mit ihrer Mama reden.
Sie sprachen über die Schule, und Manuel freute sich, dass sie auch auf das Hohenborner Gymnasium gehen wollte, das er ebenfalls besuchte.
»Wir können zusammen im Bus fahren«, sagte er, »aber bei schönem Wetter ist es auch mit dem Fahrrad ganz easy.«
»Ich nehme den Bus«, sagte sie.
»Aber es gibt wirklich einen ganz tollen Fahrradweg«, bemerkte er.
Leonie bekam einen hochroten Kopf. Sie wünschte sich, sich in ein Mauseloch verkriechen zu können. Es war ihr ja so peinlich! Wie sollte sie sich da herausreden? Es ging nicht, also blieb nur die Wahrheit.
Leonie schob mit ihrem rechten Fuß einen kleinen weißen Stein von links nach rechts, von oben nach unten.
Dann atmete sie tief durch und sagte so leise, dass man es kaum verstehen konnte: »Ich …, ich kann nicht Fahrrad fahren.«
So, nun war es heraus, und er würde gleich anfangen amüsiert zu lachen. Nichts geschah, er sagte vielmehr: »Fahrrad fahren ist so was von easy, wenn du willst, dann bringe ich es dir bei. Und üben können wir auf dem Fahrrad meiner Stiefmutter. Vielleicht leiht sie es dir sogar, denn sie fährt überhaupt nicht mehr drauf.«
Er hatte nicht gelacht!
Ausgelacht zu werden, und das noch von einem Jungen, das wäre für Leonie wirklich das Allerschlimmste gewesen. Er war cool geblieben, und das war wirklich nett, mehr als nur nett.
»Und es ist nicht schwer?«, erkundigte sie sich.
»Überhaupt nicht«, versprach er.
»Dann frage ich meine Mama, die kauft mir bestimmt ein Fahrrad.«
»Ja, aber versuchen können wir es zuerst mit dem Fahrrad meiner Stiefmutter. Und am besten üben können wir unten am See. Da gibt es ganz tolle Radwege, alles ist eben, und wenn du zum ersten Mal den See umrundet hast, das verspreche ich dir, dann kannst du auch Rad fahren.«
Er wollte mit ihr zur Felsenburg gehen!
Er wollte ihr das Radfahren beibringen!
Das war ganz schön cool!
Sie blickte ihn an.
»Danke, dass du mir das alles beibringen willst. Sind hier alle so nett wie du?«
Er grinste.
»Weiß ich nicht, aber geh mal davon aus, dass ich der Netteste bin.«
Also wirklich, eingebildet war er nicht!
Sie begannen sich über die Schule zu unterhalten, und als es für sie an der Zeit war zu gehen, begleitete er sie sogar bis zu dem Haus, in dem sie wohnte.
»Also dann, auf bald«, sagte er.
»Auf bald«, antwortete sie.
Als Leonie ins Haus ging, wusste sie, dass sie einen Freund gewonnen hatte. Das war so richtig schön.
*
Sie wusste, dass es töricht war, doch Gerda Schulz fühlte sich so unendlich erleichtert, dass man hätte glauben können, ihre Tochter sei nicht von einem kurzen Spaziergang zurückgekehrt, sondern von einer gefährlichen Antarktis-Expedition.
»Da bist du ja, ich habe mir schon solche Sorgen gemacht«, rief Gerda, umarmte ihre Tochter.
»Mami, wieso das denn? Ich war erst mal nicht lange weg, und was soll mir denn hier schon passieren?«
»Dennoch …, wie war die Felsenburg?«
Leonie erzählte ihrer Mutter, dass sie nicht oben gewesen sei, dafür aber Manuel kennengelernt hatte, der ihr alles in der Felsenburg zeigen wolle, und der sich sogar bereiterklärt hatte, ihr das Fahrradfahren beizubringen. »Mami, er ist sehr nett, und er geht auch auf das Gymnasium in Hohenborn.«
Gerda wusste nicht, was sie davon halten sollte.
Es war nicht nur das Leben im Sonnenwinkel, in diesem Haus hier, fremd, es betraf auch die Menschen. Bislang hatten sie mehr oder weniger für sich allein gelebt, und die Kontakte zu anderen Leuten waren sehr spärlich gewesen.
Nun waren sie kaum hier, und Leonie sprach über diesen Jungen wie über einen alten Freund.
Ehrlich gesagt, das passte Gerda überhaupt nicht.
»Leonie, du darfst nicht so vertrauensselig sein.«
Leonie lachte.
»Mami, es ist ein Junge, der vielleicht zwei Klassen über mir ist. Du glaubst doch wohl nicht, dass jemand wie Manuel mit dem Messer auf mich losgeht oder mich entführt? Bitte, verdirb mir nicht alles. Ich bin jetzt so glücklich und so froh, und das möchte ich auch bleiben. Ich finde Manuel toll, und ich werde ihn mir durch dich nicht ausreden lassen, gewiss nicht.«
Sie machte sich aus der Umarmung ihrer Mutter frei und rannte hinauf in ihr Zimmer.
Warum freute ihre Mutter sich nicht mit ihr?
Warum sah sie überall den Teufel an der Wand?
Leonie wollte sich auf ihr Bett werfen, als sie innehielt. Da lag etwas wunderschönes Schwarzes, und zwei grüne Augen funkelten ihr entgegen.
Sie hielt den Atem an, blieb vor Überraschung stehen, dann näherte sie sich dem Tier, nahm es auf den Arm, streichelte es.
»Ja, wer bist du denn?«, flüsterte sie und presste ihr Gesicht in das seidenweiche Fell. »Du bist so wunderschön.«
Dann setzte sie sich, mit der Katze im Arm, die ganz still hielt und vor Behagen schnurrte, in Bewegung, rannte die Treppe hinunter und schrie: »Mami, das ist eine wundervolle Überraschung. Ich habe mir schon immer eine Katze gewünscht, und jetzt habe ich eine. Wo hast du die denn hergeholt? Danke, du bist die liebste Mami auf der ganzen Welt.«
Angelockt durch das Geschrei ihrer Tochter kam Gerda aus der Küche gelaufen und blieb wie angewurzelt stehen.
Das konnte jetzt wirklich nicht wahr sein!
Sie hatte so sehr gehofft, die Katze sei durch die geöffnete Terrassentür hinausgelaufen, und nun sah sie die auf dem Arm ihrer Tochter, und da schien sie sich mehr als nur wohlzufühlen.
»Mami, danke, tausendmal danke. Ich würde dich ja jetzt gern umarmen, aber wie du siehst, geht es nicht, ich habe meinen kleinen Freund auf dem Arm.«
So, wie Leonie sich gebärdete, war es unmöglich, die Katze jetzt einfach ins Freie zu setzen, was das Einfachste wäre. Hatten sie jetzt nicht nur dieses Haus, sondern auch noch eine Katze am Hals?
Warum war das Tier denn bei ihr nicht so zutraulich gewesen? Dann hätten sie das jetzt hinter sich.
Gerda versuchte ein gequältes Lächeln, dann erzählte sie ihrer Tochter notgedrungen, wie sie auf die Katze aufmerksam geworden war und wie sie diese letztlich gefunden hatte.
Leonie lachte.
»Mami, da lag sie gerade ebenfalls, vielleicht ist es eine verwunschene Prinzessin und fühlt sich deswegen auf meinem Prinzessinnenbett so wohl?«
Nun musste auch Gerda lachen.
»Also, da muss ich dich enttäuschen, mein Kind. Es ist keine Prinzessin, sondern ein Prinz. Es ist ein Kater.«
Das war Leonie so was von egal, eine Katze, das war im Moment ihr höchstes Glück.
»Ich werde ihn Blacky nennen«, sagte sie, »einmal, weil er schwarz ist, und er ist ja so schön.«
Leonie durfte sich da nicht in etwas verrennen.
»Mein Kind, wir können … Blacky nicht einfach behalten«, sagte sie, »das Tier kann jemandem gehören. Und da müssen wir es zurückgeben. Wir müssen uns umfragen, und am besten schreibst du ein paar Zettel, die wir an Bäumen und Zäunen anheften können. Wenn die Katze irgendwo weggelaufen ist, dann müssen wir sie dem rechtmäßigen Besitzer wirklich zurückgeben, alles andere geht nicht, und es würde dich auch nicht …«, sie zögerte kurz, »glücklich machen. Glaub mir das.«
Leonie presste den Kater ganz fest an sich.
»Mami, er gehört niemandem. Das fühle ich. Er hat uns gefunden, er wollte hierher, und ich bin mir sicher, dass niemand nach ihm fragen wird.«
Gerda zuckte die Achseln.
»Warten wir’s ab.«
Was sollte sie sich jetzt wegen einer Katze Gedanken machen?
Sie wünschte sich, dass jemand sich melden würde.
Ahnte Leonie die Gedanken ihrer Mutter?
Sie presste Blacky noch fester an sich.
»Mami, wenn niemand sich meldet, dann darf ich Blacky doch behalten, oder?«
Ihre Stimme hatte so flehentlich geklungen. Sie hätte ein Herz aus Stein haben müssen, ihrer Tochter diesen Wunsch abzuschlagen. Sie wäre froh, die Katze käme weg.
»Natürlich, mein Kind«, sagte sie. »Und wir können ja die Terrassentür noch einmal aufmachen, vielleicht läuft Blacky ja nach Hause.«
Leonie zögerte, aber dann gab sie nach. Je eher geklärt war, dass Blacky nirgendwo hingehörte, umso eher konnte sie sich freuen.
Blacky noch immer auf dem Arm, ging sie tapfer zur Terrassentür, öffnete sie ganz weit, dann setzte sie den Kater auf den Boden.
Es war spannend wie ein Krimi!
Was würde jetzt passieren?
Blacky blieb unschlüssig stehen, machte ein ganz klägliches Miau, dann krallte er sich an Leonies rechtem Bein fest. Er wollte nicht gehen, das war eindeutig.
»Mami, er will bleiben, und nun müssen wir sehen, dass wir für ihn etwas zu essen und zu trinken bekommen.«
Gerda nickte.
»Ja, aber zuerst schreiben wir die Zettel und nehmen sie direkt mit, wenn wir das Futter holen. Er braucht ja auch noch einen Katzenkorb, eine Katzentoilette.«
Leonie war glücklich.
»Mami, ich gebe dir all mein Taschengeld, das ich von dir bekommen habe. Ich brauche nichts, aber Blacky braucht alles. Er soll sich doch bei uns auch so glücklich fühlen wie ich. Mama, ist es nicht wundervoll? Erst finden wir dieses schöne Haus, ich habe die Möbel bekommen, die ich mir schon immer gewünscht habe, und Blacky ist uns einfach zugelaufen, und …«, sie zögerte einen Augenblick, »ich habe Manuel kennengelernt. Und wer weiß, vielleicht kommt ja auch Pamela aus Australien zurück, dann bekomme ich auch noch eine Freundin. Der Manuel sagt, dass sie sehr nett ist, und er muss es wissen, er ist nämlich mit ihr aufgewachsen. Er ist mit seinem Papa in den Sonnenwinkel gekommen, seine Mama ist tot, aber jetzt hat er eine Stiefmutter, die sehr nett sein muss.«
Ihr fiel etwas ein.
»Mami, wer ist eigentlich mein Vater? Und haben wir noch Verwandte? Ich meine eine Oma oder einen Opa, oder vielleicht einen Onkel oder eine Tante.«
Vor solchen Fragen hatte Gerda Angst.
Klar, in dieser heilen Welt hier, mussten einer Heranwachsenden solche Fragen kommen.
Der Sonnenwinkel war nicht gut für sie!
Sie hätte sich nicht darauf einlassen sollen!
»Es gibt niemanden«, sagte sie beinahe schroff. »Das habe ich dir doch schon erzählt.«
Einen solchen Ton kannte Leonie an ihrer Mutter nicht. Was war denn auf einmal mit ihrer Mami los? Sie hatte doch nur etwas gefragt.
»Und mein Vater?«, erkundigte sie sich erneut, den musste es ja wohl irgendwann mal gegeben haben, denn sonst wäre sie nicht auf der Welt.
Gerda zögerte mit der Antwort.
»Über den rede ich nicht«, sagte sie schließlich.
Mehr hörte sie nicht?
Mit dieser Antwort gab Leonie sich nicht zufrieden, sie wollte nicht noch einmal dumm dastehen, sollte Manuel sie noch einmal fragen.
»Aber ich möchte gern wissen, wer er ist.«
Gerda zögerte erneut, überlegte.
Sie musste Leonie jetzt etwas sagen.
Aber was?
Ihre Gedanken kreisten.
»Mami, bitte sage es mir«, forderte Leonie, der das Schweigen ihrer Mutter entschieden zu lange dauerte.
»Also gut, aber ich hätte es gern vermieden, mit dir über dieses Thema zu sprechen, mein Kind. Die Wahrheit ist, dass ich …, dass ich deinen Vater kaum kenne. Ich habe ihn kennengelernt bei einem aufgeheizten Rockkonzert. Die Nacht war lau, die Musik toll, die Menge aufgeheizt. Wir haben uns geküsst, ich habe mit ihm geschlafen …, das Konzert war vorbei, wir haben uns getrennt. Ich kenne nicht einmal seinen Namen … Wenig später stellte ich fest, dass ich schwanger bin. Aber da habe ich nicht lange überlegt. Ich wollte dich unbedingt bekommen, und ich bin sehr glücklich. Du bist für mich ein Geschenk des Himmels, mein Kind …, aber kannst du verstehen, dass ich darüber nicht gern rede?«
Leonie umarmte ihre Mutter.
»Mami, entschuldige. Ich verspreche dir, dich auch niemals mehr zu fragen. Wir zwei wissen doch, was wir aneinander haben, wir gehören zusammen, wir gehen durch dick und dünn, und wir haben uns sehr, sehr lieb.«
Gerda strich ihrer Tochter über das lockige Haar, sie hatte alle Mühe, jetzt so zu tun als sei alles in Ordnung.
Diese Geschichte hatte sie viel Kraft gekostet, aber zum Glück war sie ihr gerade noch eingefallen, und am besten dabei war, dass Leonie es zu glauben schien.
Oh Gott!
Wenn Leonie wüsste!
In ihrem früheren Leben wäre sie niemals dazu gezwungen gewesen, sich etwas ausdenken zu müssen.
Es war diese Umgebung hier!
Es war diese heile Welt!
Warum hatte sie sich bloß vorher keine Gedanken gemacht?
Sie war doch sonst so achtsam gewesen, hatte immer, wohin sie auch gegangen waren, das Für und Wider abgewägt.
Mit dem Sonnenwinkel schien es, als sei sie blind ins Verderben gerannt.
»Mami, du zitterst ja«, rief Leonie bestürzt. »Ist dir kalt? Du wirst doch hoffentlich nicht krank.«
Gerda riss sich mit aller Gewalt zusammen.
»Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich glaube, ich ziehe mir noch eine Strickjacke an, und du kannst anfangen die Zettel zu schreiben, ja?«
Gerda war froh, für einen Augenblick den fragenden Blicken ihrer Tochter zu entrinnen.
Noch war es gut gegangen!
Sie war gerade noch an einer Katastrophe vorbeigeschrammt.
Die Kraft, einfach cool zu bleiben, würde sie nicht immer haben.
Und dann?
Daran wollte Gerda jetzt nicht denken.
Sie musste alle trüben Gedanken vertreiben und sich daran freuen, dass Leonie so glücklich war.
Und war es nicht das, was zählte?
Wegen Leonie hatte sie ihr Leben verändert, hatte alles auf sich genommen, und sie würde weiterhin alles tun, ja, das würde sie.
Hier zu leben führte bei ihr von einer Überreaktion zur nächsten, dabei war doch überhaupt noch nichts passiert.
Und es würde nichts passieren.
Doch nicht hier!
Sie holte aus ihrem Schrank eine beige Strickjacke und zog sie über. Die Farbe war nicht besonders kleidsam für sie, dadurch wirkte sie noch blasser. Aber Gerda konnte einfach nicht die Energie aufbringen, eine andere Jacke anzuziehen. Viel bringen würde alles nichts. Zum einen ging sie nicht auf einen Schönheitswettbewerb, und ihr Frieren, das konnte man nicht mit einem dicken Pelz verhindern, das kam von innen.
Sie lief zurück ins Wohnzimmer, dort saß Leonie am Tisch und schrieb mit ordentlicher Schrift: »Schwarzer Kater zugelaufen. Wenn Sie ein Tier vermissen, dann melden Sie sich bitte bei Schulz.«
Und dann schrieb sie die Adresse dazu.
Gerda lobte ihre Tochter, weil sie das so schön gemacht hatte, doch in ihrem Inneren wünschte sie sich, dass sich sehr schnell jemand meldete.
Nicht auch noch eine Katze, wirklich nicht!
*
Hinter Roberta lag eine ziemlich anstrengende Sprechstunde, manchmal war es wirklich wie verhext, da gaben sich die Problemfälle die Klinke in die Hand.
Sie war froh, es hinter sich zu haben, jetzt kam nur noch eine Frau, die unbedingt mit ihr sprechen wollte, doch da es sich dabei um die Tochter einer Patientin handelte, war Roberta bereit, mit der Frau zu reden. Roberta kannte die Tochter nicht und fragte sich, was die wohl von ihr wollte, denn ihre Mutter war erst vor zwei Tagen in der Praxis gewesen, Roberta hatte mit Hilde Hellwig alles durchgesprochen, alle Werte waren einwandfrei.
Hilde Hellwig war eine höchst sympathische Frau, sie war grauhaarig, hatte ein schmales Gesicht, wache Augen, sie war interessiert, war mittelgroß, schlank und trug dezente sportliche Kleidung.
Sie war fit, und Roberta wünschte sich, im Alter von Hilde Hellwig auch noch so gut drauf zu sein. Dass Roberta einmal bei Hilde Hellwig einen Hausbesuch machen musste, lag einzig und allein daran, dass sie vor einiger Zeit einer allgemeinen Grippewelle zum Opfer gefallen war. Aber das war längst überwunden.
Die Tür ging auf, eine junge Frau trat ziemlich forsch herein. Sie war groß, kräftig, trug ziemlich auffallende Kleidung, hatte blondierte Haare und war ziemlich geschminkt.
Das sollte die Tochter von Hilde Hellwig sein?
Roberta konnte es kaum glauben.
Die Frau kam an den Schreibtisch und sagte mit einer nicht gerade sympathisch, ein wenig hart klingenden Stimme: »Hallo, ich bin Cornelia Hellwig, danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.«
Roberta bot ihr einen Platz an, sie hatte sich noch nicht von ihrer Überraschung erholt.
»Tja, als Patientin werden Sie mich wohl hier niemals sehen«, sagte Cornelia, »da bevorzuge ich einfach die Facharztpraxen in der Stadt. Dort fühle ich mich besser aufgehoben als hier auf dem Lande.«
Diese dumme Pute!
Roberta blieb ganz ruhig.
»Es ist Ihre Entscheidung«, sagte sie, »dafür haben wir ja zum Glück die freie Arztwahl in unserem Lande. Was kann ich für Sie tun?«
Sie hatte nämlich überhaupt keine Lust, sich lange mit dieser grässlichen Person aufzuhalten.
»Nun, meine Mutter Hilde Hellwig ist ja Patientin bei Ihnen, und sie ist von Ihnen vollkommen angetan, und deswegen kam ich auf die Idee, dass Sie vielleicht mal mit ihr reden sollten. Auf Sie hört meine Mutter.«
»Und worüber soll ich mit Ihrer Mutter reden?«, erkundigte Roberta sich.
»Wie Sie wissen, lebt meine Mutter allein in diesem großen Haus. Sie sollte es verkaufen, sich eine kleine Wohnung nehmen.«
Wie war diese Frau denn drauf?
»Und weswegen sollte Ihre Mutter das tun?«
»Weil sie in ihrem Alter das Haus und den Garten nicht in Ordnung halten kann.«
Da steckte etwas anderes dahinter.
»Als ich im Haus war, habe ich festgestellt, dass im Haus und auch im Garten alles ganz hervorragend in Ordnung war. Frau Hellwig, das können Sie nicht vorschieben. Wollen Sie mir nicht sagen, was wirklich dahintersteckt, warum Sie möchten, dass Ihre Mutter das Haus verkaufen soll?«
Cornelia war wütend.
Sie hatte es sich einfacher vorgestellt.
»Weil ich mir auf Mallorca eine Ferienwohnung kaufen möchte. Ich habe da ein Angebot, das man so schnell nicht wieder bekommt.«
Das verschlug Roberta beinahe den Atem. Das musste man sich mal vorstellen, und die Frau war dreist genug, um zu ihr zu kommen, um sie um Mithilfe zu bitten.
»Und weil Sie sich eine Ferienwohnung kaufen wollen, soll Ihre Mutter ihr Haus verkaufen?« Roberta bemühte sich nicht einmal, ihre Stimme freundlich klingen zu lassen.
Cornelia zuckte die Achseln.
»Na und? Ewig kann sie die Arbeit im Haus ohnehin nicht machen, und sie muss eh verkaufen, und irgendwann erbe ich eh alles, ich bin allein, habe keine Geschwister. Da kann meine Mutter jetzt verkaufen, und ich kann mir einen Herzenswunsch erfüllen. Wie sagt man doch – es ist besser, mit einer warmen Hand zu geben.«
Es wurde ja immer schlimmer.
Roberta holte tief Luft.
»Frau Hellwig, Ihre Mutter ist fit, sie fühlt sich in ihrem Haus sehr wohl. Das hat sie mir selbst gesagt, und sie wird wunderbar mit allem fertig. Außerdem hat sie Unterstützung durch eine langjährige Hausangestellte. Es besteht also wirklich kein Anlass für Ihre Mutter, etwas zu verändern. Außerdem«, Roberta machte eine kurze Pause, ehe sie fortfuhr: »wer sagt Ihnen denn, dass Sie erben werden?«
Cornelia bekam einen flackernden Blick.
»Weil ich die Tochter bin, oder …, wissen Sie etwas, was ich nicht weiß? Dann schalte ich sofort meinen Anwalt ein.« Welch grässliche Person!
»Kommen Sie herunter, ich weiß nichts, und in der Regel spreche ich mit meinen Patienten auch nicht über Erbschaftsangelegenheiten. Ich bin Ärztin, keine Rechtsanwältin. Aber Sie sollten sich mal fragen, was Sie da aus rein egoistischen Motiven verlangen. Nur um Ihre eigenen Bedürfnisse zu erfüllen, verlangen Sie von Ihrer Mutter, dass sie die Umgebung verlässt, in der sie seit Jahrzehnten lebt, in der sie sich wohlfühlt und die mit vielen schönen Erinnerungen für sie verbunden ist. Ist Ihnen eigentlich bewusst, was Sie da von Ihrer Mutter verlangen?«
Cornelia bekam einen roten Kopf, stand abrupt auf.
»Mir ist nur bewusst, dass von Ihnen keine Hilfe zu erwarten ist, aber eine kleine Provinzärztin wie Sie kann halt nicht groß denken. Tut mir leid, dass ich hergekommen bin.«
Ohne sich zu verabschieden, rannte Cornelia Hellwig hinaus, und Roberta sah ihr wie einem bösen Traum hinterher.
Die arme, arme Frau Hellwig, es war eine Strafe, eine solche Tochter zu haben. Wenn diese Cornelia ihre Mutter so attackiert hatte, musste die Ärmste jetzt vollkommen fertig sein. Sie musste jetzt auf ihre Mittagspause verzichten und nach Hilde Hellwig sehen, sonst würde sie keine Ruhe finden, und sie konnte nur hoffen, dass diese schreckliche Cornelia sich nicht noch mal auf den Weg zu ihrer Mutter machte, um sie weichzuklopfen.
Nur weil sie eine Ferienwohnung auf Mallorca haben wollte, sollte ihre Mutter ihre gewohnte Umgebung, die sie liebte, einfach aufgeben.
Das war eine solche Kälte, eine solche Herzlosigkeit.
Aber es würde diese Cornelia einholen, so etwas blieb niemals ungestraft, aber darum musste Roberta sich jetzt keine Gedanken machen, sie wollte Schadensbegrenzung betreiben, wollte nachsehen, welchen emotionalen Schaden diese Cornelia bei ihrer Mutter bereits angerichtet hatte.
Wenn sie recht überlegte, war Hilde Hellwig bei ihrem letzten Besuch ziemlich in sich gekehrt gewesen. Da war ihre Tochter ganz gewiss schon mit ihren Forderungen über die arme Frau hergefallen.
Roberta hatte sich zwar auf ihre Mittagspause gefreut, aber die würde sie ja überhaupt nicht genießen können mit den Gedanken an Hilde Hellwig.
Roberta verließ das Behandlungszimmer, draußen machte Ursel Hellenbrink sich bereit, ebenfalls in die wohlverdiente Mittagspause zu gehen. Sie packte nur noch ein paar Sachen zusammen.
»Ursel, schön, dass Sie noch da sind«, sagte Roberta, »bitte sagen Sie Alma Bescheid, dass ich noch einmal weg muss, sie soll mir das Essen von heute Mittag für den Abend warmstellen.«
Ursel versprach, Alma Bescheid zu sagen, sie fragte Roberta nicht, wohin sie wollte, weil sie es wusste.
So war sie, ihre Frau Doktor.
Sie lebte für jeden einzelnen ihrer Patienten, und sie kümmerte sich nicht nur um die Krankheiten des Körpers, sondern auch um die der Seele.
Cornelia Hellwig hatte ein lautes Organ, und Ursel Hellenbrink hatte unfreiwillig das Gespräch mitbekommen.
Es war schrecklich und so herzlos gewesen!
Es war doch ganz klar, dass die Frau Doktor jetzt zu Hilde Hellwig fahren würde, um bei der nach dem Rechten zu sehnen.
Ursel Hellenbrink war der totale Fan ihrer Chefin. Sie hatte schon gern für deren Vorgänger, den, Doktor Riedel gearbeitet. Der war auch nett, ein guter Arzt. Aber die Frau Doktor, bei der konnte man so richtig ins Schwärmen geraten, sie war jung, dynamisch, sah fantastisch aus, hatte ein großes Herz und als Ärztin, da konnte sie alle in die Tasche stecken. Da war sie großartig, einmalig.
Fuhr sie jetzt wirklich, statt die wohlverdiente Pause zu genießen, zu Frau Hellwig.
Das war einmalig, so einmalig wie die Frau Doktor.
Ursel seufzte.
Es war ja nicht zu verstehen, dass sie eine gescheiterte Ehe mit diesem Doktor Max Steinfeld hinter sich hatte. Wie hatte sie nur auf den hereinfallen können. Ursel hatte ihn nur ein einziges Mal gesehen, doch das hatte ihr gereicht, und da hatte sie auch gewusst, dass er nicht nur ein unangenehmer Mensch war, sondern ein Schürzenjäger, wie er im Buche stand. Dieser Mensch hatte ihr nicht in die Augen gesehen, sondern sein Blick war sofort begehrlich zu ihrem Busen gewandert. Ja, ja, solche Männer gab es. Doch das ausgerechnet die feine Frau Doktor an so jemanden geraten war, das war wirklich nicht zu verstehen.
Hoffentlich fand sie bald einen netten Mann, der zu ihr passte. Eine Frau wie so konnte nicht ewig allein sein, das war nicht gut.
Ursel ging zur Tür, blickte sich noch einmal prüfend um, dann schloss sie die Praxis ab. Sie würde Alma persönlich Bescheid sagen, das war auch eine so richtig Nette, und es war schön mitzubekommen, wie gut sie für die Frau Doktor sorgte. Die würde doch sonst glatt vergessen, etwas zu essen und zu trinken, weil sie immer nur ihre Patienten im Kopf hatte. Aber die liebten sie alle und waren von ihr begeistert, jetzt, ja. Ursel mochte überhaupt nicht daran denken, wie es am Anfang gewesen war. Da hatte die Frau Doktor einen sehr schweren Stand gehabt. Die Leute hier hatten dem Doktor Riedel nachgetrauert, dabei hatten sie einen viel besseren Tausch gemacht. Zum Glück wussten sie das jetzt alle.
Sie war glücklich in ihrem Job, und den würde sie für nichts auf der Welt eintauschen, und es war schön zu wissen, dass die Frau Doktor im Sonnenwinkel angekommen war und ihrer großen Praxis mit vielen Mitarbeitern nicht nachtrauerte.
*
Roberta war ziemlich aufgeregt, als sie mit ihrem Auto ein wenig verkehrswidrig über die Straßen bretterte.
Was für ein grauenvoller Mensch diese Cornelia Hellwig doch war, und wie gefühllos. Wenn sie ihrer Mutter gegenüber auch so gefühllos auftrat, dann musste es der Ärmsten jetzt so richtig schlecht gehen.
Wenn nötig, würde sie ihr ein pflanzliches Beruhigungsmittel geben, aber manchmal halfen auch einfühlsame Worte.
Hilde Hellwig wohnte in einem kleinen Ort südlich von Hohenborn. Im Grunde genommen war es eine Einfamilienhaussiedlung, die man vor Jahrzehnten erbaut hatte. Das Haus der Hellwigs unterschied sich ein wenig von den übrigen Häusern, es war größer, älter, aber es hatte einen unglaublichen Charme, zu dem eindeutig der ein wenig verwunschen wirkende Garten mit alten Bäumen, Sträuchern und Pflanzen beitrug.
Roberta parkte in der Nähe des Hauses, dann lief sie durch das schmiedeeiserne Gartentor über den sorgsam geharkten Kiesweg, der links und rechts durch sorgsam gestutzte Bäumchen flankiert wurde.
Alles wirkte gediegen, gepflegt und sehr sauber.
Auch das Haus machte einen ordentlichen Eindruck, vor ein paar Jahren hatte man das Holz der Fenster grün gestrichen, was ein schöner Kontrast zu dem grau gewordenen Weiß des Hauses war. Auch die Haustür hatte einen grünen Anstrich.
Roberta lief die drei Stufen empor, dann drückte sie auf den Klingelknopf, und es dauerte auch nicht lange, da wurde die Tür geöffnet.
Es war Hilde Hellwig persönlich. Sie trug einen grauen Rock und einen grauen Pullover, um ihren Hals trug sie eine sehr schöne Perlenkette.
»Frau Doktor Steinfeld«, rief Hilde Hellwig überrascht, »das ist eine Überraschung, bitte kommen Sie herein.«
Sie führte Roberta durch eine Diele, in der schöne alte Bilder hingen in einen Raum, der vermutlich als Bibliothek diente, es gab eingebaute Bücherregale und zwei bequeme Ledersessel mit einem altersdunklen cognacfarbenen Bezug.
Hilde Hellwig sagte nichts, doch Roberta wurde das Gefühl nicht los, dass sie wusste, weswegen sie hier war.
Hilde bot ihr Tee an, brachte dazu einen köstlichen Kuchen mit, und Roberta merkte, wie hungrig sie war. Das war jetzt ihre Rettung.
Hilde schenkte Tee ein, servierte den Kuchen, dann setzte sie sich ebenfalls, und Roberta hatte gerade mal den ersten Schluck getrunken, als Hilde sagte: »Meine Tochter war bei Ihnen, nicht wahr?«
Roberta war so perplex, dass sie erst einmal nichts sagen konnte, musste sie auch nicht, denn Hilde fuhr fort: »Sie will, dass Sie mich überreden, das Haus zu verkaufen und ihr das Geld für eine Wohnung auf Mallorca zu geben.«
Roberta konnte nur nicken.
»Ach, Frau Doktor, sie war bereits beim Pfarrer, bei meinem Apotheker, und meinen Anwalt hat sie versucht zu überreden, mich entmündigen zu lassen. Wenn Cornelia etwas will, dann fährt sie scharfe Geschütze auf. Aber danke, dass Sie gekommen sind, um nach mir zu sehen. Das ist es doch, nicht wahr? Sie sind nicht hier, um mich zu überreden.«
Entschieden schüttelte Roberta den Kopf.
»Frau Hellwig, das würde ich niemals tun, warum auch? Sie wohnen ganz wunderbar hier, und Sie sind nicht zuständig für die Finanzierung der Ferienwohnungen Ihrer Tochter. Das habe ich ihr auch gesagt.«
Ein feines Lächeln umspielte Hildes Mund.
»Da ist sie bestimmt wütend geworden und gegangen. Cornelia kann keinen Widerspruch ertragen. Sie war schon immer so, auch als mein Mann noch lebte.«
Sie blickte Roberta an und sagte: »Frau Doktor, probieren Sie doch den Kuchen, ich habe ein neues Rezept ausprobiert, und ich finde, es ist mir gelungen.«
Das ließ Roberta sich nicht zweimal sagen, und der Kuchen war wirklich sehr köstlich. Sie trank auch noch etwas von dem Tee, dann wandte sie sich an Hilde Hellwig.
»Ehrlich gesagt, habe ich mich so über Ihre Tochter aufgeregt, dass ich Ihretwegen ganz besorgt war und hergekommen sind. Sie wirken so gelassen, bitte entschuldigen Sie die Frage, haben Sie …, haben Sie etwas genommen?«
Jetzt musste Hilde Hellwig lachen.
»Nein, es ist nicht das erste Mal, wie gesagt, schon zu Lebzeiten meines Mannes war es so. Wir haben wirklich alles für sie getan, ihr immer wieder aus der Patsche geholfen, sie hat die Eigentumswohnung, die wir ihr gekauft haben, in den Sand gesetzt, eine Wohnung auf Sylt, sie hat immer wieder Geld gebraucht. Mit Mallorca würde es auch so gehen, am Anfang hätte sie Gefallen an der Wohnung, doch dann hätte sie sehr schnell das Interesse verloren, würde sich nicht mehr kümmern. Sie würde nicht mehr hinfahren, kein Hausgeld bezahlen, keine Reparaturen, keinen Strom, sie würde alle Briefe, alle Mahnungen ignorieren, und dann käme es, wie in den anderen Fällen auch, zu Zwangsversteigerungen. Wenn ich wüsste, dass sie endlich zur Besinnung kommt, würde ich ihr das Geld geben. Mein Mann hat mich sehr gut versorgt, ich muss das Haus nicht verkaufen. Das kann ich übrigens auch nicht. Mein Mann und ich haben gemeinsam festgelegt, dass sie nach meinem Tod monatlich nur einen bestimmten Betrag erhält. Genug, um gut davon leben zu können. Sie bekommt weder das Haus noch das Geld, das wäre alles so schnell weg, so schnell kann man überhaupt nicht gucken.«
Sie seufzte bekümmert.
»Es ist so traurig, dass man in dieser Weise über sein einziges Kind reden muss, aber man muss Cornelia vor sich selber schützen.«
»Frau Hellwig, wenn es so ist, warum sagen Sie ihr das denn nicht, dann würde es aufhören, von ihr bedrängt zu werden.«
Hilde warf ihrer Ärztin einen tieftraurigen Blick zu.
»Das würde sie so wütend machen, dass sie überhaupt nicht mehr käme. So kommt sie wenigstens hier und da, weil sie sich etwas erhofft.«
Oh Gott!
Wie traurig war das denn!
»Frau Hellwig, wenn Sie Hilfe brauchen, oder wenn Sie wollen, dass ich noch einmal mit Ihrer Tochter rede und ihr alles erzähle, dann sagen Sie es mir bitte. Ich bin immer für Sie da. Sie haben es nicht verdient, so behandelt zu werden, ganz gewiss nicht. Und wenn ich sonst etwas für Sie tun kann, bitte sagen Sie es mir.«
Ein feines Lächeln machte Hildes Gesicht ganz weich. Für ihr Alter sah sie wirklich bei all ihrem Schmerz noch sehr gut aus.
»Danke, es ist ganz lieb von Ihnen, Frau Doktor. Es ist schön zu wissen, dass es jemanden wie Sie gibt. Wir lassen alles am besten so, wie es ist. Der Kauf der Ferienwohnung wird sich so oder so zerschlagen, Cornelia wird für eine Weile wütend sein, nicht mehr mit mir reden. Aber dann wird sie doch kommen, weil sie Geld braucht.«
Sie blickte Roberta an.
»Bitte, sagen Sie jetzt nichts, Frau Doktor. Ich weiß, es ist erbärmlich. Doch was Cornelia immer auch tut, wie sehr sie mich beschimpft und verletzt, sie ist und bleibt mein Kind. Und solange ich lebe, muss ich für sie da sein. Ich bin ja schon schlauer geworden und bremse sie. Wie sagt man so schön? Durch Schaden wird man klug, Cornelia hat schon sehr viel Schaden angerichtet, und ich weiß, dass es nie aufhören wird, wenn nicht ein Wunder geschieht.«
Roberta versuchte, so weit es ging, Hilde Hellwig zu trösten, sie auch ein wenig aufzubauen und ihr Kraft zu geben. Viel war es nicht, was sie tun konnte, sie konnte im Grunde genommen nur froh sein, dass Hilde es mit Fassung trug. Sie war halt eine starke Frau.
Irgendwann blickte Roberta auf ihre Armbanduhr und war ganz entsetzt, als sie sah, wie spät es schon war. Wenn sie jetzt noch pünktlich in ihre Nachmittagssprechstunde wollte, dann musste sie jetzt eigentlich fliegen.
Sie schob sich das letzte kleine Stückchen des Kuchens in den Mund, trank den letzten Schluck Tee, dann stand sie auf.
»Tut mir leid, Frau Hellwig, ich wäre gern noch geblieben, aber ich habe heute Nachmittag noch Sprechstunde, und ich möchte nicht, dass die Patienten warten müssen. Ich finde die Kollegen ganz schrecklich, die glauben, nur weil sie einen weißen Kittel tragen, über die Zeit beliebig verfügen zu können.«
Sie umarmte ganz spontan Hilde Hellwig.
»Wenn Sie mich brauchen, oder wenn Sie mal reden wollen, Frau Hellwig, bitte scheuen Sie sich nicht, mich anzurufen. Ich finde es übrigens ganz großartig, wie souverän Sie mit allem umgehen. Einfach ist es für Sie wirklich nicht.«
»Danke, Frau Doktor, danke für Ihren Besuch, Ihre Worte, Ihre Anteilnahme, und bitte entschuldigen Sie, dass Cornelia Sie einfach überfallen hat.«
Jetzt entschuldigte sie sich auch noch für das ungebührliche Verhalten ihrer Tochter.
Roberta hatte schon eine heftige Erwiderung auf den Lippen, doch die schluckte sie herunter. Die arme Frau war gebeutelt genug.
»Sehen wir es einmal so, Frau Hellwig, wäre Ihre Tochter nicht zu mir in die Praxis gekommen, dann wäre ich nicht hier, und dann wäre ich nicht in den Genuss dieses wirklich superleckeren Kuchens gekommen.«
Das freute Hilde Hellwig, sie errötete wie ein junges Mädchen.
»Frau Doktor, Sie können sich gern noch ein Stück Kuchen mitnehmen«, schlug Hilde Hellwig vor.
Das würde Roberta ja sogar, aber sie musste an ihre Alma denken. Und das war so etwas, Alma war ein ganz wunderbarer Mensch, aber was ihre Koch- und Backkünste betraf, da war sie sehr eigen und leider auch ein wenig eifersüchtig. Die könnte schnell auf den Gedanken kommen, der von ihr gebackene Kuchen schmecke ihr nicht, und sie müsse sich deswegen Kuchen mitbringen, den andere Frauen gebacken hatten. Es war ein wenig albern, aber da Alma sonst ziemlich pflegeleicht war, konnte Roberta diese Marotte durchaus lächelnd in Kauf nehmen.
Was jetzt tun?
Sie wollte natürlich auch Hilde Hellwig nicht enttäuschen. Da kam ihr zum Glück eine Idee.
»Das ist ganz lieb, Frau Hellwig, aber ich glaube, ich habe genug Kuchen gegessen, ein bisschen muss ich auch auf meine Linie achten. Aber was halten Sie davon, wenn ich ein Stückchen dieses wunderbaren Kuchens für meine Mitarbeiterin Frau Hellenbrink mitnehme? Ich weiß, dass die ganz verrückt nach Kuchen ist, und die würde sich ganz bestimmt sehr darüber freuen.«
Hilde Hellwig war von der Idee begeistert, zumal sie die Mitarbeiterin der Frau Doktor sehr mochte, die war immer so freundlich.
»Ja, das mache ich. Ich packe der netten Frau Hellenbrink etwas ein«, sagte Hilde Hellwig und verschwand in ihrer Küche.
Und Roberta wurde klar, dass das keine so gute Idee gewesen war, denn nun wurde sie noch länger aufgehalten, dabei lief ihr doch die Zeit davon.
Zum Glück dauerte es nicht lange, Hilde Hellwig kam relativ schnell zurück. Roberta nahm den Kuchen entgegen. Sie umarmte Hilde noch einmal, bedankte sich, dann eilte sie davon.
Jetzt musste sie wirklich fliegen, dachte sie, als sie sich in ihr Auto setzte und rekordverdächtig startete. Das war sonst wirklich nicht ihre Art. Sie war eher eine besonnene Autofahrerin. Das lag gewiss auch ein wenig daran, dass sie als Ärztin schon viele Verkehrsverletzte behandelt hatte, und sie hatte leider auch einige davon sterben sehen. So etwas konnte man nicht einfach beiseiteschieben. Wer sich über solche Tatsachen hinwegsetzte, war einfach nur töricht, und das war Roberta nun ganz gewiss nicht.
Aber heute …
Darüber wollte sie jetzt einfach nicht nachdenken. Ausnahmen gab es schließlich immer …
*
Robertas Befürchtungen, Hilde Hellwig könne leidvoll zusammengebrochen sein, hatten sich zum Glück nicht bewahrheitet. Aber mitgenommen war sie auf jeden Fall, denn es war ja mit ihrer Tochter ein steter, unschöner Kampf, der an den Kräften zehrte. Zwischen Mutter und Tochter, das war ein so ungesundes Verhältnis. So konnte es doch nicht weitergehen. Jemand würde auf der Strecke bleiben, und das war ganz gewiss die Mutter, denn die Tochter benahm sich wie ein Elefant im Porzellanladen.
Sollte sie nicht doch noch einmal in aller Ruhe mit Hilde Hellwig darüber sprechen, dass die ihrer Tochter reinen Wein einschenkte? Dann würde das Gerangel um den Hausverkauf aufhören, und Cornelia konnte nicht einmal sauer auf ihre Mutter sein, weil ihr Vater es zu seinen Lebzeiten gewesen war, der verfügt hatte, Cornelia nur begrenzte Mittel zur Verfügung zu stellen, auch nach dem Tod beider Elternteile.
Sie war so sehr damit beschäftigt, dass sie vollkommen unaufmerksam war und erst wieder in die Gegenwart zurückgerufen wurde, als es knirschte und krachte, als ihr Auto herumgeschleudert wurde, bis es wieder in Fahrtrichtung stand.
Sie war in einen Verkehrsunfall verwickelt, und sie wusste, dass sie die Schuldige war, sie hatte ganz eindeutig die Vorfahrt des anderen Fahrzeuges missachtet.
Roberta stieg aus, dann lief sie, ohne nachzusehen, was an ihrem Auto defekt war, auf das andere Fahrzeug zu. Es handelte sich dabei um einen großen grauen Geländewagen, aus dem ein Mann ausstieg, als sie ihn erreichte.
Der Mann mochte ungefähr in ihrem Alter sein, er war etwa einen Kopf größer als sie, schlank, sportlich, blond, hatte unglaublich blaue Augen.
Das alles registrierte Roberta nur ganz nebenbei, sie sah, dass er aus einer Platzwunde aus seiner Stirn blutete.
Sofort erwachte die Ärztin in ihr.
»Über den Unfall unterhalten wir uns gleich«, sagte sie. »Zuerst einmal muss Ihre Wunde versorgt werden.«
Er sah sie an.
»Sind Sie Krankenschwester?«, erkundigte er sich, und aus seiner Stimme klang so etwas wie eine leichte Belustigung. Er schien den Unfall ziemlich gelassen zu nehmen. Normalerweise begannen Männer doch zu toben, wenn ihr Lieblingsspielzeug beschädigt wurde, und sie waren außer sich, wenn die Beschädigung gar durch eine Frau verursacht worden war.
»Nein, Ärztin«, sagte Roberta. »Und ich habe auch alles dabei, damit ich die Wunde versorgen kann. Dann müssen wir nur zu meinem Auto gehen.«
Er wollte ablehnen, alles sei doch nicht schlimm, doch darauf ließ Roberta sich nicht ein. Sie wollte eine ordnungsgemäße Wundversorgung machen, vor allem wollte sie feststellen, dass es sich wirklich nur, so wie es aussah, um eine oberflächliche Wunde handelte.
Sie war die Schuldige, und man wusste nicht, was kommen würde, sie hatte keine Lust, sich plötzlich einem Schadensersatzprozess gegenüberzusehen. Das hatte es alles schon gegeben.
Dieser Mann irritierte sie, vielleicht, weil er so gelassen, beinahe belustigt war. Immerhin folgte er ihr zu ihrem Auto, ließ sich behandeln. Und zum Glück war es wirklich nur eine oberflächliche Platzwunde, die schlimmer ausgesehen hatte als sie war, weil da so viel Blut gewesen war.
Wie hatte es dazu überhaupt kommen können?
Es hatte zwar ein lautes Getöse gegeben, aber jetzt sah Roberta, dass bei ihrem Auto nur die Stoßstange in Mitleidenschaft gezogen war, an seinem Wagen konnte deswegen auch nicht mehr passiert sein. Das hoffte sie zumindest.
Die Wunde war versorgt.
»Es tut mir leid, dass der Zusammenstoß passiert ist, es ist eindeutig meine Schuld, weil ich geträumt und die Vorfahrt nicht beachtet habe. Natürlich werde ich für den ganzen Schaden aufkommen. Sollen wir uns Ihr Auto einmal ansehen?«
Ohne seine Antwort abzuwarten, lief sie zu seinem Geländewagen.
Der hatte bereits einige Beulen, die sie allerdings nicht verursacht haben konnte. Es beruhigte Roberta ein wenig, weil das ein Anzeichen dafür war, dass sein Auto für ihn kein Statussymbol war, sondern ein Beförderungsmittel.
Ein wenig ratlos sagte sie: »Ich weiß nicht, was ich jetzt verursacht habe. Das wird vielleicht ein Sachverständiger feststellen.«
Jetzt grinste er wirklich.
»Ich glaube, Sie machen sich zu viele Gedanken. Es ist doch nichts passiert.«
Was sagte er da?
»Ich bin schuld, und Sie haben sich sogar verletzt«, erinnerte sie ihn.
»Das liegt daran, dass ich nicht angeschnallt war, sonst hätte ich keinen Kratzer abbekommen. Vielleicht ist eine kleine Schramme entstanden, vielleicht auch nicht. Ich schlage vor, dass wir die Sache auf sich beruhen lassen. Ich habe nämlich noch einen Termin, den ich unbedingt einhalten möchte.«
Er wollte gehen, doch das ging überhaupt nicht. Er tat das jetzt locker ab, aber wer sagte ihr denn, dass er sich nicht anders besinnen würde, und dann kam für sie nicht nur die Tatsache in Betracht, sondern dann würde man ihr gegebenenfalls auch noch unbefugtes Entfernen vom Unfallort anlasten oder so etwas. Sie kannte sich zum Glück nicht damit aus, es war ihr erster Unfall, und deswegen war sie auch so verunsichert.
»Ich bin schuld an dem Unfall, und ich bin auch bereit, dafür geradezustehen. Ich gebe Ihnen jetzt meinen Namen, und Sie können sich mit mir in Verbindung setzen, wenn Sie Ansprüche geltend machen wollen, was schließlich Ihr Recht ist.«
Er sah sie mit einem undefinierbarem Blick an, der ihr irgendwie durch Mark und Bein ging. Weil ihr der Mann gefiel? Nein, abermals nein, solche Gedanken wollte sie überhaupt nicht fortsetzen.
Sie lief zu ihrem Auto, holte aus der Tasche ihren Rezeptblock hervor, riss ein Blatt davon ab, entwerte das Blatt, sodass nur noch ihr Name und ihre Anschrift darauf deutlich zu sehen waren.
Er blickte sie an, das Blatt, las, sagte beinahe versonnen: »Roberta …, ein wirklich schöner Name«, dann steckte er den Zettel beinahe achtlos in seine Jackentasche. Dabei bemerkte Roberta, dass er sehr schöne Hände hatte, und das irritierte sie noch mehr. Nicht, dass die Hände schön waren, sondern dass sie es so sehr registrierte. Was war denn bloß los mit ihr? War durch den Zusammenstoß ihr Verstand durcheinandergeraten?
Er tippte an seine Stirn, sagte: »Einen schönen Tag noch, schade, dass wir uns nicht unter anderen Umständen begegnet sind«, dann ging er zu seinem Auto, schwang sich hinein, fuhr davon, und als er an ihr vorüberfuhr, schenkte er ihr einen Blick, der sie noch mehr irritierte.
Sie war so durcheinander, dass sie für einen Augenblick vergaß, dass sie in ihre Sprechstunde musste.
Was für ein Mann!
Ihre Freundin Nicki würde jetzt sagen, dass es jemand war, der in ihr Beuteschema passte, doch dem konnte Roberta widersprechen, weil ihre Ausbeute an Männern so spärlich war, dass man daraus kein Schema herleiten konnte.
Dieser Mann hatte etwas, und ein wenig erinnerte er sie sogar an Kay, nur dass er eine ältere Ausgabe von ihm war.
Oh Gott!
Wie verrückt war das denn, zuerst knallte sie mit ihm zusammen, und jetzt knallte sie durch.
Das war bedenklich, und eigentlich war es ein deutliches Zeichen dafür, dass sie so selten mit Männern zusammentraf, die nicht ihre Patienten, Bekannten oder Freunde waren, dass sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte.
Es hatte einen Zusammenstoß gegeben, und wenn sie Glück hatte, würde sie glimpflich davonkommen, und er würde ihr den ganzen Ärger mit der Versicherung ersparen. Ihren Bagatellschaden würde sie auf jeden Fall nicht melden, es störte sie nicht, dass die Stoßstange ihres Wagens nun eine kleine Beule hatte.
Es war schon unglaublich, es hatte gescheppert, als sei ein Totalschaden an beiden Fahrzeugen entstanden, und es waren schon ziemliche Kräfte durch den Zusammenprall freigeworden, denn sonst hätte es ihr Auto nicht herumgedreht.
Ein wenig verunsichert startete sie. Es war alles in Ordnung, ihr Auto fuhr, als sei nichts geschehen.
Wer er wohl war?
Besuchte er jemanden hier in der Gegend?
Roberta glaubte nicht, dass er hier wohnte, denn dann wäre er ihr unweigerlich aufgefallen.
Wie schade, dass er ihr nicht wenigstens einen Namen genannt hatte!
Und was hätte sie davon, wollte eine zweite Stimme in ihr wissen.
Nichts!
Natürlich hatte sie nichts davon, und natürlich wäre es am besten, den Zwischenfall so rasch wie nur möglich zu vergessen. Es war ja schon grenzwertig, dass die Begegnung mit einem Mann sie so sehr aus der Bahn brachte.
Nicht mit einem Mann …
Ja, genau das war es, dieser Typ war unglaublich gewesen, sein Lächeln, seine Lässigkeit, vor allem den Blick aus seinen unglaublich blauen Augen würde sie nie vergessen. Aber genau das sollte sie.
Roberta war froh, vor ihrer Praxis angekommen zu sein, wo sie schon erwartet wurde.
»Frau Doktor, wo waren Sie?«, erkundigte Ursel Hellenbrink sich besorgt, weil sie ein Zuspätkommen ihrer Chefin überhaupt nicht kannte. »Ich habe mir schon solche Sorgen gemacht, zumal ich Sie auch auf Ihrem Handy nicht erreichen konnte.«
Das hatte Roberta klingeln lassen, aber das musste sie ihrer Mitarbeiterin jetzt nicht sagen.
»Ich erzähle Ihnen später alles, Ursel«, sagte Roberta, »alles ist gut. Wir können mit der Sprechstunde beginnen.«
Sie ging in ihr Zimmer, wusch sich die Hände, und da trat auch schon die erste Patientin ein.
»Guten Tag, Frau Brummer. Sie sehen ja schon so viel besser aus«, begrüßte Roberta die erste Patientin des Nachmittags.
Frau Brummer strahlte.
»Es geht mir ja auch schon so viel besser«, bestätigte sie. »Ich glaube, die neuen Tabletten sind die richtigen für mich, ich spüre nichts von all den Nebenwirkungen, die auf dem Beipackzettel stehen.«
Die Nebenwirkungen …
Man durfte nicht alles auf dem Beipackzettel lesen, denn manche Patienten bekamen Befürchtungen, wenn sie etwas lasen, überlasen dabei jedoch, dass manche dieser Nebenwirkungen in einem von zehntausend Fällen auftreten konnten, nicht mussten.
»Das freut mich, Frau Brummer, dann bleiben wir erst einmal bei diesem Medikament, und da Sie regelmäßig zu mir kommen, können wir es ganz wunderbar unter Kontrolle behalten.«
Frau Brummer blickte Roberta ganz treuherzig an.
»Ach, wissen Sie, Frau Doktor, ich weiß nicht so recht, ob ich mir wünschen soll, recht schnell wieder ganz gesund zu werden. Denn das bedeutet ja, dass ich nicht mehr zu Ihnen kommen kann. Es tut so gut, dass Sie sich auch meine anderen Sorgen anhören, und mit denen kann ich ja dann nicht mehr zu Ihnen kommen.«
Roberta lächelte ihre Patientin an.
»Liebe Frau Brummer, das ist auch so etwas, Sie machen sich zu viele unnötige Sorgen. Daran müssen wir auch noch arbeiten, und dazu haben wir Zeit, weil es noch eine ganze Weile dauern wird, bis ich Sie als gesund entlassen kann. So, und jetzt messe ich erst einmal Ihren Blutdruck, einverstanden?«
Ihre Patienten waren zum Glück ihre Rettung, die sie so irritierenden blauen Augen traten immer mehr in den Hintergrund, und das war gut so.
*
Henrike Rückert, von allen nicht anders als Ricky genannt, saß an ihrem Küchentisch und starrte vor sich hin. Sie merkte nicht einmal, dass ihr Kaffee ganz kalt geworden war.
Sie kam sich nutzlos vor.
Ihre Kinder waren außer Haus. Sie langweilte sich, weil sie nicht andauernd das Haus putzen konnte, zumal sie dafür eine Hilfe hatte.
Ricky war ein spontaner Mensch, sie machte ihr Ding und zog es durch. So kannte man sie, und ihre Schwägerin Stella bewunderte sie für diese Konsequenz. Aber augenblicklich fragte Ricky sich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, ihr Studium abzubrechen.
Sie war so beeindruckt gewesen von ihrer Mieterin, dieser Gerda Schulz, die alles auf sich genommen hatte, damit ihre Tochter glücklich war.
Und das hatte ihr ein schlechtes Gewissen gemacht. Immerhin war sie für ihre Kinder eine fürsorgliche Mutter, und ein Studium von Deutsch und Biologie war nicht unbedingt ein Spaziergang durch einen Rosengarten. Junge Leute, die direkt nach dem Abitur mit dem Studium anfingen, die hatten es wesentlich leichter als eine engagierte, leidenschaftliche Mutter, die irgendwann einmal auf den Gedanken gekommen war, dass Hausfrau und Mutter sein nicht alles sein konnte. Sie war eine begeisterte Studentin gewesen, es hatte ihr unendlich viel Spaß gemacht, aber ihr war bewusst geworden, dass man sich selbst nicht verwirklichen konnte, wenn es auf die Kosten Anderer ging. Und die Anderen waren ihr Mann und ihre Kinder. Es hatte Anzeichen dafür gegeben, dass das wahre Leben anders war als das, was man in seinem Kopf hatte.
Schlimm war nur, dass sie jetzt, da sie hingeworfen hatte, nicht mehr das Gefühl hatte, dass es ohne ihre ständige Präsenz nicht gegangen wäre.
Fabian war voll beschäftigt mit seiner Funktion als Direktor des Goethegymnasiums, und die Kinder, die machten ihr Ding und schienen nicht zu bemerken, ob sie da war oder nicht.
Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, hatte sie das spannende Studium aufgegeben?
Es zerriss sie beinahe, und Ricky wusste augenblicklich nicht, ob es wirklich so war, oder ob sich da in ihrem Kopf gerade etwas abspielte, das so überhaupt nicht gut war.
Sie musste mit Fabian reden!
Und das hatte keine Zeit bis zum Nachmittag oder bis zum Abend, es musste jetzt geschehen.
Ricky blickte auf ihre Armbanduhr.
Wenn sie sich beeilte, würde sie gerade zu seiner Freistunde in der Schule ankommen, und sie wusste, dass Fabian da überhaupt kein Problem damit hatte, sich ihre Probleme anzuhören. Er kannte das schon, und er ging sehr gelassen damit um. Wenn er frei hatte, war alles kein Problem, er wäre nur ungehalten, wenn sie ihn mitten in seiner Arbeit stören würde. Aber das würde sie niemals tun, das kannte sie schon von ihrem Vater. Professor Auerbach war immer für seine Familie da, aber wenn er arbeitete, dann arbeitete er, und da wollte er nicht gestört werden, und daran hatten sie sich alle immer gehalten, auch ihre Mutter.
Ja, es war eine gute Idee, mit Fabian zu reden.
Ricky band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, so kannte man sie, und so lief sie meistens herum. Nur daheim trug sie ihre Haare offen oder zwirbelte sie irgendwie am Hinterkopf zusammen.
Da sie sehr schlank war, konnte sie gut enge Hosen tragen. In ihrer Jeans, dem lässigen Pullover sah sie eher wie eine unbekümmerte junge Studentin aus, aber niemals wie die Mutter einiger liebreizender Kinder.
Ricky überlegte kurz, wenigstens ein wenig Rouge aufzulegen, weil sie ziemlich blass war. Doch dann ließ sie es sein, sie hatte keine Zeit dazu. Im Übrigen kannte Fabian sie so, wie sie war, und so gefiel sie ihm, und sie wollte jetzt auch nicht zu ihrem Mann, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, sondern um mit ihm zu reden.
Sie griff nach ihrer Tasche, zog im Hinauslaufen eine Lederjacke an, dann rannte sie zu ihrem Auto und fuhr auch sofort los.
Fabians Freistunde hatte begonnen, fünf Minuten würde sie mindestens brauchen, um zu ihm zu kommen. Zum Glück musste man sich an der Schule keinen Parkplatz suchen, die waren zur Genüge vorhanden.
Als Ricky an dem großen, ehrwürdigen Gebäude ankam, immerhin war das Goethegymnasium über die Stadtgrenze hinaus bekannt und gesucht, viele Bewerber mussten abgewiesen werden, fuhr direkt neben dem Hauptportal jemand weg. Ricky kannte den Fahrer und winkte ihm freundlich zu. Es war Doktor Redlich, ein Mathelehrer, den seine Schüler gern mochten. Er war beliebt und verschaffte sich bei allen Autorität. In seinen Klassen gab es niemals Ärger, dafür sorgte er, und er war dazu ein ganz hervorragender Pädagoge, der es verstand, seinen Schülern selbst trockene Lehrstoffe spannend zu vermitteln.
Schade, dass er gerade wegfuhr, und schade, dass ihre Zeit so bemessen war. Sie hätte sich sehr gern mit Doktor Redlich unterhalten.
Ricky stellte den Motor ab, stieg aus, dann eilte sie die Stufen empor und ging in die Schule.
Das Zimmer des Direktors befand sich auf der ersten Etage, und Ricky wusste, dass sie ungehindert zu ihrem Mann durchgehen konnte, weil seine Sekretärin die allgemeinen Pausen stets dazu nutzte, in die schuleigene Cafeteria zu gehen. Ricky mochte seine Sekretärin, aber sie hatte jetzt keine Lust auf Small Talk, da war sie viel zu sehr mit ihrem Problem beschäftigt.
Sie sah sich um, und ein leichtes Gefühl von Wehmut beschlich sie. Insgeheim hatte sie sich gewünscht und vorgestellt, an genau dieser Schule ihre ersten Sporen als Lehrerin für Deutsch und Biologie zu verdienen. Aus der Traum! Sie konnte zwar irgendwann einmal, wenn die Kinder groß waren, mit dem Studium wieder beginnen, doch mit einer Anstellung hier, mit einer Anstellung überhaupt, war es dann vorbei, weil sie schlichtweg zu alt sein würde. Und das war schon bitter.
Sie war schlecht genug drauf, und deswegen wollte sie sich von solchen Gedanken nicht noch mehr herunterdrücken lassen.
Sie war von niemandem gezwungen worden, mit dem Studium zu beginnen, und es hatte sie auch keiner gezwungen, damit aufzuhören. Es war ihre alleinige Entscheidung gewesen, und deswegen musste sie auch die Konsequenzen dafür tragen. Das wusste sie, sie wollte sich eigentlich von ihrem Mann nur bestätigen lassen, dass sie richtig gehandelt hatte, mehr wollte sie doch nicht.
Sie kam vor dem Direktoren-Zimmer an – und richtig – beinahe hätte sie angefangen zu lachen, das Vorzimmer war verweist.
Ricky kannte sich hier aus, deswegen ging sie forsch auf die Tür zu, hinter der sie ihren Fabian wusste.
Sie hatte die Tür noch nicht einmal richtig aufgestoßen, als sie fröhliches Gelächter vernahm, das von Fabian und einer Frau. Ricky blieb im Türrahmen stehen.
Das durfte jetzt nicht wahr sein!
In der sehr hübschen Besucherecke mit schwarzen Ledersesseln, saßen Fabian und eine Frau. Dagegen war an sich nichts einzuwenden, wenn es nicht ausgerechnet diese Frau wäre. Die war mittlerweile für Ricky zu einem roten Tuch geworden.
Frau Doktor Rita Klinger …
Seitdem diese Frau an dem Gymnasium arbeitete, zogen sich die Lehrertreffen hin, kam Fabian oftmals verspätet nach Hause, weil Frau Doktor Klinger unbedingt etwas geklärt haben musste.
Es war eine attraktive Frau, doch das machte Ricky nichts aus, und das war es auf jeden Fall nicht, was sie wütend machte. Doch wenn man sie sah, dann musste man sich schon fragen, ob sie für ihren Job richtig gekleidet wer. Sie war eindeutig overdressed, und sie brezelte sich ganz gewiss nicht so für ihre Schüler auf, auch nicht für Männer wie Doktor Redlich.
Nein!
Ricky war längst schon aufgefallen, dass diese Person ein Auge auf ihren Fabian geworfen hatte. Anfangs hatte Ricky noch darüber lachen können, weil ihr Fabian treu wie Gold war. Für ihren Mann würde sie jederzeit nicht nur beide Hände ins Feuer legen, sondern beide Füße dazu.
Aber diese Anmache ging einfach zu weit. Diese Frau wusste, dass Fabian verheiratet war, dass er treusorgender Vater einiger Kinder war, doch das schien Rita nicht zu berühren.
Wie sie da in ihrem Sessel klebte, in einem viel zu kurzen Rock, die, das musste man zugeben, schönen Beine malerisch übereinander geschlagen.
Ricky war wütend!
Sie klopfte so heftig an die Tür, dass bei Fabian und dieser Frau das Lachen sofort verstummte. Beide blickten zur Tür, in deren Türrahmen Ricky wie ein Racheengel stand.
»Ricky«, Fabian fand zuerst seine Sprache wieder, »mit dir hätte ich jetzt nicht gerechnet. Aber schön, dass du da bist. Frau Doktor Klinger ist zu mir gekommen, weil sie mit der Benotung der Arbeiten nicht richtig klarkommt und nichts falsch machen möchte.«
Das machte Ricky noch wütender.
Sie lief auf die beiden zu, schmiss sich in einen dritten Sessel, dann erkundigte sie sich beinahe höhnisch: »Frau Doktor Klinger, wie lange sind Sie eigentlich schon Lehrerin? Doch bestimmt eine ganze Anzahl von Jahren, und das mit der Benotung, das lernt man im Fach Pädagogik bereits in den ersten Semestern.«
Rita Klinger wurde rot.
Und Ricky war nicht zu bremsen.
»Denken Sie sich etwas Besseres aus, wenn Sie meinen Mann mit Ihren ständigen Fragen behelligen …, am besten lassen Sie die Finger ganz von ihm. Wie Sie wissen, ist er verheiratet und Vater unserer Kinder. Er kann doch nicht das Objekt Ihrer Begierde sein, oder nehmen Sie alles in Kauf, nur um den Mann für sich zu gewinnen, auf den Sie scharf sind, auch das Zerstören einer Familie?«
Rita Klinger schnappte nach Luft, sprang auf, rief: »Das …, das muss ich mir nicht gefallen lassen.«
Ricky wunderte sich über sich selbst.
»Tja, es ist immer schwer, die Wahrheit zu ertragen, doch manchmal kann es sehr hilfreich sein, sie auszusprechen, und das ist mir schon lange ein Bedürfnis. Noch einmal, lassen Sie gefälligst die Finger von meinem Mann, sonst lernen Sie mich kennen. Ich kann da ganz anders, und ich bin nicht so rücksichtsvoll wie mein Mann.«
Rita Klinger ließ ihren Kaffee stehen, sie stolperte mit hochrotem Kopf aus dem Direktorenzimmer, schlug die Tür krachend hinter sich zu.
Es war auf einmal so still, dass man das Summen einer Fliege hätte hören können.
Ricky wagte nicht, ihren Mann anzusehen. Sie war wütend auf diese Person, da hatte sich etwas zusammengebraut, aber sie hätte sich, schon allein aus Rücksicht auf Fabian und dessen Position, sich niemals dazu hinreißen lassen dürfen, sich wie eine keifende Marktfrau zu benehmen. Was sollte sie jetzt tun? Sich entschuldigen? Sie wusste es nicht, manchmal war es besser, einfach abzuwarten, und dazu entschloss Ricky sich.
Warum sagte er denn nichts?
Diese Stille war geradezu unerträglich!
Endlich tat sich etwas.
»Ricky, was ist in dich gefahren?«, erkundigte Fabian sich leise, und leider war seiner Stimme nicht anzuhören, ob er megasauer war oder nur ein wenig. »Wie konntest du dich so hinreißen lassen? Frau Doktor Klinger hat sich für dieses Gespräch ordnungsgemäß angemeldet, und wie kannst du dich erdreisten, über die Benotung von Arbeiten ein Urteil abzugeben? Nur, weil du mal knapp zwei Semester studiert hast? Es gibt eine Beschwerde gegen Frau Klinger wegen ihrer Benotung, und sie möchte nicht, dass die Schule deswegen ins Gerede kommt und will Schadensbegrenzung betreiben und mit mir einer Meinung sein, was das alles betrifft.«
Ricky glaubte, im Boden versinken zu müssen.
War sie da über ihr Ziel hinausgeschossen?
War sie gar eifersüchtig und sich, was Fabian anging und dessen eheliche Treue, doch nicht so sicher, wie sie immer tat?
War sie nur eifersüchtig, dass diese attraktive Frau den Job hatte, den sie niemals bekommen würde?
Am liebsten hätte Ricky jetzt angefangen zu weinen, doch das ging überhaupt nicht, das würde Schwäche bedeuten, und die konnte und wollte sie jetzt nicht zeigen.
»Es mag ja sein, aber sie sucht immer wieder deine Nähe, ich bin doch nicht blind, und seit sie an der Schule ist, gibt es immer Verzögerungen. Ich lasse mich davon nicht abbringen, sie ist hinter dir her, und ich werde mich bei ihr auch nicht entschuldigen. So, wie sie reagiert hat, habe ich den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie ist wie das personifizierte schlechte Gewissen davongerauscht. Wäre sie nicht betroffen, hätte sie sich nicht ertappt gefühlt, dann hätte sie mich wütend zur Rede gestellt und mich gefragt, was für einen Stuss ich da eigentlich rede.«
Wieder sagte Fabian nicht sofort etwas, und Ricky fühlte sich schlecht. Ob diese Klinger nun hinter ihm her war oder nicht: Sie hätte sich nicht so aufführen dürfen. Wie frustriert war sie eigentlich? So herumzutoben war nicht ihre Art, ganz gewiss nicht, es war nur ein Zeichen dafür, wie frustriert sie war. Diese Frage musste sie sich nicht stellen, das war einfach so.
»Weswegen bist du eigentlich gekommen?«, erkundigte Fabian sich. »Heute Morgen beim Frühstück war noch nichts davon zu spüren, dass du etwas auf dem Herzen hast, das keinen Aufschub bis zum Nachmittag hat.«
Es war für sie wichtig und dringend gewesen, weswegen sie gekommen war, doch Ricky konnte es ihm jetzt einfach nicht erzählen. Sie fühlte sich so leer, sie war vollkommen fertig. Sie war sich sicher, dass diese Person hinter Fabian her war, doch hätte sie sich so benehmen dürfen?
»Ich möchte jetzt nicht darüber reden«, sagte sie, »deine Freistunde ist eh gleich vorbei, und das, was ich sagen will, lässt sich nicht zwischen Tür und Angel abhandeln. Es war vermutlich überhaupt nicht gut, herzukommen.«
Er sagte nichts, hielt sie nicht zurück, und eigentlich war das für Ricky ein Zeichen, dass Fabian sauer war. Er hätte sonst noch einmal gefragt, er würde sie nicht einfach so gehen lassen, doch das tat er. Und er antwortete ihr nicht einmal, als sie Tschüss sagte.
Ricky war froh, dass seine Sekretärin noch nicht wieder an ihrem Platz war, das hätte ihr gerade noch gefehlt.
Sie beeilte sich, aus der Schule zu kommen, doch als sie unten an der Treppe war, kam Frau Doktor Klinger ihr entgegen.
Das auch noch!
Innerlich wappnete Ricky sich auf einen Angriff, doch nichts geschah. Im Gegenteil, mit gesenktem Kopf eilte die Frau an ihr vorbei, was beinahe den Anschein erweckte, dass sie Angst vor weiteren Beschimpfungen hatte.
Das war ja nun wirklich ein Zeichen dafür, dass die Person nicht ganz unschuldig war.
Es musste so sein, Ricky hatte für Menschen ein gutes Gefühl. Aber was half ihr das alles augenblicklich? Nichts! Sie musste sich mit Fabian aussöhnen, so wie eben waren sie in all den Jahren noch niemals auseinander gegangen.
Ricky stieg in ihr kleines Auto, das ihr Großvater ihr geschenkt hatte, und sie war so nervös, dass sie erst einmal den Motor abwürgte, sehr zur Belustigung einiger größerer Jungen, die sie angrinsten. Sie sprachen es nicht aus, aber Ricky sah die Sprechblase auch so vor sich: »Typisch Frau«.
Es machte keinen Sinn, jetzt jammervoll zu sein, geschehen war geschehen. Ihre Laune hatte sich nicht verbessert, im Gegenteil.
Was sollte sie jetzt tun?
Zu ihren Eltern oder ihren Großeltern fahren?
Die wären vermutlich sehr erstaunt, wenn sie erführen, dass sie ihre Meinung schon wieder geändert hatten.
Und Stella?
Ricky mochte ihre Schwägerin sehr, mit der sie ja auch befreundet war, und das schon, ehe ihr Bruder Stella geheiratet hatte. Aber das, was sie wirklich bewegte, konnte Stella nicht verstehen. Sie unterschieden sich beide wirklich sehr.
Als sie ein kleines Bistro entdeckte und auch noch einen Parkplatz, hielt Ricky an, stieg aus und bestellte sich erst einmal einen doppelten Espresso. Vielleicht brachte der sie wieder auf die Spur.
Ricky war wirklich zum ersten Mal ein wenig ratlos, und das in mehrfacher Hinsicht.
Dabei quälte sie derzeit nicht einmal so sehr, ob es richtig gewesen war das Studium abzubrechen oder nicht. Es belastete sie, dass Fabian so kühl und unnahbar gewesen war.
Wegen dieser Frau würde es doch wohl nicht zu einer Ehekrise zwischen ihnen kommen?
Der Gedanke war für Ricky so unerträglich, dass sie sich erst einmal zwei verlockend aussehende Schokoladen-Muffins bestellte. Schokolade sollte ja bekanntlich glücklich machen, und doppeltes Glück konnte in ihrem Fall nicht schaden.
*
Inge Auerbach war ganz schnell auf einen kleinen Plausch zu ihrer Mutter gekommen. Es war wirklich herrlich, seine Eltern so nahe bei sich zu haben, und Inge dankte dem Himmel beinahe jeden Tag, dass sie das Glück hatte. Als Werner für sie das Haus im Sonnenwinkel gefunden hatte, war davon lange noch nicht die Rede, als allerdings der Architekt Carlo Heimberg diese wunderschöne und auch mehrfach preisgekrönte Siedlung gebaut hatte, hatten sie zugeschlagen. Ihre Eltern hatten das Haus direkt nebenan bekommen, und auch Ricky und Fabian hatten sich eines der Häuser gekauft.
Ihre Eltern hatten es nicht bereut, in den Sonnenwinkel gezogen zu sein, denn auch sie empfanden es ähnlich so, welch großes Glück es doch war, seine Familie direkt nebenan zu haben.
Schon als Inge hereingekommen war, wusste Teresa von Roth, dass ihre Tochter etwas auf dem Herzen hatte. Sie wartete erst einmal ab, doch als Inge ein wenig verloren in ihre Kaffeetasse sah und darin herumrührte, obwohl da längst nichts mehr zu rühren war, entschloss Teresa sich, ihre Tochter zu fragen was los war. Hoffentlich war Inge nicht wieder in eine Depression verfallen, weil ihre jüngste Tochter ihr fehlte und weil sie ihre Schuldgefühle einfach nicht loswurde, dass die Kleine ausgerechnet von ganz fremden Frauen zufällig erfahren musste, dass sie adoptiert war.
Sie waren doch auf einem guten Weg gewesen. Sollte das alles wieder vorbei sein?
Teresa von Roth war eine energische, resolute Frau. Sie war in ihrem Leben durch viele Tiefen, zum Glück auch einige Höhen gegangen. Das hatte sie stark gemacht, und sie konnte auch mit schwierigen Situationen ganz anders umgehen als ihre einzige Tochter.
Teresa beschloss, sich Gewissheit zu verschaffen. »Was ist los, Inge? Worüber denkst du nach?«
Inge Auerbach zuckte zusammen, ihre Mutter war wachsam, vor der konnte man einfach nichts geheim halten. Sie blickte ihre Mutter an, doch als sie deren besorgten Gesichtsausdruck bemerkte, sagte sie rasch: »Mama, es ist nichts, wirklich nicht. Ich denke nur darüber nach, ob ich mit Brot und Salz zu Rickys Mieterin gehen soll. Das ist doch eine nette Tradition.«
Teresa zuckte die Achseln.
»Das ist deine Entscheidung, mein Kind. Aber warum nicht. Jetzt, da Ricky und Fabian nicht mehr verkaufen, sondern nur vermieten wollen, übernimmst du ja wieder mehr oder weniger die Verwaltung des Hauses. Diese Frau weiß, dass sie sich an dich wenden soll, wenn am Haus etwas nicht in Ordnung ist. Warum also nicht?«
Inge nickte.
»Ich denke an eines dieser köstlichen Mühlenbrote, und im Biosupermarkt würde ich ein besonderes Salz holen. Und das alles packe ich in einen hübschen Brotkorb. Ich habe da einen in diesem neuen Laden in Hohenborn gesehen.«
»Inge, wenn du das Gefühl hast, es tun zu müssen, dann tue es. Aber warte nicht zu lange, die Frau und das Mädchen wohnen ja schon ein paar Tage im Haus.«
»Ich weiß, und deswegen möchte ich heute gehen, ich bin eigentlich nur hergekommen, um dich zu fragen, ob du mit mir gehen willst.«
Das lehnte Teresa sofort ab.
»Nein, Inge, da kannst du nicht mit mir rechnen. Ich werde diese Frau vermutlich irgendwann mal irgendwo sehen, aber jetzt muss ich nicht hingehen. Außerdem finde ich es nicht so prickelnd, dass wir dort im Zweierpack auftreten. Nö, mach mal.«
Inge wäre ja am liebsten mit ihrer Mutter zu der neuen Mieterin gegangen. Ricky hatte gesagt, dass die Frau ein wenig merkwürdig sei, und mit solchen Menschen kam ihre Mutter am besten zurecht. Sie kam mit allen Menschen zurecht, weil Teresa jeden von ihnen so zu nehmen wusste wie er war.
Inge trank ihren Kaffee aus.
»Ja, dann werde ich mal meine Besorgungen machen und zu Frau Schulz gehen, hoffentlich empfindet sie das nicht als aufdringlich.«
»Sie wird sich freuen«, sagte Teresa. »Besonders das Mühlenbrot ist ja so köstlich, bestimmt punktest du damit ganz besonders. So etwas findet man nicht so schnell. Ich habe gehört, dass sogar Bestellungen aus dem Ausland kamen, als die Mühle mit ihren Produkten im Fernsehen vorgestellt worden war. Aber ist ja auch kein Wunder, es gibt zwar viele Brote in unserem Land, doch die meisten Bäcker machen es sich doch bequem und benutzen diese schrecklichen Backmischungen. Brote zu backen, das bedeutet viel Arbeit, und die will sich keiner mehr machen.«
Brot und wie es gebacken wurde, das war für ihre Mutter ein richtiges Reizthema, und da konnte sie sich richtig aufregen.
Inge stand schnell auf.
»Mama, ich gehe jetzt, wenn ich zurück bin, komme ich kurz bei dir vorbei und erzähle, wie es bei Frau Schulz gelaufen ist. Soll ich für Papa und dich ein Brot aus der Mühle mitbringen?«
»Nein, danke, mein Kind. Magnus und ich genießen es, in der Mühle einen Kaffee zu trinken und ein Stück Kuchen zu essen. Das ist der reinste Genuss, den wir uns natürlich nicht entgehen lassen. Wir waren gerade erst gestern dort und haben uns mit dem Bioroggen eingedeckt.«
Inge ging zu ihrer Mutter, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Mama, ich finde es so richtig toll, dass Papa und du euer Leben genießt. Ihr lebt entschleunigt, macht das, wozu ihr Lust habt, und obwohl ihr doch eine ganze Menge unternehmt, seid ihr so herrlich entspannt. Darum seid ihr wirklich zu beneiden.«
Teresa lächelte.
»Wer hindert dich daran, ebenfalls entschleunigt und entspannt zu leben, mein Kind? Du willst in allem immer perfekt sein, das kann kein Mensch, aber das ist es, was sehr viel Stress macht. Aber da bin ich ganz hoffnungsfroh, irgendwann wirst du es auch begreifen.«
Inge ging, die Stimme ihrer Mutter hielt sie an der Tür zurück.
»Inge, mir fällt doch etwas ein, was du mir aus der Mühle mitbringen könntest. Heute gibt es dort selbst gebackenen Apfelkuchen, davon kannst du bitte für Papa und mich zwei Stücke mitbringen. Papa könnte sich da hineinlegen, und damit werde ich ihn überraschen. Sahne habe ich noch, und aus dem Bioladen bring bitte diese Leckerli mit, nach denen Luna so verrückt ist.«
Inge lachte.
»Mama, willst du nicht doch mitkommen? Vielleicht fällt dir ja sonst noch etwas ein.«
Teresa stimmte in das Lachen ihrer Tochter mit ein.
»Kein schlechter Versuch. Nein, ich bleibe lieber hier, ich muss unbedingt wissen, wie es in diesem spannenden Roman, den ich gerade lese, weitergeht. Ich tippe ja auf den ungetreuen Ehemann, der seine reiche Frau unbedingt loswerden will.«
»Viel Spaß beim Lesen, Mama, und erzähl mir, ob du recht hattest.«
Dann verließ sie das Haus ihrer Eltern. Sie war ja so froh, dass sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter noch so fit waren. Hoffentlich blieb das noch viele, viele Jahre so.
So etwas konnte man sich nur wünschen, ein Anrecht darauf hatte man nicht, und zum Glück konnte man sich ein langes, gesundes Leben auch nicht kaufen. Da waren alle Menschen gleich, und das war gut so.
*
Inge Auerbach war rundherum zufrieden. Sie hatte zwar eine ziemliche Fahrt hinter sich, war von links nach quer gefahren. Doch es hatte sich gelohnt.
In der Mühle hatte sie ein rundes Krustenbrot erstanden, das so köstlich, so appetitlich aussah, dass man direkt Lust bekam, hineinzubeißen.
Im Bio-Supermarkt hatte Inge ein ganz besonderes Fleur de sel gekauft. In dem hübschen Glas sah es richtig wertvoll aus. Aber das war es ja auch, schließlich war Fleur de sel nicht irgendein Salz.
Und in dem neuen Laden in Hohenborn hatte sie schließlich ein ausnehmend schönes Brotkörbchen erstanden, dazu kaufte sie ein Leinentuch, und darauf wurden das Brot und das Salz gelegt. Die freundliche Verkäuferin hatte alles in Zellophan verpackt und es am Schluss mit einer großen Schleife verziert.
Inge hatte so richtig Spaß an dem Geschenk, und sie war so begeistert, dass sie es am liebsten selbst behalten hätte.
Aber nein, es war ja für die neue Mieterin bestimmt, sie konnte nur hoffen, dass es Frau Schulz gefallen würde.
Es war nicht nur das, was Inge so froh machte. Natürlich litt sie noch immer unsäglich, was sich da mit ihrem Nesthäkchen ereignet hatte. Aber sie war nicht mehr so abgestumpft, so müde, man konnte schon sagen, so depressiv. Sie nahm wieder am Leben teil, und ganz tief in ihrem Inneren keimte ein Hoffnungsschimmer auf, dass irgendwann Pam wieder nach Hause zurückkommen würde.
Vielleicht konnte es ja nicht mehr so werden, wie es einmal gewesen war, so etwas gab es eh kein zweites Mal. Aber annähernd so, das wäre schon ein ganz großes Geschenk. Sie fehlte ihr ja so, ihre Kleine, und sie durfte nicht daran denken, wo sie jetzt war, in Australien. Weiter weg, das ging wirklich nicht. Es tröstete Inge ein wenig, dass ihre Jüngste bei Hannes war, und er und Pam, die waren schon immer ein Herz und eine Seele gewesen. Und auf ihn war sie ja auch nicht sauer, obschon Hannes doch auch ein Auerbach war. Aber wenn sie daran dachte, dass sie in Australien nicht vor Ort blieben, sondern, wenn es möglich war, herumreisten, da wurde ihr schon wieder ganz anders zumute. Inge hatte keine Ahnung, von wem Hannes es hatte, er hatte wirklich Hummeln im Hintern und konnte nicht an einem Ort bleiben, wenigstens nicht lange. Und sie fragte sich, wie lange er wohl den Job als Surf- und Tauchlehrer machen würde. Auf jeden Fall waren Hannes, sein Kumpel Steve und Pam an die Nordostküste zum Great-Barrier-Riff gefahren, um dort die bizarre Schönheit der legendären Korallenriffe zu bewundern, und das war immerhin ein zusammenhängendes Korallengebiet von ungefähr eintausendsechshundert Kilometern. Es war gewiss beeindruckend, und so etwas würde man niemals in seinem Leben vergessen. Nur wenn man daran dachte, dass es drei junge Menschen waren, dabei ein Mädchen, und wenn man wusste, dass die drei gewiss nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs waren, sondern als Backpacker, dann konnte sich einem der Magen umdrehen. Bei solchen Gedanken würde Inge sich am liebsten in den nächsten Flieger setzen, um ihre Jüngste nach Hause zu holen. Sie würde es tun, sofort, wären ihr nicht die Hände gebunden.
Pamela hatte sich von ihnen abgewandt, heftig, so heftig, dass sie nicht einmal mehr Bambi genannt werden wollte, dabei war sie mit diesem Kosenamen aufgewachsen und hatte ihn geliebt.
Inge merkte, wie ihre Stimmung zu kippen drohte. Sie war noch lange nicht über alles hinweg, und es würde noch eine ganze Weile dauern, bis sie wenigstens einigermaßen damit umgehen konnte. Gefühle ließen sich eben nicht abstellen.
Sie war froh, dass sie nach ihrer Fahrt von einem Ort zum anderen wieder im Sonnenwinkel war, dem Ort, den sie so sehr liebe, der ihr in all den Jahren so sehr vertraut geworden war, und den sie niemals mehr verlassen wollte.
Schon wieder ein Gedanke in die Vergangenheit, auch für Pam war es unvorstellbar gewesen, irgendwann einmal von hier wegzugehen, und wo war sie jetzt? In Australien …
Inge riss sich gewaltsam zusammen, wenn sie so weitermachte, würde sie gleich auch noch anfangen zu weinen. Und sollte sie verheult vor die neue Mieterin treten?
Sie fuhr vor das Haus ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes, das nun doch nicht verkauft worden war, dann stellte sie den Motor ab.
Es war vieles schön am Sonnenwinkel, aber eines war wirklich ein Punkt, den man nicht unbeachtet lassen sollte – man fand überall einen Parkplatz.
Inge holte aus dem Kofferraum das Geschenk, und als sie es sah, besserte sich sofort ihre Laune, es war wirklich sehr schön.
Inge war sich sicher, dass Frau Schulz sich freuen würde, und sie freute sich auch, dass sie sich aufgerafft hatte, dieses Begrüßungsgeschenk zu kaufen. Sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern, dass es damals Marianne von Rieding und deren Tochter gewesen waren, die Brot und Salz gebracht hatten. Sie hatten sich über diese nette Geste sehr gefreut, und das hatte auch dazu beigetragen, dass sie sich direkt heimisch gefühlt hatten, und jetzt konnte sie nur darauf hoffen, dass es Frau Schulz ähnlich ging.
Warum sollte es nicht so sein?
Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen eilte Inge durch den Vorgarten auf das Haus zu, stieg die drei Stufen empor, und dann klingelte sie energisch.
*
Gerda Schulz hatte zufällig aus dem Fenster gesehen, als das Auto vor ihrem Haus hielt, die Frau ausstieg, etwas aus dem Auto holte. Was es war, konnte sie nicht genau erkennen, war auch nicht so wichtig.
Erst als sie sah, dass die Frau direkt auf ihr Haus zukam, fing ihr Herz an zu klopfen, und als es klingelte, da zuckte sie zusammen.
Wer war die Frau? Was wollte sie von ihr?
Gerda hatte keine Ahnung.Was sollte sie jetzt tun?
Obwohl es niemand sehen konnte, presste sie sich unwillkürlich gegen die Wand.
Das Klingeln wurde fordernder. Gerda war wie gelähmt.
Als es auch noch anfing zu klopfen, fasste sie sich ein Herz. Sie konnte sich nicht ewig verstecken, das machte sie erst recht auffällig.
Sie ging zur Tür, öffnete und versuchte, so leichthin wie nur möglich zu sagen: »Ich war im Keller, entschuldigen Sie bitte, dass ich das Klingeln nicht sofort gehört habe.«
Das also war Frau Schulz!
Eine irgendwie gehetzt wirkende Frau, die man leicht übersehen konnte.
»Ich bin Inge Auerbach«, sagte Inge, »ich bin die Mutter Ihrer Vermieterin, an die Sie sich wenden können, wenn mit dem Haus etwas nicht in Ordnung sein sollte. Ich glaube, meine Telefonnummer hat man Ihnen bereits gegeben.«
Gerda nickte.
»Und nun bin ich gekommen, um Sie herzlich willkommen zu heißen, und weil das so üblich ist, bringe ich Ihnen Salz und Brot.«
Sie reichte Gerda den hübsch verpackten Korb. Gerda nahm ihn zögernd entgegen. »Danke.«
Wie sollte sie sich jetzt verhalten?
Diese Frau Auerbach machte einen netten Eindruck, erwartete sie jetzt mehr? Wahrscheinlich, denn sonst würde sie gehen. Sie hatte sich doch bedankt.
Inge zögerte.
»Wollen Sie …, äh …, wollen Sie einen Moment hereinkommen?«, erkundigte Gerda sich schließlich. Insgeheim wünschte sie sich, Frau Auerbach möge es ablehnen. Das tat sie leider nicht, im Gegenteil, sie sagte: »Gern.«
Was blieb Gerda also übrig, als beiseite zu treten und Inge an sich vorbei zu lassen.
Gerda führte ihre Besucherin ins Wohnzimmer, dabei hielt sich das Gastgeschenk so ungelenk auf dem Arm, als wisse sie nicht, wohin damit.
»Bitte, nehmen Sie doch Platz. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
Am ganzen Verhalten von Frau Schulz spürte Inge, dass sie nicht gern gesehen war. Sie hätte die Einladung ablehnen müssen, doch nun war sie halt hier. Aber große Umstände wollte Inge Frau Schulz nicht machen, und sie würde sich auch nicht lange aufhalten. Sie hätte nicht herkommen dürfen, das war gewaltig nach hinten losgegangen.
»Machen Sie sich bitte keine Umstände«, sagte Inge, doch Frau Schulz bestand darauf, etwas anbieten zu wollen, und so sagte Inge: »Ein Wasser vielleicht.«
Gerda Schulz verschwand mit ihrem Korb in der Küche, und Inge sah sich um. Die wenigen Möbel, die im Raum standen, waren hübsch. Aber alles wirkte nur so hingestellt, es gab keine Bilder an den Wänden, nichts, was einen Raum gemütlich machte. Im Grunde genommen sah es so aus, wie ein Raum, in den man gerade einziehen oder aber ausziehen wollte. Es war unpersönlich.
Bemerkte Gerda, die gerade mit Gläsern und Wasser zurückkam, Inges Blick?
»Wir sind noch lange nicht fertig«, entschuldigte sie sich. »Gerade mal das Zimmer meiner Tochter haben wir geschafft … Möchten Sie es sich einmal ansehen?«
»Ja, gern«, bestätigte Inge. Viel Lust hatte sie nicht, aber sie wurde irgendwie das Gefühl nicht los, dass es für Gerda Schulz wichtig war.
Gemeinsam gingen sie hinauf ins Obergeschoss, und an den offenen Türen konnte Inge sehen, dass die meisten Zimmer nicht möbliert waren. Da konnte man sich wirklich die Frage stellen, warum diese Frau für sich und ihre Tochter nicht nur eine Wohnung gemietet hatte statt ein ganzes Haus. Eine Wohnung wäre völlig ausreichend gewesen.
»Da sind wir«, sagte Gerda in ihre Gedanken hinein und wies stolz auf ein Zimmer. Inge erinnerte sich, dass es früher das Schlafzimmer von Ricky und Fabian gewesen war. Ohne eine grosse Erwartungshaltung trat Inge in den Raum und blieb verblüfft stehen.
Das war ja unglaublich!
Ein so schönes Zimmer hatte sie wirklich noch nie zuvor gesehen, und das sagte sie auch.
Gerda wurde rot vor Freude.
»Meine Leonie wusste genau, was sie wollte. Und mit diesem Zimmer hatten wir unglaubliches Glück. Es gibt es nur dieses eine Mal, eine Produktion hat sich nicht gelohnt. Die Nachfrage war nicht da, außerdem sind die Kosten zu hoch.«
Inge hatte nicht sehr viel Ahnung von den Preisen der Möbel, die heutzutage auf dem Markt waren. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die alle paar Jahre etwas Neues haben mussten, sondern liebte ihre gewohnte Umgebung. Doch von Design und Qualität hatte sie eine Ahnung, und das hier war gut und teuer!
»Da hat sich Ihre Tochter wirklich etwas ganz Besonderes ausgesucht. So etwas sind Möbel, die später einmal Antiquitäten werden. Danke, Frau Schulz, dass Sie mir das Zimmer Ihrer Tochter gezeigt haben, es …«
Inge brach ihren Satz ab, weil etwas Schwarzes blitzschnell an ihr vorbeihuschte, mit einem eleganten Satz auf das Bett sprang.
»Haben Sie eine Katze?«, erkundigte Inge sich verblüfft. Damit hätte sie jetzt nicht gerechnet.
Zum ersten Mal huschte so etwas wie ein Lächeln um Gerdas schmalen Mund.
»Die Katze hat uns ausgesucht.«
Dann erzählte sie Inge, wie Blacky in ihr Haus gekommen war und dass sie durch Aushänge versucht hatten, den Besitzer zu finden, dass sich bislang jedoch niemand gemeldet hatte.
»Ich hatte nie ein Haustier, und meinetwegen müsste der Kater auch nicht hier sein, aber Leonie ist wie vernarrt in ihn, sie ist insgesamt völlig aus dem Häuschen, und ich habe meine Tochter noch nie zuvor in ihrem Leben so glücklich gesehen. Sie hat das Haus im Sonnenwinkel entdeckt, es hat wohl alles so sein müssen.«
»Und Sie?«, konnte Inge sich nicht verkneifen zu fragen. Bildete Inge es sich nur ein, oder verdüsterte sich das Gesicht von Frau Schuld?
Gerda Schulz zuckte die Achseln.
»Wichtig ist für mich, dass Leonie glücklich ist. Nur das zählt«, sagte sie. »Sollen wir hinuntergehen? Viel gibt es hier noch nicht, auch mein Schlafzimmer ist noch nicht fertig. Das muss ich Ihnen gar nicht erst zeigen, und ansonsten …« Sie beendete den Satz nicht, sondern machte sich daran, die Treppe wieder hinunterzugehen.
Inge folgte ihr, und sie war sehr nachdenklich. Sie liebte ihre Kinder über alles, und manchmal hatte man sie sogar damit aufgezogen, eine Übermutter zu sein. Doch was war dann diese Frau? Sie richtete ihr ganzes Leben auf ihre Tochter aus. Das war nicht normal. Man konnte seine Kinder auch mit seiner Liebe erdrücken. Und wie sollte es denn später einmal werden? Noch war diese Leonie auf ihre Mutter angewiesen. Doch irgendwann gingen Kinder ihren eigenen Weg, das war nun mal der Lauf der Dinge. Dann würde Gerda Schulz in ein tiefes Loch fallen. Doch darüber musste sie sich jetzt wirklich nicht den Kopf zerbrechen.
Als sie sich gegenübersaßen, versuchte Inge, ein Gespräch in Gang zu bringen. Das war etwas, was ihr wirklich nicht schwerfiel, weil sie ein sehr kommunikativer Mensch war. Bei Gerda Schulz hatte Inge das Gefühl, gegen eine Wand zu laufen. Nach dem zweiten, dritten Satz versandete das Gespräch im Sande, und es war ziemlich mühsam, wieder etwas aufzubauen und von vorne zu beginnen.
Inge trank schnell ihr Wasser aus, dann stand sie auf.
»Ich will Sie nicht länger aufhalten, Frau Schulz«, sagte sie. »Wenn Sie …, äh, wenn etwas nicht in Ordnung ist oder wenn Sie Hilfe brauchen …, da können Sie sich jederzeit gern an mich wenden. Aber auch sonst, ich meine, wenn Sie Fragen haben, wenn Sie mal Lust auf einen Kaffee haben, unser Haus steht Ihnen jederzeit offen. Und bitte glauben Sie, das ist nicht nur so dahergesagt.«
Gerda bedankte sich artig, und Inge wusste schon jetzt, dass diese Frau nichts in Anspruch nehmen würde. Gerda Schulz würde sich nur melden, wenn vielleicht mal die Heizung ausfiel oder es etwas gab, was sie selbst nicht hinbekommen würde.
Gerda begleitete sie zur Tür, und Inge hatte das Gefühl, dass sie froh war, sie losgeworden zu sein.
Die beiden Frauen verabschiedeten sich voneinander, und Inge war noch nicht einmal die erste Stufe hinuntergegangen, als Gerda auch schon die Haustür zuschlug.
Was war das nur für eine merkwürdige Frau, wobei merkwürdig vielleicht überhaupt nicht das richtige Wort war. Sie war eher gehetzt, und Angst, ja, Inge wurde das Gefühl nicht los, dass Gerda Schulz Angst hatte. Aber wovor? Hier im Sonnenwinkel konnte man sich sicher fühlen. Hier war die Welt wirklich noch in Ordnung, und in der Siedlung selbst hatte es noch nie Einbrüche gegeben. Die nächste Polizeistation war in Hohenborn. Inge war sich sicher, dass die paar Beamten, die dort Dienst machten, einen sehr, sehr ruhigen Job hatten.
Inge ging zu ihrem Auto und fuhr los, dabei hatte sie das Gefühl, dass Gerda Schulz sie beobachtete.
*
Inge war zu faul, ihr Auto jetzt in die Garage zu fahren, außerdem wollte sie ihrer Mutter unbedingt vom dem Besuch bei Gerda Schulz erzählen.
Ihr Vater verließ gerade das Haus, zusammen mit Luna, die, seit Pamela nicht mehr da war, offensichtlich lieber im Nachbarhaus war, und das nicht nur wegen der Leckerli, die sie dort bekam. Nein, es lag wohl in erster Linie daran, dass Magnus von Roth mit der kleinen Hundedame so viele ausgiebige Spaziergänge machte.
»Wo willst du hin, Papa?«, erkundigte Inge sich. »Du bist ja nur noch unterwegs.«
Magnus von Roth lachte.
»Luna kann einen ganz schön auf Trab halten, ich will mit ihr noch eine kleine Runde am See drehen.« Als er das entsetzte Gesicht seiner Tochter bemerkte, sagte er: »Eine kleine Runde, und das meine ich auch. Aber ich denke, das reicht Luna auch, sie ist halt so unglaublich gern am See. Ich muss sie zurückhalten, sonst würde sie auch bei diesen Temperaturen am liebsten ins Wasser springen. Aber so sind Labradore halt, sehen sie Wasser, dann sind sie außer Rand und Band. Zum Glück ist Luna ein gut erzogener Hund und macht da keine Probleme, was man manchmal so sieht. Da kann man sich wirklich fragen, wer eigentlich das Sagen hat. Herrchen oder Frauchen oder der Hund.«
Ja, es stimmte, Luna war ein gut erzogener und auch ein gutmütiger Hund.
Luna bellte, sie wollte los, und deswegen fragte Inge ihren Vater: »Und wie viel Leckerli hast du in deiner Tasche, Papa?«
Magnus von Roth fühlte sich ertappt und beantwortete diese Frage lieber nicht, sondern rief: »Luna will los, bis später«, dann hatte er es eilig, davonzukommen.
Stolz und hochaufgerichtet und erstaunlich schnell für sein Alter lief ihr Vater mit Luna Richtung See.
Sie würde es sich immer wieder sagen, doch so war es ja auch – Inge war überglücklich, ihre Eltern so dicht bei sich zu haben.
Noch mit einem Lächeln auf den Lippen traf sie auf ihre Mutter, die gerade dabei war, die Tassen in den Geschirrspüler zu räumen, aus denen sie und Magnus Tee getrunken hatten.
Teresa von Roth sah ihre Tochter prüfend an.
»Kind, es scheint ja gut gelaufen zu sein. Hat die Mieterin sich gefreut? Du siehst zufrieden aus.«
Inge setzte sich.
»Ich freue mich, dass Papa so gut drauf ist, das mit dieser Frau Schulz, du, Mama, ich weiß nicht. Mit dieser Frau stimmt etwas nicht.«
Dann erzählte sie ihrer Mutter was geschehen war und wie sie es empfunden hatte.
»Ich glaube, du brauchst erst einmal einen Kaffee, mein Kind«, lachte Teresa, »der hilft bei dir immer. Ist es nicht so, dass du jetzt enttäuschst bist, weil die Mieterin dein Willkommensgeschenk nicht richtig gewürdigt hat?«, wollte Teresa wissen. »Das können nicht alle Leute, nicht jeder kann Gefühle zeigen, und die Frau soll mit ihrer Tochter ja auch in verschiedenen Ländern gelebt haben. Als Ausländer hat man es schwer, heimisch zu werden. Du hast ihr Brot und Salz gebracht, und das sind immerhin Dinge, die jeder Mensch gebrauchen kann. Damit soll es für dich auch gut sein. Inge, mal ganz ehrlich, hast du nicht genug eigene Probleme?«
Inge nickte.
»Siehst du, da musst du dir nicht auch noch Gedanken um andere Leute machen. Du musst nicht darüber nachdenken, wie andere Leute drauf sind. Und es geht dich auch nichts an, dass sie mit scheinbar übertriebener Liebe an ihrer Tochter hängt. Du hast dich immer aus allem herausgehalten, warst nie an Klatsch und Tratsch interessiert. Bitte, fange nicht damit an.«
»Aber sie ist Mieterin von Ricky und Fabian«, wandte Inge ein.
»Na und?«, sagte Teresa. »Es gibt einen ordnungsgemäßen Mietvertrag, in dem alles geregelt ist. Vielleicht bringt es dich auf andere Gedanken, dass Hannes geschrieben hat?«
»Was schreibt er?«
»Während ich den Kaffee mache, kannst du es selbst lesen. Der Computer ist noch an.«
Das ließ Inge sich nicht zweimal sagen, sie rannte in das Wohnzimmer, wo auf einem sehr hübschen alten Schreibtisch der Computer stand.
Inge setzte sich, weil sie ganz weiche Knie hatte vor lauter Aufregung. Eines musste man Hannes lassen, er hielt sie auf dem Laufenden. Seine Texte waren ziemlich knapp, aber er schickte viele Bilder, und aus denen konnte man auch einiges ablesen.
So war es auch heute. Man sah ihre Jüngste beim Surfen, und es war schon ganz beachtlich, welches Tempo sie dabei vorlegte.
Vielleicht war es doch nicht so gut, sich das jetzt anzusehen, denn das erweckte erneut die Sehnsucht in ihr, ihr Nesthäkchen wieder in die Arme zu schließen. Sie fehlte ihr so sehr. Und wie groß und irgendwie erwachsen sie geworden war.
Es gab Bilder, die Hannes, seinen Kumpel, Pam und andere junge Leute bei einer Beach-Party zeigten. Es wurden Würstchen gegrillt, Inge sah Bierdosen in manchen Händen, und sofort fragte sie sich ängstlich, ob ihre Kleine wohl auch Bier trank. Dazu war sie viel zu jung, und Hannes achtete hoffentlich darauf, dass sie keinen Alkohol zu sich nahm. Konnte er das? Er war selbst ja auch noch so jung.
Es gab noch mehr Bilder, aber Inge konnte sich die einfach nicht ansehen. Vielleicht später, doch dazu brauchte sie nicht wieder zu ihren Eltern zu gehen, Hannes versorgte die ganze Familie mit Nachrichten, seine Eltern, seine Großeltern und seine Geschwister ebenfalls.
Sie ging zu ihrer Mutter zurück.
Die merkte sofort, was mit ihrer Tochter los war. Sie stellte den Kaffee vor sie hin und sagte: »Mach kein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, sondern freue dich, dass es Hannes und unserer Kleinen so gut geht. Sie befinden sich in einem ganz großartigen Land, sind unter jungen Leuten, haben Anschluss gefunden. Was willst du noch mehr?«
Das wusste Inge alles, das musste ihre Mutter ihr jetzt nicht aufzählen.
»Mama, hast du gesehen, dass sie bei diesem Beach-Fest Bier getrunken haben?«, fragte Inge.
Teresa von Roth schob einen Teller mit Keksen in die Richtung ihrer Tochter. Manchmal konnte man Inge damit ablenken. Und richtig, schon griff sie danach und schob sich einen Keks in den Mund.
»Bier zu trinken, das ist keine australische Besonderheit, meine Liebe«, bemerkte Teresa ruhig. »Das tun die jungen Leute in unserem Land auch, selbst die behüteten Kids, die hier im Sonnenwinkel leben. Das ist nun mal so. Und du kannst aufpassen wie ein Luchs, und dennoch kannst du dein Kind nicht davon abhalten, das zu probieren, was alle tun. Das machen sie doch schon, um nicht als Außenseiter dazustehen. Übrigens, Inge, du hast dich gerade tierisch darüber aufgeregt, wie sehr diese Frau Schulz auf ihre Tochter fixiert ist. Was tust du denn gerade?«
Inge fühlte sich ertappt, und das gefiel ihr überhaupt nicht.
»Mama, du hast ja recht«, gab sie zu, »führe es mir nur vor Augen. Weißt du, es ist immer einfacher über andere Leute zu reden. Manchmal tut man das auch, um von sich selbst und von seinen eigenen Problemen abzulenken. Ach, Mama, ich beneide dich wirklich um deine Gelassenheit, um deine Sicht der Dinge.«
Teresa von Roth lachte.
»Komm erst einmal in mein Alter, mein liebes Kind, dann regst du dich auch nicht mehr über jede Fliege an der Wand auf. Übrigens, ich gönne dir wirklich jeden Keks von Herzen, aber eigentlich sind die zum Genießen da und nicht, um sie achtlos in sich hineinzustopfen. Ich sag das nur, damit du später nicht herumjammerst und dich über das Hüftgold beklagst, das du bekommen hast.«
Inge, durch den ganzen Ärger und die Sorgen um Pamela, ziemlich schlank geworden, wollte das nicht mehr riskieren. Sie gefiel sich gut, so wie sie jetzt war. Deswegen legte sie beinahe schuldbewusst den Keks auf den Teller zurück, den sie gerade essen wollte. In sich hineinstopfen, wie ihre Mutter gesagt hatte, war wohl zutreffender. Denn wenn sie auf den Teller blickte, bekam sie ein schlechtes Gewissen, da lagen nicht mehr viele Kekse drauf, und ihr war überhaupt nicht bewusst geworden, wie sie die nacheinander gegessen hatte, ohne es bewusst wahrzunehmen.
»So war es nicht gemeint«, sagte Teresa.
»Mama, es war gut, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast, es war mir nicht bewusst. Ich werde mir also keine Gedanken mehr um die Mieterin von Ricky machen, und ich werde auch nicht in Schweißausbrüche ausbrechen, nur weil da ein paar junge Leute Bier trinken. Pam war ja nicht einmal dabei.«
»Und wenn es so wäre«, sagte Teresa, »was würdest du da tun? Nach Australien fliegen und unserer Kleinen die Bierdose aus der Hand nehmen?«
Bei dieser Vorstellung musste Inge lachen. Sie unterhielt sich noch ein wenig mit ihrer Mutter, und sie hätte gern noch weiter mit ihr geplaudert, doch sie musste nach nebenan.
Werner kam von einem Vortrag zurück, und er liebte es, wenn sie ihn mit einem schönen Essen überraschte. Und genau das wollte sie tun.
Inge war ja so glücklich darüber, dass zwischen ihr und Werner wieder alles in Ordnung war. Der ganze Ärger wegen der Adoption hatte auch ihre Beziehung ganz schön ins Wanken gebracht, und in ihrer Hilflosigkeit hatten sie sich manchmal gezankt wie die Kesselflicker. Aber das war ja auch so etwas, woran so manche Beziehung scheiterte, nicht miteinander reden, sondern sich gegenseitig Schuldzuweisungen in die Schuhe schieben.
Das Gewitter war zum Glück vorüber, und Inge wollte so etwas nicht noch einmal erleben, zumal man ja auch nicht davon ausgehen konnte, dass sich immer alles zum Guten wenden würde.
»Mama, ich mache für Werner Hühnergeschnetzeltes mit Kokosmilch und Curry. Soll ich euch etwas rüberbringen?«
Teresa von Roth freute sich.
»Da sage ich nicht nein, dein Geschnetzeltes ist köstlich, ich koche dann für Papa und mich Reis dazu.«
Inge umarmte ihre Mutter.
»Musst du nicht, Mama, den liefere ich, ganz wie bei einem Partyservice, mit dazu. Ob ich nun etwas mehr oder weniger Reis koche, das ist keine Mehrarbeit.«
»Großartig, mein Kind, dann werde ich mal genüsslich ein paar Kreuzworträtsel machen. Schließlich muss man hier und da auch mal was für sein Gehirn tun, ehe es ganz einrostet.«
Inge lachte.
»Mama, da musst du dir wirklich keine Sorgen machen, ich kenne niemanden, der so klar in seinem Kopf ist wie du. Du und Papa, ihr habt die Chance, die hundert Jahre und noch mehr zu erleben, so fit in jeder Hinsicht ihr seid.«
Teresa von Roth wurde ernst.
»Das ist etwas, worauf man nicht bauen darf, allenfalls hoffen. Leben ist nicht kalkulierbar, es kann von heute auf morgen vorbei sein.«
Als sie Inges betroffenes Gesicht sah, sagte sie: »Es ist immer gut, im Heute glücklich zu sein, und das sind wir. Und ich bin glücklich, heute nicht kochen zu müssen. Es hat schon etwas für sich, wenn man so dicht beieinander wohnt, da muss man das Essen nicht einmal aufwärmen.«
»Ich habe dich lieb, Mama«, sagte Inge, »selbst wenn ich schon ein ziemlich altes Mädchen bin, ist es notwendig, das manchmal auszusprechen.«
»Ich habe dich auch lieb, meine Inge«, antwortete Teresa mit weicher Stimme. »Du warst der Sonnenschein unseres Lebens, und das bist du bis heute geblieben. Es ist keine Selbstverständlichkeit, eine so gute Tochter zu haben, wie du es bist.«
Jetzt wurde es für Inge aber Zeit zu gehen, ehe sie vor lauter Sentimentalität noch anfing zu weinen.
Es war schon ein wunderbares Band, das sie und ihre Eltern verband.
Sahen ihre Kinder das auch so?
Inge hatte keine Ahnung.
»Bis später, Mama«, sagte sie, dann verließ sie das Haus ihrer Eltern. Jetzt hatte sie doch ein paar Tränchen der Rührung in ihren Augen.
*
Es käme Roberta Steinfeld niemals in den Sinn, sich während ihrer Sprechstunden durch Privates ablenken zu lassen. Im Handel sagte man ja immer – der Kunde ist König. Das würde sie glatt unterschreiben und auf ihre Patienten übertragen. Die Patienten hatten es allesamt verdient, von ihr mit voller Aufmerksamkeit behandelt zu werden, ob es nun die Kassenpatienten waren oder die Privatpatienten. Für Roberta gab es keine Unterschiede, und das wussten ihre Patienten auch sehr zu schätzen.
Doch als die Sprechstunde vorbei war, sie sich von ihrer unglaublichen Ursel Hellenbrink verabschiedet hatte, sah sie vor ihrem geistigen Auge diesen Fremden vor sich, und das machte ihr Angst. Diese paar Minuten konnten sich bei ihr doch nicht eingebrannt haben. Oder war es überhaupt nicht der Mann, sondern seine Großzügigkeit, sie nicht in Anspruch nehmen zu wollen? Immerhin hatte sie den Verkehrsunfall ganz eindeutig verursacht.
Roberta wusste, dass sie sich da etwas vormachte, es war der Mann, und am meisten waren es diese unglaublichen blauen Augen.
Während des Essens mit Alma gelang es ihr, nicht mehr an ihn zu denken, denn das Essen war lecker, und Alma verstand es, sie immer wieder zum Lachen zu bringen, wenn sie ihr von dem neuesten Tratsch aus dem Sonnenwinkel erzählte. Es war schon unglaublich, wie Alma sich entwickelt hatte. Aus einem verhuschten Wesen, krank und ohne Perspektive, hatte sich eine selbstbewusste fröhliche Frau entwickelt, die eine ganz besondere Art von Humor hatte.
So etwas passierte tatsächlich, doch glauben wollte man es nur, wenn man es auch persönlich erlebte, sonst tat man es doch meistens mit dem spöttischen Bemerken ab – »Papier ist geduldig.«
Es war einfach nicht leicht zu glauben, dass sich für einen Menschen, der wirklich ganz unten war, tiefer ging nicht, noch einmal alles zum Guten wenden würde. Aber genauso war es mit Alma gewesen. Wer sie heute sah, käme niemals auf den Gedanken, dass diese Frau so gut wie erloschen gewesen war.
Nach dem Abendessen traf Alma sich mit einer Freundin aus ihrem Gospelchor, und Roberta machte es sich in ihrem Wohnzimmer gemütlich mit einem Glas Rotwein, an ihren Füßen hatte sie gemütliche, sehr kuschelige Wollsocken, die eine dankbare Patientin für sie gestrickt hatte. Roberta liebte diese Haussocken über alles, und sie bewunderte wirklich jede Frau, die imstande war, solche Kunstwerke herzustellen. Sie gehörte nicht zu den Damen, und Handarbeiten war schon in der Schule ihr Angstfach gewesen. Sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern, dass ihre Handarbeitslehrerin ihr zugestanden hatte, ein Ballnetz über den eigentlichen Termin hinaus fertigzustellen, damit durch eine schlechte Note ihr Zeugnis nicht verdorben wurde. Sie hatte sich gequält, hatte dieses Ballnetz fertiggestellt, abgeliefert, und der Kommentar der Lehrerin war gewesen, dass das erste Drittel des Netzes durchaus akzeptabel war, man aber dringend über den Rest hinwegsehen musste. Ihre Note war nicht gut gewesen, aber immerhin besser, als sie sie eigentlich verdient hätte. Als die Möglichkeit bestanden hatte, Handarbeiten abzuwählen, war sie die Allererste gewesen, die das getan hatte.
Mit einem Skalpell umzugehen, das war für Roberta sehr viel einfacher als mit Strick- oder Häkelnadel. Und man musste schließlich nicht alles können. Aber die Socken, die waren wunderschön, und wie ordentlich sie gestrickt waren. Roberta war sich sicher, dass sie sich allein schon bei dem Versuch, eine Ferse zu stricken, die Hände brechen würde.
Sie griff nach ihrer Fernsehzeitung, vielleicht gab es ja einen spannenden Krimi oder irgendwas, was sie interessierte, bloß keine Ratesendung oder ein Casting für irgendwas.
Es gab nichts, also würde sie lesen, diesmal einen Roman, keine Fachzeitschrift.
Sie trank ein Schlückchen von dem köstlichen Rioja, und noch während sie überlegte, klingelte ihr Telefon.
Es war ihre Freundin Nicki.
»Schön, dass du anrufst«, rief Roberta, »ich habe es gar nicht erst versucht, weil ich dich noch in Paris wähnte.«
»Wir sind einen Tag früher fertig geworden«, sagte Nicki, »früher hätte ich mich darüber gefreut, wieder nach Hause zu kommen. Derzeit würde ich mich am liebsten Tag und Nacht mit Arbeit zuschütten, um nicht an Roberto denken zu müssen. Oh Roberta, wie blöd ich doch war, mein Glück mit Füßen zu treten. Ich komme einfach nicht darüber hinweg, dass Roberto verheiratet ist und dass seine Frau sogar ein Kind bekommt. Hast du mal darüber nachgedacht, dass ich diejenige hätte sein können, die schwanger ist?«
»Nein, Nicki, das habe ich nicht, weil es überhaupt keinen Sinn macht, darüber nachzudenken – was wäre gewesen, wenn …, du hast dich von Roberto getrennt, und nun musst du akzeptieren, dass er sich anderweitig orientiert hat. Er ist ein sehr gut aussehender Mann, und er hat einen wunderbaren Charakter. Ist doch klar, dass so ein Mann nicht lange allein bleibt.«
»Ja, ja, mach nur weiter so«, klagte Nicki, »schütte ruhig Salz in meine Wunden.«
»Nicki, das ist Unsinn. Mir tut alles so leid, weil Roberto und du das ideale Paar wart. Aber es ist vorbei, und das musst du akzeptieren, es macht doch keinen Sinn, dass du dich immer weiter quälst.«
»Ich kann nichts dafür. Es tut so weh, und es ist ein so großer Schmerz, der nicht hätte sein müssen, wäre ich nicht dermaßen verbohrt gewesen.«
»Bitte, Nicki, hör davon auf. Irgendwann wird man müde davon, ein abgeschlossenes Thema immer wieder durchzukauen.«
Nicki wusste, dass ihre Freundin recht hatte, aber es war für sie einfach unmöglich, nicht immer wieder an Roberto zu denken. Das war schon eine Art von Masochismus, sich so zu quälen.
»Und worüber sollen wir reden, über deine Patienten?«, erkundigte Nicki sich. »In deinem Leben passiert ja sonst überhaupt nichts.«
»Oh, ich hatte einen Autounfall«, sagte Roberta, »und ich trug die Schuld.«
Dann erzählte sie Nicki, was geschehen war, und sie und Nicki waren so eng miteinander, dass sie ihr auch nicht verheimlichte, welchen Eindruck dieser Fremde auf sie gemacht hatte.
Männer, das war ein Thema, für das Nicki immer zu begeistern war. Und sie sprang auch jetzt sofort darauf an.
»Und, hast du dich mit ihm verabredet? Wie heißt er? Wie er aussieht, hast du ja so plastisch beschrieben, dass ich diesen Mann beinahe schon zeichnen könnte.«
»Es ging alles so schnell, er …, er wollte zu einem Termin, und ich musste ja meine Praxis aufmachen.«
Nicki ahnte etwas.
»Roberta, was heißt das?«
Roberta antworte nicht sofort, aber ewig schweigen durfte sie auch nicht. Sie erzählte, dass sie sich nicht mit dem Fremden verabredet hatte, dass sie nicht einmal seinen Namen wusste.
»Aber mal ganz ehrlich, Nicki, ich habe noch nie einen Mann mit solchen Augen gesehen, überhaupt, der ganze Mann war schon beeindruckend.«
»Und dennoch hast du ihn einfach so ziehen lassen. Verflixt noch mal, Roberta, wann begreifst du endlich, dass manchmal auch die Frauen die Initiative ergreifen müssen, wenn ein Mann ihnen gefällt? Warum hast du ihn nicht gefragt, ob du ihn, als Schmerzensgeld quasi, zum Essen einladen darfst? Wenigstens seinen Namen und seine Adresse hättest du aus ihm herausquetschen können, und dabei hättest du dir nicht einmal etwas vergeben. Du bist schließlich die Unfallverursacherin, du hättest dir den Namen geben lassen können, um dich abzusichern. Also, mir wäre da schon etwas eingefallen. Und ich hätte mich mit ihm mindestens schon einmal getroffen, und ich hätte bereits mehrfach mit ihm telefoniert.«
Nicki kriegte sich überhaupt nicht mehr ein, und das lenkte sie ein wenig von ihren eigenen Problemen ab.
»Roberta, gescheite Männer gibt es kaum auf dem Markt, und wenn da mal ein gutes Exemplar auftaucht, dann greift man mit beiden Händen zu.«
Ein wenig hatte Nicki recht, Name und Anschrift hätte sie ganz unverbindlich erfahren können. Und dann hätte sie die Chance gehabt, etwas daraus zu machen.
»Nicki, ich bin nicht wie du.«
»Nein, bist du nicht, aber du kannst dich damit nicht andauernd herausreden, sonst findest du niemals einen gescheiten Mann, und ewig allein sein kannst du auch nicht, bei allem Respekt vor deinem Beruf.«
Jetzt schoss ihre Freundin aber deutlich übers Ziel hinaus.
»Nicki, dieser Fremde ist ein toller Typ, aber deswegen ist er doch nicht der Mann fürs Leben. Ich weiß nichts über ihn.«
»Aber er hätte es werden können, zumindest ist er ein Mann, der dir aufgefallen ist, sogar die Farbe deiner Augen hast du behalten. Vielleicht wohnt er ja in der Gegend? Höre dich ein bisschen um, und wenn …«
Roberta unterbrach ihre Freundin.
»Nicki, hör bitte auf. Ich werde den Teufel tun, und ich möchte jetzt über diesen Fremden auch nicht mehr sprechen. Wenn ich geahnt hätte, dass du sofort eine Story daraus machst, hätte ich überhaupt nicht davon angefangen. Komm, lass uns das Thema wechseln. Erzähl mir von Paris. Da möchte ich irgendwann auch wieder einmal hin. An Paris habe ich die schönsten Erinnerungen. Aber vielleicht wäre es heute ganz anders. Damals war ich eine junge, unbeschwerte Studentin.«
»Paris ist auch für jemanden schön, der am Stock geht«, sagte Nicki. »Und von allen Städten, in denen ich beruflich zu tun habe, hat Paris einen besonderen Platz für mich, und das, obschon ich da noch niemals eine Affäre mit einem Mann hatte.«
Roberta lachte.
»Vielleicht liebst du ja Paris deswegen. Es gibt keine unschönen Erinnerungen an einen Mann.«
»Wie zuletzt London. Da bin ich auch immer sehr gern hingefahren. Es ist etwas dran, an dem swinging London. Aber jetzt ist es mir verdorben. London ist immer mit Malcolm Hendersen verbunden, der geglaubt hat, mich kaufen zu können.«
»Nicki, du wusstest nicht, dass er verheiratet ist, und als du dahinterkamst, da hast du dich von diesem Mann getrennt.«
Sie sagte jetzt nicht, dass sie von Anfang an bei diesem Malcolm ein ungutes Gefühl hatte. Das wusste Nicki, und es musste nicht wiederholt werden.
»Nicki, es wird ihn einholen. Das, was dieser Malcolm tut, ist schändlich, einmal der Frau gegenüber, die er gerade anbaggert, und mehr noch seiner Ehefrau, die daheim sitzt, während er deren Geld für seine Amouren ausgibt. So etwas geht niemals gut. Und wenn die Frau dahinterkommt, dann ist sie hoffentlich schlau genug, ihn vor die Tür zu setzen.«
Über dieses Thema wollte Roberta jetzt aber auch nicht mehr in epischer Breite reden, und deswegen erkundigte sie sich: »Wann kommst du mich denn wieder mal besuchen?«
Davon wollte Nicki nun gar nichts wissen.
»Um noch einmal Roberto und seiner schwangeren Frau zu begegnen?«, rief Nicki ganz entsetzt. »Oh nein, ein zweites Mal könnte ich das nicht durchhalten, und der Sonnenwinkel ist nicht groß genug, um sich aus dem Weg zu gehen.«
»Nicki, Ihr seid nicht mit Messern aufeinander losgegangen, sondern habt ein paar höfliche Worte miteinander gewechselt, und als du danach Roberto noch einmal allein getroffen hast, habt ihr euch ausgesprochen.«
Nicki lachte bitter auf.
»Erst einmal hat er mich erwischt, als ich voller Sehnsucht und Verlangen auf den ›Seeblick‹ gestarrt habe, und dann habe ich ihm erzählt, dass ich in den Sonnenwinkel gekommen bin, um für immer bei ihm zu bleiben. Er hat es als Gentleman hingenommen, aber wenn wir uns ein weiteres Mal begegnen, dann muss er denken, dass ich noch immer hinter ihm her bin. Nö, aus den Augen, aus dem Sinn. Und so soll es bleiben.«
Roberta sagte jetzt nichts dazu. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis Nicki ihre Niederlage, und als solches sah sie das Scheitern ihrer Beziehung zu Roberto, überwunden hatte. Und da konnte man ihr eigentlich nur wünschen, dass sie einen neuen Mann kennenlernte. Nicki war schnell entflammbar. Sie war eine intelligente, gut aussehende Frau, sie hatte Charme. Irgendwo musste es noch einen Mann für sie geben, bei dem sie keine Abstriche machen musste. Roberta war sich nämlich nicht sicher, ob Roberto es auf Dauer gewesen wäre. Als Mann schon, aber es standen äußere Dinge im Wege, und das war einmal der Sonnenwinkel, den Nicki schrecklich fand. Einmal hatte sie sich sogar sehr verächtlich darüber geäußert, als sie sagte, sie wolle im Sonnenwinkel nicht tot überm Zaun hängen. Und Robertos Beruf …, da gefiel ihr ganz besonders nicht, dass er in der halben Nacht zum Großmarkt fahren musste, um einzukaufen.
Als Nicki mit diesem Malcolm zusammen gewesen war, da hatte sie nicht an Roberto gedacht und sich erst auf ihn besonnen, als das Andere unschön zu Ende gegangen war.
Liebte Nicki Roberto wirklich so sehr, dass es sie beinahe zerriss, weil er jetzt verheiratet war?
Ganz glauben wollte Roberta es nicht, aber es stand ihr auch nicht zu, sich darüber ein Urteil zu erlauben.
»Wenn du nicht zu mir kommen willst, dann komme ich eben zu dir«, sagte sie, »oder wir treffen uns anderswo. Nur, wenn ich zu dir komme, dann kann es durchaus sein, dass ich meinem Exmann begegne. Mit Max war es so schrecklich, dass ich sagen könnte, ich will ihn nicht mehr sehen.«
»Roberta, das kannst du nicht vergleichen. Du kannst dem Himmel danken, dass du dich von diesem Schmarotzer befreit hast. Du hättest ihn niemals heiraten dürfen, und wenn ich daran denke …«
Es war gute Idee, ihren Ex zu erwähnen, und über Max wollte Roberta nun wirklich nicht sprechen.
»Nicki, lass uns damit aufhören«, bat Roberta. »Es gibt doch wirklich andere Themen als Männer.«
Bei Nicki klingelte es an der Tür, sie entschuldigte sich kurz, um zu öffnen.
Man hörte sie lachen, und sie war bestens gelaunt, als sie ans Telefon zurückkam.
»Bitte, entschuldige mich, Roberta. Wir können morgen miteinander telefonieren. Der Pilot, der die Maschine gelenkt hat, mit der ich aus Paris gekommen bin, besucht mich gerade. Wir hatten in der Lounge in Paris am Flughafen ein sehr nettes Gespräch, das wir jetzt vertiefen wollen.«
Sie beendeten das Gespräch, und Roberta war sich sicher, dass sie sich um ihre Freundin Nicki keine Sorgen machen musste.
Jetzt war es also ein Pilot.
Eines konnte man von Nicki auf jeden Fall lernen. Es war schon unglaublich, wie sie es immer wieder schaffte, sich sofort mit den Männern zu verabreden, die sie interessierten. Doch wollte Roberta das?
Nein, das wollte sie nicht, aber jetzt zu wissen, wer der Fremde mit den schönen blauen Augen war, das würde ihr sehr gefallen.
Sie legte ihr Telefon weg und griff nach einem Roman, der in Island spielte, und bald war sie von der Handlung so sehr gefesselt, dass sie darüber sogar den Fremden vergaß, und das war schon beachtlich.
*
Ricky war unglücklich, weil es zwischen Fabian und ihr nicht mehr so war wie sonst. Und das war ihre Schuld, es war so, seit sie sich in seinem Büro aufgeführt hatte wie eine Furie.
Sie war noch immer der Meinung, dass diese Frau Doktor Klinger hinter Fabian her war wie der Teufel hinter der Seele. Aber Fabian wollte über dieses Thema nicht mehr sprechen.
Auch das war neu, normalerweise diskutierten sie Themen, bis die Köpfe heiß wurden.
Fabian war ihr gegenüber freundlich und nett, doch es fehlte die Herzlichkeit zwischen ihnen, die legte er nur bei den Kindern an den Tag. Den Kindern gegenüber verhielt er sich wie immer. Er war ein hinreißender Papa.
Sollte sie in ein Wespennest gestochen haben, und an ihren Vorwürfen war etwas Wahres dran?
Vielleicht war auch Fabian nicht abgeneigt gegen ein Abenteuer?
Diese Person war eine attraktive Frau, und welchem Mann gefiel es nicht, bewundert zu werden?
Sie und Fabian waren, wenn man so wollte, schon ein altes Ehepaar, da ging man anders miteinander um als in den Werbewochen.
Und wenn man dann auch noch einige wohlgeratene gemeinsame Kinder hatte, verschoben sich die Prioritäten noch mehr.
Ricky nahm es beinahe den Atem, als sie sich das verinnerlichte – Fabian und diese Frau!
Fabian war ein verantwortungsbewusster Mann. Ricky glaubte nicht, dass er sie und die Kinder verlassen würde. Aber eine kleine, heiße Liebesgeschichte so nebenbei?
Ein solcher Gedanke war geradezu unerträglich für sie, zumal sie sicher war, dass diese Klinger sich sofort darauf einlassen würde.
Oder lief da schon etwas?
Früher hatte sie mehr oder weniger über jeden Schritt ihres Mannes Bescheid gewusst. Seit diesem Eklat in seinem Büro erfuhr sie nicht mehr alles.
Vielleicht erfuhr sie es nicht, weil es da keine Konferenzen gab, sondern heiße Schäferstündchen?
Nein!
So wollte sie nicht denken, denn so etwas war Gift für eine Beziehung, ein Gift, das sich immer mehr ausbreitete, bis alles vergiftet war.
Nicht ihr Fabian!
Oder doch?
Er war schließlich auch nur ein Mann!
Ricky blickte auf die Uhr.
Wo blieb er denn heute?
Er hätte längst daheim sein müssen!
Am liebsten hätte sie ihn angerufen, und es kostete sie einige Überwindung, es nicht zu tun.
Bei Fabian und ihr war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Seit sie sich kannten, waren sie so eng miteinander, dass kein Blatt Papier zwischen sie passte. Sie waren Liebende, Komplizen, Vertraute, und sie waren Eltern, die für jedes ihrer so sehr geliebten Wunschkinder da waren.
Das konnte Fabian nicht vergessen haben!
Nein, das gab es nicht.
Doch es gab auch das große Aber …
Warum war er so anders geworden, seit sie in seinem Büro die Szene hingelegt hatte?
Er kannte sie, und deswegen kannte er auch ihr Temperament. Es hatte immer mal Ausbrüche gegeben, und da hatte sie meistens lachend in die Arme genommen. Nun ja, da war es nicht um eine attraktive Frau gegangen, die nichts anderes im Sinn hatte, als sich Fabian um jeden Preis zu schnappen.
Sollte sie ihn zur Rede stellen?
Sollte sie ihm sagen, dass es so nicht weiterging?
Sie hatte ja versucht, mit ihm zu reden, doch da hatte er jedes Mal abgewunken und ihr zu verstehen gegeben, dass er über dieses Thema nicht mehr sprechen wollte.
Es machte keinen Sinn, weiter darüber nachzudenken, sie drehte sich im Kreis, und je länger sie grübelte, umso mehr sah sie Fabian und diese Frau, und jetzt war es beinahe schon so weit, dass sie sich sagte, dass alles möglich war. Wenn sie es geschickt anstellte, würde er ganz seinen Verstand verlieren, und eine attraktive Frau, die sich womöglich auf allerlei verstand, was einen Mann anmachte, die war auf jeden Fall attraktiver als eine Mutter seiner Kinder, die man in- und auswendig kannte und die nicht viel Neues zu bieten hatte, die nicht das siebte Glockenspiel beherrschte.
Wäre sie an diesem verhängnisvollen Tag bloß nicht in sein Büro gegangen!
Hätte sie doch bloß ihren Mund gehalten!
Hätte sie das getan, dann wäre sie nicht sie. Ricky konnte sich einfach nicht verstellen, und sie war ein intuitiver Mensch. Es war nicht zu übersehen gewesen, dass diese Person hinter Fabian her war, und was hätte sie dann tun sollen?
Nichts?
Nein, das ging überhaupt nicht.
Ricky war ratlos. Sie blickte zum gefühlten hundertsten Male auf ihre Armbanduhr.
Fabian hätte längst daheim sein müssen. Da stimmte etwas nicht. Wenn sie nur wüsste, wo diese Person wohnte! Aber vielleicht war es gut so, dass sie es nicht wusste, denn für sich konnte sie nicht garantieren. So, wie sie jetzt drauf war, würde sie zu Frau Doktor Klinger fahren und ihr noch einmal ganz gehörig die Meinung sagen.
Ricky zuckte zusammen, als sie hörte, wie draußen im Flur ein Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde, jemand hereinkam.
Fabian?
Sie hielt den Atem an. Ja, er war es. Sie erkannte es an seinen dynamischen Schritten.
Vielleicht war es ja doch eine Konferenz, die länger gedauert hatte. Wie gern wollte sie das glauben.
Obwohl es ein wenig albern war, setzte sie sich ordentlich hin, Beine nebeneinander, gerade aufgerichtet, Hände im Schoß gefaltet.
Wäre sie innerlich nicht so angespannt, hätte sie jetzt eigentlich lachen müssen. Sie kam sich vor wie ein Schulmädchen, das darauf wartete, eine wichtige Klassenarbeit zurückzubekommen.
Ricky hörte etwas rascheln, das sich wie das Rascheln von Papier anhörte, doch als Fabian ins Zimmer trat, kam er mit leeren Händen. Wer weiß, was sie da gehört hatte.
»Tut mir leid, Ricky. Es ist ein bisschen später geworden«, sagte er.
Ricky konnte sich nicht verkneifen zu fragen: »Hatte Frau Doktor Klinger wieder ein nicht lösbares Problem?«
Am liebsten hätte sie sich jetzt auf die Zunge gebissen. Die Situation war verfahren genug, warum hielt sie denn nicht ihre Klappe, sondern goss noch mehr Öl ins Feuer.
Sie wagte nicht, ihren Mann anzusehen, das tat sie allerdings doch, als sie ihn beinahe sanft sagen hörte: »Nein, Frau Doktor Klinger ist krank geschrieben. Und sie hat übrigens auch einen Versetzungsantrag gestellt.«
Seiner Stimme war es zwar nicht anzuhören, doch wollte er ihr das etwa auch anlasten?
Sie blickte ihn an, holte tief Luft, um heftig etwas zu erwidern, als sie bemerkte, dass er lächelte. Mit wenigen Schritten war er bei ihr, setzte sich neben sie, nahm sie liebevoll in die Arme.
»Es tut mir ja so leid, Ricky. In Zukunft werde ich auf dich hören, statt mich aufzuregen. Dein Ausbruch hat mir keine Ruhe gelassen, und ich habe Nachforschungen angestellt. Frau Doktor Klinger scheint wohl ein Faible für ihre Vorgesetzten zu haben. Sie war bereits vorher an zwei Gymnasien, an denen sie sich an die Direktoren herangemacht hat, an einem dritten Gymnasium hatte sie Erfolg, und es ist ihr gelungen, eine Ehe auseinanderzubringen. Aber es hat ihr kein Glück gebracht, der Kollege hat sie verlassen. Ich gebe ja zu, dass es mir geschmeichelt hat, von ihr angeschmachtet zu werden wie ein Filmstar, doch ich hielt es für harmlos.
Erst meine Recherchen haben mir die Augen geöffnet. Ricky, du bist die Frau meines Lebens, du bist mein ganzes Glück, ich würde dich nie betrügen. Ich war nur sauer auf dich, weil ich mich durch dich bloßgestellt fühlte. Immerhin hast du die Szene in meinem Büro abgezogen, vor meinen Augen und in Gegenwart einer Kollegin. So etwas geht überhaupt nicht, das untergräbt meine Autorität. Aber immerhin hat es mich wachgerüttelt. Und ich bitte dich, mir zu verzeihen, und ich …«
Er brach seinen Satz ab, ging hinaus, und kurz darauf kam er wieder mit einem großen Strauß wunderschöner roter Rosen.
»Ricky, ich liebe dich, und daran wird sich niemals etwas ändern. Ich war dämlich, aber sag mir jetzt einfach, dass du mir verzeihst.«
Eben noch ein schwarzer Himmel voller Gewitterwolken, und jetzt ein blauer Himmel voller tanzender Schäfchenwolken. So kam es Ricky vor.
Sie hatte sich umsonst gesorgt, Fabian blieb ihr treu, und er liebte sie. Das allein war es, was zählte, und deswegen hielt sie jetzt auch den Mund und sagte ihm nicht, dass sie es gewusst hatte, dass mit dieser Person etwas nicht stimmte.
Worte waren augenblicklich so unnötig wie ein Kropf. Sie glaubte zu träumen, und Ricky wusste, was sie zu tun hatte. Sie schlang ihre Arme um den Hals ihres Mannes, und dann küssten sie sich, als gäbe es kein Morgen.
Ricky hatte es ja immer gewusst: Sie, Fabian und ihre aufgeweckten Kinder bildeten im Grunde eine der harmonischsten Familien, die man sich denken konnte. Das Leben war wie ein wunderschönes Märchen.
Für sie alle war heute ein unglaublicher Tag. Es waren Ostern und Weihnachten zugleich, vielleicht auch noch Pfingsten und die Sommerferien.
Zwischen Fabian und ihr war die Welt wieder in Ordnung. Er liebte sie, dazu hätte es der roten Rosen nicht bedurft. Aber schön waren sie, wunderschön, und welche Frau wurde bei roten Rosen nicht schwach. Sie waren nun mal das Zeichen einer großen Liebe.
Sie hätte jetzt triumphieren können, dass sie es gewusst hatte, sie hätte jetzt vor Freude tanzen können, weil es am Gymnasium diese Person bald nicht mehr geben würde.
Ricky tat nichts davon.
Sie war einfach nur froh und glücklich, dass mit ihrem Fabian wieder alles in Ordnung war. Ab sofort passte wie früher schon kein Blatt Papier zwischen sie. Und so sollte es auch sein.
Fabian setzte sich wieder neben sie, nahm sie in seine Arme und flüsterte: »Die wunderbarste Frau auf der ganzen Welt muss ich jetzt sehr dringend küssen.«
Diesen Worten ließ er sofort Taten folgen, und Ricky hatte überhaupt nichts dagegen, im Gegenteil! Schöner als jetzt konnte das Leben wirklich nicht sein.
*
Seit Cecile in ihr Leben getreten war, hatte Rosmarie Rückert sich sehr verändert, und das im positiven Sinne. Niemand, vor allem sie selbst nicht, hätte für möglich gehalten, dass es da noch eine Steigerung geben könnte.
Die gab es!
Und daran war Beauty schuld, die wunderschöne kleine Beaglehündin, die sie aus dem Tierheim geholt hatte.
Beauty hatte es geschafft, dass ihr Leben eine solche Kehrtwendung genommen hatte, die ihr richtig den Atem nahm.
Alles hatte sich verändert, nichts zählte mehr. Es musste eine andere Frau gewesen sein, die die Schönheitschirurgen aufgesucht hatte, und die Schmuck gekauft hatte, als würde in der nächsten Zeit das Gold knapp. Und all die Designerkleidung, die Designerschuhe.
Es war nicht zu glauben, und Rosmarie hätte es niemals für möglich gehalten. All das brauchte sie nicht mehr. Wenn sie mit Beauty durch die Felder und Wälder lief, brauchte sie zweckmäßige Kleidung und bequeme Schuhe, und Schmuck? Den brauchte sie auch nicht, da reichten ihr Ehering und eine Armbanduhr, und das musste auch keine mit Brillanten verzierte sein, da tat es eine praktische Sportuhr. Die hatte noch einen weiteren Vorteil, die Ziffern waren größer, und sie hatte keine Mühe, sie zu erkennen, das war etwas, was mit zunehmendem Alter immer schwieriger wurde.
Statt Juweliere und Nobelboutiquen unsicher zu machen, ging Rosmarie viel lieber ins Hohenborner Tierheim des Tierschutzvereins, dort gab es immer etwas zu tun, und die Leiterin, Frau Doktor Fischer, war froh über jede helfende Hand. Rosmarie half ihr, und das machte sogar sehr viel Spaß. Sie war glücklich, wenn sie in dankbare Hundeaugen sah, oder wenn es ihr gelang, ein verschrecktes Kätzchen wieder zutraulich werden zu lassen.
Sie unterstützte das Tierheim auch finanziell, aber mittlerweile wollte Heinz nichts mehr herausrücken, weil er der Meinung war, dass sie übertrieb. Wenn er nur ein einziges Mal mitkäme, könnte er sehen, dass es im Tierheim an allem fehlte. Das wollte Heinz um keinen Preis, und Rosmarie konnte eigentlich schon froh sein, dass er sich mit Beauty als vierbeiniger Hausgenossin abgefunden hatte. Er war mit Beauty sogar hier und da schon einmal um den Block gelaufen. Aber sie war auch ein so reizendes Tierchen, sie war wunderschön, und sie wurde immer zutraulicher und begann das Vertrauen in die Menschen wieder zu gewinnen. Und das machte Rosmarie sehr, sehr stolz.
Das Tierheim brauchte dringend einen neuen Außenkäfig, weil es für die Tiere immer enger wurde und man nicht alle frei herumlaufen lassen konnte.
Aber woher das Geld?
Rosmarie gab, was sie konnte, und auch Teresa von Roth war unermüdlich. Rosmarie war so froh, dass sie und Teresa sich immer besser verstanden, sie war aber auch eine ganz besondere Frau, und deswegen freute Rosmarie sich am meisten darüber, dass sie in Teresas Achtung so sehr gestiegen war. Das war ihr sehr wichtig. Und das war auch etwas, was sich bei Rosmarie verändert hatte. Früher, als nur die Äußerlichkeiten für sie wichtig gewesen waren, hatte sie manchmal über die von Roths und die Auerbachs ein wenig geringschätzig gelächelt. Mittlerweile wusste sie, dass deren Art zu leben die richtige war.
Was hatte sie denn von all diesen Klamotten, den Stilettos, mit denen man sich die Beine brechen konnte. Und der viele Schmuck, da konnte man mit beiden Händen hineinlangen und konnte noch immer nicht alles fassen.
Aus ihrer heutigen Sicht heraus war sie in all den Jahren verrückt gewesen.
Wie hatte sie nur mit vollen Händen das Geld so herauswerfen können.
Warum war ihr niemals zuvor in den Sinn gekommen, dass man so viel Gutes tun konnte, was letztlich zufriedenstellender war, als seine eigenen Bedürfnisse zu erfüllen? Wie war es denn immer gewesen? Kaum hatte sie das Objekt ihrer Begierde, was immer es auch gewesen war, daheim gehabt, hatte sie eigentlich ihr Interesse daran verloren und hatte schon Ausschau nach dem Nächsten gehalten.
Sie war doch nicht blöd?
Warum war sie nicht schon früher einsichtig gewesen? Mussten erst Cecile und Beauty in ihr Leben kommen, damit sie einen Schalter in sich umknipste?
Ihr Verhältnis zu Fabian und Stella war noch immer grenzwertig, aber kleine Lichtblicke zeichneten sich ab, und darüber konnte sie froh sein. Man konnte in ein paar Monaten nicht gutmachen, was man in vielen Jahren versäumt hatte.
Sie schämte sich, wenn sie daran dachte, welch grottenschlechte Mutter sie doch gewesen war.
Und als Großmutter taugte sie auch nicht viel. Da galt es ebenfalls, Vertrauen zu gewinnen.
Aber Kinder spürten natürlich, wenn ihre Eltern mit ihren Enkeln distanziert umgingen. Da war es selbstverständlich, dass sich die Enkel auch zurückhielten.
Die Herzlichkeit, die es mit den Auerbachs gab, hatte sie bei keinem ihrer Enkelkinder auch nur ansatzweise verspürt. Aber da war sie wirklich hoffnungsfroh, dass sich das ändern ließe. Kinder vergaßen sehr schnell, und sie änderten ihre Meinung rasch, und eines wusste Rosmarie, sie hatte eine Trumpfkarte, und das war Beauty. Alle ihre Enkelkinder waren jetzt bereits ganz vernarrt in Beauty.
Aber darum ging es jetzt nicht.
Rosmarie brauchte ganz dringend Geld für das Tierheim. Von Heinz war nichts mehr zu bekommen. Und sie konnte nicht immerfort die Konten anzapfen, da hatte sie ein schlechtes Gewissen, sie wollte ihren Mann nicht hintergehen. Heinz war sehr großzügig, und er hatte überhaupt nichts dagegen, wenn sie Geld für sich ausgab, aber bei dem Tierheim, da machte er irgendwie dicht, dabei bekam er doch immer eine Spendenquittung, auf die er so scharf war.
Rosmarie trank ihren Kaffee, blickte versonnen auf ihre kleine Schönheit, ein Beagle war wirklich ein besonderes Tier, zumindest empfand sie das so. Beauty lag zu ihren Füßen und spielte hingebungsvoll mit einem quietschenden Hot-Dog aus Plastik. Sie hatte so viel Spaß damit, versuchte es immer wieder, schreckte bei dem Quietschen zurück, um erneut damit zu beginnen.
Beauty war ein junges, verspieltes Tier. Sie hatte ihr Leben wirklich sehr verändert, dachte Rosmarie, sie konnte es noch immer nicht richtig glauben, aber es war so.
Was war aus diesem scheuen Tier aus dem Heim geworden! Beauty war nicht wiederzuerkennen. Aber es war so. Es war kaum zu glauben.
Es könnten so viele Tiere ihre Chance bekommen, statt von Züchter zu Züchter zu laufen, sollten sich die Leute erst einmal in den Tierheimen umsehen. Da konnte jeder etwas finden. Und wenn man nach Hause ging, da hatte man nicht nur einen Hund, sondern man hatte das Gefühl, etwas Gutes, etwas Sinnvolles getan zu haben.
Es musste etwas geschehen!
Rosmarie stand auf, normalerweise folgte Beauty ihr, augenblicklich allerdings war es spannender für Beauty, mit ihrem Hot-Dog zu spielen. Das war vielleicht sogar ganz gut, denn die kleine Hundedame wollte immer ihre ganze Aufmerksamkeit haben, und die brauchte Rosmarie für etwas anderes.
Dass etwas geschehen musste, dieser Gedanke setzte sich immer mehr in ihr fest. Und sie hatte auch schon eine Idee.
Der meiste Schmuck von ihr befand sich in einem Banksafe, aber sie hatte noch eine ganze Menge bei sich zu Hause.
Sie hatte sich Schmuck gekauft wie andere Frauen Tüten mit bunten Smarties. Der Unterschied zwischen ihnen war, dass die Smarties gegessen wurden, während der meiste Schmuck von ihr ungetragen in einer Schmuckschatulle landete.
Rosmarie holte die Schatullen aus dem Safe, breitete alle Schmuckstücke auf einem Tisch aus. An die meisten Stücke konnte sie sich überhaupt nicht mehr erinnern. Sie hatte wirklich alles zusammengekauft, was glänzte und blinkte. Da hatte Fabian schon recht, als er ihr einmal vorgeworfen hatte, dass sie alles kaufte, wenn es nur ordentlich blinkte. Und wenn es teuer war.
Damals hatte es sie wütend gemacht, aber es traf zu.
Es war doch nicht normal, Schmuck zu kaufen, um ihn dann wegzupacken.
War sie von Sinnen gewesen?
Das musste wohl so sein.
Rosmarie setzte sich, dann begann sie alles zu sortieren, und das nahm ganz schön viel Zeit in Anspruch.
Im Grunde genommen musste alles weg, aber so viel konnte sie auf einmal nicht verkaufen, das würde die Kasse eines jeden Juweliers sprengen. Außerdem musste sie erst einmal herausfinden, wie so etwas überhaupt ging.
Sie kannte sich aus im Kauf von Schmuck, Schmuck zu verkaufen, das war neu für sie, und ehrlich gesagt, wusste sie nicht so recht, wie man so etwas machte.
Wo ging man da eigentlich hin?
Zu einem Juwelier?
In ein Pfandhaus?
Rosmarie hatte keine Ahnung, doch sie würde es schon herausfinden. Sie brauchte das Geld für einen guten Zweck, und um an das zu kommen, war ihr jedes Mittel recht.
Sie packte den Schmuck in ihre Handtasche, und sie wunderte sich, wie leicht ihr das fiel. Das war auf jeden Fall ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er ihr wirklich nichts bedeutete. Dabei hatte sie doch bei jedem Stück, ob nun Ring, Armband, Kette oder Anhänger, das Gefühl gehabt, ohne es nicht mehr leben zu können.
Es war schrecklich, erkennen zu müssen, was für eine grässliche Person sie doch gewesen war.
Sie rief Meta, ihre treue Seele, bat sie, auf Beauty aufzupassen, dann verließ sie die Villa, in der sie sich auch längst nicht mehr wohlfühlte. Die war als Nächstes dran. Aber es war schwierig, in einem kleinen Ort wie Hohenborn einen solchen Palazzo Prozzo an den Mann zu bringen, wie ihr Sohn Fabian immer sagte.
Jetzt ging es um etwas anderes. Sie konnte nicht auf einen Streich all ihre Fehlentscheidungen der letzten Jahre, eigentlich ihres ganzen Lebens, seit sie verheiratet war, rückgängig machen.
Da hätte sie viel zu tun, und alles auf einmal ging eh nicht.
Aber sie war auf einem guten Weg, und das war schon mal etwas. Rom war schließlich auch nicht an nur einem Tag erbaut worden.
Beauty spielte noch immer ganz vergnügt mit ihrem Hot-Dog. Sie bemerkte Rosmarie überhaupt nicht. Und so ging diese mit dem beruhigenden Gefühl, dass Meta sich schon kümmern würde, sollte Beauty irgendwann einmal von ihrem Spielzeug ablassen. Im Augenblick sah es nicht danach aus. Rosmarie hatte im Überschwang eine ganze Menge von Spielzeug für Beauty gekauft, mit diesem Hot-Dog hatte sie auf jeden Fall einen Treffer gelandet, dabei hatte sie ausgerechnet dieses Teil nicht kaufen wollen. Sie hatte sich von der Verkäuferin in der Zoohandlung regelrecht beschwatzen lassen. Insgeheim tat sie Abbitte, und sie nahm sich fest vor, der Verkäuferin zu erzählen, dass es eine gute Empfehlung war. Lob, wem Lob gebührte!
Sie freute sich doch auch, wenn Frau Doktor Fischer oder Teresa von Roth sie lobten. Da waren alle Menschen gleich. Für Lob war jeder empfänglich.
*
Der Juwelier Tellkamp war weit über die Grenzen Hohenborns bekannt. Man kam hierher, wenn man etwas Besonderes, etwas Exklusives, aber auch entsprechend Teures kaufen wollte.
Der schwarze Granitfußboden, die Einrichtung aus gebürstetem Edelstahl und die teuren französischen Tapeten an den Wänden verliehen dem Laden eine besondere Exklusivität, und so mancher fragte sich, wie es so etwas in Hohenborn geben konnte. Man fand Juweliere dieser Art kaum in den Großstädten.
Die Rechnung von Herrn Tellkamp war auf jeden Fall aufgegangen. Die Immobilienpreise in Hohenborn waren erschwinglich. In den Großstädten zahlte man ein Vielfaches, die Konkurrenz war größer. Er konnte also mit seinem florierenden Geschäft sehr viel mehr Gewinn einstreichen.
Bislang war das Geschäft für Rosmarie so etwas wie ihr zweites Wohnzimmer gewesen. Sie durfte nicht darüber nachdenken, wie viel Geld sie da schon gelassen hatte.
Als sie vor dem Laden ankam, entdeckte sie auf dem firmeneigenen Parkplatz einige Luxuslimousinen und andere Nobelkarossen. Die meisten von ihnen hatten Kennzeichen, die nicht aus der näheren Umgebung waren.
Rosmarie zögerte einen Augenblick ins Geschäft zu gehen. Es war eine andere Situation als sonst. Dann erinnerte sie sich, dass es doch für einen guten Zweck war. Teresa von Roth hatte kein Problem damit, von Haus zu Haus zu wandern und Spenden für das Tierheim zu erbitten. Sie wollte keine Spende, sie wollte Gold zu Geld machen, und das würde für Herrn Tellkamp gewiss ein gutes Geschäft sein, denn ihr war schon klar, dass sie nicht das von ihm bekommen würde, was er ihr abgenommen hatte.
Entschlossen drückte Rosmarie die bronzene Klinke herunter, die einen Löwenkopf darstellte.
Das Geschäft war ziemlich groß, und es war so gestaltet, dass die Kunden unbehelligt voneinander ihre Auswahl treffen konnten, ohne von anderen Leuten argwöhnisch oder neugierig betrachtet zu werden.
Der Chef selbst war frei und kam mit ausgebreiteten Armen auf Rosmarie zugelaufen, umarmte sie freudig.
»Verehrte gnädige Frau, herzlich willkommen. Ich freue mich ja so sehr, Sie begrüßen zu dürfen«, rief er überschwänglich. »Und wie bezaubernd Sie wieder aussehen. Sie werden immer jünger, meine Liebe. Und dieses taupefarbene Ensemble steht Ihnen ganz ausgezeichnet.«
Es war übertrieben, und Rosmarie war peinlich berührt.
Dabei war es immer so gewesen, und sie hatte sich von ihm mit seinen plumpen Komplimenten hofiert gefühlt. War sie deswegen wie eine Geistesgestörte in seinen Laden gerannt und hatte die Kreditkarte glühen lassen?
Er führte sie zu einem ein wenig abseits stehenden Counter, der für besondere Kunden reserviert war. Das wusste Rosmarie, schließlich war es ihr Stammplatz.
Er bot ihr galant Platz an, winkte jemanden herbei, um ihr Champagner bringen zu lassen, dann flötete er: »Meine Verehrteste, ich habe da ein ganz besonderes Schmuckstück, wie für Sie gemacht. Ich bin überzeugt davon, dass Sie dem nicht widerstehen werden.«
Oh Gott!
Es war seine Masche, und sie war immer darauf hereingefallen, hatte sich geschmeichelt gefühlt, dabei ging es diesem Mann nicht um sie, sondern nur um ihr Geld, und das hatte sie ihm für ein paar schale Komplimente bereitwillig gegeben.
Rosmarie räusperte sich.
»Herr Tellkamp, ich bin heute nicht hier, um bei Ihnen etwas zu kaufen.«
Sein Interesse ließ sofort nach.
»Nicht?«
»Nein, ich möchte Ihnen ein paar Schmuckstücke zum Rückkauf anbieten, die ich bei Ihnen erworben, aber nie getragen habe.«
Er hüstelte, fasste nervös an seine Brille. Ihm war anzusehen, dass er mit so etwas nicht gerechnet hätte, doch nicht bei dieser Kundin. Wieso wollte sie etwas verkaufen? Er hatte doch gerade gestern erst gehört, dass Notar Rückert wieder ein paar lukrative Beurkundungen gemacht hatte und dafür saftige Honorare eingestrichen hatte. Am Geld konnte es nicht liegen.
Ein Rückkauf?
Er würde alles tun, das zu verhindern, vielleicht konnte er ja eintauschen und kam mit einem blauen Auge davon.
Ehe er etwas sagen konnte, holte Rosmarie alle Schmuckstücke aus ihrer Tasche, legte sie nebeneinander hin. Sie waren alle wunderschön, edel, an keinem war etwas auszusetzen, und Juwelier Tellkamp erinnerte sich, dass es besonders schöne Schmuckstücke waren.
Erwartungsvoll blickte Rosmarie den Juwelier an.
»Hm, ja … Verehrteste, warum wollen Sie diese Teile verkaufen? Eines ist schöner als das andere, und jedes ist in der Tat wie für Sie gemacht. Unvorstellbar, so etwas an einer anderen Frau zu sehen.«
Sie fiel auf so etwas nicht mehr herein. »Herr Tellkamp, ich habe noch sehr viel anderen Schmuck, und bei diesen Stücken habe ich mich verkauft, sonst hätte ich sie ja getragen. Ich möchte sie verkaufen, weil ich das Geld brauche.«
Ging es den Rückerts doch nicht so gut, wie allgemein angenommen wurde?
»Ich …, äh …, ich möchte nicht neugierig erscheinen, doch darf ich fragen, wofür Sie das Geld benötigen?«
Es machte Rosmarie nichts aus, es ihm zu sagen, ganz im Gegenteil.
»Ich will es dem Tierheim spenden, dort braucht man sehr viel Geld, und Sie können auch etwas Gutes tun und etwas spenden, jeder Euro zählt. Und selbstverständlich bekommen Sie eine Spendenbescheinigung.«
Juwelier Tellkamp starrte seine Kundin an, als sei aus ihr plötzlich eine Märchenerzählerin geworden.
Tierheim?
Frau Rückert engagierte sich für das Tierheim?
Das ging doch überhaupt nicht.
Er blickte sie an, und an ihrem Gesichtsausdruck sah er, dass es ihr ernst war. Wie sollte er sich verhalten? Hatte er sie endgültig als Kundin verloren, weil sich ihre Interessen offensichtlich geändert hatten? Dann musste er keine Rücksicht nehmen! Aber es konnte sich auch nur um einen vorübergehenden Spleen handeln. Das hatten reiche Frauen manchmal, weil sie mit sich nichts anzufangen wussten. Dann konnte er darauf hoffen, dass sie wiederkommen würde, um ihr Geld beidhändig auszugeben. Und das durfte er sich nicht verscherzen. Verflixt, es war eine blöde Situation.
»Wie großzügig von Ihnen, meine Gnädigste«, sagte er, eine Spende erwähnte er lieber nicht.
Artur Tellkamp war ein Mann, der lieber das Geld einnahm anstatt es auszugeben.
Er sollte sich nicht mit der Vorrede aufhalten.
»Das Tierheim braucht dringend Geld, also, was bekomme ich für den Schmuck?«
Sie wollte wirklich verkaufen!
Er kannte jedes der Stücke, aber er tat so, als müsse er sich alles genau ansehen. Was sollte er tun? Er hatte keine Lust, einen Batzen Geld für eine spinnerte Idee hinzulegen. Also wirklich, diese reichen Frauen kamen manchmal auf Ideen. Geld für ein Tierheim!
»Herr Tellkamp, ich warte.«
Sie wurde ungeduldig, und das war für ihn ein Zeichen, sie nicht länger hinzuhalten.
»Also, es sind ausnehmend schöne Stücke, aber der Geschmack der Zeit ändert sich in Windeseile.«
So sollte er ihr nicht kommen.
»Herr Tellkamp, was hier auf dem Tisch liegt, haben Sie mir als Designerstücke verkauft, die immer in Mode sein werden, und nun sollen sie nicht mehr dem Zeitgeschmack entsprechen?«
Wie dumm, manchmal redete er sich um Kopf und Kragen, um etwas an den Mann zu bringen. Er überschlug die Summen im Kopf, und es schmerzte ihn, wenn er bedachte, welchen Gewinn er abschreiben konnte. Das ging nun überhaupt nicht.
»Sie sind eine gute Kundin, und deswegen möchte ich Ihnen entgegenkommen.«
Er nannte ihr einen Betrag, und Rosmarie glaubte, sich verhört zu haben. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie auf seine Worte reagieren konnte.
»Herr Tellkamp, es ist nicht einmal der Goldpreis, was Sie mir da geben wollen.«
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, packte sie alle Schmuckstücke wieder zusammen.
»Meine Liebe, was tun Sie da?«
Sie stand auf.
»Herr Tellkamp, ich habe Sie bislang für einen seriösen Geschäftsmann gehalten, Ihr Angebot zeigt mir, wie sehr ich mich in Ihnen getäuscht habe, und natürlich stellt sich mir jetzt auch die Frage, ob der Schmuck, den man bei Ihnen kauft, seriös kalkuliert ist. Mich sehen Sie auf jeden Fall hier nicht wieder, und Reklame für Ihr Unternehmen kann ich reinen Gewissens auch nicht mehr machen. Schade, dass es so enden muss.«
Dass es eh geendet hätte, weil sie keine Lust mehr dazu hatte, sich mit Schmuck zu behängen, musste sie ihm ja nicht sagen. Rosmarie machte zwar einen großen Wandel durch, was die Dinge des Lebens betraf. Ihr Verstand hatte darunter jedoch nicht gelitten. Sie mit einem Betrag abfinden zu wollen, der deutlich unter dem handelsüblichen Schätzpreis lag, das war schlichtweg eine Unverschämtheit.
Artur Tellkamp sah seine Felle davonschwimmen, und er war wütend auf sich selber. Warum hatte er in seiner Gier auch so maßlos übertrieben.
»Verehrte gnädige Frau, ich …«
Rosmarie unterbrach ihn brüsk.
»Ich bin nicht die verehrte gnädige Frau, sondern ich bin Rosmarie Rückert, und die hat es nicht nötig, sich von einem windigen Juwelier übers Ohr hauen zu lassen.«
Sie hatte so laut gesprochen, dass man es ringsum auch hören konnte, aber das war ihr egal.
Nicht einmal den Goldpreis wollte er ihr zahlen!
Das war schlichtweg eine Unverschämtheit, es machte ihr jedoch auch ganz deutlich klar, was er von ihr hielt. Wäre sie in seinen Augen nicht eine hirnlose Schickse, hätte er ihr niemals dieses enttäuschende Angebot gemacht.
Er versuchte sie zurückzuhalten, doch Rosmarie schüttelte ihn ab wie ein lästiges Insekt.
Sie stürmte aus dem Laden, als sei der Leibhaftige hinter ihr her, und sie musste erst einmal ein Stück laufen, ehe sie sich beruhigte.
Was nun?
Hier in Hohenborn hatte es keinen Sinn, in die beiden anderen kleinen Läden zu gehen. Dort verkaufte man preiswerten Schmuck und hielt sich in erster Linie vermutlich durch den Verkauf von Batterien und Armbänder für die Uhren über Wasser.
Es half nichts, dann musste sie eben in die nahegelegene Großstadt fahren.
Eines hatte sich bei Rosmarie nicht verändert, wenn sie etwas wollte, dann zog sie es auch durch, und das am liebsten sofort.
Sie hatte keine Lust, jetzt nach Hause zu laufen, um ihr Auto zu holen.
Wäre sie noch die alte Rosmarie, dann würde sie sich jetzt ein Taxi rufen und damit, koste es, was es wolle, in die Stadt fahren.
Mittlerweile dachte sie anders.
Für das Geld, das die Fahrt mit dem Taxi kostete, konnte man gut und gern mehrere Dosen Hundefutter kaufen für die Tiere, die an Trockenfutter nicht gewöhnt waren.
Es gab zwei Möglichkeiten, Bus oder Bahn.
Es war nicht schwierig, hier eine Entscheidung zu treffen, denn gerade als sie den Marktplatz überqueren wollte, hielt direkt vor ihr der Bus, mit dem sie in die Stadt fahren konnte.
Wenn sie nicht so wütend wäre, hätte sie jetzt angefangen zu lachen, zu komisch war die Vorstellung für sie, dass sie mit dem Bus in die Stadt fahren würde. Hoffentlich sah das keiner, man würde sich sonst sehr wundern!
Bislang war es für Rosmarie unvorstellbar gewesen, kein Auto zu haben, und die armen, armen Menschen, die auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen waren, hatten ihr sehr leidgetan.
Jetzt saß sie selbst in einem Bus, und so schlimm war das gar nicht.
*
Offensichtlich waren die meisten Juweliere Schlitzohren, oder aber sie waren knapp bei Kasse.
Sie war mit ihren teuren Designerstücken bereits in drei Läden gewesen. In einem Laden war man an einem Ankauf nicht interessiert, im anderen Laden bot man ihr an, die Schmuckstücke in Kommission zu nehmen, und der dritte Laden taugte auch nichts, denn dort wollte man zwar kaufen, doch das Angebot war nicht viel besser als das von Tellkamp.
Rosmarie hätte nicht für möglich gehalten, dass es so schwierig war, Schmuck zu verkaufen.
Aber noch gab sie nicht auf!
Erst einmal wollte sie sich allerdings ein wenig stärken, und sie wollte wenigstens einen Kaffee oder einen Tee trinken, und deswegen steuerte sie ein kleines Café an, das sie auf der anderen Seite eines Platzes entdeckt hatte und das einen guten Eindruck machte.
Sie überquerte den Platz, auf dessen Mitte munter ein Springbrunnen plätscherte.
Sie konnte sich vage erinnern, irgendwann bereits einmal hier gewesen zu sein, und sie erinnerte sich, dass es auf dieser Straße einige gute Geschäfte gab. An einen Juwelier konnte sie sich allerdings nicht erinnern, aber das mochte durchaus daran liegen, dass sie immer nur auf Läden wie das von Tellkamp fixiert gewesen war.
Rosmarie hatte ihren Gedanken noch nicht einmal zu Ende gebracht, als sie, ganz in unmittelbarer Nähe des Cafés ein kleines, feines Juweliergeschäft entdeckte. Es besaß nur ein Schaufenster, doch was in der Auslage zu sehen war, gefiel Rosmarie. Wäre sie mittlerweile nicht anderweitig interessiert, hätte ihr das eine oder andere Schmuckstück durchaus gefallen können. Die Preise lagen weit unter denen, die sie gewohnt war. Machte es überhaupt Sinn, in den Laden zu gehen?
Rosmarie zögerte, doch eine innere Stimme sagte ihr, es zu versuchen. Sie vergaß, dass sie eigentlich etwas trinken wollte, sondern ging in das Geschäft hinein. Es war auch von innen ziemlich klein, aber es war geschmackvoll eingerichtet.
Hinter der Theke stand ein älterer schlanker Mann mit eisgrauen Haare, und Rosmarie sah, dass er an einer Armbanduhr ein neues Band anbringen wollte. Als er die Kundin bemerkte, legte er seine Arbeit sofort beiseite und begrüßte sie freundlich.
Hier war sie falsch. Sie holte gar nicht erst ihre Schmuckstücke heraus, sondern erkundigte sich beinahe zaghaft: »Kaufen Sie auch Schmuck auf?«
Er musterte sie interessiert, aber auch ein wenig neugierig, ehe er sagte: »Es kommt darauf an.«
Er war nett, und warum sollte sie es nicht versuchen?
Sie riskierte doch nichts.
Rosmarie packte ihren Schmuck aus, legte ihn auf die Theke, dann sah sie den Mann erwartungsvoll an. Der gab nicht sofort sein Urteil ab, sondern sah sich alle Schmuckstücke genauestens an. Das hatten die andere Juweliere vor ihm nicht getan. Das war schon mal ein gutes Zeichen.
Als er fertig war, sagte er: »Es sind ausnehmend schöne Stücke. Von so etwas trennt man sich nicht leichten Herzens. Befinden Sie sich in …, äh …, einem finanziellen Engpass? Bitte entschuldigen Sie, ich will nicht indiskret sein. Das wäre für mich jetzt nur eine Erklärung.«
Der Mann wurde ihr immer sympathischer.
»Nein, das ist nicht der Fall, und es ist auch nicht der einzige Schmuck, den ich besitze.«
Dann erzählte sie dem Juwelier, weswegen sie verkaufen wollte, weil es sich für sie besser anfühle, etwas für Tiere in Not zu tun, anstatt Schmuck im Safe verrotten zu lassen.’
Er lächelte fein.
»Schmuck wie dieser verrottet niemals, aber natürlich werden Sie niemals mehr den Preis erzielen, den Sie für alles bezahlt haben. Und es war ein hoher Preis, nicht wahr?«
Rosmarie nickte, er wandte sich erneut dem Schmuck zu, sah sich alles an, legte es auf die Waage, prüfte die Diamanten und anderen Edelsteine.
»Es ist alles von höchster Qualität. Ich würde den Schmuck gern kaufen, weil ich dafür auch bereits Kunden im Auge habe, die dafür infrage kommen. Aber bitte, halten Sie mich jetzt nicht für unverschämt, wenn ich Ihnen mein Angebot mache. Es ist seriös ausgerechnet. Sie müssen mit großen Abschlägen rechnen, und ich muss etwas aufschlagen, weil ich auch etwas verdienen muss.«
Er entschuldigte sich beinahe für seine Worte, und Rosmarie fragte sich, ob er wohl noch unter dem Angebot bleiben würde, das Artur Tellkamp ihr gemacht hatte. Sie hielt den Atem an, versuchte bereits Entschuldigungen für ihn zu finden. Er würde es nicht aus lauter Gier oder mit Böswilligkeit machen, sondern weil er mit solch hochpreisigen Schmuckstücken nicht umgehen konnte.
Es war ihm peinlich, ihr die Summe zu nennen, und als er es schließlich doch machte, glaubte Rosmarie zunächst, sich verhört zu haben.
Es war ein Höchstgebot, mit so viel Geld hatte Rosmarie nicht gerechnet, und er traute sich kaum, es auszusprechen? Was für ein netter Mensch.
»Ich mache es«, rief Rosmarie erfreut.
Er konnte es nicht glauben.
»Und es ist ihnen nicht zu wenig?«, erkundigte er sich noch einmal zaghaft.
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, ich bin zufrieden. Und ich habe noch sehr viel unnützen Schmuck daheim. Ich komme gern wieder zu Ihnen und biete Ihnen alles an.«
Ein erleichtertes Lächeln umspielte seine Lippen.
»Das würde mich sehr freuen. Wissen Sie, in unserer Branche wird es immer schwerer, Besonderes zu einem erschwinglichen Preis zu bekommen. Wenn ich Ihren Schmuck verkaufe, werde ich nicht viel aufschlagen. Es freut mich vielmehr zu sehen, wie glücklich ich meine Kunden machen kann. Diesen Schmuck könnten sie sich regulär doch niemals erlauben.«
Er war wirklich einer von den ganz Seriösen.
Und er war seriös durch und durch, was man von diesem Tellkamp nicht behaupten konnte.
Er blickte sie noch einmal an.
»Und Sie wollen es wirklich?«
»Ja, machen wir den Deal, die Tiere werden sich freuen.«
»Ich finde es großartig, wie Sie sich für Tiere einsetzen, über all die Heime darf man überhaupt nicht nachdenken. Meine verstorbene Frau hatte sich freiwillig auch im Tierschutz engagiert, und manchmal war es wirklich erschütternd, all die Geschichten zu hören, die Menschen teils unbedacht, aber auch grausam verursachen.«
Sie unterhielten sich noch ein wenig, dann holte er sein Geld hervor und begann umständlich die Scheine auf den Tisch zu blättern.
Zum Schluss fehlten hundert Euro. Er kramte in seiner Jacke herum. Es war nicht zu übersehen, dass er sich bis auf den letzten Cent verausgabt hatte.
»Lassen Sie es gut sein«, rief Rosmarie, und das konnte er nicht begreifen.
»Aber es sind hundert Euro. Das ist viel Geld.«
»Ich weiß, aber Sie haben mir sehr viel mehr geboten als Ihre Kollegen«, dann erzählte sie ihm, was ihr widerfahren war, auch bei dem Juwelier, bei dem sie alles gekauft hatte.
»Das ist alles nicht seriös, und es kann meinen Kollegen kein Glück bringen«, sagte er, »doch was ich am schlimmsten finde ist, dass sie durch ein solches Verhalten unseren Berufsstand in Misskredit bringen, und noch schlimmer ist, dass sie die Not von Menschen ausnutzen, die sich gezwungen sehen, aus welchen Gründen auch immer, ihren Schmuck zu verkaufen.«
Er war wirklich einer von den Guten, und Rosmarie war ja so glücklich, dass sie zu diesem Mann gekommen war. Friedrich Schumacher hieß er, das hatte er ihr bereits gesagt, und auf seine Visitenkarte, die in ihrer Tasche steckte, würde sie sehr gut aufpassen. Die war Gold wert, im wahrsten Sinne des Wortes.
Rosmarie wünschte ihm beim Verkauf der gerade erworbenen Schmuckstücke viel Glück, und sie sagte ihm, dass sie beim nächsten Mal, wenn sie wieder etwas von ihrem Schmuck verkaufen wollte, direkt zu ihm käme.
Das freute Friedrich Schumacher außerordentlich, und er versicherte Rosmarie noch einmal, dass er sich wirklich bemüht hatte, ihr ein seriöses Angebot zu machen, nicht nur unter Berücksichtigung des aktuellen Goldpreises, sondern auch bei der Qualität der Steine, und die wunderbare Goldschmiedearbeit, das außergewöhnliche Design habe er nicht unbeachtet gelassen.
Er versuchte wirklich, sich zu rechtfertigen, dabei wir ihr doch schon zuvor bewusst gewesen, dass sie nicht den Preis bekommen würde, den sie bezahlt hatte. Aber es war deutlich mehr als das, was die Anderen geboten hatten und mehr, als von ihr erwartet worden war.
Rosmarie war zufrieden. Sie hatte sehr viel Geld in der Tasche, deutlich mehr als erwartet, und damit würde sie jetzt etwas Sinnvolles tun.
Es machte ihr manchmal schon Angst zu sehen, wie sehr sie sich bereits verändert hatte und wie sehr es in dieser Richtung weiterging.
Ein unglaubliches Glücksgefühl machte sich in ihr breit. Sie konnte sich nicht daran erinnern, schon einmal so glücklich gewesen zu sein. Ihre pompöse Villa hatte nicht annähernd ein derartiges Glücksgefühl in ihr ausgelöst, als sie zum ersten Mal hineingegangen war, und es hatte es ebenfalls nicht gegeben, als Heinz ihr den heiß begehrten Sportflitzer vor die Tür gestellt hatte. Wenn sie sich recht erinnerte, gab es nichts, was ein solches Gefühl bei ihr ausgelöst hatte.
Geld war nichts weiter als willkürlich bedrucktes Papier, das dazu war, ausgegeben zu werden. Und das hatte sie getan, sinnlos, bedenkenlos, mit beiden Händen.
Es dämmerte ihr immer mehr, dass man es auch mit Bedacht hergeben konnte. Sie wusste es, und es fühlte sich so gut an.
Auf einmal hatte Rosmarie es sehr eilig, wegzukommen, und obwohl dieser nette Mann zuvorkommend und sehr gebildet war, mit dem man sehr nett plaudern konnte, verabschiedete Rosmarie sich von ihm.
Es war nicht zu übersehen, dass sie beide zufrieden waren. Er würde seinen Kunden zu einem bezahlbaren Preis außergewöhnliche Designerstücke anbieten können, und in ihrer Tasche knisterten die Geldscheine.
Frau Doktor Fischer würde Augen machen, wenn sie gleich mit diesem Batzen Geld zu ihr kommen würde.
Rosmarie erinnerte sich sehr gut daran, wie sorgenvoll die Ärmste ausgesehen hatte, als sie das letzte Mal bei ihr gewesen war. Sie hatte über endlosen Zahlenkolonnen gesessen, alles Ausgaben. Dabei war es schon ein großes Glück, dass Frau Doktor Fischer Tierärztin war, die die kranken Tiere selbst behandeln konnte.
Rosmarie trat auf die Straße, es wäre leicht gewesen, jetzt nach nebenan zu gehen und etwas zu trinken. Das war ja ihr ursprünglicher Plan gewesen. Dazu hatte sie jetzt keine Zeit. Sie hatte es eilig, ins Tierheim zu kommen, und deswegen nahm sie auch nicht, um wieder nach Hohenborn zu kommen, Bus oder Bahn, nein, sie winkte sich ein vorüberfahrendes Taxi heran. Das musste jetzt sein. Sie kam schneller ins Tierheim, und der Taxifahrer rieb sich insgeheim die Hände. Eine so schöne Fahrt bekam man nicht alle Tage …
*
Im Grunde genommen war es schon kindisch, so aufgeregt zu sein wie ein kleines Mädchen an Weihnachten, was darauf hoffte, durch das Klingeln des Glöckchen hinein zu den ersehnten Geschenken gerufen zu werden.
Sie konnte nicht anders. Sie musste sich freuen.
Vor dem Tierheim angekommen, entlohnte sie den Fahrer, dann eilte sie in das kleine Verwaltungsgebäude, in dem die Praxisräume und das Büro von Frau Doktor Fischer lagen, aber auch der Aufenthaltsraum für die vielen freiwilligen Helfer, die Gelegenheit hatten, sich ein wenig auszuruhen oder etwas zu trinken.
Als Rosmarie die Chefin des Tierheims nicht in ihrem Büro fand, ging sie in den Aufenthaltsraum, und dort fand sie Frau Doktor Fischer vor, nicht nur die, auch Teresa von Roth war da.
»Du kommst gerade recht, Rosmarie«, rief Teresa, »es gibt frischen Kaffee. Hol dir eine Tasse, du kennst dich mittlerweile ja aus, und setze dich zu uns.«
Das ließ Rosmarie sich nicht zweimal sagen.
Kurze Zeit darauf saßen die drei Frauen beisammen an einem Tisch. Rosmarie, die die besten Restaurants und Cafés kannte, für die es nicht luxuriös genug sein konnte, freute sich und war ganz stolz, mit diesen beiden Frauen, die sie sehr bewunderte, an einem Tisch sitzen zu dürfen. Es war eigentlich unglaublich. Und wenn man es Rosmarie vor einigen Monaten gesagt hätte, wäre sie aus dem Lachen nicht mehr herausgekommen. Da hatte sie nicht einmal etwas von dem Tierheim gewusst.
Beide Frauen wirkten sehr ernst.
»Das Tierheim ist am Ende seiner Kapazität«, sagte Teresa ernst, »so schrecklich es ist, es können keine Tiere mehr aufgenommen werden. Tiere sind Lebewesen, man kann sie nicht stapeln wie die Artikel in einem Supermarkt.
Der Gedanke, Tiere abweisen zu müssen, nicht zu wissen, was aus ihnen wird, ist schrecklich. Ob man sie vielleicht aussetzt, oder schlimmer noch, ob man sie tötet, um sie loszuwerden. Ein solcher Gedanke zerreißt einen. Aber Teresa hat recht, man kann nur tun, was man tun kann. Die Spendenbereitschaft der Leute nimmt leider auch ab, es ist nicht so spektakulär, für Tiere zu spenden.« Sie seufzte bekümmert. »Ich weiß wirklich nicht, wie alles weitergehen soll.«
Jetzt war Rosmaries Augenblick gekommen, Früher hätte sie vermutlich triumphiert, etwas tun zu können. Jetzt war sie nur froh, in der komfortablen Lage zu sein, helfen zu können, ohne dass sie dadurch selbst eine Einbuße zu erleiden hatte. Das Geld, das sie geben konnte, tat nicht weh. Sie hatte es für Schmuck bekommen, der unnütz und unbeachtet in der Schmuckschatulle gelegen hatte.
Sie schob ihre Tasse ein wenig beiseite, griff nach ihrer Tasche, dann holte sie das viele Geld daraus hervor und legte es auf den Tisch.
»Zunächst einmal muss hier kein Tier abgewiesen werden, und dann sehen wir weiter«, sagte sie.
Es war still im Raum.
Frau Doktor Fischer und Teresa von Roth starrten auf die vielen Geldscheine, beide Frauen waren sprachlos.
Es war Teresa, die sich als Erste fing.
»Rosmarie, wo kommt das viele Geld her? Hast du eine Bank überfallen? Ich weiß ja, dass Heinz nichts mehr herausrücken will.«
Rosmarie lachte.
»Es ist alles ganz legal, ich habe Schmuck verkauft, der eh nur sinnlos herumlag.«
Die beiden Frauen sahen sie an. »Du hast was getan?«, erkundigte Teresa sich.
»Um Gottes willen, Frau Rückert, das kann ich doch nicht annehmen«, sagte Frau Doktor Fischer ganz schuldbewusst, »einfach Schmuck verkaufen, das geht gar nicht. Gerade Schmuck ist doch etwas, an dem viele Emotionen hängen.«
Jetzt war es Rosmarie, die lachen musste.
»Frau Doktor Fischer, da müssen Sie sich überhaupt keine Sorgen machen. Es handelt sich dabei um Schmuck, der keinerlei Bedeutung für mich hat. Ich habe ihn einfach nur gekauft und nie getragen.«
»Jetzt tust du etwas Sinnvolles damit, Rosmarie«, bemerkte Teresa. »Es ist großartig. Ehrlich, meine Liebe, dass ich so etwas einmal erleben würde, das hätte ich nie für möglich gehalten. Und ich hätte auch jede Wette verloren. Es ist schön, wie du dich veränderst.«
Rosmarie freute sich. Ein Lob von Teresa, das ging bei ihr herunter wie Öl, und jetzt das Strahlen von Frau Doktor Fischer, das war wie ein schönes Geschenk.
»Jetzt können wir uns Gedanken machen, was zuerst gemacht werden muss«, rief Rosmarie.
»Ich denke, zuerst muss ich Ihnen eine Spendenbescheinigung ausstellen«, rief Frau Doktor Fischer. »Darauf besteht Ihr Mann doch immer.«
Rosmarie lächelte.
»Mein Mann vielleicht, ich nicht. Dass ich für die Tiere etwas Gutes tue, das muss ich nicht von der Steuer absetzen können.«
»Richtig, Rosmarie«, rief Teresa. »Also, wenn es nach mir ginge, ich würde mit dem Außenkäfig und den Boxen, die er haben muss, anfangen.«
Der Meinung war auch Frau Doktor Fischer, und Rosmarie war einfach nur glücklich, zu diesen Frauen zu gehören, für die andere Dinge im Leben wichtig waren, anstatt einer Designertasche nachzujagen, auf die man normalerweise monatelang warten musste.
»Ich kenne da einen Hersteller«, sagte Rosmarie, »mit dem kann ich mich gern in Verbindung setzen, und ich bin mir sicher, dass ich da einen Sonderpreis herausholen kann. Mein Mann hat ihm einmal mit seiner Firma sehr geholfen, für die es sonst böse ausgegangen wäre.«
»Wenn Sie das tun würden«, rief Frau Doktor Fischer. »Ich gebe Ihnen zum Vergleich das Angebot, das ich bereits eingeholt habe.«
Rosmarie spürte eine unglaubliche Energie in sich wachsen. Und sie nahm sich ganz fest vor, alles in Bewegung zu setzen, um den günstigsten Preis herauszuholen. Und sie war sich sicher, dass es ihr gelingen würde. Schließlich ging es darum, jeden Cent einzusparen.
Sie war ein wenig erschrocken über sich selbst, dass sie auf einmal so dachte. Bislang hatte sie sich doch niemals auch nur einen Gedanken darüber gemacht, was was kostete und ob es zu teuer war oder nicht.
Sie wusste ja, dass es nicht der Fall war. Aber ein Außenstehender, der sie kannte, würde sich jetzt vermutlich fragen, ob man ihr etwas in den Kaffee getan hatte, oder ob sie mit Alkohol abgefüllt worden war.
Die drei Frauen begannen sich über das Tierheim zu unterhalten, über das, war neben dem Außenkäfig sonst noch notwendig war, und Rosmarie genoss es. Und sie wunderte sich über sich selbst, welch brauchbare Gedanken sie hatte.
Darüber wurde sogar ernsthaft diskutiert.
Als sie aufstanden, um nach draußen zu gehen und sich das Gelände anzusehen, das für den neuen Außenkäfig vorgesehen war, umarmte Teresa von Roth Rosmarie ganz spontan.
»Wenn du meine Tochter wärst, würde ich dir jetzt sagen, wie stolz ich auf dich bin. Das bist du nicht, obwohl ich nichts dagegen hätte, so wie du dich entwickelt hast. Ich bin glücklich, dass du zu unserer Familie gehörst, ich bin glücklich, dich näher kennenlernen zu dürfen. Ich glaube nicht, dass alle aus deinem Umkreis diese wunderbare Veränderung bereits mitbekommen haben. Sie sollten es wissen, ganz besonders Fabian und Stella. Die können wirklich sehr, sehr stolz auf ihre Mutter sein.«
Rosmarie war so sehr gerührt, dass sie nur mühsam die Tränen zurückhalten konnte.
Solche Worte aus Teresas Mund!
Die hatten wirklich eine besondere Bedeutung, denn Teresa gehörte nicht zu den Menschen, die mit Komplimenten nur so um sich warfen. Sie ging sparsam damit um, man konnte ihr eher eine spitze Zunge nachsagen, vor der man sich in Acht nehmen musste. Das wusste Rosmarie aus ihrer Vergangenheit, aus ihrem früheren Leben, das ihr mittlerweile vorkam wie das Leben einer Anderen.
Die drei Frauen verließen das Gebäude, Hundegebell schlug ihnen entgegen.
Eine Helferin kam ihnen entgegen mit einer Katze auf dem Arm.
»Frau Doktor, die müssen Sie sich bitte gleich einmal ansehen. Mir ist aufgefallen, dass Minka kaum noch frisst.«
Frau Doktor Fischer versprach, sich gleich darum zu kümmern, dann gingen sie weiter, und als sie an dem Gelände ankamen, das für den Käfig vorgesehen war, der nun von ihrem gespendeten Geld gebaut werden konnte, war Rosmarie so richtig stolz. Sie hätte niemals für möglich gehalten, welch unglaubliches Gefühl es war, Gutes zu tun.
»Du bist auf dem richtigen Weg, Rosmarie«, sagte Teresa und drückte Rosmaries Arm. »Lass dich davon nicht mehr abbringen.«
Rosmarie schüttelte den Kopf. Sagen konnte sie vor lauter Ergriffenheit augenblicklich nichts. In Gedanken war sie bereits ein wenig bei dem Schmuck, der auch verkauft werden konnte, und es schoss ihr in den Sinn, dass vielleicht eine Spendengala ganz sinnvoll sein könnte. So etwas ganz Großes, etwas Festliches. Das gefiel Menschen immer, und wenn dann auch noch Fernsehen und Presse dabei waren, umso besser.
Wenn Rosmarie sich mit etwas auskannte, dann waren es spektakuläre Bälle, und sie kannte, wie man so schön sagte, Gott und die Welt. Die Rückerts waren wer in Hohenborn, und warum sollte sie das nicht für sich nutzen?
Am liebsten hätte sie mit Frau Doktor Fischer und Teresa darüber geredet, aber sie wollte keine falschen Hoffnungen wecken. Ihre Idee konnte sich zerschlagen. Vielleicht war es ja auch überhaupt nicht durchführbar. Allein konnte sie es nicht stemmen, sie brauchte dazu Heinz, zumindest das Geld, das er verdiente.
Aber es war eine gute Idee!
Rosmarie kannte Spendengalas, sie musste nur die richtigen Leute zusammenbringen, und sie musste die Werbetrommel rühren.
Es bedeutete, dass sie auf der anderen Seite stehen würde. Bislang war es so gewesen, dass man um die Rückerts als Gäste bemüht war, weil bekannt war, dass sie, allein schon wegen der Leute, recht freigiebig waren.
Rosmarie konnte kaum nach zuhören, so besessen war sie von dem Gedanken, der ihr gerade gekommen war. Er würde viele, viele Probleme lösen.
So richtig bewusst wurde Rosmarie nicht, was ihr durch den Kopf ging, im Grunde genommen war es eine Sensation, sie als Bittstellerin für ein Tierheim wirken zu lassen.
Es war so, und sie war sich sicher, dass alles so hatte kommen müssen, zuerst mit Teresa, die sie in eine ihr unbekannte Welt eingeführt hatte. Aber in erster Linie war es Beauty, die kleine Beaglehündin, deren schöne Augen sie verzaubert und ihr den Weg gewiesen hatten …
*
Roberta war sauer auf sich selbst. Es konnte doch nicht sein, dass sie, eine gestandene Ärztin, sich benahm wie ein pubertierender Teenager. Die hängten sich Fotos ihrer Idole an die Wand und träumten von ihnen. So weit war es mit ihr zwar nicht. Aber normal war es auf keinen Fall, dass sie immer wieder an den Fremden mit den unglaublich blauen Augen denken musste. Der wusste sicherlich nicht einmal, wer sie war und dass es diesen Zusammenstoß ihrer Fahrzeuge überhaupt gegeben hatte. Er war ja ziemlich lässig damit umgegangen, und sie konnte davon ausgehen, dass für ihn die Sache erledigt war, das hatte er ihr eigentlich schon am Ort des Geschehens gesagt.
Sie würde also nichts mehr von ihm hören, er machte keine Forderungen geltend. Und sie sollte so gescheit sein, sich ihn aus dem Kopf zu schlagen. Das durfte sie eh niemandem erzählen.
Und Nicki hatte ihr ja vor Augen geführt, dass man, wenn man sich zurückhielt, keinen Mann kennenlernte und dass man als Frau auch manchmal die Initiative ergreifen musste. So war Nicki, das war nicht ihr Ding, und wenn sie es so richtig überdachte, war die Taktik von Nicki ja auch nicht gerade erfolgreich. Sie lernte zwar viele Männer kennen, aber es endete immer in einem Fiasko.
Das wollte sie nicht, sie hatte genug von ihrer gescheiterten Ehe mit Max und ihrer unglücklichen Liebe zu Kay.
Also Schluss mit den blauen Augen. Roberta entschloss sich, einen strammen Spaziergang um den See zu machen. Es regnete nicht, und kalt war es auch nicht. Entsprechend gekleidet verließ sie das Haus, eilte durch den Vorgarten, wollte gerade das Tor öffnen, als sie verblüfft stehen blieb.
Das konnte jetzt wirklich nicht wahr sein!