Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Jubiläumsbox 3 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 7
ОглавлениеDoktor Roberta Steinfeld war eine ganz hervorragende Ärztin. Daran gab es keinen Zweifel. Aber, und das war nicht zu verkennen, sie war auch eine Frau.
Und nachdem sie sich von ihrer ersten Überraschung erholt hatte, kam ihr sofort in den Sinn, dass sie furchtbar aussehen musste.
Sie hatte, um den Kopf frei zu bekommen, einen Spaziergang um den See machen wollen. Und entsprechend war sie auch gekleidet. Eine bequeme Hose, einen schlabbrigen Pullover hatte sie an, an den Füßen bequeme Schuhe. Und über allem trug sie einen uralten Parka, den sie schon als Studentin in den ersten Semestern getragen hatte, und von dem sie sich einfach nicht trennen konnte, Es gab sie wirklich, die sogenannten Lieblingsstücke, und ihr oller Parka, der gehörte eindeutig dazu. Dabei konnte Roberta nicht einmal sagen, woher diese Liebe kam. Es war ein zweckmäßiges, khakifarbenes Teil, für das sie nicht einmal viel Geld gezahlt hatte. Roberta konnte sich noch sehr gut daran erinnern, dass sie zugeschlagen hatte, weil dieser Parka stark reduziert gewesen war, ein richtiges Schnäppchen.
Nun, wie auch immer.
Jetzt hätte sie wer weiß nicht was darum gegeben, nicht nur netter angezogen zu sein, nein, wenn sie das geahnt hätte, hätte sie sich ein wenig zurechtgemacht, geschminkt, Wimperntusche und Rouge aufgelegt, und sie hätte in ihre Haare, die sie seit einiger Zeit kinnlang trug, nicht diese dummen Kämmchen reingesteckt.
Sie fühlte sich scheußlich.
Und das ausgerechnet jetzt.
Sie hielt sich am Gartentörchen fest und starrte den Mann an, der ganz offensichtlich, lässig mit einer Flasche Rotwein unter dem Arm, zu ihr wollte.
Roberta konnte es einfach nicht glauben, und vielleicht sollte sie sich fragen, ob das jetzt nicht so etwas wie eine Fata Morgana war, dass es ihn nicht wirklich gab, sondern dass sie eine Erscheinung hatte, weil sie immerfort an ihn denken musste, diesen Fremden mit den unglaublich blauen Augen, den sie einfach nicht vergessen konnte.
Es gab ihn wirklich!
Geisterscheinungen redeten nicht, und das tat er. Fr grinste sie an, und Roberta stellte fest, dass seine Zähne die wahre Freude eines jeden Zahnpastaherstellers wären.
»Hi, zu Ihnen wollte ich«, rief er, »aber wie ich sehe, ist es kein guter Zeitpunkt. Sie müssen weg.«
Die eigentliche Roberta hätte jetzt vermutlich ein kurzes ›Ja‹ gemurmelt, dann wäre jeder seiner Wege gegangen, und die Sache wäre erledigt. Sie erinnerte sich an das Telefonat mit ihrer Freundin Nicki, die gesagt hatte, dass manchmal auch die Frauen die Initiative ergreifen und vorpreschen müssten. Das war nicht ihre Art, aber warum sollte sie nicht ein bisschen locker sein? Sie vergab sich doch nichts.
Sie schenkte ihm ihr allerschönstes Lächeln, sagte ebenfalls »Hi«, doch dann fügte sie hinzu: »Ist nicht wichtig. Ich wollte bloß ein Stückchen laufen. Doch das ist nicht vordringlich. Sind Sie gekommen, um mir die Rechnung für den an Ihrem Auto entstandenen Schaden zu präsentieren?«
Er ging auf ihren lockeren Ton ein.
»Ich bin gekommen, um mit Ihnen ein Gläschen Wein zu trinken, und ich kann nur hoffen, dass Sie französische Rotweine mögen.«
Roberta trank lieber spanische Rotweine, aber das musste sie ihm jetzt nicht auf die Nase binden. Auch die Franzosen machten hervorragende Weine, Roberta fand sie manches Mal jedoch ein wenig überbewertet, und bei den Spaniern stimmte das Preis-Leistungsverhältnis besser.
Oh Gott!
Was für törichte Gedanken gingen ihr denn jetzt durch den Kopf. Vor ihr stand ein Mann wie aus dem Bilderbuch. Aber das war es vermutlich auch. Er machte sie nervös. Und das war von der ersten Sekunde an so gewesen, nachdem er nach dem durch sie verursachten Crash aus seinem Auto gestiegen war.
»Ich liebe Rotwein«, sagte sie, »aber ich denke, wir sollten ins Haus gehen. Oder sollen wir den Wein hier auf der Straße trinken?«
Er lachte, dann folgte er ihr ins Haus. Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken, seinen Blick. Und das machte sie noch nervöser, obschon es da eigentlich keine Steigerung mehr gab.
Sie zog ihren alten Parka aus, hängte ihn in der Garderobe an den Haken. Und als er da so schäbig hing, sagte sie sich, dass es jetzt wirklich an der Zeit war, ihn irgendwann einmal auszusortieren und in einen Kleidersack zu stecken. Er wirkte neben seiner Jacke ziemlich ärmlich. Roberta führte ihn ins Wohnzimmer, wo er sich sogleich sehr interessiert umsah. Sie war froh, dass sie irgendwann einmal mit Alma zusammen alles auf Vordermann gebracht hatte. Gäbe es Alma nicht, wäre sie noch allein, dann würde es vermutlich noch immer so aussehen, als sei sie gerade erst eingezogen oder war dabei auszuziehen.
Sie bot ihm Platz an, und während sie die Gläser und den Korkenzieher holte, fiel ihr ein, dass sie noch immer seinen Namen nicht kannte.
Das schien ihm ebenfalls bewusst geworden zu sein, denn als Roberta zurückkam, sagte er ganz nebenbei: »Ich bin Lars … Lars Magnusson.«
Ein schöner Name.
Ein Schwede?
Dafür sprach er aber sehr gut Deutsch, doch seine blauen Augen, sein Aussehen insgesamt, sprachen für ihre Vermutung.
»Ehe Sie sich wegen meines Namens Ihren Kopf zerbrechen«, ergänzte er. »Ich bin Deutscher, in Deutschland geboren, von deutschen Eltern. Aber mein Urgroßvater war Norweger, den es der Liebe wegen nach Deutschland verschlagen hat.«
Er nahm ihr den Korkenzieher aus der Hand, hantierte sehr geschickt damit. Roberta stellte fest, dass er sehr schöne Hände hatte, schlank und zupackend. Was gab es eigentlich an diesem Mann, was nicht schön war? Oder war sie auf diesen Typ Mann fixiert und benahm sich beinahe wie ein Groupie.
Er schenkte ein, lächelte sie an.
»Sie sind ja hier bekannt wie ein bunter Hund, und man schwärmt ja so richtig von Ihnen.« Er grinste. »Ich hatte zwar Ihren Namen und Ihre Adresse, aber ich habe mich ein bisschen schlau gemacht. Ich habe mich nämlich ein wenig über mich selbst geärgert, weil ich unser … Zusammentreffen, so kann man es wohl nennen, so schnell abgebrochen habe.«
Sie hoffte, er möge nichts von ihrer Aufregung mitbekommen.
»Es war okay, Sie hatten einen Termin, und ich musste meine Praxis aufmachen. Jetzt sind Sie ja da. Haben Sie das Auto reparieren lassen? Soll ich den Schaden nun doch meiner Versicherung melden? Das wäre kein Problem.«
Sie redete schon wieder so geschraubt. Welch ein Glück, dass Nicki das hier nicht mitbekam, die würde die Augen verdrehen. Im Umgang mit Männern war Roberta einfach keine Kanone. Und das würde sie auch nicht werden wollen. Im Leben setzte sie andere Prioritäten.
Er blickte sie an.
»Kaum zu glauben, dass eine so attraktive junge Frau wie Sie derart erfolgreich in ihrem Beruf ist. Sie scheinen ja beinahe so etwas wie eine Wunderheilerin zu sein.«
Er sollte davon aufhören, Roberta konnte mit Lob nur sehr schwer umgehen.
»Wo haben Sie das alles nur gehört?«, bemerkte sie. »Sind Sie von Tür zu Tür gegangen und haben Erkundigungen über mich eingezogen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, aber ich informiere mich gern. Eigentlich wollte ich mehr über den Sonnenwinkel erfahren und seine Bewohner. Und, nun ja, ich gebe es zu: Bei dieser Gelegenheit habe ich mich über Sie erkundigt. Ist das verwunderlich? Sie sind eine sehr attraktive Frau, und ich wäre ganz gewiss nicht mit dem Wein hier aufgekreuzt, wüsste ich nicht, dass es zum Glück keinen Herrn Steinfeld gibt.«
Roberta spürte, wie sie anlief wie eine überreife Tomate.
»Den gab es mal«, sagte sie, »aber von dem bin ich geschieden. Ich war es bereits, ehe ich in den Sonnenwinkel kam.«
Warum erzählte sie ihm das?
Er hatte nicht nach ihrem Lebenslauf gefragt. Sie benahm sich in seiner Gegenwart unmöglich.
Er lachte.
»Oh, dann haben wir etwas gemeinsam, in meinem Leben gab es vor einer gefühlten Ewigkeit auch mal eine Frau Magnusson.«
Sie prosteten sich zu. Der Wein war köstlich, und Roberta spürte, wie sie sich allmählich entspannte. Das lag ganz bestimmt zum Teil auch daran, dass er so vollkommen unverkrampft war und dass er ganz toll erzählen konnte.
Wenn man so wollte, sprachen sie über Gott und die Welt, dabei hätte sie sehr gern etwas mehr über ihn erfahren. Doch da hielt er sich zurück, und sie wollte nicht neugierig sein und ihn ausfragen. Da war sie wirklich anders als ihre Freundin Nicki.
Die Zeit verging, und irgendwann stellte er beinahe erschrocken fest: »Haben Sie schon mal auf die Uhr gesehen?« Sofort stand er auf, und Roberta sah, dass es beinahe Mitternacht war. Sie hatten sich ganz gehörig verplaudert.
»Darf ich Sie wiedersehen?«, erkundigte er sich.
Sie konnte nur nicken. Er war ihr schon so vertraut, er kam ihr vor wie jemand, der eigentlich bereits immer in ihrem Leben gewesen war. Dabei wusste sie über ihn nicht mehr als seinen Namen und dass er geschieden war. Dabei brannte sie darauf, mehr zu erfahren.
Sie erhob sich ebenfalls, und dann begleitete sie ihn hinaus. Als er seine Jacke von der Garderobe nahm, kamen sie sich gefährlich nahe. Sie sahen sich an, die Luft war elektrisch geladen, ihre Gesichter näherten einander, dann wich er zurück.
»Es war ein wunderschöner Abend«, sagte er, »danke dafür, und ich wünsche mir wirklich sehr, dass wir ihn wiederholen. Sie sind eine großartige Frau.«
Er sah sie erneut an, dann lächelte er, und seine Stimme klang ganz rau, als er sagte: »Schlafen Sie gut.«
Dann drehte er sich abrupt um, verließ das Haus, als sei der Leibhaftige hinter ihm her.
Vorn an der Gartenpforte drehte er sich noch einmal ganz kurz um, hob seine rechte Hand, winkte ihr zu, dann verschwand er in der Dunkelheit.
Es dauerte noch eine ganze Weile, ehe Roberta ins Haus zurückging, die Haustür sorgsam abschloss.
Als sie in ihr Wohnzimmer ging, war für sie seine Gegenwart noch so präsent, dass sie sich erst einmal hinsetzen musste.
Lars Magnusson …
Sie wusste noch immer nicht mehr als seinen Namen, und sie fragte sich, was ihn mit dem Sonnenwinkel verband.
Weilte er ihr irgendwo zu Besuch? Vermutlich war es so, denn verkauft wurde gerade kein Haus, vermietet ebenfalls nicht.
Zuletzt war in das Haus von Ricky und Fabian eine Frau mit einem Mädchen eingezogen. Gäbe es etwas Neues, würde sie es von ihren Patienten erfahren, und wenn die nicht redeten, dann würde es Ursel Hellenbrink ihr erzählen, ihre treue Helferin in der Praxis, ohne die sie vollkommen aufgeschmissen wäre.
Wer war er?
Was trieb er hier?
Roberta bemerkte, dass noch etwas Wein in der Flasche war, das schenkte sie sich ein. Sie war viel zu aufgedreht, um jetzt schlafen gehen zu können. Da war es gemütlicher, bei einem wirklich guten Rotwein in einem Sessel zu sitzen.
Lars Magnusson …
Ein wenig erinnerte er sie an Kay, ihre vergangene Liebe. Äußerlich sahen sie unterschiedlich aus, Lars war auch ein paar Jahre älter. Aber diese Ungezwungenheit, dieser offene Blick, das war etwas, was sie gemeinsam hatten. Das hatte sie bei Kay vom ersten Moment an fasziniert, und dieser Ausstrahlung konnte sie sich bei Lars Magnusson ebenfalls nicht entziehen.
Kay war ein etablierter Aussteiger gewesen, er hatte hingeschmissen und tat nur noch das, worauf er Lust hatte. Ein komfortables Leben, wenn man genug Geld im Hintergrund hatte. Aber dennoch wäre es für Roberta niemals eine Option. Sie brauchte einen festen Lebensmittelpunkt, und mehr noch brauchte sie ihren Beruf, der für sie der schönste auf der ganzen Welt war. Schon als kleines Mädchen hatte sie Ärztin werden wollen, und sie hatte jede ihrer Puppen operiert.
Was Lars wohl machte?
Wie schade, dass sie sich nicht getraut hatte, ihn ein wenig auszufragen. Schließlich wusste er eine ganze Menge über sie, und sie wusste nichts. Es gab nicht einmal einen festen Termin für ein Date. Date? War sie da nicht ein wenig voreilig? Sie hatten sich sehr nett unterhalten, vielleicht war er ja auch nur gekommen, um ihr zu sagen, dass er wegen des kleinen Blechschadens an seinem Auto nichts unternehmen wollte. Das hatte er klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, und Roberta konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass es geschehen war, weil er keine Lust hatte, eine Werkstatt aufzusuchen und Zeit zu verlieren.
Wie blöd war sie denn gewesen, überhaupt keine Fragen zu stellen! Sie hatte ihn nur wie ein hypnotisiertes Kaninchen angeschaut. Hoffentlich hatte er nicht mitbekommen, wie sehr sie in ihn verknallt war.
Beinahe entsetzt stellte Roberta ihr Glas ab.
Verknallt?
Wie verrückt war das denn …
Es war nicht verrückt, vielleicht doch, auf jeden Fall musste sie sich nichts mehr vormachen. Sie hatte sich schon in ihn verguckt, ehe sie seinen Namen kannte.
Und vorhin, an der Tür …
Das bildete sie sich nicht ein. Hätten sie sich da nicht beinahe geküsst?
Roberta spürte den heftigen Schlag ihres Herzens, sie merkte, wie die Röte in ihr Gesicht stieg.
Sie atmete ganz tief durch.
Es war ungeheuerlich!
Aber es stimmte!
Sie hatte sich verliebt, sie war verliebt in Lars Magnusson.
Vorsehung, Vorbestimmung, schicksalhafte Begegnungen, das alles war eher das Ding ihrer Freundin Nicki.
Aber wenn man es so recht bedachte …
Sie, die eigentlich bedachte Autofahrerin, war einen Augenblick unaufmerksam, und genau da krachten ihre Autos ineinander.
Das konnte doch kein Zufall sein!
Roberta merkte, wie sie allmählich die Kontrolle verlor und sich da in etwas hineinsteigerte, was nicht sein durfte.
Sie war eine gestandene Frau und kein Teenie!
Sie durfte nicht mehr an ihn denken!
Sie griff nach der Fernbedienung ihres Fernsehers, begann wild von Sender zu Sender zu knipsen.
Bloß auf andere Gedanken kommen.
Nicht mehr an Lars Magnusson denken!
Aber er wollte sie wiedersehen, und er hatte sich über sie erkundigt.
Tat man das nicht nur bei Menschen, an denen man ein wirkliches Interesse zeigte?
Roberta machte den Fernseher aus, weil es keinen Sinn hatte. Es gelang ihr nicht, sich mit irgendeinem Krimi oder Liebesroman abzulenken, Selbst bei Dokumentarfilmen, die sie normalerweise sehr gern sah, schweiften ihre Gedanken ab. Sie konnte sich auf nichts konzentrieren, weil sie immerfort an Lars Magnusson denken musste. Und das war mehr als bedenklich …
*
Sandra Münster und ihre Mutter Marianne von Rieding unternahmen nicht mehr viel miteinander. Und auch die geselligen Kaffeestunden, in denen sie über Gott und die Welt redeten, gab es kaum noch, Sandra bedauerte das sehr. Andererseits freute sie sich für ihre Mutter. Die verbrachte mittlerweile die meiste Zeit mit ihrem Ehemann Carlo Heimberg. Und das war gut so. Es war auch rührend anzusehen, wie liebevoll und zärtlich die beiden miteinander umgingen.
Früher hatten sie kaum Zeit zusammen verbringen können, weil Carlo beinahe wie ein Getriebener weltweit unterwegs gewesen war. Das war bei einem international arbeitenden bekannten Architekten normal. Und wenn es sich dann auch noch um jemanden handelte, der beinahe alle bedeutenden Architekturpreise gewonnen hatte, ging es überhaupt nicht anders. Hier und da hatte Marianne ihren Mann begleitet. Doch meist war es ihr zu anstrengend gewesen, zumal auch die Zeit, die sie und Carlo miteinander verbringen konnten, immer sehr knapp bemessen gewesen war. Und was hatte sie beispielsweise von New York, wenn sie dort die meiste Zeit allein unterwegs sein musste? Das machte keinen Spaß.
Mittlerweile hatte sich vieles verändert. Freilich waren die Gründe dafür nicht zu prickelnd.
Es wäre alles so weitergegangen mit Carlo, immer auf der Überholspur, hätte man nicht einen Herzschaden entdeckt. Er war in buchstäblich letzter Minute am offenen Herzen operiert worden. Und der Professor hatte ihm deutlich klargemacht, dass sein Leben jetzt ein anderes sein musste. Carlo hatte es verstanden, aber so richtig umgehen konnte er damit noch nicht, und es war wirklich sehr gut, dass er ständig seine Frau an seiner Seite hatte. Marianne war niemals von seiner Seite gewichen, nicht im Krankenhaus, nicht in der Reha, und auch jetzt versuchte sie, immer für ihn da zu sein und ihm dabei zu helfen, mit seinem neuen, ungewohnten Alltag umzugehen. Leicht war es nicht. Und Sandra bewunderte ihre Mutter manchmal für deren Ausdauer. Sie hätte schon so manches Mal die Nerven verloren. Carlo war ein wunderbarer Mensch, aber jetzt war er nicht immer zu ertragen. Hoffentlich war es bald vorbei. Noch war er geschwächt und musste sich schon allein deswegen Grenzen setzen. Aber auch wenn es ihm besser gehen würde, könnte er sein altes Leben nicht einmal mehr annähernd führen. Und ein Schmalspur-Architekt wollte er nicht sein. Er konnte es sich einfach nicht vorstellen, plötzlich kleine Einfamilienhäuser bauen zu sollen. Das schon, aber wenn es sich dabei um einen ganzen Komplex handelte wie beispielsweise um den Sonnenwinkel.
Sandra hätte schon einige Fragen an ihre Mutter, aber sie wollte nicht immer nur über dieses eine Thema reden. Irgendwann wurde man müde davon. Das Leben ging weiter, und auch bei ihr geschah einiges, von dem ihre Mutter nichts wusste. Und das war es halt, was ihr so sehr fehlte, dieser beinahe tägliche Austausch, der ja auch möglich war, wenn man praktisch Tür an Tür wohnte.
Heute hatten sie auf jeden Fall Zeit füreinander, und das würde Sandra sehr genießen. Nach dem Tod ihres Vaters hatte Sandra viele Jahre allein mit ihrer Mutter verbracht, und so etwas prägte einen Menschen, da gab es eine enge Bindung.
Carlo war hinunter zu Frau Doktor Steinfeld in die Praxis gegangen, und dorthin musste Marianne ihren Mann nicht begleiten.
Sie unterhielten sich über Manuel und die Zwillinge, und Marianne beobachtete, wie ihre Tochter beinahe gierig Schokolade in sich hineinstopfte. Sie überlegte einen Augenblick, ob sie etwas sagen sollte. Es ging sie schließlich nichts an. Sandra war erwachsen.
Aber sie war die Mutter, und sie fand, dass es ihr zustand, eine Bemerkung zu machen.
»Sandra, hör bitte auf, Schokolade in dich hineinzustopfen. Man kann es kaum mit ansehen, und ehrlich, du hast ganz schön zugelegt. Aber das ist ja auch kein Wunder, wenn man dir zusieht.«
Sandra legte das Stück Schokolade, in das sie gerade beißen wollte, auf den Tellerrand, blickte ihre Mutter an. Dann begann sie zu lachen. »Mama, da musst du dir überhaupt keine Sorgen machen. Ich werde weiter an Gewicht zulegen, und das ist ganz normal, ich …, ich bin nämlich … schwanger.«
Marianne wollte gerade etwas trinken, sie setzte die Tasse ab.
»Du bist … bitte was?«
Sandras Lachen verstärkte sich. »Du hast richtig gehört, Mama. Felix und ich werden ein Kind haben.«
Marianne schnappte nach Luft. »Ja, aber …, warum erfahre ich das so nebenbei?«, wollte sie wissen und wusste nicht, ob sie jetzt wütend sein sollte oder nicht.
Die nächsten Worte ihrer Tochter besänftigten sie sofort.
»Mama, weil wir erst einmal die kritische Zeit abwarten wollten. Wie du weißt, habe ich bereits zwei Fehlgeburten erlitten. Erinnere dich bitte, wie enttäuschend das jedes Mal für uns war. Diesmal scheint alles gut zu gehen, und du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich Felix und ich sind.«
»Und was sagen die Kinder?«, wollte Marianne wissen.
»Die erfahren es in den nächsten Tagen, Felix und ich möchten es ihnen gemeinsam sagen. Ich denke, sie werden sich ebenfalls freuen. Nun ja, Manuel wird mit einem kleinen Geschwisterchen nicht viel anfangen können. Aber er ist ein sehr liebevoller Junge, und ich denke, er wird sich um das Baby kümmern, und unsere Zwillinge werden auf jeden Fall glücklich über das Geschwisterchen sein.«
Marianne erholte sich allmählich von ihrer Überraschung und begann sich zu freuen. Sie war mit Herz und Seele Großmutter, das war sie auch für Manuel, obschon Felix ihn mit in die Ehe gebracht hatte. So ein kleines, hilfloses Wesen, das man so richtig bemuttern konnte …, das war ein schöner Gedanke.
Dann allerdings kam Carlo ihr in den Sinn, sie dachte an ihr Leben mit ihm, in dem alles offen war. Würde dann die Zeit für ein neues Enkelkind bleiben?
Sandra hatte ihre Mutter beobachtet, bemerkt, wie deren Gesichtszüge sich immer mehr verdüsterten.
»Mama, freust du dich nicht?«
Um Gottes willen, an so etwas durfte Sandra nicht denken. Natürlich freute sie sich, und das sagte sie ihrer Tochter auch.
»Deinem Gesicht ist es nicht anzusehen, Mama.«
Marianne seufzte, und sie trank erst einmal einen Schluck Kaffee, um ihre Gedanken zu ordnen.
Marianne wusste, wie werdende Eltern waren, die legten jedes Wort auf die Goldwaage, und ihre Tochter war ganz besonders empfindlich.
Sandra und sie waren immer ehrlich zueinander gewesen, und daran sollte sich jetzt auch nichts ändern.
»Wie du weißt, denken Carlo und ich ja darüber nach, aus dem Herrenhaus auszuziehen. Wenn ich allerdings an das neue Enkelchen denke …«
Sandra hielt überhaupt nichts davon, dass ihre Mutter und Carlo wegziehen wollten. Das war nicht neu, ihre Mutter hatte keine Bindung an das Herrenhaus, den ganzen Besitz einschließlich der Felsenburg. Und das lag ganz bestimmt daran, dass ihr verstorbener Großvater sie zu seinen Lebzeiten nie hatte sehen wollen. Seine Schwiegertochter und seine Enkelin waren für ihn tabu gewesen, und mit seinem Sohn hatte er gebrochen, als der es gewagt hatte, eine Bürgerliche zu heiraten.
Nach seinem Tod waren sie und ihre Mutter auf einmal die Erbinnen gewesen, und während es ihr gefiel, sie sehr stolz auf das prächtige Anwesen war, war ihre Mutter nie so richtig heimisch geworden. Und jetzt, da sie mit Carlo die Möglichkeit hatte, sich überall auf der Welt niederzulassen und ganz entspannt mit ihm zu leben, interessierte sie der Erlenhof noch weniger.
Aber der sehnsuchtsvolle Ton in der Stimme ihrer Mutter war nicht zu überhören gewesen. Sie hatte bei den Fehlgeburten mit ihr gelitten, hatte sie getröstet. Und sie war wirklich eine ganz wundervolle Großmutter, die von ihren Enkelkindern heiß geliebt wurde. Ihre Mutter konnte aber auch mit Kindern besonders gut umgehen. Das wusste sie aus eigener Erfahrung, und das sah sie, wenn mal Kinder hier oben waren, auch fremde Kinder wandten sich ganz zutraulich an Marianne von Rieding.
Wenn nun das neue Baby ihre Mutter zum Bleiben veranlassen würde? Dann wäre das ein Geschenk des Himmels. Aber das war das ungeborene Kleine für Felix und sie ohnehin. Sie konnten dieses Wunder noch immer nicht richtig fassen. Wie verzweifelt hatten sie sich bemüht, noch einmal Eltern zu werden. Es hatte einfach nicht geklappt. Erst als sie resigniert aufgegeben hatten, war es geschehen. Einfach so. Es schien wirklich etwas Wahres dran zu sein, dass es geschah, wenn man nicht mehr mit Verbissenheit bemüht war.
Obwohl Sandra es hinreichend kannte, auch die Einstellung ihrer Mutter zum Herrenhaus, dem gesamten Anwesen, wagte sie einen weiteren Vorstoß.
»Mama, es wäre schön, wenn du nicht daran denken würdest, hier wegzuziehen. Du gehörst hierher. Das sehen auch die Sonnenwinkler so. Niemand präsentiert sich hier oben so wie du, niemand repräsentiert so. Alle sehen in dir die Herrin vom Erlenhof. Carlo und du, ihr habt doch überhaupt noch keine richtige Perspektive, keine richtigen Pläne, was mit dem Herrenhaus geschehen soll. Man trifft sehr schnell übereilt Entscheidungen, die man hinterher bereut. Für uns kommt auf jeden Fall kein Umzug infrage. Wir bleiben in unserem Domizil. Felix hat das Haus für sehr viel Geld ganz nach unseren Wünschen umbauen lassen. Wir fühlen uns alle pudelwohl, und im Haus wäre noch Platz für mindestens fünf weitere Kinder.«
Sie blickte ihre Mutter bittend an.
»Mama, ist es nicht wundervoll, dass wir so dicht beieinander wohnen? Wir können uns sehen, wann wir wollen, können miteinander Kaffee trinken oder gemeinsam essen. Die Kinder laufen nur ein paar Schritte, um zu dir und Carlo zu kommen. Und wenn Not am Manne ist, kannst du auf die Kinder aufpassen.«
Im Grunde genommen wusste Sandra, dass so etwas nicht viel brachte. Sie führten diese Diskussion nicht zum ersten Male. Auch vor Carlos Krankheit hatte Marianne bereits schon über einen Wegzug nachgedacht.
Gäbe es nicht ihre Sandra und deren Familie, wäre sie längst schon weg. Natürlich würde es ihr schwerfallen, von ihrer Tochter und ihren geliebten Enkeln getrennt zu sein. Marianne mochte auch ihren Schwiegersohn sehr gern. Aber sie durfte nicht vergessen, dass sie in erster Linie ihr eigenes Leben leben musste, nicht das ihrer Familie.
Andere Menschen lebten weit voneinander entfernt. Die Auerbachs hatten ihre beiden jüngsten Kinder beispielsweise in Australien. Und das war nicht gerade nur um die Ecke. Es war halt so, und sie mussten damit fertig werden.
Marianne war hin und her gerissen. Es war wirklich so, dass sie längst eine Entscheidung getroffen hätte, gäbe es nicht ihre Familie gleich nebenan. Das hatte schon etwas für sich. Aber sie wusste, dass man nicht alles haben konnte.
»Sandra, lass uns das Thema beenden. Noch ist wirklich überhaupt nichts spruchreif. Ich erinnere dich nur immer wieder daran, dass du nicht irgendwann aus allen Wolken fällst, wenn Carlo und ich eine Entscheidung getroffen haben. Komm, lass uns über das Baby sprechen, das du unter deinem Herzen trägst. Weißt du denn schon, was es sein wird?«
Sandra schüttelte den Kopf.
»Nein, und wir möchten es auch nicht wissen. Wir lassen uns überraschen. Wir freuen uns über einen Jungen genauso wie über ein Mädchen. Die Hauptsache ist doch, dass es gesund ist. Und danach sieht alles aus. Und dafür müssen wir dankbar sein, und das sind wir auch.«
Das Baby war auf jeden Fall ein sehr viel spannenderes Thema als ein Wegzug, und die nächste Stunde sprachen die beiden Frauen über nichts anderes.
Erst als sie das Herannahen eines Autos hörten, unterbrach Marianne sich.
»Das wird Carlo sein. Dann will ich jetzt mal gehen, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass du jetzt über Krankheiten reden möchtest. Und davon wird Carlo anfangen, weil er schließlich von Frau Doktor Steinfeld kommt.«
Marianne stand auf.
»Darf ich es Carlo sagen?«, erkundigte sie sich.
Dagegen hatte Sandra nichts einzuwenden. Carlo gehörte zur Familie, er war der Mann an der Seite ihrer Mutter. Und er war wirklich ein Glücksfall. Niemand hätte für möglich gehalten, dass ihre Mutter noch einmal eine späte Herzensliebe erleben würde. Ihre Mutter sperrte sich gegen das alles hier oben, dabei hatte sie Carlo doch erst hier kennengelernt. Das vergaß sie manchmal.
Marianne von Rieding umarmte ihre Tochter.
»Ach, mein Kind, du weißt überhaupt nicht, wie sehr ich mich freue.«
Ehe Sandra etwas antworten konnte, verließ ihre Mutter das Haus. Draußen hörte Sandra sie mit Carlo sprechen. Die beiden pflegten einen sehr liebevollen Umgangston miteinander.
»Schön, dass du wieder da bist, mein Schatz«, rief Marianne. »Ich muss dir etwas erzählen, das wird dich vom Hocker reißen.«
Carlo würde sich ebenfalls freuen, davon war Sandra überzeugt. Sie strich sich behutsam über ihren gewölbten Leib. Sie und Felix würden ein Baby haben …, etwas Schöneres konnte es nicht geben.
*
Gerda Schulz lief wie ein gefangener Tiger durch das Haus. Es störte sie gerade die Fliege an der Wand, und Blacky, den schwarzen Kater, mit dem sie sich mittlerweile abgefunden hatte, bekam ihre schlechte Laune zu spüren.
»Hau ab!«, rief Gerda, »schleich nicht andauernd um mich herum.«
Blacky zog sich beleidigt zurück und verschwand unter dem Tisch.
Gerda blickte auf ihre Armbanduhr.
Wo Leonie nur blieb! Sie hätte bereits seit einer Stunde daheim sein müssen.
Ob ihr etwas passiert war?
Gerda spürte, wie ihr Herz sich verkrampfte und wie die Panik in ihr sich immer breiter machte.
Sie war nicht mehr sie selbst, seit sie und Leonie in dieses Haus im Sonnenwinkel gezogen waren. Seither hatte sie das Gefühl, auf einem Pulverfass zu sitzen, und sie glaubte die drohende Gefahr förmlich zu spüren.
Es war keine gute Entscheidung gewesen!
In all den Jahren ihrer Wanderschaft, ob es nun in England, Frankreich, Spanien, Portugal, Schottland oder Irland gewesen war, hatte sie ein solches Gefühl niemals verspürt.
Sie hätte nicht nachgeben sollen!
Wie konnte eine Heranwachsende denn darüber entscheiden, welcher Wohnsitz gut war oder nicht.
Leonie hatte im Internet das Haus und den Sonnenwinkel entdeckt, und da war sie außer Rand und Band gewesen, hatte unbedingt in genau dieses Haus ziehen wollen.
Und was hatte sie getan?
Getrieben von einem schlechten Gewissen, hatte sie ihrer Tochter diesen Wunsch erfüllt. Und anfangs hatte sie sogar geglaubt, dass es so hatte sein sollen. Sie hatte, nicht wie ursprünglich vorgesehenen, das Haus kaufen müssen, sondern man hatte es ihr vermietet. Und obwohl es mehrere Interessenten gegeben hatte, hatte die Vermieterin sich für sie und Leonie entschieden.
Seit sie hier eingezogen war, hatte sie keine Ruhe mehr gefunden, ja, sie fühlte sich manchmal regelrecht verfolgt. Und wenn sie an das Theater dachte, das sie damals veranstaltet hatte, als die Vase zerschlagen auf dem Boden gelegen hatte. Mit einem Messer bewaffnet war sie durch das Haus gezogen, um schließlich festzustellen, dass die Geräusche und das Zerschlagen der Vase eine schwarze Katze verursacht hatte, die einfach so ins Haus gekommen war. Blacky. Er hatte sie gesucht, denn er schien offensichtlich zu niemandem zu gehören. Und Leonie war überglücklich gewesen.
Ach ja, ihre Leonie, die blühte förmlich auf, und sie sagte ihr mehr als nur einmal täglich, wie glücklich sie doch war.
Und musste sie sich damit nicht zufriedengeben?
Sie tat doch alles für ihr Kind, sie wollte, dass Leonie glücklich war. Und hier war sie es, das war keine Frage.
Gerda stellte sich an die Terrassentür, blickte hinaus in den Garten, in dem sich hier und da bereits ein wenig vorwitziges Grün zeigte.
Alles sah so friedlich aus, doch der Schein trog, nichts war friedlich. In ihr brodelte ein Vulkan, der jederzeit ausbrechen und alles vernichten konnte.
Nein!
Gerda wandte sich ab. Noch war nichts geschehen, und was sollte ausgerechnet hier passieren?
In diesem Augenblick hörte sie in der Diele ein Gepoltere, Leonie schmiss ihre Schultasche auf den Boden und rief: »Hallo, Mami, ich bin wieder da, und ich habe einen tierischen Hunger. Was gibt es denn heute Leckeres zu essen?«
Sie kam ins Wohnzimmer, ein wunderschönes Mädchen mit roten Locken, grünen Augen.
Das allerdings nahm Gerda in diesem Moment kaum wahr.
Leonie war eine Stunde zu spät nach Hause gekommen, und das musste sie ihr erklären.
»Wo warst du?«, erkundigte Gerda sich. »Du hättest bereits vor einer Stunde hier sein müssen.«
Leonie blickte ihre Mutter irritiert an, dann begann sie zu lachen.
»Ich habe mich mit Manuel verquatscht. Zu dem werde ich übrigens heute Nachmittag nach Hause gehen. Er will mit mir für meine Mathe-Arbeit üben, die ich morgen schreiben werde, und er hat seine Mama auch schon gefragt. Die findet es okay, dass ich komme.«
Oh Gott! Das konnte jetzt nicht wahr sein!
Leonie wurde immer heimischer, fühlte sich immer wohler, und dieser Junge …, sie musste den Kontakt zu ihm unterbinden.
Gerda glaubte zwar nicht, dass dieser Manuel ihrer Leonie etwas antun würde. Aber sie wurde immer vertrauter mit ihm, und auch wenn Leonie das meiste nicht wusste, könnte sie doch etwas ausplaudern, das nicht gut für sie wäre.
»Ich will das nicht«, sagte Gerda, »und Mathe lernen kann ich auch mit dir. Schließlich habe ich dich jahrelang selbst unterrichtet, und du bist mühelos in die Jahrgangsstufe hineingekommen, in die du gehörst.«
Was war denn bloß mit ihrer Mutter los?
Seit sie im Sonnenwinkel wohnten, war sie verändert. Dabei war es hier doch so schön. Der Sonnenwinkel an sich, das Haus, ihr wunderschönes Prinzessinnenzimmer, und dann gab es auch noch Blacky, ihren schwarzen schnurrenden Prinzen.
»Mama, ich möchte aber mit Manuel lernen, der kann es mir besser beibringen, und der hat in Mathe immer eine Eins oder eine Einsplus. Wenn es jemand kann, dann ja wohl der Manuel. Und, Mami, Manuel würde ja auch zu uns kommen. Aber du willst ja hier niemanden haben.«
Das stimmte, aber sie konnte ihrer Tochter jetzt sehr schlecht sagen, dass sie jegliche sozialen Kontakte vermeiden wollte, weil die gefährlich werden konnten.
»Hier ist noch nicht alles fertig«, redete Gerda sich heraus, »ich möchte Leute erst ins Haus lassen, wenn alles eingerichtet ist.«
Leonie fiel ihrer Mutter um den Hals.
»Mami, es ist doch alles schon so wunderschön. Du darfst nicht so kritisch sein. Und so etwas Wundervolles wie mein Prinzessinnenzimmer finden wir eh nicht mehr. Das ist nur einmalig auf der ganzen Welt. Und du hast es mir gekauft.«
Leonie presste sich ganz eng an ihre Mutter.
»Und du bist die allerbeste Mami auf der ganzen Welt. Ich bin ja so froh, dass ich dich habe, und ich bin auch so unendlich froh, dass wir jetzt hier wohnen. So schön war es noch nie zuvor, nirgendwo. Aber jetzt habe ich Hunger, Mami.«
Für einen Augenblick wünschte Gerda sich, wenigstens ein wenig von der Unbeschwertheit ihrer Tochter zu haben.
»Was gibt es denn?«, durchbrach die Stimme ihrer Tochter ihre Gedanken.
»Spaghetti Bolognese«, antwortete Gerda, und Leonie begann vor lauter Freude zu quietschen.
»Ich liebe Spaghetti«, rief sie im Brustton der Überzeugung. »Hoffentlich hast du davon genug gemacht.«
Als sie gemeinsam in die Küche gingen, bückte Leonie sich und nahm Blacky auf den Arm, der sie schnurrend umstrich.
»Und du, mein Schöner, worauf hast du denn Lust?«, wollte Leonie wissen. »Etwa auf Thunfisch?«
Als habe er sie verstanden, begann Blacky noch mehr zu schnurren.
»Mami, ich bin so froh, dass Blacky uns gefunden hat und dass sich niemand gemeldet hat, der ihn zurückhaben möchte. Ich glaube, alles hat so sein sollen, wie es gekommen ist. Schöner geht es nicht.«
Sie waren in der Küche angekommen, Leonie schnupperte und rief: »Mami, wie köstlich das schon riecht.«
Sie wollte sich hinsetzen, doch Gerda bestand darauf, dass ihre Tochter sich erst einmal die Hände wusch.
Leonie grinste.
»Ach, Mami, dich kann man wirklich nicht überlisten. Du hast ja recht, ich gehe rasch ins Badezimmer, und derweil kannst du mir eine Riesenportion auf den Teller tun.«
Als sie die Spaghetti aus dem Topf holte, zitterte ihre Hand so stark, dass sie erst einmal innehalten musste.
Was war bloß los mit ihr?
Warum freute sie sich nicht?
Alles war doch gut.
Wie gern würde sie das glauben, wie gern würde sie diesen Satz als ein Mantra benutzen.
Nichts war gut!
Alles war auf Sand gebaut!
Leonie kam zurückgerannt, und Gerda zwang sich, zu funktionieren.
Mit Begeisterung stürzte Leonie sich auf die Spaghetti, Gerda hatte keinen Appetit, aber sie konnte unmöglich vor einem leeren Teller sitzen. Also tat sie sich ein paar Spaghetti auf den Teller.
Als Leonie das sah, rief sie: »Mami, das kann doch jetzt nicht wahr sein. Du isst wie ein Vögelchen, und es ist überhaupt kein Wunder, dass du immer dünner wirst. Muss ich mir Sorgen machen?«
»Musst du nicht«, antwortete Gerda und legte notgedrungen noch etwas nach. Wie sie das allerdings herunterkriegen sollte, war ihr ein Rätsel. Sie fühlte sich wie zugeschnürt und glaubte, keinen Bissen herunterbekommen zu können.
Das konnte man von Leonie nicht behaupten.
Die aß voller Behagen, und die Portion auf dem Teller wurde immer kleiner.
Sie musste etwas verändern, dachte Gerda, die lustlos in ihren Nudeln herumstocherte. Wenn sie so weitermachte, dann steuerte sie in eine Depression hinein. Und dann?
Sie wurde abgelenkt, weil Leonie ihr von der Schule zu erzählen begann und dass es ihr dort sehr gut gefiel.
»Mami, es ist so schön, unter anderen Kindern zu sein. Du hast es ja auch ganz toll gemacht, und ich habe eine ganze Menge bei dir gelernt. Aber mit Kindern, das macht so viel mehr Spaß. Irgendwann darf ich auch Mädchen zu uns einladen, nicht wahr? Ich möchte allen doch so gern mein Prinzessinnenzimmer zeigen.«
Es war zu verstehen, Leonie hatte noch niemals zuvor ein Zimmer mit eigenen Möbeln gehabt.
»Irgendwann, mein Kind«, versprach Gerda. »Wir müssen nichts überstürzen.«
Das verstand Leonie zwar nicht so ganz, aber sie wollte ihre Mutter auch nicht verärgern. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Sie war hoffentlich nicht krank. Aber der Manuel hatte gesagt, dass es im Sonnenwinkel eine supertolle Ärztin gab. Dahin sollte ihre Mami einmal gehen. Ihr durfte nichts passieren. Sie hatte doch sonst niemanden auf der ganzen Welt, und sie liebte ihre Mami über alles …
Auch wenn sie besorgt war, hinderte es Leonie nicht daran, um eine weitere Portion Spaghetti Bolognese zu bitten.
Gerda stocherte noch immer in ihrer ersten Portion herum. Aber das bekam Leonie zum Glück nicht mit, sie hatte viel zu erzählen, und es schmeckte ihr ja so gut!
*
Roberta sah die Krankenakte von Inge Auerbach auf ihrem Schreibtisch, und sie fragte sich unwillkürlich, weswegen sie gekommen war. Die Routineuntersuchungen lagen hinter ihr, alles war in Ordnung gewesen.
Nun ja, vielleicht hatte sie sich im Haushalt verletzt, oder sie war auch von der Grippe betroffen, die überall grassierte.
Roberta rief Inge in ihr Zimmer. Sie mochte die Auerbachs sehr, sie und die von Roths waren ihre ersten Patienten gewesen.
Das herzliche Verhältnis zwischen ihr und Inge war jetzt allerdings ein wenig getrübt, seit sie die Jüngste nachts aufgegriffen hatte, die von zu Hause weggelaufen war, weil sie zufällig durch Fremde erfahren hatte, dass sie keine richtige Auerbach war, sondern dass man sie adoptiert hatte. Eine schreckliche Geschichte. Und Roberta konnte eigentlich nur froh sein, dass Pamela mit zu ihr gekommen war. Mit den Auerbachs wollte sie nichts mehr zu tun haben. Die arme Kleine war so traumatisiert, dass sie alle emotionalen Bindungen zu ihrer Familie gekappt hatte. Bis auf die zu Hannes, ihrem Bruder, mit dem sie mehr oder weniger im Sonnenwinkel aufgewachsen war.
»Hallo, Frau Auerbach«, begrüßte Roberta ihre Patientin, die müde und blass aussah, »was führt Sie zu mir?«
Inge nahm den ihr angebotenen Platz ein, dann sagte sie nicht sofort etwas. Erst als Roberta sie ermunterte, kam ein müdes: »Frau Doktor, ich kann einfach nicht mehr. Ich bemühe mich sehr, und einiges ist ja auch schon viel besser geworden, und mein Mann und ich versuchen, unseren Alltag wieder miteinander zu leben. Eine Zeit lang haben wir uns ja nur angegiftet und uns gegenseitig mit Schuldzuweisungen überhäuft. Aber nachts …, da fallen die Gedanken über mich her wie eine Horde wilder Tiere. Ich denke an Pamela, die nicht mehr Bambi genannt werden will, sehe sie irgendwo im fernen Australien bei Hannes. Mein Gott noch mal, Hannes ist doch selber noch ein Kind. Wie kann er sich richtig um ein Mädchen kümmern, dass den schlimmsten Schock seines Lebens erlitten hat? Hannes ist unser leibliches Kind, der weiß nicht, was Bambi, äh Pamela jetzt durchmacht, die von Fremden die traurige Nachricht erfahren musste, nur weil Werner und ich zu feige waren, ihr die Wahrheit zu sagen.«
Inge Auerbach war noch weit davon entfernt, wirklich in ihren Alltag zurückzufinden. Das war Roberta jetzt klar. Und wenn sie tagsüber ihr altes Leben zu führen versuchte, dann war es mehr ein Funktionieren.
»Frau Auerbach, natürlich ist es schlimm, so wie es geschehen ist. Und das wünscht man niemandem. Aber es ist geschehen, und jetzt kann man nur noch versuchen, das Beste daraus zu machen. Und wenn man so will, hätte alles sehr viel schlimmer kommen können. Pamela ist bei ihrem Bruder, zu dem sie Vertrauen hat, und unterschätzen Sie Ihren Hannes nicht. Es lässt sich nicht alles am Alter bemessen. Es gibt Menschen, die befinden sich bereits im Rentenalter und haben nichts gelernt. Hannes ist klug, intuitiv, und er ist sehr clever. Dieses Jahr durch die Welt zu reisen, hat ihn erfahren gemacht. Und er ist sofort gekommen, als er mitbekam, dass es hier bei Ihnen ganz gehörig brannte. Ich stehe ja mit Hannes und Pamela ebenfalls in Verbindung, wie Sie wissen. Und alles, was ich höre, klingt positiv. Sie geht dort zur Schule, hat Freundinnen, und ihre Schulleiterin Mrs Brewster kümmert sich sehr um sie.«
Hatte Inge eigentlich zugehört?
Sie saß zusammengesunken wie ein Häufchen Elend auf ihrem Stuhl. Irgendwann sagte sie: »Sie fehlt mir ja so sehr, meine Kleine und ich, wir waren ein Herz und eine Seele …, und nun …« Sie machte eine kurze Pause, ehe sie beinahe erloschen sagte: »Es ist alles aus, ich habe sie für immer verloren. Und was besonders schlimm ist, wir haben uns nicht im Frieden voneinander getrennt. Das kann niemals mehr etwas werden.«
»Frau Auerbach, das sehe ich nicht so. Pam fühlt sich ja einigermaßen wohl in Australien, aber zwischen den Zeilen kann man schon lesen, dass sie den Sonnenwinkel vermisst. Auch ihre Familie. Geben Sie ihr Zeit, und noch eines – akzeptieren Sie, dass Ihre Tochter Pam oder Pamela genannt werden möchte, wie sie ja auch wirklich heißt. Bambi ist für kleine Rehe schön, aber auch die werden größer, und dann sind es keine Bambis mehr. Alles hat seine Zeit, halten Sie nicht an so etwas fest. Ich schreibe Ihnen jetzt ein pflanzliches Mittel auf, das Ihre inneren Spannungen löst, ein wenig Ihre Nervosität lindert und Sie vor allem schlafen lässt. Aber auch wenn es pflanzlich ist, lassen Sie es nicht zur Gewohnheit werden. Versuchen Sie, wieder eine optimistischere Lebenseinstellung zu gewinnen, was Ihre Tochter anbelangt. Pam geht es gut. Es hätte alles viel schlimmer kommen können. Das müssen Sie sich sagen, denn rückgängig gemacht werden kann nichts. Denken Sie nicht so viel nach, und wenn es nicht hilft, dann rate ich Ihnen wirklich, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Hier in unserem Land haben wir Probleme damit und betrachten es als einen Makel, wenn wir einen Psychiater aufsuchen. Die Amerikaner sehen das ganz anders. Für die ist ein Besuch bei einem Psychiater so etwas wie der regelmäßige Zahnarztbesuch. Und da wird auch ganz offen darüber gesprochen. Ich kenne eine sehr gute Kollegin, die ich Ihnen dann empfehlen würde. Ansonsten tut Bewegung gut. Wir haben diesen wundervollen Sternsee vor der Tür. Den zu umrunden ist beinahe wie Meditation.«
»Am See tut sich etwas«, sagte Inge, und Roberta wurde den Eindruck nicht los, dass sie ablenken wollte. »Alles vom ehemaligen Bootshaus wurde abgerissen, und das Haus, in dem Kay wohnte, wird renoviert. Es scheint so, als wolle da jemand einziehen, was man ja auch verstehen kann. Wer Ruhe und Natur liebt, kann besser nicht wohnen. Und es ist auch etwas Besonderes, dort leben zu dürfen. Die Genehmigung wurde vor vielen Jahren für dieses Haus erteilt, und niemand weiß mehr so genau, weswegen. Ansonsten darf man in diesem Naturschutzgebiet nicht einmal eine Mauer ohne Zustimmung der Gemeinde versetzen.«
Roberta spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte.
Das Haus am See …
Mit wie vielen Erinnerungen war es verbunden, wundervollen, aber auch schmerzlichen.
Sollte Kay es sich anders überlegt haben, und er würde zurückkehren?
Nein! Diesen Gedanken verwarf Roberta so schnell, wie er ihr gekommen war.
Käme Kay zurück, würde man nicht das Bootshaus abreißen. Er würde wieder hobbymäßig einen Bootsverleih betreiben.
»Ist ja interessant«, sagte Roberta, weil sie glaubte, Inge erwarte einen Kommentar von ihr. »Da bin ich mal gespannt, wer dort seine Zelte aufschlagen wird.«
Inge zuckte die Achseln.
»Auf jeden Fall jemand, der wichtig zu sein scheint, sonst wäre es nicht genehmigt worden. Ich weiß, dass Leute aus dem Sonnenwinkel sich darum bemüht haben, und das ist abgelehnt worden.«
Roberta stand auf.
»Freu Auerbach, mir fällt gerade ein, dass ich Ihnen das Mittel nicht aufschreiben muss. Der Pharmavertreter hat mir ein paar Proben dagelassen, und eine davon möchte ich Ihnen gern geben. Bitte, nehmen Sie jeden Abend vor dem Schlafengehen eine Tablette ein, und kurz bevor die Packung aufgebraucht ist, sehen wir uns wieder. Aber bitte, noch einmal, verlassen Sie sich nicht auf die Tablette, die hat keine Zauberkraft.
Sie soll Sie lediglich unterstützen, das meiste müssen Sie selbst tun, und wenn es Ihnen schwerfällt, wie gesagt, scheuen Sie sich nicht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.«
Inge blickte die Ärztin an.
»Danke, Frau Doktor. Wissen Sie, was ich an Ihnen so großartig finde? Sie hören Ihren Patienten zu, und Sie greifen nicht sofort zum Rezeptblock, um gegen alle Wehwehchen etwas aufzuschreiben. Es gibt ja leider Kollegen von Ihnen, die ungeniert wie bunte Smarties alles gegen alles aufschreiben.«
Inge stand auf, weil sie schließlich wusste, wie knapp bemessen die Zeit von Roberta war.
»Ich werde mich bemühen, nicht mehr alles so schwarz zu sehen, und ich verspreche Ihnen, dass ich die Tabletten nur zur Unterstützung nehmen werde. Aber für mich ist es augenblicklich beruhigend, sie zu haben. Und pflanzliche Präparate sind ja nicht ganz so schlimm wie die chemischen Keulen, die man meistens bekommt.«
»Arznei ist Arznei, liebe Frau Auerbach. Und wenn es unumgänglich ist, sollte man sie auch nehmen. Aber am besten ist, man kommt ohne aus.«
Roberta reichte Inge die Hand.
»Wir sehen uns, Frau Auerbach. Und Kopf hoch, Sie schaffen das, und Ihre jüngste Tochter, die schafft es auch. Sie hatte in all den Jahren ganz wunderbare Vorbilder. Pam ist stark, und das ist sie letztlich durch Sie geworden.«
Inge versuchte ein verzagtes Lächeln.
»Danke, Frau Doktor, Sie verstehen es auf ganz wunderbare Weise, einen immer wieder aufzubauen.«
Dann ging sie, und Roberta blieb ein wenig nachdenklich zurück.
Sie wünschte sich so sehr, dass Inge Auerbach wieder zu ihrer ursprünglichen Kraft zurückfinden würde. Inge Auerbach war eine so starke, eine so liebenswerte Frau. Sie würde es schaffen, daran hatte Roberta überhaupt keinen Zweifel, aber sie musste erst einmal ihren Kopf freibekommen, und sie durfte sich vor allem nicht länger von ihren Schuldgefühlen quälen lassen.
Ehe Roberta den nächsten Patienten hereinrief, dachte sie noch einmal kurz an das, was Inge Auerbach ihr erzählt hatte.
Das Haus am See …
Es interessierte Roberta nicht wirklich, wer dort wann einziehen würde und überhaupt. Ihre Gedanken gingen für einen kurzen Augenblick zurück in die Vergangenheit. Kay …, sie dachte nicht mehr sehnsuchtsvoll und zerrissen an ihn, an jenen Mann, mit dem sie eine sehr kurze, aber wundervolle Liebe erlebt hatte. Es hatte lange gedauert, aber letztlich hatte ihr Verstand gesiegt, weil es, auch wenn er geblieben wäre, mit ihm keine Zukunft gehabt hätte. Ein Abenteurer und sie, das ging überhaupt nicht. Ihre Herzen und ihre Seelen hatten zwar einen wundervollen Weg zueinandergefunden, doch ihre Welten drifteten zu stark auseinander. Es hätte mit ihnen keinen lebbaren Alltag gegeben. Und das Leben fand schließlich auf Erden statt und nicht auf Wolke Sieben.
Der Schmerz war einer sanften Zärtlichkeit gewichen, wenn sie an ihn dachte. Das zwischen ihr und Kay war im rechten Moment geschehen, denn er hatte viel dazu beigetragen, dass sie ihre schreckliche Ehe mit Max Steinfeld vergessen konnte. Vor allem hatte Kay ihr auch wieder den Glauben daran gegeben, dass nicht alle Männer so waren wie Max.
Ach Kay …
Für ihn hatte sie warme, zärtliche Gefühle. Mehr nicht. Lag das daran, dass die Gedanken an einen anderen Mann in ihr herumgeisterten, den sie sogar endlich beim Namen nennen konnte … Lars Magnusson. Aber das war es auch schon, mehr wusste sie über ihn nicht. Und er hatte sich auch nicht wieder bei ihr gemeldet, und sie wusste nicht, was sie davon zu halten hatte.
Mit einer Flasche Wein bei ihr vorbeizukommmen, war eine schöne Idee gewesen. Und sie hatten sich auch ganz wunderbar miteinander unterhalten.
War er nur bei ihr vorbeikommen, um auszutesten, wie er auf sie wirkte? Hatte er mitbekommen, dass sie …, oh nein, es wäre gruselig, wenn er wüsste, dass sie in ihn verliebt war.
Ursel Hellenbrink steckte den Kopf zur Tür herein.
»Frau Doktor, alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich besorgt. Sie kannte es nicht von ihrer Chefin, dass sie zwischen den einzelnen Patienten längere Pausen einlegte.
Oh nein!
Roberta bemühte sich, ihrer Mitarbeiterin nicht zu zeigen, wie schlecht sie sich gerade fühlte. So etwas war ihr noch nie zuvor vorgekommen.
Was sollte Ursel von ihr denken?
Roberta suchte Zuflucht in einer Notlüge, obschon sie so etwas hasste.
»Ich habe versucht, für Frau Auerbach einen Termin zu machen. Es hat nicht geklappt. Bitte, führen Sie den nächsten Patienten herein. Wer ist es denn?«
»Herr Hagedorn, und Sie werden nicht sehr erfreut sein. Er hat mir schon gestanden, dass er seine Blutdrucktabletten nicht regelmässig und wenn, dann auch nicht pünktlich eingenommen hat. Seine Werte spielen verrückt. Als ich gerade gemessen habe, lag der systolische Wert bei 240, und der diastolische Wert war 118. Reden Sie bitte noch mal eindringlich mit ihm. Er ist doch nicht blöd, und kein Mensch setzt aus lauter Nachlässigkeit seine Gesundheit aufs Spiel.«
Sofort war Roberta wieder bei der Sache, zumal der Patient es einfach nicht begreifen wollte, wie sehr er mit seiner Gesundheit spielte.
»Ich rede mit ihm«, sagte Roberta. »Bitte, schicken Sie ihn zu mir.«
Das geschah, und jetzt war Roberta nur noch die Ärztin, die sehr um den Gesundheitszustand ihres Patienten besorgt war. Sie verschwendete keinen Gedanken mehr an Kay und an Lars Magnusson ebenfalls nicht. Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie sich für einen Moment hatte ablenken lassen. So etwas durfte einfach nicht vorkommen.
*
Leonie Schulz war ganz aufgeregt, als es an der Haustür klingelte, und Manuel Münster kam, um sie abzuholen. Zum Glück meckerte ihre Mutter nicht mehr, dass sie mit Manuel bei ihm daheim für die Mathearbeit lernen wollte. Manchmal war ihre Mami wirklich komisch, und Leonie wusste nicht, warum. Jetzt war doch alles gut. Sie wohnten im Sonnenwinkel in einem wunderschönen Haus, und Leonie konnte jetzt sogar schon auf dem Fahrrad fahren, das hatte Manuel ihr beigebracht, und sie durfte auch das Fahrrad seiner Stiefmutter erst einmal benutzen. Das war richtig lieb, und Leonie würde sie gleich kennenlernen und konnte sich bei ihr bedanken. Ein bisschen aufgeregt war sie schon.
Sie umarmte ihre Mutter, dann riss sie die Haustür auf. Es war wirklich Manuel, und er sagte: »Hi, Leonie. Können wir?« Sie nickte aufgeregt, dann sagte sie: »Hi, Manuel.«
Sie hatte vereinbart, dass sie mit dem Fahrrad hinauf zum Erlenhof fahren würde, und Leonie war schon ein bisschen aufgeregt. Bis zum Erlenhof, das war ein ganz schöner Berg, und bislang hatte sie ihre Fahrkünste nur auf den ebenen Wegen am See bewiesen.
Würde sie das schaffen?
Sie musste es. Sie konnte sich vor Manuel unmöglich eine Blöße geben.
Leonie holte ihr Fahrrad aus der Garage, und dann radelten sie los. Es war herrlich und machte so unglaublich viel Spaß. Und den hatten auch sie, als sie sich miteinander unterhielten.
Zuerst war es überhaupt kein Problem, es ging nur ganz allmählich bergan. Aber dann wurde es steil. Es war ganz schön schwierig. Leonie war sich nicht sicher, ob sie das schaffen würde, kräftig in die Pedalen zu treten und gleichzeitig die Spur zu halten.
Plötzlich stieg Manuel von seinem Fahrrad, was sie ebenfalls anhalten ließ. »Was ist los?«, wollte Leonie wissen.
Er fuchtelte an seinem Fahrrad herum, murmelte etwas vor sich hin, dann richtete er sich wieder auf: »Mist, mit meiner Luft am Hinterreifen stimmt etwas nicht, und ich habe leider keine Luftpumpe dabei. Ich fürchte, ich muss mein Fahrrad jetzt schieben.«
Leonie hätte am liebsten gejubelt, denn lange hätte sie es nicht mehr durchgehalten. Und sie konnte sich doch vor Manuel keine Blöße geben.
»Dann schieb ich mein Fahrrad auch«, sagte sie.
Als sie das breite Grinsen auf seinem Gesicht bemerkte, war sie ein wenig verunsichert, und sie fragte sich, ob Manuel das alles nur inszeniert hatte, weil von ihm bemerkt worden war, dass sie schwächelte.
So etwas passte zu Manuel!
Und wenn es wirklich so war, dann war es so etwas von peinlich.
Aber sollte sie jetzt auf ihr Fahrrad steigen und losradeln?
Sie sah den immer steiler werdenden Berg vor sich. Nein, auf keinen Fall. Sie hätte ihm jetzt sogar die Luftpumpe von ihrem Fahrrad anbieten können, die übersah sie besser.
Manuel begann ihr das eine oder andere zu erklären, und irgendwann waren sie vor der Dependance angekommen, in der Manuel mit seiner Familie wohnte.
Leonie wusste überhaupt nicht, wohin sie zuerst blicken sollte, zu diesem neuen Haus oder dem herrschaftlichen Herrenhaus, in dem seine Großmutter und deren Mann wohnten.
Aus ihrer Zeit in England, Irland und Schottland kannte Leonie Herrensitze, allerdings nur aus der Ferne. So nahe dabei war sie noch nie gewesen.
Sandra Münster kam aus dem Haus, sie wollte die Zwillinge gerade nach Hohenborn bringen.
Sie begrüßte Leonie, und Leonie war hingerissen. Seine Stiefmutter sah nicht nur toll aus, nein, sie war ja auch so unbeschreiblich nett.
»Du bist also Leonie«, sagte sie und reichte Leonie die Hand.
»Manuel hat schon viel von dir erzählt. Schön, dass ich dich kennenlerne. Ich habe euch in Manuels Zimmer etwas zu essen und zu trinken hingestellt. Wer viel lernt, muss sich zwischendurch auch mal stärken.«
Die Zwillinge kamen aus dem Haus gerannt, blieben vor ihnen stehen, musterten Leonie neugierig. Dann erkundigten sie sich gleichzeitig, wie im Duett: »Bist du eine Freundin von Manuel, so wie Bambi, die jetzt in Australien wohnt?«
Leonie wurde vor lauter Verlegenheit rot, doch Sandra Münster rettete die Situation.
»Seid nicht so neugierig, Kinder, sondern steigt ins Auto, sonst kommen wir zu spät.«
Die Zwillinge gehorchten, und Manuel führte Leonie ins Haus. Die sah sich interessiert um. Es war alles wunderschön, beinahe so schön wie ihr Prinzessinnenzimmer.
Das Zimmer von Manuel lag im ersten Stock, und es war recht groß. Es war schön, doch das nahm Leonie bewusst überhaupt nicht richtig war. Wie magisch angezogen steuerte Leonie auf ein Klavier zu, das an einer Wand stand.
Ehe sie eine Bemerkung machen konnte, sagte Manuel: »Das Klavier gehörte meiner richtigen Mutter. Die konnte ganz toll Klavierspielen. Papa hat das Klavier behalten, und er meint, dass es mir gehören soll. Dass meine Mama es so gewollt hätte.«
Leonie war ganz aufgeregt.
»Und spielst du Klavier?«, wollte sie wissen.
Manuel lachte.
»Leider nein, ich habe null Talent, und meine Klavierlehrerin, die ich anfangs hatte, hat resigniert aufgegeben und mir geraten, es mit einem anderen Instrument zu versuchen.«
»Und, hast du?«
Sein Lachen verstärkte sich.
»Nö, man muss nicht alles können. Ich höre gern Musik, aber selber machen muss ich sie nicht.«
Leonie hörte kaum zu. Sie war einfach zu fasziniert von dem Klavier, strich behutsam über das schwarze Ebenholz, dann erkundigte sie sich: »Darf ich?«
Als er nickte, schlug sie den Deckel auf, setzte sich auf den Drehstuhl, dann betrachtete sie beinahe hingerissen die weißen und die schwarzen Tasten, ehe sie sie beinahe zärtlich mit den Fingern berührte. Und dann geschah etwas, was ihr nicht bewusst wurde, sie begann zu spielen. Erst drückte sie zögerlich die eine oder andere Taste, dann formten ihre Finger eine Melodie. Als ihr das bewusst wurde, hielt sie erschrocken inne.
Was war da jetzt geschehen?
»Warum spielst du nicht weiter. Es klang schön. Wie lange hast du schon Klavierunterricht?«
Leonie war wie versteinert.
Sie schluckte.
Sie hatte einen ganz trockenen Hals, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie Manuel erzählen konnte, dass sie noch nie zuvor ein Klavier gesehen hatte, geschweige denn, eines von ihr berührt worden war.
Sie war erschüttert, war voller Nichtbegreifen, doch Manuel nahm es locker.
»Dann bist du ein Naturtalent, so was wie ein Genie. Ich denke, du solltest Unterricht nehmen, wenn du willst, dann leihe ich dir sogar mein Klavier. Ich glaube, es ist ein ziemlich gutes, ist von Bechstein. Und mein Papa hätte ganz bestimmt nichts dagegen.«
Es war ein tolles, ein so großherziges Angebot, doch das bekam Leonie nicht richtig mit.
Sie wirkte entrückt, sie war fasziniert, sie war wie gelähmt, sie war innerlich aufgewühlt!
Als müsse sie sich selbst überzeugen, dass sie das gerade nicht geträumt hatte, berührte sie erneut die Tasten, zunächst stumm, dann ging alles wie von selbst.
Was sie spielte, war nicht meisterlich. Sie spielte wie jemand mit einem guten musikalischem Gespür.
Aber wieso konnte sie das?
Sie war durcheinander und brach mitten in dem Lied ab, stand abrupt auf.
»Wir sollten jetzt Mathe lernen. Deswegen bin ich hier«, sagte sie, und das war so etwas wie Selbstschutz. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie noch Stunden am Klavier verbringen können.
Sie war innerlich so aufgeregt, dass es eine ganze Weile dauerte, bis sie Manuel folgen konnte, der wirklich sehr gut erklären konnte. Und zum Glück begriff sie auch, worum es ging.
»Wir machen eine Pause«, sagte Manuel schließlich, und sie machten sich beide über die Schokomilch und die wirklich leckeren Kekse her, die seine Stiefmutter für sie hingestellt hatte.
Während sie aß, blickte Leonie verlangend in Richtung Klavier. Wie gern wäre sie jetzt aufgestanden und hätte es noch einmal versucht.
Aber das ging nicht. Deswegen war sie nicht hier, und sie musste selbst erst einmal verarbeiten, was da geschehen war.
Schade, dass ihre Mami das nicht mitbekommen hatte. Die würde wahrscheinlich vor lauter Stolz platzen. Ihre Mami freute sich immer, wenn ihr etwas gelang, wenn sie gute Noten schrieb, wenn sie eine Fremdsprache schnell lernte.
Klavierspielen …
Ihre Mami musste es erfahren, schnell.
»Sollen wir weitermachen?«, erkundigte sie sich, dabei hatten sie ihre Schokomilch noch nicht einmal ausgetrunken, und der Teller mit den Keksen war längst noch nicht geleert.
»Wie du willst«, sagte Manuel, der Leonie nicht so richtig verstehen konnte. Früher, als Bambi zu ihnen gekommen war, hatte es auch immer etwas Leckeres gegeben, aber die war nicht aufgestanden, ehe alles aufgegessen war. Die beiden Mädchen waren schon ganz verschieden. Er mochte sie beide, nun ja, ein bisschen mehr vielleicht Bambi, die jetzt Pam genannt werden wollte. Doch das lag gewiss daran, dass sie ihre ganze Kindheit gemeinsam verbracht hatten. Da kannte man sich halt anders.
Sie lernten noch eine Weile, und Leonie bemühte sich sehr, sich zu konzentrieren. Sie war ein kluges Mädchen, und sie begriff schnell. Deswegen brach sie seine Nachhilfe beizeiten ab.
»Willst du noch mal Klavierspielen?«, erkundigte er sich. »Fänd ich cool.«
Sie hätte es gern getan, aber in ihrem Herzen stritten zwei Seelen. Auf der einen das nicht erklärbare Verlangen, sich an das Klavier zu setzen und zu spielen, und dann der Wunsch, ihrer Mami diese unglaubliche Geschichte zu erzählen. Die würde Augen machen, und vielleicht war sie damit einverstanden, dass sie Unterricht bekam.
»Ein andermal, Manuel, danke. Jetzt möchte ich lieber nach Hause.«
Als er sie nach Hause bringen wollte, lehnte sie auch das ab. Sie mochte Manuel, sie unterhielt sich gern mit ihm. Doch sie musste jetzt allein sein, über alles nachdenken, was sie innerlich so sehr berührte. Es war ja nicht nur das mit dem Klavier, nein, da war noch eine ganz unstillbare Sehnsucht, und sie musste sich zusammenreißen, dass sie jetzt nicht anfing zu weinen.
»Na ja, den Berg hinunter, das ist leichter«, grinste er.
»Sehen wir uns morgen früh am Bus?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Geht nicht, bei uns fällt die erste Stunde aus, die Biologielehrerin ist krank.«
Das gefiel ihm nicht, doch da war nichts zu machen. »Schade, dann fahren wir eben zusammen nach Hause. Du hast doch auch zur sechsten Stunde aus, oder?«
Das bestätigte Leonie, dann bedankte sie sich noch einmal, und ehe sie sein Zimmer verließ, verkniff sie es sich, sich noch einmal ans Klavier zu setzen, aber sie strich wenigstens behutsam über das schwarze Holz, dabei verspürte sie ein Gefühl, das Schmerz und Freude zugleich bedeutete.
Vielleicht hätte sie vor lauter Ergriffenheit nun doch angefangen zu weinen, hätte Manuel sie nicht abgelenkt.
Er brachte sie noch bis zu ihrem Fahrrad, und dann gab er ihr noch ein paar Anweisungen. So waren wohl alle Jungen, die mussten einfach wichtig sein.
»Leonie, der Berg ist ziemlich steil. Unterschätze das nicht, und tritt auf die Rücktrittbremse, wenn es zu schnell wird. Versprichst du mir das?«
Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass er nervte.
»Ich verspreche es«, sagte Leonie stattdessen, weil sie Manuel nicht verärgern wollte. »Und danke noch mal für deine Hilfe bei Mathe und …, für alles. Bis morgen dann.«
»Ja, bis morgen, und mach dir wegen der Mathearbeit keinen Kopf. Du schaffst das.«
Wie nett er doch war!
Leonie lief zu ihrem Fahrrad, stieg auf, und dann fuhr sie los. Der Berg war wirklich ziemlich steil. Und es machte ihr ein wenig Angst, als es immer schneller wurde. Als sie um die Ecke bog und sicher sein konnte, von Manuel nicht mehr gesehen zu werden, stieg Leonie vorsichtshalber ab. Es war schon ziemlich schwierig gewesen, den Berg hinaufzufahren, das hatte sie nicht geschafft. Aber das jetzt, das war noch viel schwieriger. Das war ihr nicht ganz geheuer, und deswegen fand sie es richtiger, ihr Fahrrad zu schieben. Und genau das tat Leonie jetzt. Besser so, als irgendwo im Gebüsch zu landen, zumal es ja nicht einmal ihr eigenes Fahrrad war.
*
Unten im Sonnenwinkel angekommen, stieg Leonie wieder auf ihr Fahrrad und radelte los. Und sie war ganz stolz zu sehen, wie gut es auf ebenen Wegen bereits klappte. Da fühlte sie sich sehr sicher. Und das andere würde auch noch kommen. Da machte sie sich überhaupt keine Sorgen. Wenn sie daran dachte, wie sie herumgeeiert war, als sie sich das erste Mal auf das Fahrrad gesetzt hatte. Aber Manuel war ein geduldiger und sehr guter Lehrer gewesen.
Ach, der Manuel, sie mochte ihn ja so gern. Es war schön, einen Freund wie ihn zu haben. Und seine Stiefmutter, die war auch eine sehr Nette, und die Zwillinge, die waren ganz schön aufgeweckt. Aber Leonie hätte auch gern Geschwister gehabt. Daran hatte sie niemals zuvor gedacht, sie war immer mit ihrer Mutter allein gewesen und hatte es deswegen als normal empfunden. Seit sie im Sonnenwinkel wohnten, seit sie immer mehr Leute kennenlernte, auch ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, stellte sie mit Erstaunen fest, dass es andere Konstellationen gab. Und da begann sie schon ein wenig darüber nachzudenken.
Leonie war daheim angekommen. Sie stellte das Fahrrad in die Garage, und dann stürmte sie ins Haus.
»Mami, Mami«, schrie sie schon in der Diele ganz aufgeregt.
Leonie! Wieso war sie schon wieder daheim? Wieso war sie so aufgeregt, da war doch hoffentlich nichts geschehen. Gerda kam aus der Küche gerannt.
»Ist etwas passiert?«, erkundigte sie sich ganz besorgt.
»Ja, Mami, es ist etwas passiert«, rief Leonie. Sie hatte ein vor lauter Aufregung hochrotes Gesicht, ihre Augen blitzten. »Du wirst es nicht glauben. Aber stell dir vor, in Manuels Zimmer steht ein Klavier. Ich habe mich drangesetzt, und weißt du was, ich konnte einfach so ein Lied spielen, das mir gerade in den Sinn kam. Mami, ich konnte es, obwohl ich zuvor noch nicht einmal ein Klavier gesehen hatte.«
Wie verstört hatte Gerda ihrer Tochter zugehört.
»Mami, ich muss unbedingt lernen, Klavier zu spielen.«
Der Teller, den Gerda mit nach draußen gebracht hatte, fiel ihr aus der Hand, es gab ein hässliches Klirren, als er auf dem Steinfußboden in viele Scherben zerbrach.
Scherben bringen Glück, sagte man ja allgemein. Das traf in diesem Fall nicht zu. Das war eine Katastrophe. Das musste sie unterbinden, am besten sofort im Keim ersticken.
Es kostete Gerda unglaublich viel Mühe, sich jetzt zusammenzureißen.
»Du wirst nichts tun«, sagte sie barsch, »das werde ich unterbinden. Kümmere dich um die Schule, da hast du genug zu tun. Und lerne zu begreifen, dass man nicht alles im Leben haben kann, das man sich wünscht. Verstanden?«
Leonie starrte ihre Mutter ganz entgeistert an.
So hatte ihre Mami noch niemals zuvor mit ihr geredet. Was war geschehen? Sie hatte doch überhaupt nichts getan! Sie hatte sich nur gefreut, und warum tat ihre Mami das nicht?
Leonie holte tief Luft.
»Du …, du bist ja so gemein«, rief Leonie, ehe sie an ihrer Mutter vorbei die Treppe hinauflief, in ihr Zimmer, und dort ließ sie die Tür mit lautem Krach ins Schloss fallen.
Gerda war am Ende.
Sie war nicht einmal in der Lage, die Scherben des zerbrochenen Tellers zusammenzufegen.
Sie hatte es geahnt, nein, sie hatte es gewusst, und dennoch hatte sie Leonies Wunsch nachgegeben, hier in dieses Haus zu ziehen.
Und nun holte es sie ein.
Gerda hatte das Gefühl, dass eine Krake sich ihr langsam und unaufhaltsam näherte, und dass sich ihre Fangarme um sie schlangen und sie nichts dagegen tun konnte.
Wie hatte sie ahnen können, dass bei diesem Manuel ein Klavier stand.
Und noch weniger hatte sie ahnen können, dass Leonie sich an das Klavier setzen und einfach spielen würde. Wie war das möglich? Reichte dazu ein musikalisches Gespür? Oder aber …
Gerda spürte, wie sich feine Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten, wie sie immer panischer wurde.
Was sollte sie jetzt tun?
Blacky umstrich sie, doch Gerda nahm es nicht wahr.
Sie hätte Leonie gegenüber nicht so heftig werden dürfen. Sie hätte diplomatischer vorgehen müssen. Aber wie konnte man das, wenn man auf einmal das Gefühl hatte, einen heftigen Schlag in die Magengrube erhalten zu haben.
Leonie hatte sich an ein Klavier gesetzt und einfach gespielt …
Gerda konnte damit nicht fertig werden. Sie, die normalerweise einen klaren Verstand hatte, die immer wusste, was zu tun war, hatte das Empfinden, jemand habe ihr den Boden unter den Füßen weggezogen.
Was sollte sie tun?
Draußen hatte sich der Himmel aufgeklart, eine blasse Sonne bahnte sich ihren Weg durch die verhangenen Wolken. Das bekam Gerda nicht mit. Dabei sah es so schön aus, wie das monotone Grau da draußen einen hellen Glanz bekam.
Warum sah sie nicht hin?
Sie hätte es so deuten können, dass es nach dem Dunkel immer wieder Licht gab.
Vielleicht tat sie es nicht, weil es nicht an der Zeit war, zu orakeln, sondern weil sie eine ernsthafte Bedrohung spürte, von der sie nicht wusste, wie sie ihr begegnen musste.
Aber eines musste sie jetzt tun.
Das, was geschehen war, durfte so nicht im Raum stehen bleiben. Zwischen ihr und Leonie war immer alles so wunderbar gewesen. Durch dieses Vertrauensverhältnis durfte jetzt kein Riss gehen.
Sie musste etwas tun!
Aber was?
Sie war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, weil in ihr Panik und Angst waren, und sie spürte die Bedrohung körperlich. Sie zitterte, und in ihr breitete sich eisige Kälte aus.
Gerda riss sich zusammen. Sie kümmerte sich noch immer nicht um die Scherben des zerbrochenen Tellers, sondern sie ging langsam die Treppe hinauf, blieb vor Leonies Zimmer stehen.
Sie musste mit ihr reden.
Als Gerda die Türklinke herunterdrückte, merkte sie, dass sie sich vorhin nicht verhört hatte, Leonie hatte tatsächlich abgeschlossen. Und das war noch nie zuvor geschehen. Nirgendwo.
Gerda atmete tief durch, dann klopfte sie.
»Leonie, bitte mach auf.«
Nichts tat sich.
»Leonie, wir müssen miteinander reden. Bitte öffne jetzt die Tür.«
Auch ihr erneuter Versuch scheiterte. Wieder erfolgte nichts.
Ein derartiges Verhalten kannte Gerda nicht von Leonie.
Das irritierte sie. Was sollte sie jetzt tun? Bitten? Autoritär werden?
Gerda entschied sich für das Bitten.
»Leonie, es tut mir leid. Ich habe heftig reagiert. Doch lass es mich bitte erklären, warum es so war.«
»Ich will nicht!«
Insgeheim atmete Gerda auf, wenigstens sagte sie etwas.
»Leonie, zwischen uns ist alles so wunderbar gelaufen, weil wir immer über alles geredet haben. Bitte, lass es uns jetzt auch tun.«
Nichts.
»Bitte, Leonie«, Gerdas Stimme klang beinahe flehend, »mach auf.«
Zunächst geschah wieder nichts. Doch lag es am Klang ihrer Stimme, dass Leonie nun doch nachgab?
Gerda hörte Geräusche, Schritte näherten sich der Tür, der Schlüssel wurde im Schloss umgedreht, die Tür wurde geöffnet.
Mutter und Tochter standen sich gegenüber.
Es war nicht zu übersehen, dass Leonie geweint hatte, und Gerda hätte sie jetzt am liebsten spontan in die Arme genommen. Doch sie traute sich nicht.
»Danke, dass du geöffnet hast, Leonie«, sagte sie stattdessen. »Es tut mir wirklich leid, dass es zwischen uns zu diesem Missverständnis gekommen ist.«
Leonie sah ihre Mutter zweifelnd an.
Missverständnis nannte sie das? Das war es keinesfalls gewesen. Ihre Mutter hatte kategorisch etwas abgelehnt.
»Mami, ich habe doch überhaupt nichts gesagt. Ich habe dir von dem Klavier in Manuels Zimmer erzählt, auch, dass ich einfach so ein Lied spielen konnte. Und ja, dann habe ich gesagt, dass ich gern Klavier spielen möchte, und da bist du sauer geworden. Mami, warum? Du selbst sagst doch immer, dass es nicht schaden kann, ein Instrument zu spielen. Und du hattest die Idee mit der Flöte. Welchen Unterschied macht es denn, ob es nun eine Flöte ist oder ein Klavier? Wenn du sagst, dass ein Klavier zu teuer ist …, der Manuel würde mir seines leihen. Er kann darüber verfügen, denn es gehört ihm, es ist von seiner verstorbenen leiblichen Mutter.«
Durch ihre Worte hatte Leonie ihr die besten Argumente vorweggenommen. Sie musste umdenken, und weil sie noch nicht ganz genau wusste, wie sie argumentieren sollte, versuchte sie, Zeit zu gewinnen und schlug vor, dass man sich doch erst einmal setzen sollte.
Damit war Leonie einverstanden. Sie fühlte sich doch auch unwohl dabei, dass sie und ihre Mami sich zum ersten Male so richtig gezankt hatten. Das fühlte sich überhaupt nicht gut an.
»Leonie, ich möchte nicht, dass du etwas falsch verstehst. Ich möchte einfach nicht, dass du dich überforderst. Sieh einmal, wir wohnen kaum hier, alles ist neu. Der Sonnenwinkel, das Haus, die Schule. Du hast gelernt Fahrrad zu fahren, und nun soll es plötzlich das Klavierspielen sein. Alles auf einmal geht nicht.«
Leonie blickte ihre Mutter ein wenig misstrauisch an.
»Aber das hättest du mir doch ganz ruhig sagen können, Mami. Warum bist du denn so heftig geworden?«, erkundigte sie sich.
Und Gerda konnte nicht sofort etwas darauf sagen.
»Ich weiß es nicht«, log sie, »es war wohl aus lauter Angst um dich. Du bist doch das Einzige, was ich habe, und ich möchte nicht, dass du in irgendeiner Form Schaden nimmst. Auch etwas, was einem eigentlich Spaß macht, kann einen überfordern, wenn es zu viel ist.«
So hatte Leonie es nicht gesehen. Sie war nur begeistert und glücklich gewesen. Und das mit dem Klavier hatte einen solchen Spaß gemacht, das konnte einen überhaupt nicht überfordern. Aber wenn ihre Mami es so sah. Sie wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte.
»Dann will ich erst einmal nicht mehr darüber reden, Mami«, sagte sie. »Aber irgendwann möchte ich lernen, Klavier zu spielen. Es ist so schön, es ist mir so vertraut. Weißt du, Mami, es war so herrlich, dass ich beinahe angefangen hätte, vor lauter Ergriffenheit zu weinen. Ist das nicht verrückt?«
Gerda sagte nichts, ihr fiel dazu auch nichts ein, sie atmete innerlich nur ein wenig erleichtert auf. Sie hatte ein wenig Zeit gewonnen, mehr allerdings nicht. Sie wusste, dass Leonie von einem Fieber gepackt war und dass es sie nicht wieder loslassen würde. Damit hatte sie nicht gerechnet. Würde es noch mehr geben, was sie nicht vorausgesehen hatte?
»Alles wird gut, mein Kind«, sagte sie ziemlich vage und stand auf. »Ich denke, ich kümmere mich jetzt um unser Abendessen. Da gibt es einiges vorzubereiten.«
Leonie sprang auf, umarmte ihre Mutter.
»Mami, ich bin froh, dass zwischen uns alles wieder in Ordnung ist. Krach mit dir zu haben, das ist überhaupt nicht schön.«
»Nein, das ist es wirklich nicht«, erwiderte Gerda, »und das sollten wir in Zukunft vermeiden, und das geht am allerbesten, wenn niemand etwas im Alleingang zu tun versucht. Wir sind ein Team, da muss einer sich auf den anderen verlassen können.«
Das verstand Leonie jetzt nicht so ganz.
»Aber Mami, das tun wir doch immer. Und ich habe doch auch überhaupt nichts weiter gesagt, und ich weiß, ehrlich gesagt, überhaupt nicht, warum du so heftig reagiert hast. Ich dachte, du würdest dich mit mir freuen.«
Gerda atmete tief durch, dann quetschte sie sich ein »ich freue mich doch«, hervor und hoffte, dass es einigermaßen glaubwürdig klang.
Es war eine Höchstleistung, die sie da vollbringen musste, denn wie konnte sie sich freuen. Es war eine große Gefahr, vor allem, sie hätte so etwas niemals für möglich gehalten.
Zu weiteren Worten hatte sie keine Kraft. Sie murmelte etwas, dann verließ sie eilig das Zimmer ihrer Tochter und wäre beinahe über Blacky gestolpert, der an ihr vorbeihuschte, um zu Leonie zu gelangen.
Gerda stolperte die Treppe hinunter.
Sie hatte es von Anfang an nicht gewollt, sie hatte es geahnt. Dass es allerdings so schlimm werden würde, damit hatte sie nicht gerechnet.
Sie mussten hier weg, dachte sie in ihrer ersten Panik, doch dann wusste sie, dass das so schnell nicht möglich sein würde. Es wurde überhaupt immer schwieriger. Leonie wurde älter, und man konnte sie nicht wie ein Kleinkind einfach manipulieren, und man durfte vor allem auch nicht mehr alle Entscheidungen allein treffen.
Leonie sah ihr Leben, ihre Zukunft in einem strahlenden Licht, während es für Gerda immer düsterer wurde, trotz des Sonnenscheins, der sich immer mehr am Himmel ausbreitete. Es war eine schöne Abendsonne, doch dafür fehlte ihr wirklich der Blick.
Sie war nicht einmal in der Lage, die Scherben des Tellers zusammenzufegen.
Das Klavier …
Eigentlich hörte Gerda gern Klaviermusik. Aber das war jetzt unmöglich geworden. Sie entschloss sich, alle CDs mit Klaviermusik, und sie besaß einige davon, ab sofort zu verbannen.
Sie ging zurück in die Küche. Leonie hatte sich für heute Abend ein Ratatouille gewünscht, und Gerda hatte bereits angefangen, das Gemüse zu schneiden. Sie brachte nicht die Energie auf, das Begonnene weiterzuführen.
Sie packte alles weg, dann würde es eben Butterbrote geben.
Leonie hatte das Klavierspiel für sich entdeckt!
Gerda trank kaum Alkohol, doch jetzt goss sie sich einen Grappa ein, von dem sie nicht einmal wusste, wieso sie den überhaupt hatte.
Sie würde alles dransetzen, Leonie von diesem Gedanken abzubringen.
Und wenn es überhaupt nicht ging?
Wenn es ihr im Blut lag?
Dieser Gedanke war für Gerda so schrecklich, dass sie sich ein zweites Glas eingoss.
Es drohte alles zusammenzubrechen. Es gab immer mehr Anzeichen dafür, und sie hatte keine Ahnung, wie sie es aufhalten konnte.
*
Teresa und Magnus von Roth kamen von einem Spaziergang zurück, als sie sahen, wie ein ihnen bekanntes Auto vor dem Wohnhaus ihrer Tochter parkte.
»Das wird Ricky sein«, freute Teresa sich und beschleunigte ihre Schritte. Sie liebte ihre Enkelin über alles, was übrigens auf Gegenseitigkeit beruhte, weil Ricky sie ein wenig an ihre eigene Jugend erinnerte.
Es war nicht Ricky, die ausstieg, sondern es war Fabian, deren Mann. Aber den mochten die von Roths ebenfalls sehr. Er passte zu Ricky, und Fabian war ein wunderbarer Mensch.
Sie hatten das Auto erreicht, begrüßten einander.
»Wo hast du Ricky gelassen?«, erkundigte Teresa sich. »Das ist doch eigentlich auch nicht deine Zeit.«
»Stimmt«, sagte Fabian, »aber ich hatte in der Nähe zu tun, und da bat Ricky mich, euch etwas vorbeizubringen. Wir hatten in diesem Jahr so viele Himbeeren, dass Ricky welche davon einfrieren musste, und daraus hat sie jetzt Marmelade gemacht. Und da sie weiß, dass sowohl ihr als auch Inge und Werner sie mögen, bringe ich euch ein paar Gläser vorbei.«
Das war wirklich mehr als nur nett. Es traf zu, dass sie alle hier am liebsten Himbeermarmelade mochten, und die von Ricky war unübertrefflich.