Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Box 2 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 5

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Es sollte ein geruhsamer, entspannter Abend werden. Das hatte die junge Ärztin Doktor Roberta Steinfeld sich bereits am Morgen vorgenommen. Und bislang sah es sehr gut aus, war alles perfekt gelaufen, angefangen von dem köstlichen Essen, das Alma für sie zubereitet hatte, eines ihrer Lieblingsgerichte Ochsenbrust mit Meerrettichsauce, dazu Wirsinggemüse und Bratkartoffeln.

Ihre Freundin Nicki sagte dann immer, dass es zum Niederknien sei. Das würde Roberta glatt unterschreiben.

Alma war ein Schatz, und Roberta konnte dem Himmel immer wieder danken, dass Alma Hermann auf ihren Weg gekommen war.

Das hatte wirklich so sein müssen. Alma schmiss ihren Haushalt nicht nur perfekt, sie war außerdem ein liebenswerter, sehr umgänglicher Mensch, und sie konnte einfach alles, ganz egal, ob in Haus oder Garten.

Roberta hatte es ja nicht so mit den Wundern, den Vorbestimmungen, den Zeichen. Dafür war ihre Freundin Nicki zuständig.

Doch dass sie damals einen Umweg genommen und Alma, obdach- und mittellos im Wald gefunden hatte, genau zu der Zeit, als in ihrem Haus alles über ihr zusammengebrochen war, dass war …, nun ja, schon sehr ungewöhnlich gewesen.

Es hatte einfach so kommen müssen. Und für beide war es eine Win-Win-Situation gewesen. Beide hatten sie ihre Probleme mit einem Schlag gelöst.

Jetzt hatte es sich Roberta auf ihrer Couch gemütlich gemacht. In eine feine camelfarbene Cashmeredecke eingehüllt, lauschte sie entspannender Musik und ließ ihre Gedanken wandern.

Sie war im Sonnenwinkel angekommen, mehr noch, sie war glücklich hier, anerkannt, beliebt. Sie hatte Freunde gefunden, und ihre Praxis florierte so gut, dass sie nicht alle Patienten annehmen konnte, die zu ihr wollten.

Wenn sie an ihre Anfänge dachte …

Als ihr alter Studienfreund Enno Riedel ihr die Praxis angeboten hatte, weil er mit seiner Familie nach Philadelphia auswandern wollte, hatte sie, ohne lange zu überlegen, zugegriffen. Ihr Leben lag damals in Scherben, sie hatte eine hässliche Scheidung hinter sich, bei der sie viele Federn lassen musste. Max hatte skrupellos beinahe alles an sich gerissen, sogar die große gut gehende Arztpraxis, die von ihr aufgebaut worden war und in der er nur hier und da aufgetreten war, um sich als Halbgott in Weiß zu präsentieren. Gearbeitet hatte sie, während er das von ihr verdiente Geld mit vollen Händen, zusammen mit seinen ständig wechselnden Gespielinnen, ausgegeben hatte. Wie dumm sie doch gewesen war, das so viele Jahre hinzunehmen. Er hatte sich ja wirklich an jede gut aussehende Frau herangemacht, die bei drei nicht auf den Bäumen war, und da hatte er selbst nicht vor Patientinnen halt gemacht. Ach Max, sie wollte nicht mehr an ihn denken, und wenn sie es tat, dann nicht mehr voller Schmerz, sondern voller Nichtbegreifen, wie es möglich gewesen war, auf diesen Blender hereinzufallen. Warum nur hatte sie ausgerechnet ihn genommen? Weil er sie als Erster gefragt hatte? Sie hatte an eine gute kameradschaftliche Gemeinschaft gedacht, er hatte sie offensichtlich als die gesehen, die das Geld nach Hause brachte.

Vorbei, warum dachte sie denn ausgerechnet jetzt an ihren Ex?

Weil das Ende mit ihm ihr Anfang hier im Sonnenwinkel gewesen war?

Vermutlich.

Anfangs hatte sie ja schon ihre Zweifel gehabt, ob dieser Schritt, hierher zu kommen, der richtige gewesen war, denn es waren keine Patienten gekommen, weil die dem guten Doktor Riedel nachtrauerten.

Das hatte zum Glück nicht lange gedauert, und sehr geholfen hatte ihr dabei, dass zufällig im Bild festgehalten worden war, wie sie einem kleinen Kind das Leben rettete.

Kaum zu glauben, wie lange das nun schon wieder her war. Auf jeden Fall war das der Durchbruch gewesen. Und von da an war es nur noch bergauf gegangen, und sie hatte es niemals bereut, sich hier niedergelassen zu haben.

Nun, ganz so stimmte das nicht.

Ihre Gedanken wanderten zu Kay Holl, wenn sie an den dachte, tat es immer noch ein wenig weh, auch wenn ihr längst klar war, dass es mit ihnen nichts geworden wäre.

Kay, dieser unverschämt gut aussehende, vollkommen in sich ruhende Mann, der alles hinter sich gelassen hatte, eine glänzende Karriere, sein altes etabliertes Leben, um ein freies, selbstbestimmtes Leben führen zu können. Im Sommer mit dem Bootsverleih am See, in der übrigen Zeit dort, wohin es ihn zog.

Er war ein Aussteiger, allerdings einer mit genügend Geld im Rücken.

Obwohl er jünger war als sie, hatte sie sich sofort in ihn verliebt, und auch ihm war es nicht anders ergangen. Und als sie in dieser unglaublichen Nacht voller Magie mit ihm geschlafen hatte …

Roberta seufzte, trank einen Schluck von dem köstlichen Rotwein.

Es war unbeschreiblich gewesen, und dennoch hatte sie sich davongeschlichen und ihm ein paar Zeilen hinterlassen. Dafür schämte sie sich noch immer. Sie hätte mit ihm reden sollen, doch dazu war sie zu feige gewesen, und jetzt war eh alles zu spät, denn Kay war gegangen, hatte den Bootsverleih einfach abgeschlossen, und auch wenn sie wusste, dass er sie ebenfalls liebe, hatte sie nichts mehr davon. Sein Brief, den er ihr zurückgelassen hatte, war schon ganz zerknittert.

Wenn sie daran dachte, wie vollkommen fertig sie gewesen war, diese Zeit mochte sie nicht noch einmal durchleben. Und jetzt sagte sie sich, dass es richtig gewesen war. Das mit ihr und Kay hatte ganz einfach keine Basis, und wenn die nicht stimmte, dann konnte man das auch nicht mit aller Liebe der Welt ausgleichen.

Sie liebte ihren Beruf über ­alles, und sie liebte auch ihr ­geordnetes, etabliertes Leben. Auch als Studentin hatte sie ihre Urlaube lieber geplant, statt einfach loszufahren.

Kay würde sie immer in ihrem Herzen behalten als eine wundervolle Erinnerung, beinahe als einen Traum.

Auch wenn es eine schmerzhafte Erfahrung gewesen war, so wusste sie jetzt auf jeden Fall, dass es sie wirklich gab, die ganz große Liebe …

Sie seufzte erneut.

Auch wenn es nicht für immer gewesen war, ein wenig länger hätte es schon dauern können.

Doch wären die weiteren Treffen ebenfalls so magisch gewesen?

Sie trank erneut einen kleinen Schluck Wein, dann kuschelte sich in ihre Decke ein, schloss die Augen.

Kay …

Sie sah ihn vor sich, hörte sein unbekümmertes Lachen.

Sie glaubte, seine Berührungen zu spüren, seine unglaubliche Nähe.

Ein forderndes Klingeln an ihrer Haustür ließ sie zusammenzucken und in die Wirklichkeit zurückfinden.

Wer mochte das sein?

Das Klingeln ignorieren, das ging nicht. Bei ihr brannte Licht, man konnte sehen, dass sie zu Hause war. Außerdem …, sie war Ärztin, es konnte ein Notfall sein, auch wenn sie nach dem Ärzteplan keinen Notdienst hatte.

Und da Alma nicht da war, sie hatte heute Proben beim Gospelchor musste sie selbst die Tür öffnen. Außerdem wäre Alma um diese Zeit längst in ihrer eigenen Wohnung, die sich im Seitentrakt des Hauses befand, was natürlich auch sehr vorteilhaft war.

Ein wenig unwillig stellte sie die Musik ab. Wer immer es auch war, der war ziemlich unverschämt und hörte mit der Klingelei nicht auf. Sollte sie zur Tür fliegen?

*

Roberta riss die Haustür auf, und dann …

Nein, sie glaubte nicht was, wen sie da sah. Sie hätte mit so ziemlich allem gerechnet, mit ihrem Exmann allerdings nicht.

Ganz am Anfang war er schon einmal hier gewesen, und sie hatte geglaubt, ihm deutlich gesagt zu haben, dass er sich im Sonnenwinkel nicht mehr blicken lassen sollte.

Sie starrte ihn an, als sie sich ein wenig von ihrer Überraschung erholt hatte, erkundigte sie sich: »Was willst du hier, Max?«

»Ist das eine Begrüßung?«, fragte er. Er war dreist wie immer.

»Was erwartest du von mir, dass ich dir um den Hals falle?«

»Wäre nicht schlecht«, grinste er. »Du siehst übrigens fantastisch aus, so gut aussehend hatte ich dich nicht in Erinnerung.«

Vor gefühlten hundert Jahren wäre sie vielleicht auf so etwas hereingefallen, jetzt doch nicht mehr. Max gehörte zu einem Leben, das sie zurückgelassen hatte und an das sie nicht mehr erinnert werden wollte.

»Also, Max, was willst du? Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Normalerweise nicht die Zeit, um Leute zu besuchen.«

»Aber du bist meine Frau, und ich …«

Sofort unterbrach sie ihn.

»Ich war deine Frau, Max Steinfeld, leider. Hör auf, herumzusülzen, das verfängt bei mir nicht mehr. Also, noch einmal, weswegen bist du hier. Ich zähle bis drei, und wenn ich es dann nicht erfahre, mache ich die Tür wieder zu. Hätte ich gewusst, dass du davorstehst, hätte ich sie überhaupt nicht erst aufgemacht.«

»Willst du mich nicht hereinlassen?«, fragte er.

Normalerweise hätte Roberta es nicht getan, doch gerade in diesem Augenblick ging draußen ein Paar vorbei, Leute, die in der Nachbarschaft wohnten und sich vermutlich auf einem späten Abendspaziergang befanden.

Er hatte Glück!

Unwillig trat sie beiseite, und er beeilte sich, ins Haus zu gelangen, ehe sie es sich anders überlegte.

Sie ging voraus, bat ihn nicht, seinen Mantel abzulegen, sie bot ihm nicht einmal einen Platz an, doch er setzte sich auch so hin. Typisch Max, da war er schmerzfrei.

»Oh, du trinkst Rotwein«, sagte er, deutete auf das Glas und die auf dem Tisch stehende Flasche.

»Ja, und er ist sehr lecker«, war ihre Antwort.

Er wartete jetzt doch wohl nicht darauf, dass sie ihm etwas zu trinken anbot?

Er war drauf und dran, sie zu fragen, doch an ihrem Gesichtsausdruck merkte er, dass sie das explodieren lassen würde.

Sein Charme verfehlte in der Tat jegliche Wirkung auf sie, schade. Damit hatte er sie früher um den Finger wickeln können, und das war auch jetzt seine Hoffnung gewesen, die allerdings dahinschwand.

»Also gut, Roberta, wie du weißt, war ich schon einmal hier, um dich zu bitten, wieder die Praxisleitung zu übernehmen, und wenn ich …«

Sie winkte ab.

»Stopp, Max, das Thema hatten wir, und meine Antwort war damals nein, und die wird auch heute nicht anders sein. Du hast dir mit allen Mitteln die Praxis unter den Nagel gerissen, und ich habe sie dir überlassen, weil du sonst die Scheidung länger hinausgezögert hättest. Du warst hinterhältig, gemein, und du hast deinen Zweck erreicht. Die Praxis gehört dir allein, obwohl du nichts dafür getan hast. Selbst das Geld für die Eröffnung kam von mir. Aber das ist Schnee von gestern, ich blicke nach vorn.«

Er antwortete nicht sofort.

»Max, du bist doch wegen der Praxis hier, oder?« Etwas anderes konnte sie sich auch nicht vorstellen.

Ihm war anzusehen, dass ihr Verhalten ihn irritierte. Roberta war eine ganz ausgezeichnete Ärztin, da konnte ihr niemand etwas vormachen. Doch als Frau hatte er sie immer unterbuttern können, mit ihrem neuen Selbstbewusstsein konnte er noch nicht umgehen.

Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu.

»Ich habe recht, es geht um die Praxis, nicht wahr, Max?«

»Wenn ich dir jetzt sagen würde auch, aber dass ich auch deinetwegen gekommen bin, weil ich mittlerweile eingesehen habe, dass ich große Fehler gemacht habe. Der größte Fehler war die Scheidung, etwas Besseres als dich hätte ich nicht bekommen können.«

Oh Gott!

So sollte er jetzt wirklich nicht anfangen. Ihre Reaktion auf seine Worte zeigte ihr, wie weit sie sich schon von ihm entfernt hatte, dass sie mit ihm fertig war.

Sie blickte ihn an.

Er sah schlecht aus, übermüdet, doch das war es nicht allein. Er wirkte verlebt, sein Lotterleben zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Fast konnte er einem schon leidtun. Er war kein schlechter Arzt, doch der Beruf war ihm nie wichtig gewesen, auf den Putz zu hauen, Frauen aufzureißen, das war für ihm stets wichtiger gewesen.

»Möchtest du etwas trinken, Max?«, erkundigte sie sich, weil sie so nicht sein konnte. Schließlich waren sie einmal verheiratet gewesen, und anfangs hatte es auch recht gute Zeiten gegeben. Ihm nichts anzubieten wäre unhöflich, selbst Fremden bot man doch etwas an.

Sie bot ihm Verschiedenes an, doch auch er wollte ein Glas Rotwein trinken, und so musste sie nur noch ein Glas für ihn holen.

Sie saßen sich gegenüber wie zwei Fremde, und wieder einmal fragte Roberta sich, was sie an diesem Mann gefunden hatte.

Er trank gierig von dem Rotwein, sagte ihr, dass er eine ganze Weile gebraucht hatte, um bei ihr zu klingeln, und sie sagte ihm, wie sehr sie das doch wunderte, weil das überhaupt nicht seine Art war. Er war es gewohnt, einfach vorzupreschen und seine Bedürfnisse zu erfüllen.

Sie hatten sich nichts zu sagen, und Roberta hatte sich diesen Abend anders vorgestellt, also erkundigte sie sich noch einmal, diesmal in einem schärferem Tonfall, was er denn nun von ihr wolle.

Da erfuhr sie zu ihrem größten Entsetzen, dass es mit der Praxis immer weiter den Bach hinuntergegangen war, dass Kollegen gekündigt hatten und dass er zwei Prozesse wegen Behandlungsfehlern am Hals hatte.

»Roberta, die Praxis ist dein Baby, du hast sie mit deinem Geld aufgebaut, das gebe ich ja zu. Du kannst doch nicht wollen, dass alles in die Binsen geht. Wenn du zurückkommst, reicht eine Anzeige, und schon strömen die Patienten wieder in die Praxis. Und sie kann zu altem Glanz erstrahlen. Du gehörst in eine Hightech-Praxis, nicht hier auf das platte Land, das ist doch keine Herausforderung für dich. Ich bin ja auch bereit, sie dir wieder zu überschreiben und nur als Partner dazubleiben. Aber ohne dich bricht alles zusammen. Das kannst du doch nicht wollen, oder?«

Sie antwortete nicht sofort, weil es ihr insgeheim wehtat, was er aus einer großen, angesehenen, gut gehenden Praxis gemacht hatte.

Prozesse wegen Behandlungsfehlern!

Das konnte einem den Magen umdrehen, doch sie konnte es sich bei Max vorstellen. Wahrscheinlich hatte er wieder irgendwelche Frauen im Kopf gehabt, und das war ihm wichtiger gewesen, als ordentlich seinen Job zu machen. So war es immer gewesen. Und wie sagte man so treffend – »die Katze lässt das Mausen nicht«.

Am liebsten hätte Roberta ihm jetzt ein paar passende Worte gesagt. Doch was sollte das bringen? Das Kind war in den Brunnen gefallen, und bei solch massiven Anschuldigungen kam man da so leicht nicht wieder heraus. Unbeschädigt würde es für ihn nicht vorübergehen, und selbst wenn er die Prozesse gewinnen würde oder wenn man die Verfahren niederschlug, würde ein Makel an ihm haften. Es würde sich herumsprechen, und das würde dann auch noch die letzten Patienten davon abhalten, zu einem solchen Arzt zu gehen. Die Frauen, die was von ihm wollten und er von ihnen, die vielleicht nicht. Doch die machten nur einen Bruchteil der Patienten aus, und auch die erlagen nicht alle seinen Verführungskünsten.

Es tat wirklich weh zu sehen, dass es ihm gelungen war, das, was sie in vielen Jahren mit Können, Fleiß und viel Energie aufgebaut hatte, zu zerstören. Und das in so kurzer Zeit. Das war bitter.

Warum sagte sie jetzt nichts, fragte er sich und wurde immer unruhiger. Max zerrte nervös an seinem Hemdkragen. Auf sie hatte er all seine Hoffnung gesetzt, wie es eigentlich immer gewesen war. Wenn jemand, dann konnte Roberta die Kuh vom Eis holen.

»Roberta, ich …, nun, äh …, ich war ziemlich unfair dir gegenüber. Tut mir leid. Ich bin bereit, mit dir zu teilen. Mehr noch, du kannst den Großteil von allem haben. Stell deine Forderungen. Ich tue alles, wenn du nur zurückkommst, um die Praxis vor dem Ruin zu bewahren, sie zu retten. Nur du kannst das, und vielleicht …, nun, vielleicht wird es ja auch noch mal etwas mit uns. Ich habe dir ja schon gesagt, dass es dumm war, sich scheiden zu lassen. Wir waren ein so tolles Team. Ich verspreche dir auch, nicht mehr über die Dörfer zu ziehen.«

Es war unglaublich, Roberta hatte das Gefühl, in einem grottenschlechten Film zu sein. Sie hielt sich gequält die Ohren zu.

»Max, sag nichts mehr«, sagte sie schließlich, »mache es bitte nicht noch peinlicher. Es geht doch überhaupt nicht um mich. Du willst deine Haut retten, und dafür ist dir jedes Mittel recht. Zu spät, Max. Das war früher einmal so, dass ich immer für all deine Eskapaden hergehalten habe. Wir sind geschieden, ich habe weder mit dir noch mit der Praxis etwas zu tun, die du um jeden Preis haben wolltest. Und was uns beide betrifft …, dich möchte ich nicht einmal geschenkt haben, und alles, was du in deiner Gier an dich gerissen hast, behalte es. Ich brauche es nicht. Ich komme hier sehr gut zurecht, und ich bin glücklich hier. Bitte, tue mir einen Gefallen und geh, und komme bitte nicht noch einmal einfach hierher. Ich möchte nicht eine einstweilige Verfügung gegen dich erwirken lassen.«

Er starrte sie an.

»Das … das würdest du tun …? Gegen … gegen deinen Mann?«, stammelte er.

Er war so jämmerlich, dass er einem beinahe leidtun konnte. An so etwas dachte sie allerdings nur ganz kurz. Er hatte sie zu sehr verletzt, er hatte sein Ding gemacht, ohne Rücksicht auf Verluste. Sie war ihm nichts schuldig.

»Exmann«, sagte sie betont, »wir haben nichts mehr miteinander zu tun, und jetzt bitte ich dich zu gehen. Du hast mir den Abend verdorben.«

Er konnte es nicht glauben. Es ging nicht nur um seine Existenz, sondern sein Ego vertrug eine solche Abfuhr nicht. Er war schließlich Doktor Max Steinfeld!

Er versuchte es erneut, zog alle Register.

Roberta stand, weil sie es nicht länger ertragen konnte, einfach auf.

»Max, wenn du magst, trink dein Glas leer, und dann möchte ich dich gern, sehr gern sogar, hinauslassen.«

Sie sah so entschlossen aus, ihre Stimme hatte so emotionslos geklungen, dass er überhaupt keine andere Wahl hatte.

Wütend stand er auf.

»Du wirst sehen, was du davon hast«, drohte er, doch das prallte an ihr ab. Auch das gehörte zu ihm, wenn er nicht erreichte, was er wollte, dann wurde er unsachlich, drohte er.

Sie antwortete nicht, ging durchs Wohnzimmer, hinaus in die Diele, und dort öffnete sie die Haustür.

Wenn Blicke töten könnten, dann wäre sie jetzt eine Leiche. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte sie sich jetzt sogar noch von ihm verabschiedet, doch dazu kam es nicht.

Er stürmte an ihr vorbei, und sie hörte, ganz deutlich vernehmbar, wie er sagte: »Du dusselige Langweilerin, was bildest du dir eigentlich ein? Was glaubst du, wer du bist? Noch mal fällt kein Mann auf dich herein.«

Er rannte durch den Vorgarten, riss das Tor auf, schmiss es hinter sich zu, dann lief er über die Straße zu seinem Auto, und wenig später brauste er davon.

Roberta war wie gelähmt.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie wieder in der Lage war ins Haus zurückzugehen.

Sie fühlte sich traurig. Doch es waren nicht seine Worte, die dafür verantwortlich waren. Nein, ungute Gefühle kamen in ihr hoch. Und sie musste sich erneut die Frage stellen, wie sie auf diesen Mann hereinfallen konnte. Und, wenn sie ehrlich war, dann schmerzte es sie schon sehr, dass ihr Lebenswerk in die Brüche ging.

Es hätte ein so schöner Abend werden sollen, der auch verheißungsvoll angefangen hatte.

Max hatte es ihr verdorben. Eigentlich dürfte sie sich darüber nicht wundern, weil es schließlich nicht das erste Mal war.

*

Bambi Auerbach saß an ihrem Schreibtisch und kritzelte in ihrem Heft herum. Eigentlich sollte sie ihre Hausaufgaben machen, aber sie konnte sich einfach nicht konzentrieren.

Dabei ging es um Physik, und das war eines ihrer Lieblingsfächer.

Es hatte keinen Sinn. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie stand auf, rannte aus ihrem Zimmer, rannte hinaus in den Garten, und dann kletterte sie auf das Baumhaus hinauf, das ihre Eltern für sie und Hannes hatten bauen lassen, nachdem sie in den Sonnenwinkel gezogen waren.

Ein Baumhaus …

Das war ihr Traum gewesen, und es waren ganz wundervolle Zeiten gewesen, die sie dort mit Hannes verbracht hatte.

Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie sich in eine Ecke kauerte.

Sie hatte es verdrängt, doch jetzt war es so weit, in ein paar Tagen würde Hannes abreisen. Nach Australien. Weiter ging es ja wohl nicht. Dabei war er doch gerade erst wiedergekommen. Beinahe ein Jahr war er unterwegs gewesen. Reichte das denn nicht? Es konnte doch nirgendwo so schön sein wie im Sonnenwinkel.

Es war schrecklich gewesen, dass er so lange unterwegs gewesen war, sie hatten Angst um ihn gehabt, weil auf einmal der Kontakt abgebrochen war, und dann stand er vor ihnen, gesund, munter, voller Tatendrang. Und sie war so glücklich gewesen, ihren Hannes wiederzusehen, um den ihre Freundinnen sie glühend beneideten. Er sah aber auch gut aus mit seinen langen Haaren, dem Bart, dem verwegenen Gesichtsausdruck. Wie ein Pirat, wie ein Eroberer.

Jetzt musste sie richtig weinen.

Wie konnte denn jemand, der ein Abitur mit einer glatten Eins gemacht hatte, im fernen Australien als Surf- und Tauchlehrer arbeiten?

Bambi gab sich ganz ihrem Jammer hin, und als unten Luna bellte, weil sie bespielt werden wollte, reagierte Bambi nicht. Und das bedeutete etwas. Sie und Luna gehörten zusammen, und es war beinahe so wie damals mit ihrem Jonny. Aber jetzt hätte sie nicht einmal Jonny gebraucht, wenn der noch lebte. Sie wollte nur allein und traurig sein.

Sie war so in ihren Schmerz versunken, dass sie überhaupt nicht mitbekam, wie jemand zu ihr hochgeklettert kam, sich ihr näherte.

Erst als eine Hand ihre Schulter berührte, sich jemand neben sie setzte, zuckte sie zusammen.

Es war Hannes.

Ihn so nahe zu haben, zu wissen, dass es in Kürze vorbei sein würde, löste einen erneuten Tränenstrom in ihr aus.

Hannes zog seine kleine Schwester an sich.

»Hey, Prinzessin, was ist los, warum weinst du?«

Sie antwortete nicht.

Und er ließ nicht locker.

»Bambi, wir haben uns immer alles gesagt, und es macht mich traurig, wenn das jetzt nicht mehr so sein soll.«

Hannes durfte nicht traurig sein, es reichte doch schon, dass sie es war.

»Ich …, ich möchte nicht, dass du nach Australien fliegst, das ist so weit, und du warst doch schon so lange weg. Warum studierst du nicht hier in der Nähe?«

Was sollte er dazu noch sagen? Darüber hatten sie bereits mehr als nur einmal geredet. Und es ging nicht in ihren Kopf hinein, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass Menschen anderswo als im Sonnenwinkel leben konnten. Er sagte erst einmal nichts, und prompt kam von ihr: »Oder liebst du uns nicht mehr? Die Mami den Papi, die Omi, den Opi …, die Ricky, den Jörg, die …«

Ehe sie jetzt anfing, auch noch seine Nichten und Neffen aufzuzählen, unterbrach er sie, indem er sagte: »Bambi, ich liebe sie alle, und am meisten liebe ich dich, weil wir zwei die meiste Zeit miteinander verbracht haben. Und an meiner Liebe wird sich auch nichts ändern, wenn ich in Australien bin. Ich bin noch so jung, und studieren kann ich immer noch. Aber die Chance, diesen Job zu machen, die bekomme ich so schnell nicht wieder. Mein Kumpel hat den Laden von seinem Onkel geerbt, und nun wollen wir etwas daraus machen. Diese Tauch- und Surfschule liegt an einem der schönsten Plätze der Welt. Ich habe dir doch gesagt, dass du mich jederzeit besuchen kannst. Australien wird dir gefallen.«

Sie wischte sich über die Augen.

»Kann ja sein, aber es ist trotzdem nirgendwo so schön wie im Sonnenwinkel. Wir haben auch an vielen schönen Plätzen Urlaub gemacht, aber ich war immer froh, wenn wir dann wieder zu Hause waren.«

Ja, das stimmte, Bambi war genau das, was man einen Nesthocker nannte.

Er versuchte, sie zu beruhigen, was allerdings nicht einfach war.

»Hannes, es ist schlimm, dass ausgerechnet du gehst, weil ich dich am liebsten habe. Du bist so anders als Jörg und Ricky und als ich. Man könnte ja fast glauben, dass du kein Auerbach bist so wie ich und die beiden.«

Gut, dass Bambi nicht sah, wie Hannes zusammenzuckte.

Er und kein Auerbach, das war er, durch und durch.

Aber Bambi …

Wenn die wüsste!

Er fand es unverantwortlich von seinen Eltern, dass sie es ihr noch immer nicht gesagt hatten, dass sie adoptiert war.

Bambi fühlte sich so sehr als eine Auerbach, und das war sie ja für alle auch. Ganz tief in ihren Herzen liebten sie Bambi, alle. Und es war ihre kleine Schwester, das bedeutete jedoch nicht, dass sie nicht die Wahrheit erfahren durfte. Im Gegenteil, sie hatte ein Recht darauf!

Er musste mit seinen Eltern sprechen, ehe ihnen irgendwann alles um die Ohren flog.

Er war nicht in der Lage, ihr jetzt etwas Unverbindliches zu sagen. Das musste er glücklicherweise auch nicht, denn Bambi warf sich in seine Arme und sagte lachend: »Natürlich bist du ein Auerbach, Hannes. Das war eben ein Spaß. Man muss uns zwei nur ansehen, dann sieht man, dass wir Geschwister sind. Und wir ähneln uns auch vom Charakter her am meisten. Bei dir ist nur anders, dass du so reiselustig bist. Aber vielleicht hast du das ja von Opi. Der verreist auch so gern.«

Hannes strich seiner Schwester, und das war sie für ihn ja auch, über die Locken, ehe er mit heiserer Stimme sagte: »Bambi, wir sollten jetzt hinunter und zu Mama in die Küche gehen. Ich weiß nämlich zufällig, dass sie meine Lieblingskekse gebacken hat. Und die magst du doch auch.«

»Die mit der Schokolade?«, wollte Bambi wissen, und als Hannes das bestätigte, vergaß Bambi ihren Schmerz, weil sie eine große Naschkatze war.

Gemeinsam kletterten sie vom Baumhaus herunter, das so viele wundervolle Erinnerungen barg, die ihnen niemand nehmen konnte.

Das Baumhaus stand für eine glückliche Kindheit, und es war schon toll, wenn man so etwas sagen konnte.

Unten angekommen, legte Hannes einen Arm um Bambis Schulter, und dann gingen sie gemeinsam auf das Haus zu.

Luna folgte ihnen, sie war beleidigt, weil sie diesmal nicht im Mittelpunkt stand.

Inge Auerbach holte gerade das zweite Blech mit nicht nur wunderbar aussehenden, sondern auch köstlich duftenden Keksen aus dem Backofen, als Hannes und Bambi einträchtig zu ihr in die Küche kamen.

Seit Hannes von seiner Weltreise zurück war, kochte Inge nicht nur all seine Lieblingsgerichte, nein, sie hatte die Kuchen gebacken, die er gern mochte und jetzt die Kekse, gewissermaßen als Abschiedsgeschenk.

Abschiedsgeschenk, das klang ganz furchtbar, und dennoch war es so. Hannes würde den Sonnenwinkel wieder verlassen.

Natürlich wusste Inge, dass sie durch all das, was sie tat, nichts verändern konnte. Wenn das so einfach wäre, würde sie Tag und Nacht backen und kochen, um ihren Sohn zum Bleiben zu bewegen.

Australien …

Surf- und Tauchlehrer …

Daran zu denken, dass das das zukünftige Leben ihres Sohnes sein würde, war für sie unerträglich. Man hatte doch für seine Kinder Träume, und Inge konnte sich nicht vorstellen, dass eine Mutter von so etwas träumte.

Sie und Werner hatten wirklich alles getan, um Hannes zur Vernunft zu bringen. Er hatte so viele Möglichkeiten, er konnte sogar ein Stipendium an der Columbia Universität in New York haben. Andere würden sich die Finger danach lecken, aber er schlug es in den Wind.

Vielleicht hätten sie ihn nach seinem Abitur nicht auf die Weltreise gehen lassen dürfen. Das hatte ihn irgendwie verdorben für ein normales, bürgerliches Leben.

Sie konnte nichts tun, Hannes war volljährig.

Aber in gewisser Weise war er dann doch noch ein Kind, denn wie er sich jetzt auf die Kekse stürzte und die in sich hineinstopfte, das war nun ganz und gar nicht erwachsen.

»Boooh, sind die lecker«, rief er mit vollem Mund. »Mama, du bist die Größte.«

Das ging natürlich herunter wie Öl, doch es machte sie auch ein wenig traurig, weil sie so etwas lange Zeit nicht mehr erleben würde. Hannes war derjenige von ihren Kindern, der seine Begeisterung am deutlichsten zeigen konnte. Das würde sie vermissen, auch sein Lachen, seinen Witz.

Am liebsten hätte Inge jetzt angefangen zu weinen und musste sich gewaltsam zusammenreißen, es nicht zu tun.

Sie vermisste Hannes jetzt schon, dabei war er noch nicht einmal weg.

Da beide Kakao haben wollten, kochte sie den rasch, und sie verkniff sich, für sich selbst einen Kaffee zu kochen. Sie war aufgeregt genug.

Schließlich genossen Bambi und Hannes ihren Kakao, und sie langten auch bei den Keksen ordentlich zu, aber eine Unterhaltung wollte so recht nicht aufkommen. Inge sah, dass Bambi geweint hatte, und sie konnte sich schon denken weswegen. Bambi litt am meisten unter der Situation. Als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen. Und wie glücklich war Bambi gewesen, als ihr geliebter Bruder zurückgekommen war.

Aber was war mit Hannes los?

Der machte einen nachdenklichen Eindruck, sah sie hier und da an.

Wollte er ihr etwas sagen?

Etwa, dass er es sich anders überlegt hatte?

Sie musste es wissen.

»Bambi, wenn du willst, kannst du den Großeltern ein paar Kekse bringen«, sagte sie, und diese Idee griff Bambi begeistert auf. Ihr Kakaobecher war leer, es passten keine Kekse mehr in sie hinein, und sie wusste, dass die Großeltern sich sehr freuen würden.

Sie füllte eine Schale mit Keksen, rief: »Bis später«, dann trollte sie sich, und Luna, wie konnte es anders sein, lief ihr hinterher. Nicht ganz uneigennützig, sie hoffte darauf, dass vielleicht ein Keks für sie abfallen würde. Labradore sind ganz liebenswerte Hunde, aber sie haben eine Eigenschaft: … Sie sind unglaublich verfressen.

Als Inge sicher sein konnte, dass Bambi das Haus verlassen hatte, um nach nebenan zu gehen, wandte sie sich ihrem Sohn zu, der noch immer am Tisch saß und von den Keksen einfach nicht genug bekommen konnte.

»Ist etwas, Hannes?«, erkundigte Inge sich und schaute ihren Sohn voller Wohlgefallen an. Er war schon ein toller Typ, ihr Jüngster.

Hannes legte seinen angebissenen Keks weg, dann nickte er und sagte: »Ja, Mama, da ist etwas, etwas was mich sehr beunruhigt.«

Und dann erzählte er seiner Mutter, was sich im Baumhaus ereignet hatte.

»Sie identifiziert sich so sehr damit, eine Auerbach zu sein, sie sieht Ähnlichkeiten, wo keine sind. Je länger ihr schweigt, umso schlimmer wird es für sie, die Wahrheit zu erfahren und damit, dass sie keine Auerbach ist. Mama, ihr habt uns dazu erzogen, offen und ehrlich zu sein, immer die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie nicht angenehm ist. Warum eiert ihr bei Bambi so herum? Ich bete zu Gott, dass sie es nicht von anderer Seite erfährt, dass …«

Er brach seinen Satz ab, aß seinen Keks zu Ende, dann blickte er seine Mutter an.

»Mama, ich wage nicht, diesen Gedanken zu Ende zu bringen. Es wäre für Bambi eine Katastrophe, ein Schock, von dem sie sich so schnell nicht erholen würde.«

Nicht dieses Thema!

Hannes hatte ja so recht, und sie wusste selbst nicht, warum Werner und sie nicht den Mut aufbrachten, es Bambi zu sagen, einmal musste sie es ja doch erfahren. Und es stimmte, gut war es nicht, es immer wieder hinauszuzögern.

»Hier weiß niemand, dass Bambi adoptiert ist«, versuchte sie sich herauszureden, »also kann sie es nicht von Dritten erfahren. Aber du hast natürlich recht, Hannes, wir müssen es ihr sagen …, bald.«

Hannes stand auf, um den Rest seiner Sachen zusammenzupacken, nahm sich aber vorsichtshalber noch für unterwegs, also bis nach oben, ein paar Kekse mit. »Mama, ich habe ein ungutes Gefühl«, sagte er, ehe er ging. Und dieser Satz hing noch im Raum, als Hannes die Küche längst schon verlassen hatte.

Warum verursachte er ihr so viel Unbehagen?

Inge spürte, wie es ihr kalt über den Rücken lief und war fest entschlossen, all den Worten endlich Taten folgen zu lassen.

Sie gab sich eine letzte Galgenfrist.

Sofort nach der Abreise von Hannes würden sie und Werner mit Bambi reden, sie würden sich bei ihr entschuldigen, weil sie das nicht längst schon getan hatten, aber sie würden ihr auch sagen, wie sehr sie sie liebten, dass sie ein Kind ihres Herzens war und dass das mehr zählte, als von einem Blut zu sein.

Blut konnte man ohne Schwierigkeiten austauschen, wenn die Blutgruppe stimmte, Herzen nicht.

Inge merkte, wie ihre Aufgeregtheit immer mehr stieg, und das rührte von ihrem schlechten Gewissen her, das sie hatte. Heute ganz besonders.

Jetzt brauchte sie doch einen Kaffee, weil sie nachdenken musste.

Eigentlich hatte sie ja ein beneidenswert glückliches Leben, doch derzeit hatte sie das Gefühl, dass es ihr ganz um die Ohren flog.

Wenn man es mit den Jahreszeiten verglich, dann war es nicht mehr ein sonniger Sommertag, sondern einer im Herbst, an dem einem kräftiger Wind entgegenblies und der Himmel grauverhangen war.

Inge fröstelte.

Braute sich da etwas zusammen?

*

Ihre Freundin Nikola Beck, die alle nur Nicki nannten, wusste, dass sie Roberta jederzeit anrufen konnte, auch nachts, wenn es sein musste. Aber ihre Sprechstunden in der Praxis waren für Privatgespräche tabu. Das wusste auch ihre Mitarbeiterin. Deswegen wunderte Roberta sich, dass Ursel Hellenbrink ihr ein Privatgespräch durchstellte.

Es war Nicki!

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Nicki, ehe Roberta sich äußern konnte, »du willst das nicht. Aber ich muss mit dir reden, ehe ich daran ersticke.«

Typisch Nicki, sie war eine Dramaqueen und konnte aus einer Mücke einen Elefanten machen. Wahrscheinlich würde sie ihr gleich etwas erzählen, was bis zum Abend Zeit gehabt hätte, oder aber …

»Du willst mir sagen, dass du dich entschlossen hast, doch zur Neueröffnung des ›Seeblicks‹ zu kommen. Das ist eine sehr gute Idee, Nicki. Roberto Andoni wird sich freuen.«

Nicki und der italienische Gastwirt, der den ›Seeblick‹ übernommen hatte, waren ­aufeinander geflogen wie zwei im Sommerwind taumelnde Schmetterlinge. Und während Roberto noch immer darauf hoffte, dass es mit ihm und Nicki etwas würde, hatte Nicki sich zurückgezogen. Es war so verrückt, sie war in Roberto verliebt, aber der Gedanke, im Sonnenwinkel leben zu müssen, an der Seite eines Gastwirts, hatten sie die Reißleine ziehen lassen. Sie hatte es Roberto eigentlich sagen wollen, es dann aber doch nicht fertig gebracht, und nun war alles in der Schwebe.

Falsch gelegen mit ihren Vermutungen, die Antwort von Nicki kam prompt: »Wie kommst du denn darauf? Da ist noch alles offen, und vermutlich werde ich nicht kommen. Das würde nur falsche Hoffnungen in ihm erwecken. Ich bin froh, dass er mir das mit der Arbeit abnimmt.«

»Nicki, wenn du ihn nicht willst, warum sagst du es ihm nicht? Und warum lässt du dich nicht einfach auf ihn ein und wartest erst mal ab, wie sich zwischen euch alles entwickelt. Du bist ohne zu überlegen in jede Liebesgeschichte hineingegangen, und jetzt, wo eigentlich alles perfekt ist, weil ihr so wunderbar zusammenpasst, wagst du nichts.«

Nicki seufzte abgrundtief.

»Weil es diesmal anders ist«, sagte sie, und ihre Stimme klang ganz bekümmert. »Ich möchte Roberto nicht verletzen.«

Roberta gab es auf. Hier kam sie nicht mehr mit. Da gab es Gefühle von beiden Seiten, und Nicki ließ es wegen irgendwelcher Äußerlichkeiten scheitern. Sie hatte, abgesehen von kleinen Stippvisiten, noch nicht im Sonnenwinkel gelebt, lehnte das Leben hier aber ab, weil sie sich da in ihrem Kopf zurechtgelegt hatte. Und es war nie die Rede davon, dass sie im Restaurant mitarbeiten sollte, Roberto hatte genügend Personal, doch auch da sah sie sich als Serviererin, die Tabletts balancieren musste.

»Du hast Angst«, sagte Roberta ihr auf den Kopf zu. »Und deswegen machst du diesen Eiertanz. Okay, du bist alt genug, um deine Entscheidungen zu treffen, doch bitte jammere mir später nichts vor und weine um dein verlorenes Glück, wenn Roberto eine andere hat. Er ist ein kultivierter, attraktiver Mann, und glaub mir, da gibt es einige Frauen, die ihn mit Kusshand nehmen würden.«

Ursel Hellenbrink steckte den Kopf zur Tür herein. »Entschuldigen Sie, Frau Doktor, der Pharmavertreter ist da, mit dem Sie einen Termin haben«, flüsterte sie.

Roberta bedankte sich, dann wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu, wollte das Gespräch beenden, als sie sich erinnerte, dass Nicki ihr etwas Wichtiges sagen wollte, an dem sie ersticken würde, wenn sie es nicht los wurde.

Und wenn es Roberto nicht war …

Ein wenig neugierig war sie schon.

»Ich muss hier weitermachen, Nicki«, sagte sie, »sag rasch, weswegen du angerufen hast, weil du unbedingt etwas loswerden musstest.«

»Ach ja, stimmt, du hast mich völlig durcheinandergebracht. Ich hatte vorhin in der Stadt ein Erlebnis der besonderen Art.«

Roberta verdrehte die Augen.

Wenn Nicki so anfing, konnte sie sich sehr blumenreich mit der Vorrede aufhalten, ehe sie zum Kern der Sache kam.

»Nicki, ich habe keine Zeit«, erinnerte sie ihre Freundin.

»Ein Vertreter wartet, und im Wartezimmer sitzen auch noch Patienten. Wir können heute Abend reden, da kannst du mir alles in epischer Breite erzählen.«

Davon wollte Nicki nichts wissen.

»Oh nein, also …«, sie holte tief Luft, »ich habe vorhin in der Stadt deinen Ex getroffen, und leider konnte ich ihm nicht ausweichen.«

Da sie in einer Stadt wohnten, da sie sich kannten, war das manchmal unausweichlich.

»Schön«, sagte Roberta.

»Nein, meine Liebe, nicht schön. Warum auch immer. Er ist wütend auf dich, und er hat gesagt, dass er dich fertig machen will. Und so, wie er aussah, wie seine Stimme klang, nehme ich ihm das ab. Roberta, ich weiß ja nicht, was vorgefallen ist.

Doch nimm dich bitte in Acht …, er hat auch gesagt, dass er etwas gegen dich in der Hand hat, was dir das Genick brechen wird und dass du …, dass du dich … warm anziehen sollst.«

Natürlich fiel Roberta sofort der Besuch ihres Exmannes ein, der nicht den Erfolg gebracht hatte, den er sich erhoffte.

Max war jetzt wütend, er kochte. Aber was sollte er denn gegen sie in der Hand haben?

Im Gegensatz zu Nicki war sie nicht aufgeregt, sie erzählte ihr rasch, was geschehen war.

»Max kann Ablehnung nicht vertragen, und weil er weiß, dass du meine Freundin bist, die mir natürlich alles brühwarm erzählt, will er mir vermutlich nur ein wenig Angst machen. Mach dir keine Sorgen, Nicki, aber danke, dass du mich angerufen hast. Ich muss jetzt wieder an die Arbeit. Max macht mir keine Angst. Statt sich das alles auszudenken und zu drohen, soll er seine Energie lieber dazu verwenden, seine Praxis zu retten und die Klagen, die gegen ihn erhoben werden, glimpflich zu überstehen.«

Sie wechselten noch ein paar Worte miteinander, dann verabschiedeten sie sich.

Roberta war wütend auf ihren Exmann, und vielleicht hätte sie sich länger mit ihm und dem von ihm Gesagten beschäftigt, wäre da nicht der Pharmavertreter. Die rannten ihr zwar die Praxis ein, doch auf das, was dieser Mann ihr anbieten wollte, war sie gespannt.

Es sollte da ein sensationelles Blutdruckmittel geben, hochwirksam und fast ohne Nebenwirkungen. Mit den Blutdrucktabletten, das war so etwas. Es gab zwar viele auf dem Markt, dennoch war es schwierig, Patienten auf ein Mittel einzustellen, ganz besonders wegen der vielen Nebenwirkungen.

Roberta stand auf, dann ging sie selbst hinaus, um den Vertreter in ihren Raum zu lassen.

Ursel Hellenbrink hatte genug zu tun, die musste sie nicht auch noch als so etwas wie eine Vorzimmerdame in Anspruch nehmen.

Der Vertreter war ein junger, dynamischer Mann, der noch nicht lange als Pharmavertreter arbeitete und nun glaubte, mit diesem Mittel würden ihm bald die gebratenen Tauben in den Mund fliegen.

Roberta wollte ihm seine Illusionen nicht rauben. Sie hatte schon viele Vertreter kommen und gehen sehen. Es gab nur wenige unter ihnen, die so richtig Geld verdienten, für die meisten war es ein mühsamer Job, mit Wartezeiten in den Praxen und vielen Kilometern, die sie herunterreißen mussten.

Was war schon einfach. Wenn sie ihre vielen Arbeitsstunden durch das teilte, was sie verdiente, dann war das auch nicht so toll. Schön, sie kam zurecht, sehr gut sogar, und sie würde ihren Beruf auch für weniger Geld ausüben, weil sie ihn liebte und sich nichts anderes vorstellen konnte.

Sie lächelte den jungen Mann an.

»Guten Tag, Herr Stemmer, kommen Sie herein. Ich bin gespannt, was Sie mir anzubieten haben.«

*

Eigentlich passte es Inge nicht, doch der Termin war schon vor Wochen ausgemacht worden, und nun drängte es auch, weil die Köhlers nach Singapur aufbrechen würden. Da konnte man nichts mehr verschieben.

Sie mochte den jungen Studienrat Dr. Tim Köhler und seine Frau Veronika sehr. Doch sie war sehr zwiegespalten. Auf der einen Seite freute sie sich sehr, dass beide wieder zueinandergefunden hatten und glücklich und zufrieden in ein neues Leben aufbrechen würden.

Andererseits musste Rickys Haus einen neuen Mieter finden, was allerdings nicht schwer sein würde. Der Sonnenwinkel war sehr begehrt. Nicht für alle, Veronika Köhler hatte es hier nicht aushalten können, obwohl sie gemeinsam mit ihrem Mann das Haus ausgesucht hatte. Ihr war im Sonnenwinkel die Decke auf den Kopf gefallen, und sie war immer wieder nach Berlin, in ihre alte Heimat geflohen. Und dorthin wollte sie auch zurück, während er sich im Sonnenwinkel sehr wohlfühlte und mehr noch am Gymnasium in Hohenborn, wo er ein sehr beliebter Lehrer war.

Wegen seiner Frau hatte er alles aufgeben wollen, und es war schon verrückt, dass sie dann, als alles geregelt schien, kalte Füße bekam und sie sich ihrer Sache nicht mehr sicher war.

Inge hatte wirklich ihre Zweifel gehabt, ob alles gut gehen würde, und dann war ein Wunder geschehen. Anders konnte man es wohl nicht nennen.

Tim hatte das Angebot bekommen, als Lehrer an einer Internationalen Schule in Singapur zu arbeiten. Und da sie beide von einer früheren Reise Singapur kannten und liebten, hatte er zugegriffen. Jetzt waren beide glücklich und freuten sich auf ihr neues Leben.

Inge hatte ihn angehört, sie ebenfalls, und sie hatte schon ihren Anteil daran, dass sie nicht auseinandergegangen waren.

Ach, was sollte es.

Es war nie der richtige Zeitpunkt für etwas.

Werner war daheim, Bambi mit den Großeltern zu einer Städtereise aufgebrochen, und Hannes verabschiedete sich von seinen alten Freunden, die hier geblieben waren und ihn glühend um das Leben beneideten, das er führte.

Inge deckte den Tisch im Wohnzimmer, holte das beste Geschirr heraus, das Silber, das eigentlich nur zu besonderen Anlässen hervorgeholt wurde, so war es auch mit dem Porzellan.

Die Kristallgläser funkelten, und die Stoffservietten passten zu der Tischdecke. Blumen hatte sie aus dem Garten geholt, die in der Silbervase so richtig edel aussahen.

Inge betrachtete ihr Werk und war sehr zufrieden.

Professor Werner Auerbach kam ins Zimmer, stellte sich neben seine Frau, umfasste sie liebevoll.

»Ist das nicht ein wenig übertrieben, mein Schatz?«, wollte er wissen. »Aber schön sieht es aus. Was das hier alles anbelangt, da kann dir niemand etwas vormachen. Was gibt es denn zu essen?«, war seine nächste Frage.

Inge lächelte ihren Mann an. Wie sehr sie ihn doch liebte, immer noch, nach all diesen Jahren.

»Lass dich überraschen, mein Schatz«, sagte sie, »aber ich muss jetzt zurück in die Küche, und du kannst dich schon mal um den Wein kümmern. Ich habe alles schon herausgestellt.«

Sie eilte davon, und auch er blickte ihr liebevoll nach, denn auch Werner Auerbach wusste, was er an seiner Inge hatte.

Es dauerte nicht lange, da klingelte es an der Tür, und die Gäste kamen. Inge stellte erfreut fest, dass Tim und Veronika Köhler sich auch hübsch gemacht hatte, und sie bekam von ihnen einen wundervollen Blumenstrauß, der ein Vermögen gekostet haben musste.

Inge bedankte sich, bat die Gäste ins Wohnzimmer, und während sie die Blumen versorgte, schenkte Werner den Aperitif ein.

Auch er mochte die Köhlers gern, ganz besonders ihn. Er war ein kluger Mann, ein hingebungsvoller Lehrer, und er erinnerte Werner an seinen Schwiegersohn Fabian, der seinen Lehrerberuf auch über alles liebte, und der es als Leiter eines großen, sehr bekannten Gymnasiums schon weit gebracht hatte.

»Man wird Sie in Hohenborn vermissen, Herr Doktor Köhler«, sagte er. »Wie ich weiß, waren Sie nicht nur bei Ihren Schülern sehr beliebt, sondern auch bei Ihren Kollegen und den Eltern.«

»Ich werde ebenfalls alles vermissen«, gab Tim zu, »aber jetzt freue ich mich auf die neue Herausforderung.«

»Darüber freue ich mich auch«, sagte Veronika. »Tim gibt ja meinetwegen hier alles auf, und ich hätte mich irgendwann sehr schlecht gefühlt, wenn wir nach Berlin zurückgegangen wären.« Sie war wenigstens ehrlich, und das sprach für sie. »Tim war so froh, hier im Sonnenwinkel und am Hohenborner Gymnasium sein zu dürfen. Zurück nach Berlin, das war niemals eine Option für ihn.«

»Manchmal muss man für seine Liebe Opfer bringen«, sagte Inge, die hereingekommen war und das noch mitbekommen hatte.

»In diesem Fall ist es zum Glück kein Opfer, denn Singapur, das wollen sie beide. Das Angebot musste wohl im letzten Augenblick auf Ihren Weg kommen.«

Davon waren die Köhlers ebenfalls überzeugt.

»Den Sonnenwinkel werde ich nicht vermissen«, gab Veronika zu, »aber Sie, Frau Auerbach, Sie schon.«

Sie wandte sich an Werner.

»Herr Professor, wissen Sie eigentlich, was für eine wunderbare Frau Sie haben? Sie ist klug, verständnisvoll, eine hervorragende Ratgeberin. So etwas findet man selten.«

Werner Auerbach fühlte sich geschmeichelt, Inge wurde ganz verlegen und sagte rasch: »Bitte, entschuldigen Sie mich, ich muss nach dem Essen sehen.«

Wenig später saßen sie sich an der festlich gedeckten Tafel gegenüber und genossen das köstliche Essen.

Sie aßen eine Essenz vom Kürbis mit Lachsbällchen, einen Rehrücken mit handgemachten Spätzle und Wurzelgemüse, und zum Nachtisch hatte Inge ihren Spezialteller zubereitet, auf dem sich allerlei Köstlichkeiten befanden und ein krönender Abschluss eines gelungenen Mahls waren. Dass dabei die angeregte Unterhaltung nicht einen Augenblick ins Stocken kam, war eine besondere Zugabe.

Inge bedauerte, die Köhlers nicht früher schon mal eingeladen zu haben, und noch mehr bedauerte sie, dass das hier wirklich das Abschiedsessen war. Das war sehr schade, so sehr Inge sich auch für sie freute.

Der Sonnenwinkel war um zwei wunderbare Menschen ärmer, ja, das war er.

Der Professor und seine Frau begleiteten die Köhlers noch zur Tür und dort gab es einen herzlichen Abschied.

»Frau Auerbach, es war ein wundervolles Essen, und es war ein herrlicher Abend. Den Sonnenwinkel werde ich wohl nicht in so angenehmer Erinnerung behalten. Aber Sie, und Sie, Herr Professor, werde ich niemals vergessen.«

Ganz gerührt umarmte Inge die junge Frau, die jetzt so ausgeglichen, beinahe fröhlich wirkte.

»Mir geht es ebenso«, sagte Inge, »und ich wünsche Ihnen in Ihrem neuen Leben viel Glück.«

»Das können wir gebrauchen«, sagte Tim, der sich ebenfalls bedankte, »die letzten ­Monate waren nicht gerade schön.«

Damit hatte er recht. Anfangs hatte es wirklich nicht so ausgesehen, als bekämen sie noch einmal die Kurve. Aber es stimmte schon, wenn man wirklich liebte, dann konnte man Berge versetzen.

Noch einmal ein Verabschieden, noch einmal innige Umarmungen, dann gingen die Köhlers, innig umschlungen, davon.

Werner und Inge Auerbach sahen ihnen nach, bis sie im Dunkel verschwunden waren.

»Wirklich nette Leute«, sagte Werner. »Und ganz besonders für ihn ist gut, dass sie jetzt an einen Ort gehen, der ihnen beiden gefällt. Weißt du, mein Schatz«, er drückte sie liebevoll an sich, »heute ist mir erst einmal bewusst geworden, wie wundervoll du bist, und das nicht, weil du dich beim Kochen wieder einmal selbst übertroffen hast. Das Essen war sterneverdächtig. Nein, heute ist mir erst einmal so richtig bewusst geworden, was ich dir zugemutet habe. Ich habe mich beruflich verwirklicht, habe an allen Plätzen der Welt gearbeitet, und du bist mir ohne zu murren gefolgt. Und diese junge Frau wäre beinahe am Sonnenwinkel, der ja nun wirklich schön ist, zerbrochen …, ich danke dir, mein Herz, ich danke dir von ganzem Herzen. Es ist so schön, dass es dich gibt.« Dann fügte er noch ein »Ich liebe dich« hinzu, ehe er sie küsste.

Und da hatten sie alle beide, ganz so wie früher, Schmetterlinge im Bauch.

Inge hätte ihm gern gesagt, dass es ihr niemals etwas ausgemacht hatte, ihm zu folgen. Das hatte Zeit, viel schöner war es augenblicklich, sich dem Gefühl hinzugeben, das man Liebe nannte, und die konnte man auch empfinden, wenn man nicht mehr ganz taufrisch war, wenn man erwachsene Kinder und sogar schon Enkelkinder hatte.

Wahre Liebe fragte nicht nach dem Alter, nach der Hautfarbe, nicht nach arm oder reich. Wenn sie da war, dann war sie wunderschön und hüllte einen ein wie ein warmer Mantel.

Die Auerbachs, die liebten sich, und das war unbeschreiblich schön.

*

Roberto Andoni hatte ja erst viele Probleme mit der Denkmalbehörde gehabt, und er konnte den ›Seeblick‹ nicht eröffnen, weil ihm so viele Steine in den Weg gelegt worden waren. Der ›Seeblick‹ hatte über viele Monate leer gestanden, und eigentlich war es Nicki zu verdanken, dass Roberto nachgegeben hatte und von seinen ursprünglichen Plänen abgerückt war. Er wollte für sich und sie eine Existenz und ein Heim schaffen, weil es oben im Haus wunderbare Wohnräume gab.

Das Restaurant war fertig, seine anderen Wünsche hatten sich nicht erfüllt.

Heute war auf jeden Fall die Eröffnung, Roberta hatte keine Ahnung, ob Nicki kommen würde. Erst hatte sie sich nicht dazu geäußert, danach war sie nicht zu erreichen gewesen.

Roberta freute sich auf jeden Fall auf die Eröffnung, und sie hatte Robertos Einladung mit Freuden angenommen, bei deren Gestaltung er sich sehr viel Mühe gegeben hatte.

Roberto, dieser gut aussehende Römer, hatte Stil und Geschmack. Dass es ihn in den Sonnenwinkel getrieben hatte, waren rein private Gründe, die wilden Spekulationen, die Mafia könne dahinterstecken, um Geld zu waschen, hatten sich längst im Sande verlaufen. An so etwas zu denken, war ohnehin verrückt gewesen, die Mafia suchte sich ganz bestimmt keinen Ort irgendwo im Nirgendwo aus.

Als Roberta vor dem ›Seeblick‹ ankam, stellte sie mit Erstaunen fest, dass da schon eine Menge los war. Es hatten sich viele Gäste eingefunden, und Roberta hatte eine Menge Leute zu begrüßen. Dass war der Nachteil, wenn man die Ärztin des Ortes war, da war man bekannt wie ein bunter Hund und konnte nicht unentdeckt den Abend genießen.

Roberta unterhielt sich mit einer Patientin, die nicht aufhören wollte, ihr die Leidensgeschichte ihrer Cousine zu erzählen, und sie war heilfroh, als sie Teresa und Magnus von Roth sah, die auf sie zugesteuert kamen und sie befreiten.

»Ich habe gesehen, wie die Frau auf Sie einredete, Frau Doktor«, sagte Teresa, »und da sagte ich zu Magnus, dass wir Sie da loseisen müssen.«

»Dafür bin ich Ihnen unendlich dankbar, Frau von Roth«, gab Roberta zu. »Es ist schön, dass Sie auch hier sind. Und Ihre Tochter und der Professor, die haben doch auch ganz bestimmt eine Einladung erhalten, oder?«

Inge Auerbach war die Tochter dieser reizenden Menschen, und Roberta wusste nicht, wen sie lieber hatte, die Eltern oder die Tochter.

»Die kommen später«, sagte Magnus von Roth, »Werner kommt erst heute Abend aus Mailand zurück, wo er einen Vortrag halten musste. Inge holt ihn vom Flughafen ab, und dann kommen sie direkt hierher. Das lassen sie sich nicht entgehen. Waren Sie schon im Restaurant? Es soll ja ganz toll geworden sein.«

Das war Roberta nicht, sie sagte auch nicht, dass sie ein wenig von Nicki wusste, die von Roborto zu einem Candlelight-Dinner eingeladen worden war als das Restaurant beinahe fertig war. »Dann gehen wir doch mal hinein«, sagte Teresa, »und sehen uns alles an.«

Magnus und Roberta waren einverstanden, und sie begaben sich zu dritt ins Restaurant, in dem bereits reges Leben herrschte und wo für die geladenen Gäste ein fantastisches Buffet aufgebaut worden war.

Roberto Andoni hatte sich nicht lumpen lassen. Es fehlte an nichts, es gab auch mehrere Hummer, und die dienten nicht der Dekoration, obwohl sie auf der üppigen Tafel natürlich beeindruckend aussahen.

Manche Leute interessierten sich ja in erster Linie für die leiblichen Genüsse, die geboten wurden.

Die von Roths und Roberta wollten sich erst einmal in aller Ruhe die Einrichtung des Restaurants ansehen, und sie waren begeistert.

Und das kam nicht von ungefähr. Es war nicht wiederzuerkennen, und der neue Wirt hatte wirklich an nichts gespart.

»Wie schön alles geworden ist«, rief Teresa von Roth ganz begeistert aus, und ihr Mann und Roberta konnten ihr da nur zustimmen. Sie kannten ja den ›Seeblick‹ noch von früher, als die Lingens ihn betrieben hatten. Da war alles sehr einfach, ziemlich alt, man konnte sagen, schlicht gewesen. Man hatte es so hingenommen, weil es immer so gewesen war und es für den Sonnenwinkel keine Alternative gab. Außerdem zählte für die Gäste, dass Monika Lingen eine ganz ausgezeichnete Köchin war, die so manche Gäste zum Staunen brachte, weil man solche Genüsse in diesem Ambiente nicht vermutete. Roberta war es ja auch so gegangen.

Es wäre vermutlich noch immer so, die Lingens wären noch immer im »Seeblick«, hätte Monika nicht den schlimmen Herzinfarkt bekommen, den Roberta, die zum Glück gerade zum Essen da war, sofort erkannt und entsprechend gehandelt hatte. Sonst hätte die Wirtin das nicht überlebt.

Dieser Zwischenfall hatte den Lingens bewusst gemacht, wie endlich das Leben doch ist. Und was niemand für möglich gehalten hätte: Kurz entschlossen hatten sie alles an Roberto Andoni verkauft, um das Leben zu führen, von dem sie geträumt hatten.

Ganz oben auf ihrer Wunschliste hatte der Jakobsweg gestanden, und den waren sie tatsächlich gegangen. Roberta hätte es nicht für möglich gehalten, weil sie trotz allem im Sonnenwinkel sehr verankert gewesen waren, und ihnen hatte das Leben ja auch gefallen, sie waren beliebt, erfolgreich. Aus solchen Fesseln kam man, trotz aller Wünsche und Träume, nur schlecht raus. Die Lingens hatten es geschafft, und Roberta war sehr beeindruckt gewesen und hatte sich gefreut.

»Und sehen Sie nur, was für wundervolle Bilder hier überall hängen, Frau Doktor«, drang Teresas Stimme in Robertas Gedanken. »Wie geschmackvoll. Hier wurde wirklich an nichts gespart. Ich wünsche diesem so sympathischen Herrn Andoni von ganzem Herzen, dass seine Rechnung aufgeht, dass all diese Investitionen nicht umsonst waren und dass die Sonnenwinkler das alles zu schätzen wissen.«

»Meine Liebe, wenn das Essen so gut ist, wie alles hier aussieht und was er da auf dem Buffet präsentiert, dann müssen wir uns um ihn keine Sorgen machen«, bemerkte Magnus von Roth lachend. »Wenn man vom Teufel spricht«, fuhr er fort, »da kommt er ja.«

Und richtig: Roberto Andoni kam, erfreut lächelnd, auf sie zu, begrüßte sie herzlich, dann irrte sein Blick durch den Raum.

Er musste nichts sagen, Roberta wusste, was das zu bedeuten hatte.

Er suchte Nicki!

Sie sah, wie sein Gesicht sich veränderte, wie Enttäuschung sich darauf breitmachte, und wie mühsam es für ihn war, sich jetzt zusammenreißen zu müssen.

Roberta liebte ihre Freundin wirklich über alles, sie waren so eng miteinander, dass kein Blatt Papier zwischen sie passte, sie waren durch dick und dünn gegangen, durch Nähen und Tiefen.

Jetzt war sie sauer auf Nicki.

Sie hatte eine offizielle Einladung erhalten, und da gehörte es sich ganz einfach abzusagen, wenn man nicht kommen konnte oder, wie es bei Nicki der Fall war, kommen wollte.

Die junge Ärztin hätte Roberto Andoni jetzt so gern etwas Nettes gesagt. Sie brachte kein Wort über die Lippen und fühlte sich wie zugeschnürt.

Zum Glück ergriff Magnus von Roth das Wort, um dem Wirt zu sagen, wie wunderschön er alles fand, und auch seine Frau Teresa war des Lobes voll. Da die von Roths den Maler des einen prächtigen Bildes persönlich kannten, hatten sie ein Gesprächsthema. Und dann wurde Roberto zum Glück abberufen, weil wichtige Gäste angekommen waren, die von ihm persönlich sofort begrüßt werden mussten.

Auch die von Roths entschuldigten sich, weil sie unbedingt Bekannte begrüßen wollten, die sie länger nicht gesehen hatten.

Das war Roberta ganz recht. Sie zog sich in eine Ecke des Restaurants zurück, holte ihr Handy aus der Tasche, und dann versuchte sie, Nicki zu erreichen. Die hatte ihr Handy ausgestellt.

Na klar, eigentlich hätte sie damit rechnen müssen. Nicki hatte ein schlechtes Gewissen und wollte sich keine Gardinenpredigt anhören.

Enttäuscht steckte Roberta ihr Handy weg, wollte die Münsters begrüßen, die auch gerade angekommen waren, zusammen mit Carlo Heimberg und Marianne von Rieding. Die beiden mochte Roberta auch sehr gern, besonders Marianne von Rieding, die eine so herzliche Frau war.

Roberta wollte gerade auf sie zugehen, als ihr Blick zufällig zur Tür ging. Und da stockte ihr der Atem. Sie glaubte nicht, was sie da sah. Aber nach diesem Überraschungsmoment lief sie los, allerdings in eine andere Richtung als ursprünglich geplant.

Roberta umarmte die junge Frau, die da gerade zur Tür hereingekommen war, herzlich und rief glücklich: »Nicki, wie schön, dass du doch noch gekommen bist.«

Roberta war wirklich überrascht, weil sie damit nicht gerechnet hätte. Mit ihrer Freundin hatte sie lange, teils ziemlich heftige Diskussionen geführt, die alle zu keinem Ergebnis geführt hatten. Robertas Freude war deswegen gut zu verstehen.

»Lass mich besser wieder los«, lachte Nicki. »Die Leute schauen schon ganz neugierig zu uns herüber. Nicht, dass sie denken, dass wir zwei ein Liebespaar sind.«

So eine Äußerung war wieder mal typisch Nicki.

»Sollen sie doch denken«, rief Roberta übermütig. »Du bist eine sehr attraktive Frau, und du siehst toll aus. Dieses Kleid ist der Knaller, um deine Worte für so etwas zu gebrauchen. Es steht dir unglaublich gut, wie für dich gemacht. Hast du es neu erstanden?«

Das bestätigte Nicki.

»Ich würde dich blamieren, wenn ich in meinem üblichen Räuberzivil hier ankäme. Hier haben sich, wie ich sehe, alle fein herausgeputzt. Du siehst auch so richtig gut aus. Wenn man dich so sieht, dann kann man gut auf den Gedanken kommen, dass du die gelangweilte Frau eines reichen Mannes bist, nicht die Ärztin, die sich in dieser Ländlichkeit Tag für Tag für die Leute hier abrackert.«

»Gut, gut, Nicki, ich weiß, dass du es unmöglich findest, dass ich mich ausgerechnet hier niedergelassen habe. Lass uns davon aufhören. Es verspricht ein sehr schöner Abend zu werden, ich denke, ganz besonders für Roberto. Der war vorhin so enttäuscht, als er mich allein sah. Er kennt uns ja im Doppelpack, ihm war die Enttäuschung wirklich deutlich anzusehen, dass ich ohne dich gekommen war.« Roberta umarmte ihre Freundin noch einmal. »Nicki, ich bin froh, dich zu sehen, und für Roberto freut es mich wirklich sehr.«

»Ich bin mir noch nicht sicher, ob es eine kluge Entscheidung war«, gab Nicki zu bedenken. »Dass ich heute Abend hier bin, erweckt neue Hoffnungen in ihm, und an meiner Entscheidung hat sich nichts geändert …, ich mag Roberto sehr gern, vermutlich liebe ich ihn sogar. Anderswo wären wir längst ein Paar, vielleicht sogar verheiratet. Aber hier? Schön, das Restaurant ist sehr schön, mit einer Kneipe nicht zu vergleichen. Aber ich bin nicht die Frau eines Wirtes, dann noch dazu von einem im Sonnenwinkel. Ehrlich, hier könnte ich nicht leben, und hier möchte ich nicht einmal begraben sein.«

Roberta ging darauf nicht ein, denn auch dieses Thema hatten sie unzählige Male besprochen.

»Heute bist du hier, Nicki, und das wollen wir einfach nur genießen. Und, wie gesagt, Roberto wird sich sehr freuen.«

Wenn sie nur wüsste, wie sie Nicki zur Vernunft bringen konnte. Sie und Roberto Andoni passten großartig zusammen, sie waren nicht nur optisch ein schönes Paar, nein, Nicki war an der Seite eines Mannes noch nie zuvor so glücklich, so entspannt gewesen.

Ein Glück war ja schon mal, dass Nicki Roberto noch nicht gesagt hatte, dass sie keine gemeinsame Zukunft haben konnten, dass sie Arbeit vorgeschoben hatte, weil sie sich so rar machte.

Nur die Zeit konnte für sie arbeiten, und darauf hoffte Roberta.

Sie wollte gerade etwas sagen, als plötzlich Roberto Andoni vor ihnen stand.

Er blickte Nicki an, und man hatte das Gefühl, die Sonne ging auf.

»Nicki, cara mia«, rief er entzückt, und umarmte sie.

Und auch Nicki starrte diesen gut aussehenden Mann an, als gäbe es nur ihn auf der Welt.

»Roberto …«

»Wie schön, dass du gekommen bist. Ich glaubst ja überhaupt nicht …«

Die nächsten Worte bekam Roberta nicht mehr mit, denn sie entfernte sich leise. Hier störte sie nur, und sie konnte nur hoffen, dass es auch niemand sonst tun würde.

Roberta hatte einige Hände zu schütteln, und dann kam sie endlich dazu, Felix und Sandra Münster zu begrüßen und Carlo Heimberg und seine Frau Marianne von Rieding.

Sie mochte sie alle, die oben auf dem Erlenhof, teils im Herrenhaus, teils in dem prachtvollen Neubau, wohnten.

Sie wirkten wieder ganz entspannt, doch lange Zeit hatte es überhaupt nicht gut ausgesehen, als Felix schwer um den Erhalt seiner Fabriken kämpfen musste. Es sah ganz so aus, als müssten sie ihre Heimat verlassen. Dieser stille Teilhaber war wirklich ein Segen.

Roberta begrüßte alle, Marianne hakte sich bei ihr ein und sagte: »Frau Doktor, ich muss unbedingt zu Ihnen in die Praxis kommen, ich werde meine Kopfschmerzen einfach nicht los.«

»Und Ihr Blut hätte ich auch gern, Frau von Rieding«, sagte Roberta. »Ihre Blutuntersuchung ist überfällig.«

Marianne seufzte. »Ich weiß, dabei habe ich doch überhaupt keinen Grund, die Untersuchung hinauszuschieben. Ihre wunderbare Frau Hellenbrink kann ganz fantastisch Blut abnehmen. Und das bei meinen furchtbaren Venen, die sind wirklich eine Herausforderung. Bei der Frau Hellenbrink spürt man nichts, und hinterher ist da auch nichts zu sehen. Ich habe da in anderen Arztpraxen wirklich Schlimmes erlebt. Da hatte ich hinterher einen Arm, der grün und blau war.«

»Mama, bitte entschuldige«, mischte Sandra Münster sich ein. »Ich weiß, dass du wirklich keine guten Venen hast. Aber das ist doch jetzt und hier wirklich kein Thema. Die Schlacht am Buffet hat bereits begonnen, und seht nur, wie die Leute sich da draufstürzen. Also, tut mir leid, ich begebe mich jetzt ebenfalls in das Getümmel. Ich möchte unbedingt etwas von dem Hummer mitbekommen, und das Vitello sieht auch zum Niederknien aus.«

Sagte es und entfernte sich.

Roberta sah ihr nach, Sandra Münster war eine ausnehmend sympathische Frau, sie sah sehr gut aus. Aber das Schönste an ihr war wohl ihr gutes Herz. Dass sie sich in den Witwer Felix Münster verliebt hatte, war zu verstehen. Er sah fantastisch aus, war sehr vermögend. Dass sein Geld und Besitz ins Trudeln geraten waren, war erst Jahre nach ihrer Hochzeit geschehen. Aber das Geld war es auch nicht, was Sandra bewogen hatte, Felix zu heiraten. Ehe es mit ihm und ihr etwas geworden war, hatte sie sich in seinen Sohn Manuel verliebt. Und Sandra liebte ihren Stiefsohn noch immer, kein bisschen weniger als ihre gemeinsamen Zwillingskinder.

»Sandra hat recht«, lachte Felix, »ich habe mir da auch das eine oder andere ausgeguckt, und obwohl von allem reichlich vorhanden ist, seht nur, wie vollbeladen die Teller mancher Leute sind. So etwas ist wirklich unverschämt. Wenn diese Menschen alles bezahlen müssten, dann sähe alles ganz anders aus. Wenn sie alles aufessen würden, dann wäre es gut. Aber wenn halb volle Teller stehen bleiben, weil die Gier größer war als man essen kann, das macht mich wütend.«

Nach diesen Worten, die wirklich zutreffend waren, ging auch er, stellte sich brav an.

Carlo Heimberg war ein richtiger Kavalier.

»Weißt du was, mein Liebes«, schlug er seiner Frau vor, »du suchst jetzt einen schönen Platz für uns aus, und ich gehe zum Buffet. Ich weiß ja, was dir schmeckt und werde das Richtige für dich mitbringen.«

Ehe er ging, warf er ihr einen liebevollen Blick zu.

Marianne von Rieding sah ihrem Mann ganz gerührt nach.

»Carlo ist ein so wundervoller Mensch«, schwärmte sie. »Nach dem Tod meines ersten Mannes hatte ich eigentlich mit dem Kapitel Eheleben abgeschlossen Dass Carlo dann auf meinen Weg kam, das ist beinahe schon ein Wunder.«

Carlo Heimberg und Marianne von Rieding wirkten sehr harmonisch miteinander, sie gingen sehr liebevoll miteinander um. Man spürte, dass es eine tiefe Verbundenheit zwischen ihnen gab. Es war eine erwachsene Liebe, mit der man behutsam umging, weil man wusste, dass so etwas durchaus nicht selbstverständlich war.

Die beiden waren zu beneiden.

Von einer solchen Verbundenheit hatte Roberta auch geträumt. Max war ein großer Fehler gewesen, und dann Kay …, den hatte sie offenbar nur kennenlernen sollen um ihr zu zeigen, dass es Magie in der Liebe gab. Für einen Wimpernschlag hatte sie es erleben dürfen. Doch konnte man davon träumen, dass es so etwas auch im wahren Leben gab?

Roberta wusste es nicht, und deswegen bemühte sie sich, sich auf ihren Beruf zu konzentrieren. In dem befand sie sich auf jeden Fall auf sicherem Boden, da konnte ihr niemand etwas vormachen, da gab es keine Zweifel.

Liebe …

Wer wünschte sich nicht, dass sie einen wie ein Blitzschlag treffen möge. Dumm war nur, dass das Leben nicht auf Wolke Sieben stattfand.

Sie zuckte zusammen, als sie Marianne von Riedings Stimme hörte: »Soll ich Ihnen auch einen Platz freihalten?«, wollte sie wissen.

So gern sie Marianne von Rieding hatte, jetzt war sie doch eher daran interessiert, was und ob etwas bei Nicki und Roberto los war.

Ehrlich gesagt hatte sie da ihre Bedenken, weil sie ihre spontane Freundin kannte. Wenn nötig, musste sie da eingreifen.

Roberta bedankte sich bei Marianne, dann blickte sie sich suchend um.

Von Nicki keine Spur. Sie wäre jetzt zutiefst alarmiert, wenn sie nicht festgestellt hätte, dass auch von Roberto nichts zu sehen war.

Sie begrüßte hier und da jemanden, plauderte ein wenig.

Gerade als sie überlegte, ob sie sich auch mal anstellen sollte, kam von irgendwoher Nicki auf sie zugeschossen, mit hochrotem Gesicht, blitzenden Augen, bestens gelaunt.

Nicki musste nichts sagen, es war ihr anzusehen, dass es mit Roberto ganz offensichtlich gut lief, für den Moment zumindest.

»Du musst dich nicht anstellen. Roberto hat für uns in seinem Büro servieren lassen. Und ich kann dir sagen, meine Liebe, alles nur vom Feinsten.«

Sie hakte sich bei Roberta ein, zerrte sie durch das Restaurant.

»Weißt du, jetzt bin ich doch froh, gekommen zu sein. Roberto ist wirklich ein toller Mann. Und wenn er mich mit seinen glutvollen Augen ansieht und sein ›cara mia‹ flüstert, da bekomme ich eine Gänsehaut.«

Roberta wollte etwas sagen, doch Nicki winkte ab.

»Sag nichts. Ich weiß selbst noch nicht, wie es weitergehen soll, und manches kann man wirklich zerreden.«

*

Nicki wollte noch bleiben, deswegen hatten die beiden Frauen ausgemacht, dass sie einfach ins Doktorhaus kommen sollte, wann sie wollte.

Roberta ließ ihr ihren Hausschlüssel da. Sie würde den Ersatzschlüssel nehmen, der an sicherer Stelle deponiert war.

So war es vereinbart gewesen. Doch als Roberta am nächsten Morgen ins Gästezimmer blickte, war das Bett unberührt.

Nicki war also nicht gekommen, und es gab auch keine Nachricht von ihr.

Was hatte das zu bedeuten?

War sie in der Nacht noch nach Hause gefahren, hatte fluchtartig das Weite gesucht, oder war sie einfach bei Roberto geblieben?

So gern Roberta ihre Freundin auch bei sich hatte, in diesem Fall war sie bereit, zurückzutreten. Das Glück von Nicki, aber auch das von Roberto Andoni lag ihr sehr am Herzen.

Sie ging in die Küche, wo Alma bereits eifrig herumwerkelte und wo es schon köstlich duftete.

»Oh, Frau Doktor. Sie sind früh. Ich bin mit dem Frühstück noch nicht fertig«, rief Alma.

»Ich will auch noch nicht frühstücken«, beruhigte Roberta ihre Perle, das war sie in der Tat. »Aber wenn der Kaffee fertig ist, dann würde ich vorab gern eine Tasse trinken.«

Der Kaffee war fertig, und so setzten die beiden Frauen sich an den Küchentisch. Das machten sie öfters.

Alma erzählte von den Chorproben, die ihr sehr viel Spaß machten.

Sie hatte sich wirklich ganz hervorragend im Sonnenwinkel eingelebt, wohin sie das Schicksal geweht hatte, und sie fühlte sich wohl.

Darüber freute Roberta sich sehr, und sie schöpfte Hoffnung, dass es bei ihrer Freundin Nicki doch auch so sein könnte.

Alma hatte sich schließlich den Sonnenwinkel nicht ausgesucht, es hatte sich ergeben, man konnte sagen, dass es sich gefügt hatte. Und nun war alles gut.

Nicki wollte es nicht einmal versuchen, sondern sie blieb bei ihrer vorgefassten Meinung.

»Und wie war die Eröffnung vom ›Seeblick‹, Frau Doktor?«, erkundigte Alma sich. Und das war gut so. Dadurch wurde Roberta von ihren Gedanken abgelenkt.

Roberta begann zu schwärmen, und das war nicht übertrieben. Es war ja wirklich wunderschön gewesen, eine rundum stimmige Eröffnung, von der alle begeistert gewesen waren.

Roberta erzählte, dass unverhofft auch Nicki gekommen sei. Alma war von Nicki begeistert, und wenn die da war, legte Alma sich besonders ins Zeug.

»Und wo ist sie jetzt?«, wollte Alma wissen. »Schläft sie noch? Bleibt sie?«

Roberta zuckte die Achseln.

»Hier ist sie nicht. Sie hatte meinen Hausschlüssel, aber sie ist wohl im ›Seeblick‹ bei Roberto Andoni geblieben.«

»Aber das ist doch gut«, rief Alma sofort. Sie wusste von dem ewigen Hin und Her, und weil sie den charmanten Italiener auch mochte, hoffte sie auf ein Happy End der beiden. Auch wenn Alma eine noch schrecklichere Ehe hinter sich hatte als ihre Chefin, so hatte sie sich doch ihren Sinn für Liebe und Romantik bewahrt. Sie las gern Liebesgeschichten, sah sich gern welche im Fernsehen an, und das dann hautnah zu erleben, verursachte ihr Gänsehaut.

Für sich erhoffte sie nichts mehr, dazu waren die Narben in ihr zu schmerzhaft. Aber Nicki und Roberto …, die wären eine Bestätigung dafür, dass man auch Glück haben konnte, dass man nicht immer danebengreifen musste.

Roberta wusste, wie sehr Alma sich einen glücklichen Ausgang erhoffte.

»Sie sind sehr liebevoll miteinander umgegangen, Alma«, sagte sie, »es besteht Hoffnung dafür, dass Nicki doch noch einlenkt. Warten wir ab und hoffen wir das Beste.«

Roberta hatte ihren Kaffee ausgetrunken, stand auf, bedankte sich bei Alma, dann verließ sie die Küche.

Sie hatte viel zu lange herumgetrödelt, jetzt musste sie sich sputen, um pünktlich in der Praxis zu sein. Da war sie eisern, wenn nicht gerade ein Notfall dazwischenkam, was natürlich auch schon mal vorkam, war sie die Pünktlichkeit in Person. Und das wussten ihre Patienten auch zu schätzen. Wenn sie daran dachte, wie oft sie mit Max aneinandergeraten war, weil der sich nicht um die Sprechstundenzeiten scherte. Er kam, wie es ihm passte.

Roberta merkte, wohin ihre Gedanken abdrifteten. Sie war mit ihrem Exmann längst fertig, und dennoch tauchte er in ihrer Erinnerung immer wieder mal auf. Das war nicht gut!

Roberta ging in ihr Badezimmer, und wenig später stand sie unter der Dusche und ließ das wohlig warme Wasser über ihren Körper laufen.

Es ging ihr einiges durch den Kopf, doch sie dachte nicht an Nicki und schon überhaupt nicht an Max. Sie war in Gedanken bereits bei ihrer ersten Patientin.

Pia Wolf war eine junge, attraktive Frau, die jeden Lebenswillen verloren hatte. Eigentlich gehörte sie zu einem Psychiater, besser noch in eine Klinik, aber Pia wollte weder das eine noch das andere.

Sie vertraute Roberta, und die tat wirklich alles, um Pia zu helfen, aber gegen deren Leiden gab es kein Rezept, Beruhigungstabletten konnten den Schmerz der jungen Frau ein wenig dämpfen. Helfen konnte letztlich nur die Zeit.

Es war wirklich grausam, was dieser Frau widerfahren war. Von einer Sekunde zur anderen hatte sich deren Leben verändert und aus einer fröhlichen, glücklichen Frau ein menschliches Wrack gemacht.

Roberta erinnerte sich, wie sie entsetzt gewesen war, als sie zuerst in der Zeitung davon gelesen hatte. Pia war erst später zu ihr gekommen, aufgrund einer Empfehlung von Freunden.

Roberta schloss die Augen, sah die Schlagzeilen noch vor sich.

An einem sonnigen Morgen wollte Pia mit ihrem kleinen Sohn Bastian zu ihren Eltern fahren.

Sie hatte ihren Sohn auf der Treppe zurückgelassen, ihm eingeschärft, dass sie ihn holen würde, dass er nicht weggehen dürfe.

Bastian hatte hingebungsvoll mit seinem Auto gespielt.

Alles sah gut aus, Pia ging in die Garage, um ihr Auto hinauszufahren. Das wollte nicht sofort anspringen, sie versuchte es mehrere Male und fuhr dann mit mehr Schwung als sonst hinaus.

Ein Knall ließ sie innehalten, sie dachte sich zunächst nichts Böses, glaubte, gegen die Mauer gefahren zu sein.

Als sie ausstieg, um nachzusehen, war sie wie gelähmt. Sie konnte es nicht fassen, was sie da sah.

Sie hatte ihr geliebtes Kind überfahren!

Bastian war sofort tot gewesen, Pia war zusammengebrochen.

Und jetzt wusste sie nicht, wie sie mit dieser Schuld fertig werden sollte.

Die Rekonstruktion des Ganzen hatte ergeben, dass Bastian brav auf der Treppe gesessen und gespielt hatte. Doch dann war sein Auto heruntergerollt, und das hatte er holen wollen, als seine Mutter aus der Garage gefahren kam.

Wenn man so wollte, war er zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

Es war eine solche Ironie des Schicksals!

Wer hatte es gelenkt?

Gott?

Der konnte doch nicht so grausam sein, eine glückliche Familie zu zerstören, einem wonnigen kleinen Jungen das Leben zu nehmen und seine Mutter in schrecklichen Schuldgefühlen zurückzulassen.

Roberta stieg aus der Dusche, rubbelte sich ab, und jetzt musste sie sich wirklich beeilen.

*

Manuel Münster wartete bereits an der Bushaltestelle, als Bambi sich zu ihm gesellte. Es klappte nicht immer, dass sie gemeinsam nach Hohenborn zur Schule fahren konnten. Sie waren in verschiedenen Klassen, Manuel war älter und deswegen auch über ihr.

Aber wenn es sich ergab, dann nahmen sie gemeinsam den Bus. Sie waren eng miteinander befreundet, und das, seit Manuel damals mit seinem Vater hierher gezogen war, dazu mit dieser schrecklichen Tante, die den armen Jungen vollkommen eingeschüchtert hatte.

Welch ein Glück, dass Sandra von Rieding sich in Sohn und Vater, ja, so war die Reihenfolge, verliebt hatte. Danach war alles gut geworden, und seither war beinahe alles Sonnenschein, sah man mal von den Schwierigkeiten ab, die das Münstersche Unternehmen ins Trudeln gebracht hatte!

»Hi, Bambi, du kommst spät«, sagte Manuel. »Der Bus muss jeden Augenblick kommen. Du wolltest mir doch vorher erzählen, was dich bedrückt.«

Er sah Bambi bekümmert an.

»Es muss ganz schön schlimm sein. Du hast ja geweint.« Bambi nickte, dann erzählte sie ihrem Freund, dass sie einfach nicht damit fertig wurde, dass Hannes praktisch schon auf den gepackten Koffern saß.

»Weißt du, was so richtig schlimm ist, Manuel? Der Hannes freut sich auf Australien, und das kann ich nicht verstehen. Bei uns ist es so wunderschön, hier sind unsere Eltern, unsere Großeltern, die übrige Familie ist in der Nähe. Und unser Sonnenwinkel. Schöner kann man ja wohl nicht wohnen. Aber das scheint dem Hannes alles egal zu sein. Und das tut mir so richtig weh.«

Spontan nahm Manuel Münster seine Freundin in den Arm.

»Bambi, ich habe dir schon mal gesagt, dass jeder Weg einmal ein Ende hat. Ich bin auch glücklich hier, und doch werde ich nach dem Abitur in eine andere Stadt, vielleicht sogar in ein anderes Land gehen, um dort zu studieren. Und weißt du was? Darauf freue ich mich. Also, ich kann den Hannes gut verstehen. Und ich finde toll, dass er nach dem Abitur diese Weltreise gemacht hat und dass es ihn jetzt nach Australien zieht.«

»Als Surf- und Tauchlehrer«, sagte Bambi und machte sich heftig aus seiner Umarmung frei. »Würdest du das machen? Ich glaube nicht, das würde dein Vater überhaupt nicht zulassen.«

Arme Bambi!

Mitleidig sah Manuel seine Freundin an. Klar war es schön im Sonnenwinkel, aber man durfte doch nicht daran festkleben. Da übertrieb Bambi wirklich. Auch für sie würde alles hier einmal zu Ende sein. Er versuchte ihr das klarzumachen, aber Bambi wollte nicht zuhören, und Manuel war froh, als der Bus kam und sie einsteigen konnten.

Im Bus konnte das Gespräch nicht fortgeführt werden, weil da bereits andere Kinder und Jugendliche aus der Umgebung waren, die ebenfalls das Hohenborner Gymnasium besuchten.

Bambi begann, sich mit einem anderen Mädchen zu unterhalten, Manuel sah bekümmert zu ihr hin. Sie sah wirklich ziemlich blass aus, und es war furchtbar, wie sehr sie das mit Hannes mitnahm.

Wenn er ehrlich war, dann hätte er es auch lieber, Hannes bliebe wenigstens hier in der Nähe. Nicht nur Bambi und Hannes waren unzertrennlich gewesen. Er hatte dazugehört, und an die gemeinsam miteinander verbrachte wundervolle Kindheit dachte er voller Freude zurück.

Was sollte er nur tun?

Manuel hatte keine Ahnung, und er fragte sich insgeheim auch, auf wessen Seite er ei­gentlich stand.

Wenn er ganz ehrlich war, dann musste er zugeben, dass er sich auf Hannes’ Seite schlug.

Wie cool der aussah, wie cool er auftrat und wie genau er wusste, was er wollte und es dann auch durchzog. Also, am Hannes Auerbach konnte man sich ein Beispiel nehmen. Der machte sein Ding.

Manuel fragte sich, was er wohl tun würde, wenn er mit einem Eins-Komma-Null-Abitur nach Hause käme. Er war weit davon entfernt, weil es da Fächer gab, deren Lernstoff einfach nicht in seinen Kopf hineinwollte. Und das würde sich vermutlich auch nicht ändern. Ein wenig Hoffnung schöpfen konnte er allerdings noch, denn in dem Alter, in dem er sich gerade befand, war der Hannes auch nur Mittelmaß gewesen.

Bambi durfte davon nichts erfahren. Die würde es fertig bringen, ihm die Freundschaft aufzukündigen. Und das wollte er auf keinen Fall.

Bambi war für ihn beinahe so etwas wie eine Schwester, ähnlich nah wie die Zwillinge, seine Halbgeschwister.

Hannes wollte sich zum Glück vor seiner Abreise noch einmal mit ihm treffen. Manuel würde ihn fragen. Jemand wie Hannes, der kreuz und quer durch die Welt gefahren war und während der Reise mehr als nur eine gefährliche Situation erlebt hatte, der wusste bestimmt einen Rat.

Dieser Gedanke beruhigte Manuel ein wenig. Und eines würde er heute schon tun, das wusste er. Er würde seine Freundin Bambi zu ›Calamini‹ einladen, in die beste Eisdiele, die es in Hohenborn gab.

›Calamini‹ fand Bambi ziemlich cool, und noch viel cooler fand sie die Eisbecher, die man dort bestellen konnte. Die waren der Hammer.

Ja, das war eine gute Idee, eine sehr gute sogar!

Schade, dass Bambi sich gerade unterhielt, aber sofort nach dem Aussteigen vor dem Gymnasium würde er es ihr sagen. Und da sah die Welt für Bambi ganz gewiss ein kleines bisschen schöner aus.

*

Bei den Rückerts hing der Haussegen noch immer schief! Und das lag zum größten Teil daran, dass Rosmarie ihrem Mann Versprechungen gemacht hatte, die sie nicht einhielt, von Anfang an nicht einhalten wollte.

Es kratzte ganz schön an Rosmaries Ego, dass sie Heinz nicht mehr so manipulieren konnte wie früher. Er war nicht mehr auf ihrer Seite, sondern auf der von Cecile, seiner französischen unehelichen Tochter, die plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war.

Eine erwachsene junge Frau!

Die brauchte doch wahrhaftig keinen Vater mehr.

Hätte die Mutter dieser Cecile es nicht mit ins Grab nehmen können, dass es da mal etwas gegeben hatte?

Sie hatte so viele Jahre geschwiegen, dann hätte sie am Ende ihres Lebens auch noch den Mund halten können!

Rosmarie kochte vor Wut, weil ihr ganzes Leben ihr um den Kopf flog. Nichts war mehr so, wie es gewesen war, und sie und Heinz hatten ein so wunderbares Leben gehabt.

Sie waren anerkannt in der Gesellschaft, sie gehörten dazu. Und all das wollte Heinz aus lauter Sentimentalität aufs Spiel setzen, das Notariat verkaufen, viel Zeit in Frankreich verbringen, um Cecile kennenzulernen, die versäumte Zeit nachholen.

Was für ein Quatsch!

Nichts ließ sich nachholen, aber Heinz war wie besessen von dieser Person.

Für sie war sie ein Störenfried, und was für einer. Und auch wenn Heinz und alle anderen beteuerten, dass Cecile nichts erben wollte, weil sie selbst genug hatte.

Angeblich kam es ihr nur darauf an, ihren Vater und ihre Geschwister und deren Familien näher kennenzulernen. Und auch sie wollte diese Person ebenfalls kennenlernen. Nun, wer’s glaubte, war selig. Sie wollte herausfinden, wo sie stand, ob sie sie vielleicht auch um den Finger wickeln konnte.

Nicht mit ihr!

Sie hatte zwar Heinz gegenüber so getan, als sei sie nun bereit, Cecile kennenzulernen. Einen Teufel würde sie tun.

Etwas beruhigt war sie, dass das mit dem Vermögen dieser Person stimmte. Sie war tatsächlich reich, stammte aus der Raymond-Dynastie und würde zu dem Geld, das sie bereits besaß, noch einen großen Batzen erben.

Aber was besagte das schon.

Eine sehr reiche Frau hatte mal gesagt: »Der Cent ist die Seele der Milliarde.« Das würde Rosmarie blind unterschreiben. Und sie war sich sicher, dass auch Cecile alles nehmen würde, was sie bekommen konnte.

Rosmarie hätte am liebsten wütend mit dem Fuß aufgestampft, doch sie fürchtete, dass dann einer der hohen, schmalen Absätze brechen könnte. Und das wäre fatal, die Schuhe hatten ein Vermögen gekostet.

Also war sie nur so wütend, ganz besonders auf Heinz, der sich schon wieder in den Flieger gesetzt hatte, um zu Cecile zu fliegen.

Er wollte sie mitnehmen, zum Glück hatte sie sich herausreden können.

Rosmarie hielt es in der großen Villa nicht aus, die natürlich für zwei Personen viel zu bombastisch war. Aber jeder, der bisher hier gewesen war, war beeindruckt gewesen. Und darauf kam es schließlich an.

Rosmarie zog ihre Kostümjacke an, griff nach ihrer Designertasche, warf einen letzten Blick in den Spiegel.

Sie war zufrieden, sie sah blendend aus, aber das hatte auch schon eine ganze Stange Geld gekostet. Wenn sie so weitermachte, würde sie irgendwann runderneuert sein. Aber besser runderneuert und glatt aussehend als seinem Alter entsprechend.

Die Inge Auerbach war wirklich eine sehr hübsche Person, aber die machte so gar nichts aus sich. Sie konnte ja nur von Glück reden, dass ihr Mann Werner eher an wissenschaftlichen Abhandlungen interessiert war als an dem Aussehen seiner Frau.

Er hatte einfach keinen Blick dafür. Sie fand ihn toll, er fand sie toll. Nun ja, ehrlich gesagt, war Rosemarie manchmal ein wenig neidisch, dass für die beiden das Leben so einfach funktionierte.

So zu leben wie sie war ganz schön anstrengend, und was sie ärgerte, dass Heinz sie nicht mehr bewunderte. Auch daran war diese Person schuld!

Sie musste sich ablenken, und sie würde sich genau das Kleid kaufen, das sie in der Auslage der angesagtesten Boutique gesehen hatte.

Sie fühlte sich schon ein wenig besser, als sie die Villa verließ.

*

Es war wohl nicht ihr Tag.

Rosmarie war wütend, denn ausgerechnet dieses Kleid, genau ihre Größe, hatte eine andere Frau ihr weggekauft. Sie hatte diese Frau sogar noch mit der Einkaufstüte in der Hand aus dem Laden gehen sehen.

Wäre sie doch bloß ein bisschen früher losgegangen, ganz so, wie eigentlich geplant. Was hatte es ihr gebracht, an diese grässliche Cecile zu denken? Die war wirklich ein rotes Tuch für sie!

Natürlich hatte man ihr andere Outfits zeigen wollen, aber dazu hatte sie keine Lust. Sie war wütend. Schließlich wollte sie nicht irgendetwas, sondern genau das vor ihrer Nase weggeschnappte Kleid.

Ärgerlich war, dass es sich ausgerechnet bei diesem Kleid um Orderware handelte, die man nicht einfach so nachbestellen konnte. Das ging nicht.

Es war für Rosmarie sehr schwer, das zu akzeptieren. Normalerweise lief es bei ihr so, dass sie für ihr Geld alles bekam, was sie wollte.

Es war eine bittere Erfahrung.

Und nun?

Was sollte sie jetzt tun?

Der ganze Tag war ihr verdorben, das war jetzt die Krönung gewesen!

Noch während sie so dastand und überlegte, entdeckte sie ihre Tochter Stella.

Wo kam die denn her?

Die war doch samt Familie im Urlaub!

Wenig ladylike brüllte Rosmarie über den Marktplatz: »Stella!«

Leute drehten sich nach ihr um, auch Stella blieb stehen, und nach der ersten Überraschung lief sie über den Platz, auf ihre Mutter zu.

»Hallo, Mama.«

Es war eine förmliche Begrüßung, aber das war bei den Rückerts so üblich. Keine herzliche Umarmung, kein Küsschen. Als Kind hatte sie unter der Lieblosigkeit sehr gelitten, und sie hatte sich ihre Streicheleinheiten bei den wechselnden Kinderfrauen geholt, zu denen sie und ihr Bruder Fabian ein innigeres Verhältnis hatten als zu ihren Eltern.

Das war lange her, Stella war erwachsen, hatte eine eigene Familie und in Jörg einen ganz wundervollen Mann.

Stella kam Rosmarie gerade recht. An ihrer Tochter ließ sie erst einmal ihren Frust aus.

»Das ist ja toll. Ich wähne dich noch im Urlaub, und nun entdecke ich dich zufällig in Hohenborn. Schon vergessen, dass deine Eltern hier wohnen?«

Rosmarie wollte verletzen, das war nicht zu übersehen, und das machte Stella ganz traurig. Sie und ihre Mutter hatten sich mehrere Wochen nicht gesehen, und jetzt standen sie sich gegenüber wie zwei verfeindete Nachbarn.

»Mama, wir sind gestern erst sehr spätabends aus dem Urlaub zurückgekommen, und ich bin nur ganz kurz hergekommen, um meiner alten Lehrerin zum Geburtstag ein paar Blümchen zu bringen. Ich bin jetzt auch schon wieder auf dem Weg nach Hause. Ich hätte mich heute im Laufe des Tages noch bei euch gemeldet. Hast du vergessen, dass man bei euch nicht einfach so vorbeischauen kann, sondern dass man sich Tage vorher wie im englischen Königshaus anmelden muss?«

Es stimmte, mit ihren Eltern musste sie Termine ausmachen, wobei allerdings ihr Vater mittlerweile ein wenig lockerer geworden war, seit es in seinem Leben Cecile gab.

»Nun, den Anruf kannst du dir ersparen, mich hast du ja jetzt gesehen, und dein Vater ist in Frankreich.«

Stella nickte.

»Ja, ich weiß.«

Woher wusste ihre Tochter denn das schon wieder? Das wollte sie jetzt aber wissen, und Rosmarie bekam eine Antwort, die ihr überhaupt nicht gefiel.

Stella erzählte ihrer Mutter, dass sie mit Cecile in Verbindung stand, dass sie ihr auch immer Bilder aus dem Urlaub geschickt hatte, und da war halt ihr Vater bei Cecile gewesen und hatte sich ebenfalls über die Bilder gefreut.

Rosemarie schnappte nach Luft. Es wurde ja immer schöner. Sie war so sauer darüber, dass es Heinz gelungen war, Stella und Fabian auf seine Seite zu bringen, und das alles wegen dieser Person, die all diese Unruhe in ihr Leben gebracht hatte.

»Wie interessant«, sagte sie spitz. »Sag mal, Stella, macht es dich eigentlich überhaupt nicht wütend, dass dein Vater einfach alles für diese Französin tun würde, wenn es nötig wäre, dass er sich aber um dich und deinen Bruder niemals gekümmert hat. Er hofiert diese Person, und euch hat er immer vernachlässigt.«

Stella warf ihrer Mutter einen traurigen Blick zu.

»Nicht nur Papa«, erinnerte sie ihre Mutter. »Du hast dich ebenfalls nicht für uns interessiert, und wenn wir dir zu nahe traten, hattest du Angst davor, wir könnten Flecke in deine schönen Kleider machen. Du hast dich immer noch nicht verändert, du bist kalt und egoistisch. Papa versucht immerhin, etwas an uns gutzumachen. Er hat sich sogar bei Fabian und mir entschuldigt, und wir haben seine Entschuldigung angenommen. Mit Papa sind wir auf einem guten Weg. Aber du …«

Stella brach ihren Satz ab, weil sie wusste, dass es keinen Sinn machte, sich da mit ihrer Mutter auf eine Diskussion einzulassen. Ihre Mutter machte ihr Ding, und wenn etwas krumm war und es ihr nicht passte, verbog sie es und machte es gerade.

»Aber ich …, sprich es nur aus. Ist es so, dass ich jetzt die Böse bin und euer Vater der Gute? Nun, ihr werdet euch noch wundern, Heinz ist nicht ohne. Fabian und du, ihr werdet auf jeden Fall den Kürzeren ziehen, dafür ist diese Französin viel zu raffiniert.«

Stella hatte sich wirklich gefreut, ihre Mutter wiederzusehen, und sie hatte insgeheim darauf gehofft, mit ihr einen Kaffee zu trinken, so viel Zeit hatte sie noch. Sie hätte ihr gern vom Urlaub, der so wunderschön gewesen war, erzählt, sie hätte ihr Fotos gezeigt.

Ihre Mutter hatte wieder einmal alles verdorben mit diesem blanken Hass auf Cecile, die sie nicht einmal kannte. Sie hatte sich ein Feindbild erschaffen, von dem sie nicht mehr loslassen wollte.

Stella ging auf das Gift nicht ein, das ihre Mutter verspritzte. Sie sagte nur: »Mama, ich muss weiter. Schön, dich getroffen zu haben.«

Dann winkte sie ihrer Mutter zu und ging. Am liebsten hätte sie jetzt geweint. Sie war wirklich bereit, jede Brücke zu bauen, die möglich war. Wie immer sie auch war. Es war ihre Mutter, und sie wollte sich nicht irgendwann einmal Vorwürfe machen. Aber es war verdammt schwer, mit ihr umzugehen. Weil ihre Mutter neben dem Weltbild, das sie sich geschaffen hatte, nichts duldete, und weil sie jemand war, der sich erst einmal um sich selbst drehte.

Jetzt musste Stella doch weinen. Und das wunderte sie überhaupt nicht, ihre Mutter schaffte es immer wieder, sie dazu zu bringen.

Warum war sie nur so?

Stella war froh, ihr Auto erreicht zu haben, sie ließ sich hineinfallen, wischte sich die Tränen weg, dann startete sie, sehr zur Freude eines Autofahrers, der auf ihren Parkplatz wartete.

Sie durfte sich nicht mehr so aufregen, sie wusste doch, wie sie war …

Das versuchte Stella sich beinahe immer wieder zu sagen.

Es war nicht einfach, nein, es war schmerzlich. Es ging schließlich nicht um irgendjemanden, es ging um ihre Mutter. Und von seiner Mutter hatte man ganz andere Vorstellungen, vor allem Wünsche.

Ihre Schwiegermutter Inge Auerbach kam Stella in den Sinn, die eine ganz besondere, eine wundervolle Frau war, warmherzig, die für ihre Familie da war. Sie konnte zuhören, und sie nahm einen spontan in den Arm.

Wenn ihre eigene Mutter doch wenigstens ein ganz, ganz kleines Stückchen von Inge hätte …

Stella wusste, was sie jetzt zu tun hatte.

Sie lenkte ihr Auto spontan in die andere Richtung. Sie hatte noch ein wenig Zeit, und die würde sie nutzen. Jörg und die Kinder machten einen Ausflug in den Zoo, das hatten die Kleinen sich gewünscht, und das sollte der Abschluss eines wundervollen, harmonischen Urlaubs sein.

*

Inge Auerbach wollte gerade das Haus verlassen, um ein paar Besorgungen zu machen, als ihre Schwiegertochter vorgefahren kam.

Damit hatte sie nicht gerechnet. Doch Inge freute sich. Sie hatte ein herzliches Verhältnis zu Stella, was auf Gegenseitigkeit beruhte.

Es war damals schon ein merkwürdiger Zufall gewesen, dass ihre Kinder Ricky und Jörg sich in die Rückert-Sprösslinge Fabian und Stella verliebt hatten. Doch während es bei Ricky und Fabian Liebe auf den ersten Blick gewesen war, hat es bei Jörg und Stella gedauert.

Inge war froh, dass es so gekommen war, bessere Schwiegerkinder könnte sie sich überhaupt nicht wünschen. Und da die vier so eng miteinander verhandelt waren, gab es auch untereinander keine Probleme. Man kannte sich halt, und weil Fabian und Stella keine liebevollen Eltern hatten, waren sie näher beieinander, als es bei Geschwistern normalerweise üblich war.

Inge lief auf das Auto zu, und als Stella ausstieg, nahm sie ihre Schwiegertochter herzlich in die Arme.

»Stella, das ist eine schöne Überraschung. Seit wann seid ihr aus dem Urlaub zurück? Wo sind Jörg und die Kinder?«

Stella genoss die herzliche Begrüßung, dann erzählte sie Inge, seit wann sie daheim waren und wo Jörg und die Kinder sich befanden. »Ich war gerade in Hohenborn, um einer alten Lehrerin einen Geburtstagsblumenstrauß zu bringen, und da hatte ich die spontane Idee, auch mal kurz bei euch vorbeizukommen. Ist ja von Hohenborn nur ein Katzensprung.«

Die unliebsame Begegnung mit ihrer Mutter erwähnte Stella nicht. Das wollte sie so schnell wie nur möglich vergessen.

»Eine wunderbare Idee, mein Kind«, sagte Inge. »Schön, dass du da bist. Hast du Lust auf einen Kaffee? Du musst allerdings mit mir vorliebnehmen. Werner ist mit Bambi und Hannes in ein Planetarium gefahren. Da wollten die Kinder unbedingt hin, und wir tun alles, um Bambi ein wenig aufzumuntern.«

»Hannes?«, erkundigte Stella sich. »Aber der sollte doch erst nächsten Monat zurückkommen.«

Inge nickte.

»Das stimmt, aber du kennst Hannes. Der macht sein Ding, und er ist so vollkommen anders als meine Großen. Aber komm rein, Stella, dann erzähle ich dir alles.«

Als sie ins Haus gingen, bedankte Inge sich für die vielen Fotos, die sie von ihrem Sohn Jörg und dessen Familie bekommen hatte.

»Wir waren so richtig dabei, weil ihr uns an allem habt teilhaben lassen.«

Stella lachte.

»Aber so richtig dein Ding ist es nicht. Du fotografierst lieber und lässt hinterher Bilder machen, die du in ein Album klebst.«

Inge gab es zu, in der Familie wussten alle, dass sie da eher ein alter, konservativer Typ war.

»Das stimmt. Ich habe eine gute Kamera, mit der mache ich mich auf Motivsuche, probiere verschiedene Kameraeinstellungen, ehe ich auf den Knopf drücke. Für mich ist das Fotografieren beinahe so etwas wie Meditation, und ich überlege mir auch, was ich im Bild festhalten möchte. Heutzutage ist es doch so, dass unüberlegt fotografiert wird, und hinterher wird es weltweit verschickt. Ehrlich mal, so schön es ist, ständig mit Bildern versorgt zu werden, besonders, wenn es sich um die engste Familie handelt. Früher hat man sich halt nach dem Urlaub getroffen, einen gemütlichen Tag oder Abend miteinander verbracht, und dann wurde erzählt, wurden Fotos gezeigt …, es ist alles irgendwie kälter geworden, aber so ist es halt nun mal. Ich will mich da aber nicht mehr umstellen, auch wenn ich noch nicht so alt bin. Es ist keine Frage des Alters, sondern der Einstellung. So, aber jetzt möchte ich nicht länger herummeckern. Ich will nicht, dass du mich für eine renitente, undankbare Alte hältst, Stella.«

»Um Gottes willen, das werde ich niemals«, beteuerte Stella sofort. Und so meinte sie das auch, das war nicht nach dem Mund geredet. »Ich finde es ganz wunderbar, dass du so bist wie du bist. Ich finde es auch prima, dass du eine eigene Meinung hast, die du auch vertrittst. Du hast ja recht. Doch das Rad der Zeit lässt sich nicht mehr zurückdrehen, und in unserem Alter bleibt man auf der Strecke, wenn man sich den Neuerungen verschließ. Jörg käme ohne all die technischen Errungenschaften beruflich überhaupt nicht mehr zurecht. Er ist weltweit vernetzt und würde den Anschluss verpassen. Es schreibt ja heutzutage kaum noch jemand Briefe.«

»Es ist ja schon ein Segen, wenn von den jungen Leuten heute überhaupt jemand schreiben kann. Fehlerfrei, meine ich«, bemerkte Inge. »Man schickt sich Symbole, hat für vieles eine eigene Sprache. Ehrlich, Stella, mir wird ganz angst und bange, wenn ich das mitbekomme. Ich bin unendlich froh darüber, dass eure Kinder noch mit Begeisterung lesen, und dass ihr ihnen andere Werte vermittelt, als ständig auf den Fernseher, auf Computer oder auf Smartphones und ähnliches zu starren. Wenn ich daran denke …«

Inge brach ihren Satz ab, hielt sich eine Hand vor den Mund. »Ich höre auf, entschuldige bitte, Stella. Aber es ist ein heißes Thema für mich, bei dem ich mich jedes Mal ereifere. Endgültig Schluss damit. Was möchtest du trinken? Kaffee, Latte, Cappuccino oder einen Espresso?«

Stella lachte.

»Oh, was das anbelangt, da bin ich altmodisch. Ich hätte gern einen schwarzen Kaffee, den niemand so gut zubereiten kann wie du.«

Ja, sie verstanden sich wirklich, die beiden Frauen. Es war herzlich, harmonisch. Und es tat weh, an ihre eigene Mutter zu denken.

Inge war einmalig, aber wenn ihre Mutter wenigstens ansatzweise etwas Herzlichkeit besäße, das wäre ganz wunderbar …

*

Nikola Beck fuhr vor dem Arzthaus vor, lief durch den Vorgarten. Als sie an der Treppe ankam, blieb sie stehen, zögerte, dann holte sie ganz entschlossen den Haustürschlüssel aus ihrer Tasche, warf ihn in den Briefkasten, dann rannte sie, ganz so, als sei der Leibhaftige hinter ihr her, zurück zu ihrem Auto.

Sie fühlte sich nicht gut dabei, als sie sich in den Wagen setzte und losfuhr.

Das war feige, das wusste sie, und sie konnte sich eigentlich nur damit entschuldigen, dass Roberta Sprechstunde hatte und sie ihre Freundin erst mittags, wenn überhaupt, treffen konnte. Vielleicht sogar erst abends, wenn Roberta Krankenbesuche zu machen hatte.

Es war ein Vorwand, und das wusste Nicki genau.

Sie wollte nicht mit Roberta reden, weil sie ahnte, was die ihr sagen würde, und das wollte sie nicht hören.

Sie verstand ihr Handeln ja selbst nicht, aber sie konnte nicht anders.

Als sie den Sonnenwinkel hinter sich gelassen hatte, fuhr sie rechts an den Straßenrand und stellte den Motor ab.

Sie war durcheinander, ganz schön sogar, dabei hatte alles so gut angefangen. Sie hatte sich lange nicht entschließen können, zur Restauranteröffnung zu fahren. Und eigentlich hatte sie es in erster Linie wegen Roberta getan, um sich von ihr keine Vorhaltungen anhören zu müssen. Die coole Roberta war fest davon überzeugt, dass sie und Roberto Andoni füreinander geschaffen waren und versuchte permanent, die Glücksgöttin zu spielen. Ausgerechnet Roberta! In Gefühlsdingen hatte ihre Freundin bislang wirklich nicht den goldenen Griff gehabt. Aber, nun, es stimmte schon, sie und Roberto passten wirklich gut zusammen, und sie würde nicht eine Sekunde nachdenken, wenn er nicht gerade ein Wirt im Sonnenwinkel wäre.

Sie holte aus dem Handschuhfach eine Tafel Schokolade heraus, und die stopfte sie beinahe komplett in sich hinein.

Nicki lehnte sich zurück.

Die Eröffnung des ›Seeblicks‹ war wirklich toll gewesen, und wie sehr Roberto sich gefreut hatte, wie bemüht er um sie gewesen war, und dann, nachdem die letzten Gäste gegangen waren, oben in seiner Wohnung …

Nicki seufzte.

Roberto war ein fantastischer Liebhaber, er war sanft, zärtlich und leidenschaftlich zugleich. Und all die wundervollen Liebesworte, die in italienischer Sprache natürlich noch viel romantischer klangen.

Es gab kein Wort dafür, was sie dabei empfunden hatte. Eines wusste sie. Es war so schön gewesen, dass sie all ihre Bedenken über Bord werfen wollte. Sie war bereit, es mit ihm zu wagen. Und da es nun mal nicht anders ging, wollte sie in den sauren Apfel beißen und mit ihm ein Zusammenleben im Sonnenwinkel probieren. Man konnte schließlich nicht alles haben. Sie tröstete sich damit, dass zum Glück ihre allerbeste Freundin ebenfalls hier wohnte, zu der sie gehen konnte, wenn ihr die Decke auf den Kopf fiel.

Ja, so weit war sie schon gewesen. Und es hatte sich sehr gut angefühlt. Für die Liebe musste man halt manchmal Opfer bringen.

Diese so gelungene Eröffnung des wirklich schönen Restaurants und dann die wundervolle Nacht mit ihm hatten Nicki ganz hingebungsvoll gemacht. Roberto war es wert, für ihn vieles aufzugeben. Er liebte sie, war bereit, sie auf Händen zu tragen. So etwas hatte sie nie zuvor erlebt.

Irgendwann war sie in seinen Armen eingeschlafen in dem Bewusstsein, dass es mit ihnen am nächsten Morgen weitergehen würde, Küsse, Umarmungen zuerst und dann ein gemütliches gemeinsames Frühstück, um in aller Ruhe gemächlich den Tag angehen zu lassen. Genauso liebte Nicki es.

Und dann kam der Schock. Auf einen Schlag war sie total ernüchtert, und da wurde ihr klar, dass all ihre Vorbehalte, ihre Sorgen nicht umsonst gewesen war. Entweder es passte oder nicht. Nichts ließ sich passend machen.

Sie wischte sich Tränen aus den Augen. Es tat ganz schön weh.

Irgendwann, es mochte so gegen drei Uhr morgens gewesen sein, war sie wach geworden, weil Roberto versuchte, sich vorsichtig aus der Umarmung mit ihr freizumachen.

Sie hörte jetzt noch sein zärtliches, leises: »Schlaf weiter, cara mia.«

Und dann hatte sie erfahren, dass er aufstehen musste, um um vier Uhr auf dem Großmarkt zu sein, um einzukaufen. Und das sollte keine Ausnahme sein, sondern gehörte zu seinem Arbeitsablauf, Tag für Tag. Er musste jeden Morgen zu dieser nachtschlafenden Zeit auf dem Großmarkt sein. Nicki fand es ganz gruselig, doch ihm schien es nicht einmal etwas auszumachen.

Sein letzter Kuss brannte noch jetzt auf ihren Lippen, sie fühlte schmerzlich seine Nähe, die Wärme seines Körpers.

Es half nichts, ihr war so deutlich bewusst geworden, dass es keine Gemeinsamkeit mit ihm gab, ihre Welten und ihre Vorstellungen waren zu verschieden. Vielleicht konnte man sie vorübergehend durch Liebe und Leidenschaft übertünchen, doch nach den Werbewochen würden die Unterschiede sehr deutlich hervortreten, und dann würden sie anfangen sich zu zerfleischen.

Dazu wollte Nicki es nicht kommen lassen, Trennungen bei denen man sich nur noch verletzte, hatte sie hinter sich, und das wollte sie nicht noch einmal haben.

Auch wenn es höllisch wehtat, war sie sehr klar gewesen, und sie hatte ihm einen langen, langen Abschiedsbrief geschrieben, ehe sie gegangen war.

Da gab es doch diesen Satz. Wie lautete er doch noch? Sie überlegte, dann erinnerte sie sich.

»Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.«

Sie hätte nicht die ganze Tafel Schokolade essen dürfen, ihr war ganz schlecht, und geholfen hatte es auch nicht. Doch ja, ihr Hüftgold würde unweigerlich zunehmen.

Warum gab es bei ihr eigentlich niemals eine Liebe, die komplikationslos und glatt verlief. Vielleicht gab es die ja für niemanden, wenn sie an Roberta dachte, die war eine so wundervolle Frau, und die hatte bislang auch immer daneben gegriffen. Der einzige Unterschied zwischen ihnen war, dass Roberta in ihrem Leben erst zwei Niederlagen erlitten hatte, weil es nicht mehr Männer gegeben hatte.

Doch ließ sich so etwas aufrechnen?

Nein!

Jede Niederlage war eine zu viel!

Für sie war jetzt auch erst einmal Schluss. Sie hatte mit Männern kein Glück, und sollte es irgendwann wirklich noch einen Mr Right für sie geben, dann musste alles ganz komplikationslos verlaufen.

Wenn sie ehrlich war, dann war Roberto ihr Mr Right gewesen. So etwas wie ihn würde sie nicht wiederfinden. Da hatte das Universum schlampig gearbeitet.

Schickte ihr den Traummann schlechthin auf den Weg, und dann all die Erschwernisse – ein Restaurant am Ende der Welt, niemals ein gemeinsames Frühstück, niemals ein gemütlicher Abend!

Frustration war vorprogrammiert, und deswegen war es wirklich besser, nicht auf ihr Herz, sondern auf ihren Verstand zu hören. Nicki gab Gas, der Wagen schoss nach vorne.

Sie hatte sich richtig entschieden, das versuchte sie sich immer wieder einzureden.

Warum konnte sie denn nicht daran glauben?

Warum tat es so weh?

Sie machte ihr Radio an, um es sofort wieder auszustellen, ein Liebeslied. Das fehlte ihr gerade noch …

*

Henrike Rückert, geborene Auerbach, die jedermann nur Ricky nannte, war auf dem Weg zu ihren Eltern. Sie musste unbedingt wegen der Vermietung ihres Hauses mit ihnen sprechen. Fabian hatte sich davor gedrückt, es ihr überlassen. Er unternahm lieber etwas mit den Kindern, ehe die Schule wieder begann. Und das war auch gut so. Ursprünglich war es ja anders geplant gewesen, da hatte Ricky samt Ehemann und den Kindern in ihrem Elternhaus einfliegen wollen. Doch das war bevor bekannt war, dass die netten Köhlers ausziehen würden oder sogar schon in Singapur waren. Das wusste Ricky nicht so genau, sie hatte ihren Urlaub in der Bretagne genießen wollen und nichts darüber hören. Im Urlaub belastete man sich nicht gern mit Unangenehmem.

Aber jetzt holte es sie natürlich ein, nun musste sie sich kümmern.

Als Ricky in den Sonnenwinkel kam, wurde sie ganz sentimental. Wie schön und friedlich es hier war. An den Sonnenwinkel hatte sie wirklich nur die allerbesten Erinnerungen. Doch darüber musste man sich auch nicht wundern.

Hier hatte sie mit ihren Eltern und Geschwistern gelebt, dann war sie mit Fabian in ein eigenes Haus gezogen. Als sie an ihrem Haus vorüberfuhr, in dem die Vorhänge zugezogen waren, da wusste sie, dass es für Fabian und sie niemals eine Rückkehr in den Sonnenwinkel geben würde.

Er war ja schon länger dafür, das Haus zu verkaufen, doch sie hatte sich aus lauter Sentimentalität geweigert. Vielleicht war es jetzt wirklich an der Zeit, ernsthaft darüber nachzudenken. Die Köhlers waren reizende Mieter gewesen, doch wusste sie, was kommen würde?

Natürlich gab es viele Interessenten für Häuser im Sonnenwinkel. Aber man konnte den Menschen immer nur vor den Kopf sehen. Sie hatte keine Lust, sich mit Mietern herumzuschlagen. Seit sie studierte, war sie vollauf beschäftigt, denn es gab ja nicht nur das Studium, sie hatte einen Mann und Kinder, und die waren ihr wichtiger als Mieteinnahmen. Und eigentlich konnte sie ihre Mutter auch nicht mehr damit belasten, das war egoistisch.

Sie würde sehen, deswegen war sie in den Sonnenwinkel gekommen.

Ricky parkte vor dem Elternhaus.

Sie wollte gerade an der Haustür klingeln, als die von innen ganz schön schwungvoll aufgerissen wurde, ein junger Mann herauskam, den sie fast nicht erkannt hätte, dabei war es ihr kleiner Bruder.

»Hannes«, rief sie, »mit dir hätte ich ja nun überhaupt nicht gerechnet.« Sie umarmte ihn, freute sich. »Hattest du keine Lust mehr auf die große, weite Welt? Willst du jetzt mit einem Studium nachziehen und uns, wie mit deinem Abi, zeigen, wie man auch da Bestnoten schreibt?«

»Falsch geraten«, lachte Hannes. »Du siehst super aus, Ricky. Kein Mensch würde dir deine vielen Kinder abnehmen. Wie machst du das bloß?«

Dieses Kompliment ging ihr natürlich herunter wie Öl. Aber Ricky war wirklich eine sehr attraktive junge Frau. Sie war mittelgroß, von Natur aus sehr schlank, hatte noch immer einen Pferdeschwanz, der sie jung und unternehmungslustig aussehen ließ, ihre blauen Augen blickten interessiert in die Welt. Sie war mit ihrem Aussehen zufrieden. Bis auf die Haare, die waren zwar sehr schön, hatten für Ricky leider nicht die richtige Farbe. Daran mäkelte sie herum, seit sie klein war.

Sie könnte die Haare ja färben oder zumindest tönen. Das wollte sie nicht, und deswegen konnte man eigentlich nur annehmen, dass sie nur ein wenig kokettieren wollte, weil sonst nichts an ihr auszusetzen war.

Nachdem sie ihren kleinen Bruder, der allerdings ein Stück größer war als sie, stürmisch umarmt hatte, sagte sie: »Hannes, dich hätte ich beinahe nicht wiedererkannt. Du bist ja richtig erwachsen geworden. Und deine Haare, der Bart …, cool. Schneide da bloß nichts ab. So, wie du jetzt aussiehst, das macht dich besonders, du bist ein Typ. Wenn an der Uni ein Professor darüber meckert, lass dich bloß nicht beirren, glaub deiner großen Schwester.«

Er grinste.

»Keine Sorge, große Schwester«, die letzten beiden Worte betonte er nachdrücklich. »Dazu wird es nicht kommen. Ich werde erst einmal keine Uni von innen sehen, und da, wo ich hingehe, kommt es nicht darauf an, wie ich aussehe. Da nimmt man mich wie ich bin.«

Und ehe sie ihn neugierig fragen konnte, erzählte Hannes Ricky von seinen Plänen.

Als er fertig war, schaute er seine Schwester neugierig an. Würde für sie auch eine Welt zusammenbrechen? Immerhin gehörte sie zum Establishment. Hatte der Job ihres Ehemannes, der immerhin ein hochgelobter Studiendirektor war, schon sehr auf sie abgefärbt, sodass jetzt eine Standpauke erfolgen würde? Was Standpauken anbelangte, da war sie eh groß, seine Schwester Ricky. Das wusste er noch aus ihrer Kindheit, wo sie immerfort versucht hatte, sich als so etwas wie seine zweite Mutter aufzuspielen.

Ricky überlegte nicht lange, sondern rief ganz spontan: »Hannes, das finde ich super. Jeder soll seine Träume leben, und du bist ja noch so jung, hast alle Zeit der Welt.«

Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Er blickte Ricky ganz irritiert an.

»Hey, habe ich etwas verpasst? Wurdest du in Weichspüler geschwenkt, oder hast du Kreide gegessen?«

Ricky lachte vergnügt, um­armte ihren Bruder erneut.

»Ach, Hannes, mir fallen tausend Sünden ein. Ich war wirklich schrecklich, und du hast eine ganze Menge mit mir mitgemacht. Was ich gesagt habe, soll aber keine Entschuldigung sein, nein, ich meine es ehrlich. Im Grunde genommen bist du wie ich, machst dein Ding. Nur Jörg ist brav den Weg gegangen, den unsere Eltern von ihm erwarteten.«

Hannes stimmte in das Lachen seiner Schwester mit ein.

»Du hast recht, wir sind wirklich anders. Du hast zum Glück noch die Schule fertig und ein leidliches Abitur gemacht. Dann hast du sofort geheiratet …«

Ricky nickte.

»Ich habe meine Wunschkinder bekommen, und jetzt habe ich, zum Entsetzen aller, angefangen zu studieren. Ganz klassisch, Deutsch und Biologie auf Lehramt. Wenn man mir das früher vorgeschlagen hätte, wäre ich schreiend ums Haus gelaufen, jetzt macht es mir unendlich viel Spaß. Die Dinge passieren halt, wenn die Zeit dafür reif ist.«

»Und Fabian, was sagt der dazu?«

Hannes mochte seinen Schwager, sehr sogar. Aber für dessen bequemes Leben hatte sich auch einiges verändert. Ricky konnte nicht mehr den Haushalt führen. Die Betreuung der Kinder erforderte eine ganze Menge an Organisation, aber auch an Verzicht.

»Fabian, mein fabelhafter Mann, steht voll hinter mir. Er findet das toll, unsere Eltern haben sich auch damit arrangiert, die Großeltern sind begeistert. Opa hat mir sogar ein Auto gekauft, und ich bekomme von ihm Geld, um eine Frau zu bezahlen, die sich um die Kinder kümmert. Oma Holper ist ein Segen, sie mag die Kinder, und die Kinder mögen sie.«

»Also Friede-Freude-Eierkuchen«, sagte Hannes. »Mensch, Ricky, ich freue mich für dich. Dass du nicht studiert hast, war Perlen vor die Säue geworfen. Super, dass du dich besonnen hast. Und das macht mir Mut, weiterhin auf mein Bauchgefühl zu hören und irgendwann zu studieren«, er machte eine kleine Pause, »oder auch nicht.«

»Denkst du darüber nach?«, erkundigte sie sich, und das klang doch ein wenig entsetzt.

Hannes zuckte die Achseln.

»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Der Onkel, von dem mein Kumpel die Surf- und Tauchschule übernimmt, hat eine ganze Menge Kohle damit gemacht. Und die Gegend dort wurde noch mehr aufgewertet. Verhungern werde ich nicht, zumindest, was das Essen anbelangt, und wenn es mir irgendwann mal nicht reicht, dann steige ich aus. Ich freue mich jetzt auf die Herausforderung, und ich freue mich, dass du mich verstehst. Ich habe es ja allen schon angeboten, mit mäßigem Erfolg. Dich lade ich ebenfalls ein, samt Familie.«

Ricky klopfte ihrem Bruder auf die Schulter.

»Wir werden kommen, Fabian, die Kinder und ich, da kannst du Gift drauf nehmen.«

Klar, besonders für die Großen war es ein Paradies.

Hannes wollte gerade anfangen zu schwärmen, was er mit den Kindern unternehmen würde, als die Haustür geöffnet wurde. Professor Werner Auerbach kam heraus.

»Ich beobachte euch schon eine ganze Weile«, sagte er. »Ist das ein konspiratives Gespräch, das vor unserer Haustür stattfindet?«

Ricky flog ihrem Vater um den Hals.

»Hallo, Papa, nein, vor Mama und dir hätten wir doch keine Geheimnisse. Hannes hat mir von seinen Plänen erzählt. Ich finde das großartig.«

Professor Auerbach blickte seine Tochter an.

»Warum wundert mich das eigentlich nicht?«

Das war das Schöne an ihren Eltern, sie versuchten, sie auf den Weg zu bringen, den sie für ihre Kinder richtig fanden. Aber sie akzeptierten, wenn deren Entscheidung dann eine andere war.

Ricky hakte sich bei ihrem Vater ein.

»So, Papa, nun können wir ins Haus gehen, ich bin nämlich hergekommen, um etwas mit euch zu besprechen. Und Hannes, dich hätte ich eigentlich auch gern dabei. Oder musst du fort?«

Hannes hatte sich lose mit alten Freunden aus der Schulzeit verabredet, aber die konnte er auch noch später treffen.

Er hatte seine große Schwester sehr gern, und das hatte überhaupt nichts damit zu tun, dass ihr seine Pläne gefielen. Er wollte noch ein wenig deren Gegenwart genießen, seine Abreise war in greifbarer Nähe. Hannes war aufgeregt, und er freute sich riesig auf sein neues Leben in Aus­tralien mit ganz neuen Herausforderungen. Aber er war auch ein wenig wehmütig. Es war schön, wieder zu Hause zu sein in der Beschaulichkeit des Sonnenwinkels. Noch schöner war es, allgegenwärtig die Zuneigung seiner Familie zu spüren, die er wirklich über alles liebte. Er genoss die Liebe, den Zusammenhalt, die Wärme und die Geborgenheit. Nicht zu vergessen, das wunderbare Essen, das seine Mutter ihm täglich servierte und das er ebenfalls sehr vermissen würde.

Hannes wusste, dass er in der ersten Zeit Heimweh haben würde, das war auch so gewesen, als er seine Weltreise angetreten hatte. Da war das Heimweh ganz schrecklich gewesen, und er hatte mehr als nur einmal überlegt, alles abzubrechen.

Wenn es ginge, dann würde er sehr gern seine Familie mitnehmen oder wenigstens dieses wunderbare Gefühl, in das er sich einhüllen konnte, wenn es ihn überkam und er einsam war. Dafür würde er gern Übergepäck zahlen. Es ging leider nicht, und eines war wahr, zu wahr …, man konnte nicht alles haben.

*

Die Auerbachs hatten ihre Tochter Ricky davon überzeugt, das Haus nicht zu verkaufen, sondern es erneut zu vermieten. Und Inge hatte nicht nur versprochen, sich darum zu kümmern, nein, sie wäre beleidigt gewesen, wenn man ihr das weggenommen hätte. Es machte ihr Spaß, neben all ihren Verpflichtungen so etwas wie Maklerin zu spielen.

Bei den Auerbachs war, zumindest was das anbelangte, die Welt wieder in Ordnung.

Das konnte, nur wenige Häuser weiter, die junge Ärztin Roberta nicht behaupten.

Sie wusste inzwischen, dass Nicki sich von Roberto Andoni endgültig getrennt hatte, und ­darüber war sie sehr traurig. Vielleicht wäre sie näher darauf eingegangen und hätte versucht, Nicki zur Vernunft zu bringen, wenn bei ihr nicht auf einmal ­alles aus den Fugen geraten wäre.

Sie hatte dem wichtig aussehenden Brief mit Zustellung zunächst keine Bedeutung beigemessen und erst einmal an eine Geschwindigkeitsüberschreitung oder an ein nicht gezahltes Ticket gedacht, obwohl beides für sie unüblich war.

Nach der Sprechstunde hatte sie den Brief geöffnet, und dann war sie aus allen Wolken gefallen.

Es war die Aufforderung, zu ­einem Gerichtstermin zu erscheinen, was an sich nicht schlimm wäre. Sie war mehrfach als Zeugin vorgeladen worden, weil sie einen Verkehrsunfall miterlebt hatte, eine Beleidigung oder ähnliches.

Aber jetzt ging es um eine Schadensersatzklage in erheblicher Höhe.

Das musste ein Irrtum sein!

Sie war so verwirrt, dass sie erst einmal gar nicht so richtig alles erfasste. Doch dann fiel Nicki ihr ein, die sie während der Sprechstunde angerufen hatte, um ihr von einem unliebsamen Zusammentreffen mit ihrem Exmann Max erzählt hatte.

Roberta hatte dem keinerlei Bedeutung beigemessen, weil Max manchmal ein Schwätzer sein konnte. Doch plötzlich erinnerte sie sich an das, was Nicki ihr erzählt hatte.

Max wolle sie fertig machen …

Er habe etwas gegen sie in der Hand …

Es würde ihr das Genick brechen …

Sie solle sich warm anziehen …

Roberta fröstelte.

Max konnte gefährlich werden, er konnte über die Grenzen des guten Geschmacks hinausgehen.

Womit wollte er ihr schaden, und warum?

Nun, über das Warum musste sie nicht nachdenken. Sie hatte sich geweigert, die Praxis zu retten, sie hatte ihm gesagt, er solle nicht wiederkommen. Das reichte, um ihn Rot sehen zu lassen.

Es klang plausibel, doch das reichte nicht aus, um ihr eine Vorladung zu schicken.

Schlimm war auch, dass die Verhandlung bereits am morgigen Tag sein sollte, weil die Vorladung an ihre alte Adresse geschickt worden war.

Es machte alles keinen Sinn, aber Roberta spürte die Bedrohung körperlich.

Was sollte sie jetzt tun?

Sie hatte Sprechstunde, konnte die nicht einfach ausfallen lassen, andererseits wusste sie, dass man Vorladungen des Gerichts nicht einfach ignorieren konnte.

Sie saß in der Zwickmühle, und das ganz gehörig.

Roberta versuchte ihren Anwalt zu erreichen, der sie bei ihrer Scheidung vertreten hatte. Da meldete sich nur ein Anrufbeantworter, der sagte, dass der Rechtsanwalt in Urlaub und die Kanzlei geschlossen sei.

Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und es dauerte lange, bis sie wieder klar war. Und da rief sie Ursel Hellenbrink an, um die Sprechstunde abzusagen. Es ging nicht anders.

»Frau Doktor, Sie werden es doch hoffentlich nicht der guten Frau Münster gleichgemacht haben und wie eine Rockerbraut durch die Gegend gefahren sein? Das wäre kein gutes Beispiel, und Sie scheinen offensichtlich nicht so viel Glück zu haben wie Frau Münster.«

Diese Worte klangen noch in Roberta nach, als das Gespräch längst schon beendet war.

Wenn die Gute wüsste, dass es sich nicht um ein banales Verkehrsdelikt handelte, sondern um eine Schadensersatzklage.

Roberta sprang auf, wanderte unruhig durch ihr Wohnzimmer, zermarterte sich den Kopf.

Nichts machte Sinn.

Am liebsten hätte sie jetzt einen doppelten Cognac getrunken oder einen Grappa oder sonst etwas Hochprozentiges. Das verkniff sie sich. Erst einmal war das eh nicht ihr Ding, außerdem brauchte sie einen klaren Kopf.

Sie hatte sich einen spannenden Fernsehkrimi ansehen wollen, danach stand ihr der Sinn nicht mehr. Der stand ihr eigentlich nach überhaupt nichts. Sie war nur panisch, und das bedeutete schon etwas bei einer Frau, die eigentlich die Besonnenheit in Person war.

*

Als Roberta am nächsten Morgen beim Gericht ankam, fühlte sie sich wie gerädert, und auch zwei große Becher Kaffee hatten sie nicht auf die Beine gebracht.

Natürlich hatte sie die ganze Nacht nicht geschlafen, und entsprechend sah sie aus.

Das spärliche Licht auf dem Gerichtsflur verstärkte diesen Eindruck noch.

Max war offensichtlich ebenfalls geladen, er stand bereits in Begleitung von drei Anwälten vor der Tür des Raumes, in dem die Verhandlung stattfinden sollte.

Er grinste sie unverschämt an, dann begann er mit seinen Anwälten zu flüstern. Er schien sehr siegesgewiss zu sein.

Und das verstärkte Robertas Unsicherheit noch mehr. Wenn sie wenigstens einen Anwalt hätte!

Vielleicht hätte sie die Verhandlung vertagen lassen sollen. Für solche Überlegungen war es zu spät.

Es waren auch noch andere Leute da, die sie neugierig musterten, und auch die waren mit Anwälten erschienen. Die Kläger?

Obwohl sie sich keiner Schuld bewusst war, fühlte Roberta sich wie auf dem Schafott. Sie musste sich zusammenreißen, sich aus dieser Stimmung befreien, sonst war sie verloren.

Sie war nicht bereit, hingerichtet zu werden. Wofür denn?

Allmählich erwachte ihr Kampfgeist, und als sie aufgerufen wurden, war sie beherrscht und hochkonzentriert.

Eine Richterin führte den Vorsitz, es gab zwei Beisitzer und einen Gerichtsschreiber.

Die Richterin war eine attraktive Frau, und es war unglaublich, Max versuchte sofort, seinen Charme spielen zu lassen.

Würde sie darauf hereinfallen?

Die Verhandlung begann, es wurde in der Sache verlesen, und dann begriff Roberta, dass Max die beiden Prozesse wegen der Behandlungsfehler verloren hatte, dass er jetzt zur Kasse gebeten werden sollte.

Aber warum war sie hier? Das sollte Roberta sehr schnell erfahren, und sie brauchte eine Weile, um diese Unverschämtheit zu begreifen, die sich nur ein gemeines, krankes Hirn ausdenken konnte.

Max hatte es so hingestellt, dass er die Praxis nur kommissarisch geführt hatte, dass sie nach wie vor Roberta gehörte, ihr allein. Und er sei schuldig, was die Behandlungsfehler anbelangte, dass es für die Ärzte aber eine Vertragsklausel gäbe, die besagte, dass die Praxis in Prozessen die Kosten übernähme.

Er habe einen solchen Vertrag, und deswegen sei Frau Doktor Roberta Steinfeld nun zuständig.

Es war ein schlechter Film, ein schlimmer Traum, aus dem sie erwachen musste.

Er war es nicht, das machte die kalte Stimme der Richterin deutlich.

Roberta gab zu, dass es früher so gewesen sei, vor ihrer Scheidung, dass ihr Exmann die Praxis mit allen Verträgen übernommen habe.

Max grinste, mischte sich ein und sagte, dass es nicht zutreffend sei, er habe sich nur um die Praxis gekümmert, weil seine Frau, er sagte das tatsächlich, sich anderweitig verwirklichen wollte.

»Es ist ihr über den Kopf gewachsen, Frau Vorsitzende«, sagte er, »die Praxis war eine Nummer zu groß für sie. Ich habe mein Bestes getan. Aber natürlich überforderte mich das auch, denn sonst wären mir, als einem erfahrenem Arzt, diese Fehler niemals passiert.«

Ach, auch daran sollte sie schuld sein?

Roberta zwang sich, ganz ruhig zu sein. Das kostete unglaublich viel Kraft, doch musste sie da jetzt durch. Sie erzählte, dass sie die gesamte Praxis an ihren Exmann übergeben habe, ohne Gegenforderungen zu stellen.

»Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich einmische, Frau Vorsitzende«, schon wieder war es Max, der sich einfach einmischte.

»Dann müsste es ja wohl auch einen Vertrag geben, oder?«, bemerkte er.

Roberta wurde blass, sie spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Darauf wollte er hinaus?

Es gab einen Vertrag.

Max hatte sie überredet, wegen der unnötigen Anwaltskosten die Praxis aus dem Scheidungsverfahren herauszunehmen. Und sie hatte sich damit einverstanden erklärt. Sie war damals eh nicht bei sich gewesen, enttäuscht, verletzt, unglücklich!

Es hatte einen Vertrag gegeben, in einfacher Ausfertigung, nur von ihnen beiden unterschrieben.

Roberta konnte sich nicht mehr erinnern, warum sie damit einverstanden gewesen war, wie gesagt, es war vieles schiefgelaufen.

So siegessicher, wie Max sich jetzt benahm, war davon auszugehen, dass er den Vertrag vernichtet hatte und nun glaubte, mit allem aus dem Schneider zu sein.

Es war so widerwärtig!

Es ekelte sie an, ihn sich anzusehen in seiner überheblichen Dreistigkeit.

Und so etwas hatte sie einmal geliebt!

Die Vorsitzende sah sie erwartungsvoll an.

Und Roberta gratulierte sich insgeheim, in dieser schwierigen damaligen Zeit wenigstens einen Geistesblitz gehabt zu haben.

Als Max damals kurzfristig abberufen worden war, hatte sie den Vertrag unbemerkt kopiert.

Als wenn sie es geahnt hätte, dass sie ihn noch einmal benötigen würde.

Und sie gratulierte sich noch zu etwas, nämlich, dass sie in der Frühe den Ordner mit allen wichtigen Unterlagen mitgenommen hatte.

»Es gibt einen Vertrag«, sagte Roberta.

Als sie zu Max blickte, sah sie, wie der sich verfärbte, aufsprang und sagte: »Ausgeschlossen.«

Ja, für ihn war es ausgeschlossen, weil er den einzigen Vertrag nicht mehr hatte.

Roberta blätterte in der Akte, zog den Vertrag hervor, dann brachte sie ihn zum Richtertisch.

»Es ist nur eine Kopie, die ich mir zum Glück gemacht habe, obwohl mein Exmann auf nur einem einzigen Original bestand. Ich vermute, dass er es vernichtet hat.«

Und dann packte sie aus. Sie musste auf nichts und niemanden mehr Rücksicht nehmen. Sie sprach von der schmutzigen Scheidungsschlacht, die Versuche von Max, sie wieder an Bord zu holen, sie sprach von seinen Drohungen, und zum Schluss sagte sie: »Im Sonnenwinkel bin ich gelandet, weil ich mir eine neue Existenz aufbauen musste. Und dass es gerade dort war, lag daran, weil ein ehemaliger Kommilitone mir seine Praxis angeboten hatte, die frei geworden war, weil er samt Familie nach Amerika ausgewandert ist.«

Sie brachte noch mehr Belege nach vorn.

Glaubte man ihr?

Max und seine Anwälte steckten erneut die Köpfe zusammen, unter den Klägern gab es Stimmengemurmel.

Roberta war fix und fertig.

Sie konnte sich kaum auf das konzentrieren, was dann gesprochen wurde. Dankbar nahm sie ein Glas Wasser entgegen, das jemand ihr brachte, und dann sagte die Vorsitzende, dass sich das Gericht zur Beratung zurückziehen wollte und dass die Verhandlung in einer halben Stunde weitergehen sollte.

Max wollte auf sie zugehen, einer seiner Anwälte hielt ihn zurück. Er schäumte vor Wut.

Eine Frau, wie sich herausstellte, eines der Opfer, die Max falsch behandelt hatte, kam auf sie zu: »Ich glaube Ihnen, Frau Doktor«, sagte sie, und das tat unendlich wohl, »wenn es so etwas wie Gerechtigkeit gibt, werden Sie siegen.«

Dann ging sie, ehe Roberta ihr danken konnte.

Sie hätte jetzt ebenfalls hinausgehen können, doch sie brachte einfach nicht die Kraft dazu auf. Sie war wie gelähmt. Die Gedanken in ihr ratterten, sie hatte Angst. Und wieder stellte sie sich die Frage, ob man ihr glauben würde. Es ging hier nicht um ein banales Delikt, sondern um ihre Existenz, und Max war skrupellos genug, um seine Haut zu retten, sie über die Klinge springen zu lassen.

*

Noch niemals zuvor war Roberta eine halbe Stunde so unendlich lang vorgekommen. Sie starrte auf die große Uhr, die an einer Wand, ihr gegenüber, angebracht hatte.

Jemand schien die Zeiger festzuhalten, so langsam konnten sie sich doch nicht fortbewegen.

Ob sie es wollte oder nicht, ihr Leben an der Seite von Max ging ihr durch den Kopf. Es war schlimm gewesen zum Schluss, vorher hatte sie es nur mühsam ertragen. Doch jetzt hatte er allem wirklich die Krone aufgesetzt.

Mit dieser Sache hier hatte er auch noch den letzten Rest zerstört, den sie in sich bewahrt hatte, um nicht ganz zu verzweifeln.

Es war vorbei.

Sie konnte nicht einmal Verachtung für ihn empfinden. Endlich war die halbe Stunde um, die Vorsitzende und ihre beiden ­Beisitzer kamen zurück, auch der Gerichtsschreiber. Robertas Herz drohte zu zerspringen, Max wirkte angespannt. Was dann kam, war unglaublich.

Man glaubte ihr, erkannte die Kopie an. Mehr noch, man hatte sich beim Finanzamt erkundigt, bei der Gewerbesteuerstelle, und auch da hatte Max versucht zu tricksen, um die Steuer zu umgehen.

Er war eindeutig ein Krimineller, der sich jetzt auch noch wegen anderer Delikte verantworten musste.

Sie wurde freigesprochen, und das wurde im Gerichtssaal sogar mit Applaus bedacht.

Sie konnte zur Kostenstelle gehen, sich die Gerichtskosten, ihre entstandenen Kosten, erstatten lassen. Darauf verzichtete Roberta. Sie wollte hier nur noch raus.

»Sie können Ihren Exmann anzeigen, da kommen einige Straftaten zusammen«, sagte die Richterin.

Max grinste, er war fest davon überzeugt, dass sie das niemals tun würde.

Roberta maß ihn mit einem letzten verächtlichen Blick. »Ja, das möchte ich«, sagte sie mit fester Stimme, und für Max brach eine Welt zusammen.

Er hatte sich gehörig verspekuliert, weil er nichts von der Kopie wusste. Und jetzt, zum Schluss, das hätte er nicht erwartet.

Die Verhandlung war vorbei, der Gerichtssaal leerte sich, als Roberta an ihrem Exmann und dessen Anwälten vorbeiging, sagte sie: »Max, das Spiel ist aus. Hoffentlich begreifst du das.«

Dann verließ sie den Raum, das düstere, so abweisend wirkende alte Gebäude.

Sie hatte einen Sieg davongetragen, doch darüber konnte sie sich nicht freuen. Es hätte auch anders ausgehen können, und Max hätte seelenruhig mit angesehen, dass sie alles verlor.

Roberta bekam eine Gänsehaut.

Draußen angekommen, stellte Roberta sehr schnell fest, dass sie nicht in der Lage war, jetzt mit dem Auto zu fahren. Sie musste sich erst einmal beruhigen. Und da sie sich in der Stadt auskannte, schließlich hatte sie hier jahrelang gewohnt, ging sie erst einmal Kaffee trinken.

Dann lief sie ein wenig ziellos durch die Straßen der Stadt, als sie vor ihrer ehemaligen Praxis landete, blieb sie stehen.

Max hatte, vermutlich weil er zu geizig dazu gewesen war, das Praxisschild noch immer nicht ausgewechselt. Ihr Name stand auch noch auf der schönen Messingtafel.

Aber es löste nichts in ihr aus. Nicht einmal mehr Bedauern, sie hatte sich schon zu weit von allem entfernt, und es hatte ja auch eine Schlammschlacht gegeben, die sehr unschön gewesen war.

Quer über dem Schild klebte ein auffälliger Zettel mit der Aufschrift: »PRAXIS GESCHLOSSEN«.

Und das würde sie wohl auch bleiben, diese Ära war vorüber.

Sie hatte hier nichts mehr verloren, es lag so weit zurück, sie musste nach vorne blicken, und das wollte sie auch.

Der Sonnenwinkel war jetzt ihre Heimat.

Und deswegen wollte sie auch ganz schnell dorthin zurück, zu ihrer Praxis, zu ihren Patienten, in ihr Haus, das Alma so wundervoll in Schuss hielt.

Max konnte einem beinahe schon leidtun. Er hatte durch seine Manipulationen, durch seinen Narzissmus, durch seine Selbstsucht alles verloren.

Roberta war ein mitfühlender Mensch, aber nein, ihren Exmann konnte sie nicht bedauern.

Da Nicki mit einem Auftraggeber in London war, hielt sie nichts mehr in dieser Stadt.

Hier war sie einmal zu Hause gewesen, doch das schien hunderte von Jahren zurückzuliegen.

»Sonnenwinkel, ich komme«, rief sie, dann rannte sie los, zu ihrem Auto, sie stieg ein, dann fuhr sie los.

Nur einen ganz kurzen Moment war sie zu schnell, dann besann sie sich. Sie wollte keinen Gerichtssaal mehr von innen sehen, ganz gewiss nicht!

*

Dr. Tim Köhler und seine Frau Veronika waren von ihrem Besichtigungsbesuch überhaupt nicht mehr zurückgekommen, sondern hatten einen Spediteur beauftragt, die noch im Haus verbliebenen Sachen in Container zu packen und sie nach Singapur zu schicken.

Das war geschehen, das Haus war leer, und Inge Auerbach sah es sich an.

Die Köhlers waren wirklich hervorragende Mieter gewesen, sie hatten das Haus in einem einwandfreiem Zustand hinterlassen.

Jetzt musste noch der Anstreicher hinein, und dann konnten die nächsten Mieter kommen.

Inge würde ja am liebsten eine Familie mit Kindern nehmen, und da sie bei der Vermietung freie Hand hatte, würde sie die auf jeden Fall bevorzugen.

Sie wollte gerade das Haus wieder verlassen, als geklingelt wurde. Das war ein wenig merkwürdig, denn es gab keine Gardinen mehr vor den Fenstern und auch so machte das Haus einen verlassenen, unbewohnten Eindruck.

Ein Vertreter, der trotz allem hoffte, jemanden anzutreffen?

Inge ging zur Tür und öffnete.

Ein Mann, er mochte um die Vierzig sein, stand davor. Er war sehr gut angezogen, dennoch störte Inge etwas an ihm. Es war wohl sein überhebliches Auftreten.

»Ich möchte den Eigentümer sprechen«, sagte er, »haben Sie seine Adresse.«

Sie könnte es doch auch sein, sie war ordentlich gekleidet. Aber er hatte offenbar eine andere Vorstellung von dem, dem das Haus gehörte.

Sie antwortete nicht sofort, deswegen fuhr er fort: »Ich möchte das Haus kaufen. Ich bin bereit, jeden Preis zu zahlen, also, ich habe keine Zeit, wem gehört dieser Schuppen hier?«

Schuppen, für den er jeden Preis zahlen wollte. Was bildete dieser Flegel sich eigentlich ein?

»Dieser Schuppen, wie Sie sagen, gehört meiner Tochter, und die verkauft nicht. Das Haus wird vermietet, und für die Vermietung bin ich zuständig.«

Er warf ihr einen nicht zu deutenden Blick zu, ganz so, als wolle er sagen: Du? »Ich denke, ich sollte mit Ihrer Tochter sprechen. Alles hat seinen Preis, und wenn diese Dame meinen hört, dann kann sie nicht ablehnen.«

Was war das für ein Mann? Wo kam er her? Warum wollte er ausgerechnet in den Sonnenwinkel? Wenn eines gewiss war: Er passte nicht hierher.

Normalerweise hätte sie ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen, doch es konnte sein, dass er hier jemanden kannte, mit ihm womöglich verwandt war, da wollte sie es nicht zu einer Eskalation kommen lassen und als unhöflich erscheinen. Er war bestimmt nicht einfach so in den Sonnenwinkel gekommen, und ebenso wenig war er einfach so hier vor der Haustür gelandet.

»Mein Herr, glauben Sie mir. Dieses Haus wird nicht verkauft, und es gibt«, jetzt log sie einfach, und das würde der liebe Gott ihr hoffentlich verzeihen, »einige Interessenten für eine Mietung.«

Er gab nicht auf, und da erinnerte er sie ein wenig an Rosmarie Rückert, die ebenfalls glaubte, für ihr Geld alles kaufen zu können.

Dieser Mann wurde richtig unverschämt, weil sie Rickys Adresse nicht herausgeben wollte. Ehe er ging, drückte er ihr eine Visitenkarte in die Hand und sagte, die solle sie ihrer Tochter geben, und die möge ihn anrufen.

»Ich denke, Ihre Tochter wird eher einen Instinkt für gute Geschäfte haben. Ein Angebot für eine Immobilie, das über dem Marktpreis liegt, erheblich darüber, das kann nur ein Narr ablehnen oder aber«, er maß Inge mit einem verächtlichen Blick, »eine unbedarfte Hausfrau.«

Nach diesen Worten drehte er sich abrupt um, raste davon. Inge sah noch, wie er in einen auffallenden roten Sportwagen stieg und mit aufheulendem Motor davonfuhr. Das war ja nun wirklich eine Begegnung der besonderen Art gewesen.

Ehe sie ins Haus zurückging, blickte sie auf die Visitenkarte, die er ihr in die Hand gedrückt hatte.

Vittorio Mezzato …

Und dann las sie eine Hoteladresse aus Hamburg, weiter weg ging ja wohl nicht.

Ein Italiener!

Roberto Andoni kam ihr in den Sinn, ebenfalls ein Italiener. Sie erinnerte sich an die anfänglichen Vermutungen, er sei von der Mafia. Die waren verstummt, doch wenn nun erneut ein Italiener auftauchte …

Oh Gott!

Inge war entsetzt über sich selbst. Wohin verirrten sich ihre Gedanken, den armen Roberto Andoni mit diesem Mann in Verbindung zu bringen, das war geradezu grotesk.

Nach einem letzten Blick auf die Visitenkarte zerriss sie die ganz entschieden, ehe sie sie in die Mülltonne warf.

Dieser grässliche Mann hatte ihre gute Laune verdorben, und auch den Spaß an Rickys Haus.

Dieser Typ als erster Bewerber für die Immobilie, das war kein gutes Zeichen.

Inge griff nach ihrer Tasche, zog ihre Jacke an, dann verließ sie das Haus.

Sie war so sehr in ihre Gedanken versunken, dass sie beinahe mit ihrer eigenen Mutter zusammengestoßen wäre. »Hallo, mein Kind, willst du mich umrennen?«, erkundigte Teresa von Roth sich lachend. »Was ist los?«

Inge erzählte es ihre Mutter, und da sie sehr offen miteinander umgingen, sprach sie auch über ihren kurzzeitigen Verdacht, dieser Mann könne von der Mafia sein und habe etwas mit dem neuen Wirt vom ›Seeblick‹ zu tun.

Teresa von Roth blickte ihre Tochter an, ehe sie ganz herzhaft anfing zu lachen.

»Inge, das glaubst du doch hoffentlich nicht wirklich? Roberto Andoni ist ein durch und durch integrer Mann, für den ich nicht nur eine Hand, sondern alle beide ins Feuer legen würde. Es kann ja sein, dass dieser Mensch, der dich so durcheinandergebracht hat, ein Mafiosi ist. Und warum soll er keine Immobilien kaufen wollen? Die Mafia hat viel Geld zu waschen, und sie hat einen Sinn für lukrative Geschäfte. Die Häuser im Sonnenwinkel sind in den letzten Jahren sehr im Preis gestiegen, und es ist kein Ende abzusehen.«

»Mama, einen solchen Gedanken möchte ich überhaupt nicht zu Ende bringen, die Mafia im Sonnenwinkel.«

»Die Mafia ist überall, die macht vor nichts halt. Aber vielleicht solltest du diesen Zwischenfall als ein Zeichen sehen. Ricky und Fabian wollen eigentlich verkaufen, du hast es ihnen in erster Linie ausgeredet.«

»Ja, und dazu stehe ich. Immobilien verkauft man nicht einfach so. Man kann alles beliebig vermehren, Grund und Boden nicht.«

Teresa von Roth winkte ab.

»Eine absolute Sicherheit ist es auch nicht, erinnere dich bitte daran, was Papa und mir passiert ist. Wir wurden von unserem sicher geglaubten Grund und Boden vertrieben. Man soll an nichts festhalten. Und unsere Meinung, die du kennst, ist, dass es schön ist, ein Haus zu haben, keine Frage. Aber dann eines, um darin zu wohnen, nicht um Häuser wie Briefmarken zu sammeln. Das lässt einen erstarren, eng werden, und letztlich hat das letzte Hemd, wie man so treffend sagt, keine Taschen. Ricky und Fabian haben das wunderschöne Haus, in dem sie wohnen, und sie wollen auch nicht mehr, das haben sie mir selbst gesagt. Lass sie, was das Haus im Sonnenwinkel betrifft, ihre eigene Entscheidung treffen. Sie können das Geld gut gebrauchen, sie haben Kinder, die kosten. Und wenn sie das Kapital sinnvoll anlegen, können sie die Ausbildung ihrer Sprösslinge sichern.«

Inge stimmte mit ihren Eltern in vielem überein, was das Geld anbelangte, hatten sie unterschiedliche Meinungen, und das hatte gewiss auch mit der Vergangenheit ihrer Eltern zu tun, dem Verlust, den sie erlitten hatten.

»Mama, alle Welt stürzt sich auf Immobilien, weil das Geld nichts mehr wert ist. Man bekommt ja überhaupt keine Zinsen mehr, im Gegenteil, es wird ja bereits darüber diskutiert, dass Anleger für ihr Geld Verwaltungskosten an die Banken bezahlen sollen.«

Wieder winkte Teresa ab.

»Mein Kind, du verstehst nichts von Geldanlagen, ich verstehe nichts davon. Warum also sollen wir nachplappern, was wir in der Zeitung lesen oder im Fernsehen hören? Eines kann ich dir noch sagen. Ricky hat sehr von einem kleinen Haus, direkt am Meer, in der Bretagne, wo sie waren, geschwärmt. Das wäre auch eine Option, und Ferien in einem Haus zu machen, ist auf jeden Fall komfortabler als mit der ganzen Familie in einem Wohnmobil. Die Kinder werden größer, und eines steht fest, die Bretagne ist ihr Lieblingsferienziel, was ich übrigens verstehen kann.«

Inge war ganz durcheinander.

»Das hat sie gesagt?«, erkundigte sie sich.

»Ja, das hat sie«, bestätigte Teresa von Roth.

Inge hatte zu all ihren Kindern ein offenes und herzliches Verhältnis. Man konnte über alles mit ihr reden, und da gab es doch immer wieder etwas, womit sie zu ihren Großeltern gingen.

Als Ricky sich entschlossen hatte, zu studieren, hatten es auch zuerst die Großeltern erfahren. Und die hatten es begeistert aufgenommen, ebenso wie die Pläne von Hannes. Als Jörg sich überlegt hatte, eventuell ins Ausland zu gehen: Mit wem hatte er darüber gesprochen? Mit seinen Großeltern.

Weil Teresa und Magnus offener und toleranter waren? Aber sie wollte doch nur das Allerbeste für ihre Kinder!

Inge liebte ihre Eltern über alles, war überglücklich, sie in ihrer Nähe zu haben, doch manchmal war sie eifersüchtig. Das gab sie ja zu.

»Soll Ricky jetzt an diesen …, diesen Mafiosi verkaufen, nur weil der viel Geld bietet?«, erkundigte sie sich.

Teresa von Roth blickte ihre Tochter an, dann strich sie ihr über das Haar, wie sie es schon gemacht hatte, als Inge ein kleines Mädchen gewesen war.

»Sei nicht töricht, mein Kind«, sagte sie, »aber du solltest den Zwischenfall der Polizei melden. Es sind nämlich auch Betrüger unterwegs, die in Wirklichkeit überhaupt nicht kaufen wollen, sondern sich Wissen über Immobilien aneignen möchten, um diese dann in betrügerischer Absicht an Interessenten zum Schein zu verkaufen und von ihnen, ehe es zum Notar gehen soll, eine saftige Anzahlung verlangen.«

Inge sah ihre Mutter zweifelnd an.

»Hab ich gelesen«, sagte Teresa, »scheint eine neue Masche zu sein, um an Geld zu kommen. So, aber jetzt muss ich weiter. Ich habe einen Termin bei Frau Doktor Steinfeld. Da möchte ich nicht zu spät kommen. Wenn du magst, können wir heute Nachmittag Kaffee zusammen trinken. Dein Vater fährt nach Hohenborn. Er hat seine Leidenschaft für das Schachspiel wiederentdeckt und ist dem dortigen Schachclub beigetreten.«

»Das freut mich, Mama«, sagte Inge, und das tat es wirklich. Als Kind hatte sie viel und gern mit ihrem Vater Schach gespielt.

»Mich auch«, bestätigte Teresa. »Also, überleg es dir. Und denk darüber nach, diesen Zwischenfall der Polizei zu melden.«

Nach diesen Worten ging Teresa von Roth davon, hochaufgerichtet, stolz, für ihr Alter war sie erstaunlich gut zu Fuß.

Inge sah ihrer Mutter nach, bis sie um die Ecke verschwunden war, dann ging sie zum Haus zurück, und dort kramte sie, was ziemlich mühsam war, die Schnipsel der Visitenkarte, aus der Mülltonne hervor.

Sie wusste noch nicht, ob sie zur Polizei gehen würde, aber ihre Mutter besaß eine ganz hervorragende Menschenkenntnis.

Den Wirt vom ›Seeblick‹ schloss sie kategorisch aus, und bei diesem Mann war ihr sofort etwas eingefallen.

Sie musste nichts überstürzen, dachte Inge, als sie sich in Richtung ihres eigenen Hauses bewegte.

Aber doch, überstürzen musste sie schon etwas, nämlich sich gewaltig sputen, um rechtzeitig das Mittagessen auf den Tisch zu bringen.

Heute sollte es Königsberger Klopse mit einer feinen Kapernsauce geben, dazu allerdings Reis statt der üblichen Kartoffeln.

So hatte Hannes es sich gewünscht, als Abschiedsessen gewissermaßen. Inge kam es allerdings vor wie eine Henkersmahlzeit, mit einem Unterschied – es wurde niemand hingerichtet, aber Hannes würde ans andere Ende der Welt fliegen, niemand wusste, für wie lange. Und das war für Inge ganz, ganz schlimm. Es war ein Abschied, und sie konnte nur beten, dass es nicht für immer sein würde.

Australien …

Das war so weit weg, niemand wusste eigentlich viel über dieses Land, und auch wenn sich da irgend so ein Kronprinz seine Frau da her geholt hatte. Na und? Dafür konnte sie sich nichts kaufen.

Sie war so unendlich traurig, und es war schlimm, dass sie das keinem so recht zeigen konnte. Ihre Eltern fanden es toll, auf ihre anderen Kinder konnte sie nicht zählen, auch die waren begeistert, bis auf Bambi natürlich, die war noch ärger dran als sie. Und selbst Werner fand es plötzlich nicht mehr so schlimm. Er war den Einflüsterungen der ­anderen erlegen.

Hannes war so hoffnungsfroh, dem konnte sie nun überhaupt nichts vorjammern. Es fiel ihr sehr schwer, fröhlich und entspannt zu sein. Und auch wenn sie ihren Sohn jetzt auf Teufel komm raus bekochte. Ihn machte es glücklich, und das war das einzig Gute.

*

Rosmarie Rückert war sehr zwiegespalten. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie war nicht dumm, sie sah ihre Felle davonschwimmen. Aber sie war einfach nicht bereit, klein beizugeben.

Das hatte sie noch nie getan. Das war eine Schwäche dieser Person gegenüber. Die würde dann doch triumphieren, sie auch auf ihre Seite gezogen zu haben.

Irgendwie flog ihr derzeit alles um die Ohren.

Was war bloß los?

Wenn sie nicht wüsste, dass es sich um seine Tochter handelte, könnte Rosmarie glauben, Heinz sei verliebt. Er hatte ein paar Kilo abgenommen, war fröhlich und entspannt.

Und Stella und Fabian?

Ihre Stimmung sank noch tiefer, wenn sie an ihre Kinder dachte.

Stella und Familie waren aus dem Urlaub zurück, ebenso ihr Sohn Fabian samt Anhang. Sah man mal von dem unglücklichen Zusammentreffen mit Stella ab, hatte es lediglich kurze Anrufe gegeben, in denen ihr die Urlaubsrückkehr mitgeteilt wurde. Mehr nicht.

Gut, von Fabian konnte sie nicht viel erwarten. Er war schon immer der Schwierigere gewesen, und er hielt den Kontakt nur, weil sie seine Mutter war.

Aber Stella, die hatte sie immer um den Finger wickeln können, und die war Wachs darin gewesen. Stella war ganz schön aufmüpfig geworden, und daran war diese Cecile schuld.

Rosmarie wollte sich nicht eingestehen, dass das ziemlich an den Haaren herbeigezogen war. Sie hatte sich Cecile ausgeguckt, und die musste jetzt für alles herhalten, was in Rosmaries Leben querlief.

Den Fehler bei sich suchen?

Oh nein!

Dazu war sie nicht bereit.

Rosmarie entschied immer, wo es längs gehen sollte. Heute allerdings war sie verunsichert.

Um Ruhe zu haben, und auch, um ihren guten Willen zu zeigen, hatte sie sich bereiterklärt, diese Person endlich kennenzulernen.

Heinz hatte sie mit Dackelblick angesehen und gebeten, es doch endlich zuzulassen, Fabian und Stella hatten sie praktisch dazu gedrängt.

Rosmarie ärgerte sich über sich selbst.

Warum hatte sie nicht einfach gesagt, dass sie sich nicht vor den Karren dieser unmöglichen Person spannen lassen wollte?

Von wegen, sie doch unbedingt kennenlernen zu wollen.

Da konnte man doch dran fühlen, dass es nicht um sie ging, sondern dass sie als letztes Bollwerk quasi geknackt werden sollte.

Wie kam sie aus der Sache raus?

Sie musste sich etwas einfallen lassen, vor allem etwas, was glaubwürdig war. Aber was?

Heinz, Fabian und Stella waren nicht blöd, die würden alles durchschauen.

Krank sein?

Ja, das war eine sehr gute Idee. Aber sie konnte unmöglich zu ihrem Hausarzt gehen, auch zu niemandem hier in Hohenborn.

Der Sonnenwinkel …

Ja, da gab es doch diese Ärztin, von der alle begeistert waren.

Wie hieß sie noch?

Ja, richtig, Steinfeld, Doktor Roberta Steinfeld.

Da würde sie gleich anrufen und für heute einen Termin machen. Sie musste am Telefon nur richtig jammern, und das konnte sie, da war sie beinahe bühnenreif, da machte niemand ihr etwas vor.

Sie atmete auf, war von ihrer Idee ganz begeistert und setzte sie auch sofort in die Tat um.

Wenig später legte sie tri­umphierend den Telefonhörer weg.

Es hatte geklappt. Sie hatte den Termin. Vor der Ärztin würde sie auch ein wenig schauspielern, und dann musste sie nicht zu dem Treffen mit dieser verhassten Cecile gehen, und niemand konnte ihr etwas vorwerfen.

Am liebsten hätte sie jetzt vor lauter Freude ein Gläschen Champagner getrunken. Ging nicht, sie musste Auto fahren, und mit einer Fahne bei der Ärztin ankommen, das ging auch nicht.

Rosmarie ging in ihr Badezimmer, und dort entfernte sie erst einmal ihre ›Kriegsbemalung‹. Geschminkt und zurechtgemacht sah sie strahlend aus, da würde ihr niemand eine Krankheit abnehmen, die sie zum Glück ja auch nicht hatte.

Rosmarie wischte alles weg, und als sie sich so ungeschminkt im Spiegel erblickte, kam der Leidensdruck darauf ganz von selbst.

Sie sah schrecklich aus und konnte nur hoffen, dass niemand, den sie kannte, sie so sehen würde. Man würde sie nicht wiedererkennen, und sie würde sich zu Tode schämen, so auf die Menschheit losgelassen zu werden.

Sie würde die Frauen, die naturbelassen durchs Leben gingen, niemals verstehen. Auch Inge Auerbach würde um vieles besser aussehen, wenn sie wenigstens ein wenig Rouge auflegen würde. Und zum Lippenstift zu greifen, würde ebenfalls nicht schaden.

Rosmarie Rückert warf einen letzten Blick in den Spiegel, ehe sie sich entsetzt abwandte.

So, wie sie jetzt aussah, auf die Straße zu gehen, das grenzte ja beinahe schon an Körperverletzung.

Aber da musste sie jetzt durch. Sie hatte keine andere Wahl.

Um diese Cecile nicht treffen zu müssen, würde sie sich sogar ein blaues Auge verpassen lassen.

Rosmarie konnte ihren Zorn kaum bändigen. Wie sehr sie sie doch hasste, diese Person, die ihr ganzes Leben durcheinandergebracht hatte.

*

Roberta wunderte sich sehr, als Ursel Hellenbrink ihr eine neu angelegte Karte hereinbrachte und sie darauf den Namen Rosemarie Rückert las. Sie kannte die Frau flüchtig, die bei ihr allerdings keinen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Vielleicht lag es daran, dass sie ihr einfach zu aufgedonnert war und im Gesicht, und am Busen ganz gewiss auch, bearbeitet worden war.

Schön, wer Schönheitsoperationen brauchte, um dadurch sein Selbstwertgefühl aufzuwerten, der musste sich unters Messer legen.

Rosmarie Rückert hatte auf sie einen kalten, egoistischen Eindruck gemacht, und als sie zufällig mitbekommen hatte, wie sie am Rande eines Festes bei den Münsters mit ihrer Tochter umgegangen war, war sie bei Roberta endgültig unten durch gewesen.

Diese Frau hatte Stella abgekanzelt wie ein Schulmädchen.

Roberta war sehr gespannt, was Rosmarie Rückert von ihr wollte, von Ursel wusste sie, dass sie es dringend gemacht hatte.

Wenn das so war, warum suchte sie nicht einen Arzt in Hohenborn auf?

Nun, sie würde es gleich erfahren. Sie stand auf, um Rosmarie in ihr Sprechzimmer zu holen, als sie die Frau sah, prallte sie zurück.

Was sollte das denn? Sie war kaum wiederzuerkennen, und wie jammervoll sie war, als sie sagte, sie habe überall Schmerzen.

Roberta äußerte sich nicht, überprüfte den Blutdruck, hörte Rosmarie ab.

Es waren einwandfreie Werte, um die sie so mancher beneiden würde. Das sagte sie Rosmarie auch, doch anstatt sich zu freuen, konnte die ihre Wut kaum unterdrücken.

Der Besuch hier war ein Vorwand!

Sie hatte gleich noch Hausbesuche zu machen bei Patienten, die ihre Hilfe wirklich brauchten.

Roberta fackelte nicht lange.

»Frau Rückert, was wollen Sie von mir? Ihnen fehlt nichts, und auch Ihr, nun …, sagen wir mal, verändertes Aussehen lässt Sie nicht krank erscheinen.«

Rosmarie schnappte nach Luft.

So hatte noch niemand zu ihr gesprochen. Sie hätte besser zu einem anderen Arzt gehen sollen, diese Frau war clever, sie hatte sie durchschaut, und das war dumm.

Aber dumm war sie auch nicht, und sie wäre nicht Rosmarie Rückert, wenn sie jetzt einfach aufgeben würde.

Sie begann erneut zu jammern, es musste alles herhalten, ihr Kopf, der Rücken, alles, was ihr einfiel. Und Rosmarie wäre gewiss noch eine ganze Menge eingefallen, wenn Roberta sie nicht unterbrochen hätte.

»Frau Rückert, weswegen möchten Sie unbedingt krank sein?«, erkundigte sie sich.

Rosmarie wusste nicht, was auf einmal mit ihr los war. Die Ärztin machte einen so vertrauenerweckenden Eindruck, sie blickte so mitleidvoll.

Rosmarie fasste Vertrauen zu Roberta, es war wirklich unglaublich, aber sie begann zu reden, und jetzt, da die Schleusen nun einmal geöffnet waren, redete sie wie ein Wasserfall. Sie sprach über Cecile, die ihr ganzes Leben durcheinandergebracht hatte, von der ihr Mann und ihre Kinder vergiftet worden waren. Sie redete sich alles von der Seele und war irgendwann so erschöpft, dass sie dankbar das Glas Wasser annahm, das Roberta ihr reichte.

Roberta setzte sich neben Rosmarie, ergriff deren Hand. Und dann sagte sie, dass sie das doch überhaupt nicht nötig hatte, dass sie eine selbstbewusste, starke Frau sei, die sich der Situation stellen sollte.

»Frau Rückert, Sie können die Tochter Ihres Mannes nicht einfach wegretuschieren. Sie ist da, und sie scheint doch ganz liebenswert zu sein, sonst würden Ihre Kinder sie nicht akzeptieren, ja, wie Sie sagen, sogar lieben.«

»Weil sie eine Schlange ist und allen etwas vormacht«, sagte Rosmarie.

»Frau Rückert, ich habe Ihren Sohn kennen- und schätzengelernt. Dr. Rückert ist ein kluger Mann. Sie würden Ihrem Sohn ein Armutszeugnis ausstellen, wenn Sie glauben, dass er sich von einer Frau täuschen ließe.«

Die Ärztin hatte recht, Fabian konnte man nicht hinters Licht führen, das wäre bei Stella eher der Fall, die war gutgläubig und ließ sich blenden.

Roberta redete noch eine ganze Weile auf sie ein, und das klang überzeugend, widersprach aber dem, was Rosmarie bisher gelebt hatte. Und deswegen war sie im Zwiespalt. Sie konnte doch nicht einfach nachgeben. Da vergab sie sich etwas.

Roberta war mit ihrem Latein am Ende, sie wollte noch einen letzten Versuch wagen.

»Frau Rückert, ich mache Ihnen jetzt einen Vorschlag, obwohl ich glaube, dass Sie das nicht nötig haben. Ich gebe Ihnen etwas zum beruhigen. Es ist rein pflanzlich und ganz ohne Nebenwirkungen. Sie können die Tabletten nehmen, aber Sie können es auch bleiben lassen, weil Sie, wie gesagt, stark genug sind, jede Situation auch ohne Hilfsmittel durchzustehen. Zeigen Sie es allen, gehen Sie zu dem Treffen, Sie können dabei nur gewinnen.«

Ursel Hellenbrand kam herein, erinnerte an den nächsten Termin.

»Frau Rückert, Sie müssen mich jetzt entschuldigen, doch es ist ja auch alles gesagt.« Roberta nickte Rosmarie zu. »Sie schaffen das, davon bin ich fest überzeugt. Darf ich Ihnen nach etwas sagen? Mir ist noch nie aufgefallen, welch wunderschöne Augen Sie haben.«

Am liebsten hätte sie Rosmarie gebeten, die nicht immerfort mit Tusche und Farbe zu verkleistern, doch das durfte sie natürlich nicht, das wäre gemein. Doch ihr Kompliment war aufrichtig gemeint.

Völlig verwirrt verließ Rosmarie die Praxis, nachdem sie sich bei Roberta bedankt hatte. Ja, das hatte sie. Und das, obwohl sie ihr Ziel nicht erreicht hatte.

Aber sie war einfach eine tolle Frau, die Frau Doktor Steinfeld.

*

Auf dem Weg nach Hause war Rosmarie völlig hin- und her gerissen. Die Ärztin hatte ihr die Leviten gelesen und ihr Ratschläge gegeben, ohne schulmeisterhaft zu wirken.

Sie hatte ja recht, es würde ihr um die Ohren fliegen, weil sie mittlerweile recht isoliert dastand. Und für Heinz, auch für Fabian und Stella gab es kein Zurück. Die hatten ihre Stellung bezogen.

Rosmarie blickte in den Spiegel.

Hatte sie tatsächlich schöne Augen?

Musste wohl sein, denn sie hielt die Ärztin nicht für jemanden, der anderen Leuten nach dem Mund redete.

Rosmarie konnte noch immer nicht fassen, dass sie eine solche Plaudertasche gewesen war. Aber die Ärztin hatte es wirklich ganz geschickt verstanden, sie zum Reden zu bringen.

Was sollte sie jetzt tun?

Nachgeben?

Nein, sie konnte es nicht. Sie brauchte noch Zeit, klang ja alles schön und gut, was die Frau Doktor ihr gesagt hatte. Sie würde es überdenken, aber diesmal würde sie noch nicht zu diesem Treffen gehen. Vielleicht, wenn sie ein paar von den Pillen geschluckt hatte, ein andermal.

Leider war, wie die Frau Doktor gesagt hatte, diese Cecile nicht wegzuretuschieren, also würden sich andere Gelegenheiten ergeben.

Rosmarie war ziemlich durcheinander, als sie nach Hause fuhr, sie war auch wütend über sich selbst, weil sie so redselig gewesen war. Doch dann beruhigte sie sich. Frau Doktor Steinfeld unterlag der ärztlichen Schweigepflicht. Alles, worüber sie geredet hatten, würde das Sprechzimmer nicht verlassen, und das war beruhigend. Außerdem glaubte sie auch so nicht, dass Roberta Steinfeld zu den Menschen gehörte, die gern herumerzählten. Da war sie ähnlich wie die Inge Auerbach, der konnte man auch alles anvertrauen in der Gewissheit, dass kein Wort über deren Lippen kommen würde.

Rosmarie war froh, endlich wieder daheim zu sein, sie fuhr ihren Wagen in die Garage, und ehe sie ausstieg, warf sie noch einen letzten Blick in den Spiegel.

Hm, sie fand ihre Augen nicht besonders. Aber schön war das Kompliment auf jeden Fall gewesen.

Die Garage war mit der Villa verbunden, was ganz praktisch bei schlechtem Wetter war, denn da kam man trockenen Fußes ins Haus.

Als Rosmarie in die – man konnte schon sagen – bombastische Diele kam, entdeckte sie in einem Sessel eine junge Frau, die einen sehr sympathischen Eindruck machte.

Als Rosmarie näher kam, erhob die Frau sich, und jetzt sah Rosmarie, dass sie auch noch ausnehmend hübsch war. Irgendwie kam sie ihr bekannt vor. Sie konnte sich aber nicht erinnern, wo sie sie schon einmal gesehen hatte.

Die Besucherin wagte ein schüchternes Lächeln, dann sagte sie mit leicht französischem Akzent: »Entschuldigen Sie bitte, dass ich einfach hierhergekommen bin. Aber ich hatte Angst, dass Sie heute Abend wieder nicht kommen würden. Und ich wollte Sie unbedingt kennenlernen …, ich bin Ce­cile.«

Rosmarie starrte die junge Frau an wie einen Geist, und auf einmal fiel es ihr ein. Aber ja, damals vor dem Juwelier, als sie von der anderen Straßenseite aus ihren Mann und diese junge Frau gesehen hatte, von der sie damals noch geglaubt hatte, sie sei seine Geliebte.

Weil Rosmarie nicht sofort etwas sagte, bemerkte Cecile: »Ich hätte nicht herkommen dürfen. Es war wohl keine gute Idee.«

Sie machte Anstalten zu gehen, da riss Rosmarie sich zusammen, erholte sich von ihrer Überraschung: »Oh nein, bitte bleiben Sie.«

Das war nun eine Entwicklung, mit der sie überhaupt nicht gerechnet hätte, und das Merkwürdige war, es störte sie nicht, im Gegenteil, mit einer gewissen Neugier betrachtete sie die junge Frau, gegen die sie sich mit allen Mitteln gewehrt hatte.

Cecile war ja überhaupt nicht schlimm!

Das musste Rosmarie erst einmal verdauen. Sie hatte sich wegen nichts das Leben schwer gemacht, und sie hatte sich mit Heinz, mit ihren Kindern überworfen, weil da dieses Konzept in ihrem Kopf gewesen war, das auf nichts begründet war.

Wie verrückt!

Sie sah noch einmal Cecile an, dann sagte sie, und dabei konnte sie sogar lächeln: »Schön, dass Sie gekommen sind, Cecile.«

Sofort winkte Cecile ab. »Oh bitte, duzen Sie mich einfach. Wir sind doch jetzt eine Familie, und ich bin sehr froh, die neu hinzubekommen zu haben.«

Cecile war so herzlich, so unkompliziert, vor allem, sie wirkte so aufrichtig. Rosmarie hatte noch nicht einmal eine von den Pillen genommen, die die Frau Doktor ihr für alle Fälle gegeben hatte. Sie war ganz ruhig, und sie war sehr klar, als sie sagte: »Oh, dann bin ich die Rosmarie.«

Die beiden Frauen umarmten sich noch nicht, aber sie waren dicht davor.

Rosmarie bat Cecile in ihren Salon, bot ihr etwas zu trinken an, und es dauerte überhaupt nicht lange, und schon waren sie in ein intensives Gespräch vertieft.

Cecile war nett!

Rosmarie schämte sich, wenn sie daran dachte, was sie Cecile alles unterstellt hatte. Sie begann ihren Mann Heinz zu verstehen und ihre Kinder auch.

Selbst wenn sie versuchen würde, sich weiterhin mit aller Macht gegen Cecile zu wehren, würde es nicht funktionieren.

Durch ihre liebenswerte Art nahm sie einem einfach den Wind aus den Segeln.

Sie verstanden sich gut, konnten miteinander lachen.

Rosmarie verstand die Welt nicht mehr, vor allem verstand sie sich selbst nicht. Sie durfte überhaupt nicht darüber nachdenken, welchen Aufstand sie gemacht hatte.

Rosmarie war sehr überrascht, als sie sich plötzlich sagen hörte: »Ich habe dich abgelehnt, ich wollte nichts mit dir zu tun haben. Ich …, ich wollte sogar, dass Heinz sich zwischen uns beiden entscheidet.«

Rosmarie biss sich auf die Unterlippe. War sie jetzt zu weit vorgeprescht in ihrem Anflug von Aufrichtigkeit?

Sie warf Cecile einen vorsichtigen Blick zu.

Die lächelte sie lieb an und sagte: »Oh, Rosmarie, ich kann dich gut verstehen. Mir wäre es auch nicht anders ergangen. Es ist ja auch nicht einfach, plötzlich eine erwachsene Frau als lebenden Beweis aus der Vergangenheit präsentiert zu bekommen. Es ist schade, dass Mama mir zu ihren Lebzeiten nicht gesagt hat, wer mein Vater ist. Dann wäre vielleicht alles einfacher gewesen, aber vielleicht auch nicht. Es ist immer eine Herausforderung, jemanden präsentiert zu bekommen, mit dem man verbandelt ist, den man sich nicht ausgesucht hat …, ich finde, du bist sehr souverän, du bist sehr großzügig, und ich danke dir sehr. Ich wünsche mir sehr, dass wir Freundinnen werden.«

Jetzt musste Rosmarie aber wirklich die Tränen unterdrücken. Was war nur dran an dieser jungen Frau? Die krempelte sie ja vollkommen um, und … es ­gefiel ihr.

Wo war die Rosmarie Rückert geblieben, die sie in all den Jahren gewesen war? Das war vermutlich so nicht richtig, man sollte wohl eher sagen …, dargestellt hatte?

War es jetzt gar an der Zeit, sich selbst kennenzulernen? Es konnte nicht wahr sein, sie sagte es wirklich, und sie meinte es ehrlich: »Das wünsche ich mir auch, Cecile.«

Jetzt umarmten sie sich wirklich, und das fühlte sich sehr, sehr gut an.

Sie unterhielten sich weiter, noch entspannter, bis Cecile irgendwann auf die Uhr sah und ganz erschrocken rief: »Mon dieu, sie warten auf uns. Wir müssen uns jetzt sputen … Rosmarie, du kommst doch mit?«

Rosmarie nickte ganz entschieden.

»Und ob ich das tun werde«, sagte Rosmarie, »ich freue mich. Aber zuerst muss ich mich noch ein wenig restaurieren.« Cecile blickte sie kopfschüttelnd an.

»Aber wozu, Rosmarie? Du siehst wunderschön aus. Genauso habe ich mir dich vorgestellt, wenn Papa, Fabian und Stella über dich sprachen – eine schöne, eine sehr selbstbewusste Frau.«

Rosmarie verstand die Welt nicht mehr.

Zuerst die Frau Doktor, die ihre schönen Augen erwähnt hatte.

Und nun Cecile, an deren Worten sie nicht zweifelte.

»Aber ich …, ich bin nicht geschminkt …, ein bisschen Make-up, wenigstens Rouge, Wimperntusche …«

Ehe sie mit ihren Aufzählungen fortfahren konnte, rief Cecile: »Aber Rosmarie, das alles hast du doch überhaupt nicht nötig. Andere Frauen vielleicht, die ein gemindertes Selbstwertgefühl haben, du …, du bist ein Typ, du wirkst, weil du du bist.«

Mehr an Komplimenten ging nicht. Zum Glück war Cecile unbedarft genug, jetzt nicht zu sehen, dass an ihr ganz schön herumgeschnipselt worden war. Nasenkorrektur, aufgespritzte Lippen, ein Facelifting, besondere Straffung der Augenpartie.

In ihrem Anflug von Offenheit musste sie das jetzt nicht sagen.

»Also gut, dann gehen wir«, sagte Rosmarie, und weil Cecile mit einem Taxi zur Villa gekommen war, traf es sich gut, sie konnten gemeinsam in Rosmaries rasantem Sportwagen zu dem Treffen fahren.

»Rosmarie, weißt du was«, sagte Cecile, als sie aus der Garage herausfuhren, »ich bedaure jeden Tag, den ich dich nicht schon früher kennengelernt ha­be. Papa muss unbändig stolz auf dich sein …, ich bin ja so froh, dass wir uns so gut verstehen.«

Rosmarie war so perplex, dass sie auf die Bremse trat und das Auto mit einem Ruck stehen blieb.

Sie blickte zur Seite, Cecile lächelte sie aufrichtig an. »Ich meine es wirklich«, bestätigte sie.

Völlig verwirrt fuhr Rosmarie los. War sie es wirklich, die mit ihrem Auto jetzt auf die Straße einbog? Diese vollkommen ungeschminkte Frau?

Das konnte nicht sein!

Das war nicht Rosmarie!

Hatte sie ein zweites Ich, das jetzt zum Vorschein kam, oder besaß die junge, hübsche, liebenswerte Cecile Zauberkräfte?

Oder fand das alles überhaupt nicht real statt, sondern sie träumte?

Sie träumte nicht, das wurde ihr spätestens bewusst, als Cecile sagte: »Rosmarie, du musst mich unbedingt besuchen, ich möchte dir so gern mein Zuhause zeigen und natürlich auch Paris.«

Sie hörte sich sagen: »Darauf freue ich mich.«

Danach gab sie es auf, sich Gedanken zu machen, etwas zu hinterfragen.

Eines wusste sie allerdings gewiss – mit der Rosmarie Rückert war etwas geschehen.

Jemand hatte bei ihr einen Hebel umgedreht, ihr aber keine Gebrauchsanweisung dazu gegeben, in welche Richtung es gehen würde.

*

Alle waren sie darauf vorbereitet, doch als der Tag kam, an dem Hannes seine Reise nach Australien antreten würde, nahm es sie alle mit. Selbst Hannes, und er konnte jetzt auch nicht mehr den Coolen spielen.

Es war in seinem Elternhaus wunderschön gewesen, es hatte gutgetan, seine Geschwister, deren Partner, vor allem seine Nichten und Neffen wiederzusehen. Und auch mit seinen alten Kumpels abzuhängen, hatte Freude bereitet.

Nicht zu vergessen seine Eltern und vor allem auch seine Großeltern. Sie waren schon alt, und auch wenn sie sehr rüstig waren, befanden sie sich auf einer Einbahnstraße, die irgendwann zum Ende führte. Oma und Opa konnten nicht, wie er, auf viele Jahre im Voraus planen. Eigentlich sollte man das nie, denn es konnte jeden erwischen.

Vielleicht war Hannes augenblicklich auch besonders verletzlich, weil er von einem neuseeländischen Freund gehört hatte, mit dem er lange in Südostasien unterwegs gewesen war. Ein smarter, lustiger Typ, wagemutig und hungrig auf Leben. Er hatte Erfahrung als Bergsteiger, war auf einem der spektakulären Gipfel des Himalaja gewesen, hatte vor nichts Angst. Ausgerechnet dieser Mann war in Hongkong, als er ganz brav an einer Ampel gestanden und auf grün gewartet hatte, von einem Autofahrer erwischt worden, der die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hatte. Malcolm war sofort tot gewesen und mit ihm all seine Träume.

Hannes wusste nicht, warum er gerade jetzt an Malcolm denken musste, warum er gerade jetzt so sentimental war. Lag es daran, weil Bambi sich an ihn klammerte und ihn überhaupt nicht mehr loslassen wollte? ­Seine kleine Schwester würde er am meisten vermissen, weil mit ihr seine glückliche Kindheit wieder wachgeworden war, und ihre anhängliche Treue hatte natürlich seinem Ego auch gutgetan.

Jetzt machte Hannes sich aus ihrer Umklammerung frei.

»Bambi, wir müssen jetzt losfahren, sonst verpasse ich meinen Flieger. Aber ich sage dir noch mal, komm doch mit. Dann können wir noch etwas länger beisammen sein. Sieh mal, ich werde mit großem Bahnhof verabschiedet. Oma und Opa kommen mit, Mama und Papa sowieso, und am Flughafen warten Ricky und Jörg mit ihren Familien. Das wird bestimmt lustig.«

Bambi wischte sich die Tränen weg und sah ihren Bruder, den sie über alles liebte, klagend an.

»Hannes, was kann daran lustig sein? Es ist doch keine Party, du fährst weg, und wohin du gehst, das ist nicht gerade um die Ecke. Ich finde es schrecklich.«

»Nun gut, Bambi, dann nicht lustig. Aber freust du dich denn nicht, alle wiederzusehen?«

Es hatte keinen Zweck, Hannes ließ es bleiben. Ihm war klar, dass alles, was er jetzt sagte, ein Gegenargument finden würde.

Eines versuchte er allerdings doch noch einmal.

»Bambi, wenn du mitfährst, können wir die ganze Zeit nebeneinander sitzen, uns unterhalten oder aber einfach nur miteinander schweigen und einander spüren.«

Bambi schüttelte entschieden den Kopf.

Magnus und Teresa von Roth waren schon vorausgefahren, sie liebten es, eher gemütlich zu fahren.

Und Werner Auerbach drängte: »Nun wird es aber wirklich allerhöchste Zeit. Wir kommen in die Rushhour. Wenn wir jetzt nicht losfahren, kann ich für nichts garantieren.«

Inge, die sich eh zusammenreißen musste, um jetzt nicht zu weinen, weil ihr Herz so schwer war, war ein wenig ungehalten, als sie sagte: »Mein Gott noch mal, Bambi, dann komm doch mit. Auch wenn es traurig ist, dass Hannes uns verlässt, kann er seinen Flieger nicht verpassen. Er hat einen Flug zu einem Sonderpreis ergattert, der eine Menge weniger kostet, der aber den Nachteil hat, dass er nicht umgebucht werden kann, sondern verfällt.«

Bambi sagte nichts.

»Im Flughafen gibt es eine Menge Geschäfte, wenn du mitkommst, kannst du dir etwas aussuchen«, versuchte Inge ihre Tochter zu locken.

Es war schrecklich, wie sehr Bambi litt.

»Ich bleibe hier«, sagte sie, »Hannes, ich wünsche dir einen guten Flug, ich wünsche dir auch Glück, und denk mal an mich und alle hier im Sonnenwinkel.«

Nach diesen Worten rannte sie davon, Hannes wollte ihr hinterherlaufen, doch in diesem Augenblick hupte Werner, und Inge rief nervös: »Lass sie, sie ist jetzt einfach nur sehr traurig, aber sie wird sich wieder beruhigen.«

Werner hupte erneut, und jetzt stiegen Inge und Hannes in das Auto, und Werner fuhr los.

»Hoffentlich reicht die Zeit«, sagte er. »Aber meine Schuld ist es nicht. Bambi übertreibt ein wenig. Uns fällt es doch allen schwer, Abschied von Hannes zu nehmen. Und wenn ich daran denke …«

»Lass es gut sein, Werner«, unterbrach Inge Auerbach ihren Mann. Manchmal konnte Werner sich an Nichtigkeiten aufhalten.

»Wir sind noch sehr gut in der Zeit«, wandte Hannes ein.

»Ich möchte euch was sagen, was mir sehr wichtig ist. Ihr seid ganz großartige Eltern, die ich über alles liebe. Ich bin stolz, euer Sohn zu sein. Und wenn es euch beruhigt, dann kann ich euch sagen, ich werde alles tun, damit ihr auch stolz auf mich seid.«

Werner war ganz gerührt, und Inge, die konnte nicht anders. Sie hatte eh schon die ganze Zeit über dicht am Wasser gebaut. Sie fing an zu schluchzen. Und da vermischte sich alles miteinander, Trennungsschmerz, Stolz und unendlich viel Liebe für ihren Sohn Hannes.

*

Bambi sah mit tränenverschleiertem Blick dem Auto nach und war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob es nicht besser gewesen wäre, mit zum Flughafen zu fahren. Dann hätte sie Hannes noch ein wenig länger gehabt.

Jetzt war es zu spät, und sie musste nun nicht länger darüber nachdenken, was richtig und was falsch war. Hannes war weg, und es brach ihr beinahe das Herz.

Sie ging ins Haus zurück, in der Küche sah sie noch die Tasse, aus der er seinen letzten Kakao getrunken hatte, auf dem Teller entdeckte sie Krümel seines Croissants.

Eigentlich war sie in die Küche gegangen, um sich etwas aus der Keksdose zu holen. Jetzt überfluteten sie die Erinnerungen.

Beinahe fluchtartig lief sie hinaus, stolperte die Treppe hinauf. Sie wusste, dass es verkehrt war, doch sie konnte nicht anders. Sie musste noch einmal in sein Zimmer, um ihm nahe zu sein, um endgültig Abschied zu nehmen. Es war ein Abschied für eine lange, lange Zeit. Einer für immer? Oh nein, daran wollte Bambi nicht denken.

Alles sah so aus, als käme Hannes jeden Moment wieder hinein, denn er hatte nur die Sachen aus seinem Schrank mitgenommen, nicht alle.

Bambi entdeckte etwas Weißes, ging darauf zu, hob es auf. Es war eines seiner T-Shirts. Hatte er es vergessen? Wollte er es nicht mehr haben?

»I’m cool«, stand darauf.

Oh ja, das war er, ihr Hannes. Bambi presste das Shirt ganz fest an sich, dann lief sie hinaus. Es war keine gute Idee gewesen, herzukommen. Ihr Schmerz war noch zu frisch.

Wäre sie bloß mitgefahren!

Das quälte sie so sehr, dass sie das Haus verließ, eilig durch den Garten lief, ganz bis zum Ende, und dort kletterte sie hinauf ins Baumhaus.

Luna spielte unten voller Freude mit einem kleinen roten Ball, und sie verkroch sich ganz weit nach hinten in eine Ecke, machte sich ganz klein und presste das T-Shirt fest an sich.

Das machte sie immer, wenn sie mit etwas nicht fertig wurde, wenn sie traurig war.

Das war so, seit sie zurückdenken konnte. Früher war dann immer Hannes zu ihr heraufgeklettert, hatte sie getröstet oder aber sie hatten hier oben einfach nur abgehangen.

Das war auch so nach seiner Rückkehr von der Weltreise gewesen, und deswegen war es überhaupt keine gute Idee, hergekommen zu sein, denn Hannes würde nicht kommen.

Als ihr das bewusst wurde, kletterte Bambi wieder herunter. Luna spielte noch immer, und das war auch gut so, denn Bambi hatte nicht einmal Lust, mit Luna zu spielen. Und das bedeutete schon etwas. Sie hatte Luna mittlerweile beinahe so gern wie ihren Jonny.

Was sollte sie jetzt tun?

Mit dem Satz ›mir fällt das Dach auf den Kopf‹ hatte Bambi bislang nie etwas anfangen können. Jetzt bekam sie eine Ahnung, was das bedeutete.

Eigentlich müsste sie Mathe lernen, weil sie morgen eine Klausur schrieben. Aber wie sollte das denn gehen?

Manuel fiel ihr ein.

Oh ja, sie würde hinauf auf den Erlenhof gehen. Dass sie nicht gleich darauf gekommen war. Manuel war ihr Freund, und er würde sie sehr gut verstehen, denn in der Kindheit war er nämlich der Dritte im Bunde gewesen, und Manuel gefiel es auch überhaupt nicht, dass Hannes nur eine kurze Stippvisite im Sonnenwinkel gegeben hatte, auch wenn er das nicht wirklich zugeben würde.

Und sollte Manuel nicht daheim sein, würde sie entweder seiner Mutter einen Besuch abstatten oder gleich hinüber ins Herrenhaus zu Marianne von Rieding gehen. Die hatte immer etwas Süßes im Haus, und das gab sie sehr freizügig her.

Bambi zog ihre Schuhe und vorsichtshalber ihre Regenjacke an.

Noch regnete es nicht, doch der Himmel war bleigrau und verhangen. Er sah genauso aus, wie es in ihr war.

Und auch bei diesem schlechten Wetter war der Sonnenwinkel wunderschön. Warum sah Hannes das nicht? Was sie über Australien wusste, war nicht vielverspechend, auf jeden Fall gab es da ganz gewiss nicht so viel Grün wie hier, und auch wenn sie Wasser hatten, nichts konnte so schön sein wie der Sternsee.

Bambi überlegte für einen Augenblick Luna mitzunehmen, doch die hatte offensichtlich keine Lust, der rote Ball interessierte sie mehr. Aber vielleicht war das ja auch nur die Strafe dafür, dass sie Luna ein wenig vernachlässigt hatte, als Hannes hier gewesen war.

Bambi schloss umsichtig das Tor ab, damit Luna nicht davonlaufen konnte, dann lief sie Richtung Erlenhof.

Trotz des diesigen Wetters erhob sich in dem grauen Himmel stolz die Ruine Felsenburg.

Für einen Augenblick vergaß Bambi ihr Herzeleid, als sie sich daran erinnerte, wie sie zusammen mit Hannes und Manuel darin herumgestrolcht war, wie sie sich die abenteuerlichsten Geschichten ausgedacht hatten, die­ manchmal so realistisch gewesen waren, dass sie Angst bekamen. Nun, wenn sie ehrlich war, Angst hatten nur sie und Manuel gehabt, Hannes war auch damals schon cool gewesen, ganz so, wie es auf seinem T-Shirt stand, das er zurückgelassen hatte.

Wie schön das alles doch gewesen war, dachte Bambi ganz sehnsuchtsvoll.

Auch die Felsenburg, die gab es sonst auch nirgendwo. Diesmal war Hannes nicht einmal oben gewesen.

Hatte er sich wirklich schon so weit von den Stätten seiner Kindheit entfernt?

Das würde sie nie tun, sie würde immer in der Nähe ihrer Eltern und ihrer Großeltern bleiben, und wenn sie nach dem Abitur einen Studienplatz irgendwo bekommen sollte, wo sie pendeln konnte, dann würde sie den nehmen. Und wenn man ihr, so wie Hannes, sogar ein Stipendium an der Columbia anbot, würde sie darauf pfeifen. Hatte er auch, aber nicht, um im Sonnenwinkel zu bleiben.

Bambi musste sich sehr zusammenreißen, um jetzt nicht anzufangen, erneut zu weinen. Sie hatte schon genug geheult.

Außerdem …, was sollten die Münsters oder Frau von Rieding oder der nette Herr Heimberg von ihr denken? Und vor Manuel wollte sie auch keine Heulsuse sein, obwohl er das am ehesten verstehen würde.

Bambi wollte gerade die Straße überqueren, um hinauf zum Erlenhof zu wandern, als der Bus um die Ecke gebogen kam.

Sie hatte keine Ahnung, warum sie sich auf einmal alles anders überlegte.

Ihr fiel ein, dass Hannes ihr doch zwanzig Euro geschenkt hatte, damit sie, wenn der Abschiedsschmerz zu groß wurde, nach Hohenborn fuhr, um sich einen dicken Eisbecher zu kaufen.

Sie tastete in ihre Jackentasche, sie hatte die zwanzig Euro dabei, und ihre Monatsfahrkarte für den Bus führte sie eh immer bei sich.

Oh ja, sie würde zu Calamini gehen und Eis essen, und wenn es neben dem Eisbecher auch noch eine Waffel mit ganz viel Sahne und heißen Kirschen sein musste.

Zwanzig Euro waren eine ganze Menge Geld, und man konnte viel dafür kaufen.

Die Bushaltestelle war gleich um die Ecke. Das schaffte sie locker, außerdem kannte sie den Busfahrer, der würde auf sie warten.

Vorsichtshalber winkte sie ihm zu, er winkte lachend zurück. Alles unnötig, sie war vor dem Bus an der Haltestelle.

Bambi war noch immer unglücklich, aber ein klitzekleines bisschen freute sie sich.

»Musst du noch mal in die Schule?«, erkundigte der Busfahrer sich mitleidig. »Ihr habt manchmal auch wirklich einen langen Tag. Ich bin froh, dass ich nicht mehr in die Schule gehen muss. Ich glaub, ich könnt das auch alles nicht mehr, was ihr da lernen müsst.«

Bambi erzählte ihm, dass sie nicht in die Schule musste, sondern einfach nur nach Hohenborn wollte, und dann erzählte sie ihm auch noch, dass Hannes nach Australien geflogen sei, und ihre Eltern ihn zum Flughafen brachten.

»Und du bist nicht mitgefahren?«, wollte er wissen.

Bambi erzählte ihm, dass sie Abschiede hasste, und das konnte er gut verstehen, er hasste sie nämlich auch. Dann erzählte er ihr, dass er eine Schwester in Argentinien hatte, die vor Jahren dorthin ausgewandert war.

»Ich habe sie seither nur einmal gesehen. Sie hat keine Lust mehr auf Deutschland, und mir ist der Flug zu weit und zu teuer. Aber wenn sie glücklich ist, dann muss ich das alles wohl akzeptieren.«

Sie mochte diesen netten Busfahrer, der immer freundlich war, der auch hier und da ein Auge zudrückte und auf Schüler wartete, wenn sie sich verspäteten. Und das tat er, obwohl er eigentlich seinen Fahrplan einhalten musste.

Jetzt mochte sie ihn noch mehr, jetzt waren sie praktisch Leidensgenossen. Seine Schwester in Argentinien, ihr Bruder in Australien.

Es ging ihr sogar ein wenig besser.

Bambi erinnerte sich daran, dass ihre Omi immer sagte: »Geteiltes Leid ist halbes Leid.«

Das schien tatsächlich zu stimmen.

*

Bambi war erstaunt, dass das Calamini richtig gut besucht war, dabei war es doch überhaupt keine Zeit für eine Eisdiele. Das mochte allerdings auch daran liegen, dass man neben den Waffeln in verschiedenen Variationen auch Sandwiches essen konnte und andere Kleinigkeiten.

Bambi sah sich um, zum Glück entdeckte sie niemanden, den sie kannte. Sie hatte keine Lust, mit jemandem zu reden, heute nicht.

Und damit sie nicht doch noch jemand entdeckte, setzte sie sich in eine der kleinen Nischen, in denen man ungestört war. In die setzten die Schüler des Hohenborner Gymnasiums sich immer hin, wenn sie Freistunden zu überbrücken hatten und lernen wollten oder eine Hausaufgabe machen mussten, auf die man keine Lust gehabt hatte.

Bambi ließ sich ausgiebig Zeit, die große bunte Karte zu studieren. Was sollte sie nehmen? Ein Eis oder doch eine Waffel?

Die Bedienung trug gerade eine vorbei, und die sah verheißungsvoll aus.

Schon tendierte sie zu der Waffel, als sie sich dann im letzten Augenblick für den Megaeisbecher entschied, den sie immer schon hatte probieren wollen, der ihr stets zu teuer gewesen war.

Jetzt konnte sie großzügig sein, sie hatte zwanzig Euro.

Ach, ihr Hannes, der war nicht nur superlieb, nein, der war auch ganz schön großzügig.

Als die Bedienung kam, bestellte sie noch etwas anderes, nämlich den Überraschungsbecher, den hatte sie auch noch nicht probiert, und der sah jedes Mal anders aus.

Hoffentlich packte man ihr besonders gute Schleckereien in den Becher.

Ihr ging es noch ein bisschen besser.

Jetzt freute sie sich sogar, und sie war ganz aufgeregt, als ihr der Überraschungsbecher gebracht wurde. Er war der Knaller schlechthin!

Da traute man sich überhaupt nicht, diese köstliche Pracht zu zerstören. Was gab es da nicht alles. Neben verschiedenen Eissorten auch Obst, dann Schokoladenflocken, kleine bunte Smarties, Pralinchen, kleine Schokokekse, sie entdeckte Waffeln. Und dann noch viele Sachen, die sie nach und nach entdecken wollte.

Jetzt lief ihr nämlich erst einmal das Wasser im Munde zusammen, und ob schönes Bild hin oder her: Sie musste anfangen zu probieren. »Booooh!« Sie konnte nicht anders, das musste sie jetzt sagen.

So etwas Schönes hatte sie noch nie zuvor gegessen, weil nämlich auch Eissorten darunter waren, die sie überhaupt nicht kannte, die auch nicht auf der Karte standen.

Das gehörte wohl zu der Überraschung.

Alles war köstlich, ihr ging es noch ein kleines bisschen besser.

Was für ein Glück, dass sie hergekommen war. Sie mochte Manuel und die Bewohner des Erlenhofes, aber das hier hätten sie ihr natürlich nicht bieten können.

Es hatte wohl so sein sollen, dass gerade in dem Augenblick der Bus gekommen war und sie ihre Meinung geändert hatte.

In eine Nische nebenan setzten sich Leute.

Bambi bekam sehr schnell mit, dass es zwei Frauen waren, die sich entweder lange nicht gesehen hatten oder aber die schwatzsüchtig waren.

Sie hechelten beinahe jedes Thema durch, und da sie ziemlich laut sprachen, konnte Bambi nicht vermeiden, das eine oder andere mitzuhören.

Sie versuchte abzuschalten, weil das, was die Frauen sich zu sagen hatten, wirklich nicht interessant war.

Bambi wurde erst hellhörig, als der Name Auerbach fiel, und es fiel ihr der Löffel aus der Hand, als sie den Namen Bambi Auerbach vernahm. Oder hatte sie sich da vertan?

Der neue Sonnenwinkel Box 2 – Familienroman

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