Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Box 2 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 7

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Bambi Auerbach war wie erstarrt. Sie sah nicht mehr ihren Überraschungseisbecher, von dem sie zuvor so entzückt war, nein. Sie versuchte, sich an das zu erinnern, worüber die beiden Frauen nebenan gesprochen hatten, unter anderem, musste man sagen. Die beiden Frauen hatten ohne Punkt und Komma geredet und wirklich alles durchgehechelt. Aufmerksam geworden war Bambi eigentlich erst, als zuerst der Name Auerbach gefallen war, und dann sogar ihr Name, ganz eindeutig Bambi Auerbach.

Das konnte sie sich doch nicht ausgedacht haben, weil sie wegen der Abreise von Hannes so durcheinander war. Ja sicher, das war sie, und wie. Ihr Herz tat weh, aber das bedeutete doch nicht, dass auch mit ihrem Kopf etwas nicht stimmte.

Sie hatte ihren Namen gehört!

Am liebsten wäre Bambi jetzt aufgestanden, in die Nische nach nebenan gegangen, um sich die Frauen anzusehen. Die Stimmen kannte sie auf jeden Fall nicht.

Gerade als sie noch darüber nachdachte, sprach eine der Frauen, und das, was sie sagte, hielt Bambi auf ihrem Stuhl fest.

»Du kannst sagen was du willst, meine Liebe. Ich wette dagegen. Adoptierte Kinder haben es schwer, und sie werden von ihren Adoptiveltern niemals so geliebt wie ihre eigenen Kinder. So, und bei dieser Aussage bleibe ich.«

»Und ich wiederhole noch einmal, dass man das nicht so pauschal sagen kann. Sicher hast du in dem einen oder anderen Fall recht. Aber es gibt Adoptiveltern, die ihr adoptiertes Kind vergöttern. Und da führe ich noch einmal die Auerbachs aus dem Sonnenwinkel an. Die lieben diese Bambi über alles.«

»Ja, das stimmt«, gab die andere Frau zu. »Es ist aber auch ein entzückendes Ding. Die Auerbachs haben prächtige Kinder, alle sind wohlgeraten. Hör mit dem Unsinn auf, die Jüngste sei adoptiert. Weißt du, Hulda, ich kann dich richtig gut leiden, aber manchmal übertreibst du einfach, weil du dich wichtig machen willst.«

Bambi kam nicht mehr mit.

Was redeten die Frauen da? Natürlich war sie eine Auerbach, das sah man doch. Wie kamen sie überhaupt auf sie?

Hulda, wer immer es auch war, triumphierte: »Ich kann es beweisen. Ich habe beim Umzug der Verwaltung geholfen, und von den unter Verschluss gehaltenen Akten sind irgendeinem Trottel welche heruntergefallen. Ich habe geholfen, die aufzuheben, und da entdeckte ich zufällig eine Akte mit dem Namen Auerbach. Du kannst dir ja wohl vorstellen, wie neugierig mich das gemacht hat. Die Auerbachs sind schließlich wer im Sonnenwinkel, und dann von denen eine Akte unter Verschluss …, hoppla. Ich habe diesem Mann, der die Arbeit wirklich nicht erfunden hat, gesagt, dass er ruhig seine Zigarettenpause machen kann, dass ich alles ordentlich zusammentragen werde.« Sie machte eine kurze bedeutsame Pause, und Bambi hielt sich an der Tischkante fest, ohne es zu merken.

»Und, was weiter?«, wollte die andere Frau wissen, die nun doch interessiert war. Klatsch war immer gut, und sie kannte die Auerbachs auch, leider nicht persönlich. Und wenn es etwas über die gab: Gut zu wissen.

»Viel Zeit hatte ich ja nicht, denn eine Zigarette zu rauchen dauert nicht lange, aber ich habe das Wichtigste gelesen, und das ist …«, wieder eine Pause, ehe die Sensation kam, »die kleine Auerbach wurde adoptiert, als sie ein Jahr alt war, ihre leiblichen Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben.«

»Das finde ich sehr nobel von den Leuten, da merkt man wirklich nicht, dass die Kleine nicht ihr eigen Blut ist. Da hat sie aber Glück gehabt, zu so netten Leuten zu kommen. Also wirklich, ich muss dir Abbitte leisten. Manno, manno, das ist ein Ding.«

»Du darfst mit niemandem darüber reden, du bist die Einzige, der ich das anvertraut habe. Wenn das herauskommt, verliere ich meinen Job.«

Die andere Frau versprach nichts zu sagen, wenngleich es natürlich schade war, dass man eine solche Sensation nicht verbreiten durfte.

Adoptiert …

Die kleine Auerbach war tatsächlich adoptiert. Gut, dass sie nicht gewettet hatte. Diese Wette hätte sie verloren. Ein Handy klingelte.

Eine der Frauen meldete sich, sagte: »Ja, natürlich, ich komme sofort.«

Dann wandte sie sich an die andere.

»Tut mir leid, ich muss weg.«

Die andere Frau hatte offensichtlich keine Lust, allein zurückzubleiben, sie entschied sich, ebenfalls zu gehen. Sie riefen die Bedienung, zahlten, dann gab es ein Stühlerücken, die Frauen gingen.

Bambi, ohnehin angeschlagen, weil ihr geliebter Bruder Hannes, auf dem Weg nach Australien war, hätte am liebsten angefangen zu schreien.

Dann wurde ihr bewusst, dass Hannes ja überhaupt nicht ihr Bruder war, Ricky und Jörg waren auch nicht ihre Geschwister.

Sie hatte keine Omi und keinen Opi, und was am aller-, allerschlimmsten war, die Auerbachs waren auch nicht ihre geliebte Mami und ihr geliebter Papi.

Sie war eine Fremde!

Doch wer war sie?

Ihre Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, das hatte sie gehört. Aber hatte es sonst niemanden gegeben? Keine Großeltern? Keine Tante oder keinen Onkel?

Hatten die sie alle nicht gewollt, und die Auerbachs hatten sich ihrer erbarmt?

Bambi biss sich auf die Lippen, um nicht zu schreien.

Und sie hatte immer damit angegeben, eine Auerbach zu sein.

Wie peinlich!

Warum hatte ihr niemand gesagt, dass sie nicht zu den Auerbachs gehörte, dass man sie nur aufgenommen hatte, weil sonst niemand es wollte?

Hatte sie nicht ein Recht darauf zu erfahren, wer sie wirklich war?

Warum hatte niemand es ihr gesagt?

Bambi hielt es im Kopf kaum mehr aus, weil ihre Gedanken durcheinanderschwirrten und sich ein stechender Schmerz in ihr ausbreitete.

Dagegen war der Kummer um Hannes überhaupt nichts.

Alle hatten sie belogen, niemand hatte sie korrigiert, als sie mal glaubte, auf ihren Vater zu kommen, dann mal wieder auf ihre Mutter. Sie hatte Ähnlichkeiten mit Ricky entdeckt, manchmal mit Jörg, mit Hannes sowieso.

Niemand hatte sie korrigiert!

Oder wussten Ricky, Jörg und Hannes überhaupt nicht, dass sie nicht zu den Auerbachs gehörte?

Es zerriss sie beinahe.

Bambi vergaß ihren Eisbecher, der sich mittlerweile in eine undefinierbare Pappe verwandelt hatte.

Die Bedienung kam vorbei, sah den kaum berührten Eisbecher, erkundigte sich besorgt. »Ist etwas nicht in Ordnung?« Bambi bekam nichts mit. Sie bemerkte weder die Frau, noch verstand sie deren Frage.

Die Bedienung wiederholte ihre Frage, und als sie wieder keine Antwort bekam, ging sie achselzuckend weiter.

Ein bisschen komisch war es schon. Was war mit der Kleinen los? Die gehörte auch zu den Jugendlichen, die in Windeseile ihre Becher auslöffelten.

Und wie war sie überhaupt drauf? Überhaupt nicht ansprechbar! Für die Bedienung gab es nur eine Erklärung. Wahrscheinlich hatte sie eine Arbeit versemmelt und überlegte nun, wie sie das ihren Eltern beibringen sollte. Kam öfter vor.

Bambi hatte von nichts eine Ahnung.

Sie dachte noch immer an die Worte der Frauen, die sich schmerzhaft in ihr eingebrannt hatten.

Sie war keine Auerbach!

Irgendwann stellte sie sich die Frage, ob es irgendwie vorbestimmt gewesen war, dass sie ausgerechnet zu der Zeit zu »Calamini« gegangen war, als die Frauen sich nebenan über Adoption unterhalten hatten und als zufällig ihr Name gefallen war.

Ja, es hatte so sein müssen!

Und es war gut so!

Sonst wäre sie noch immer in dem Glauben, eine typische Auerbach zu sein und würde weiterhin peinliche Ähnlichkeiten aufstellen, die es ja überhaupt nicht geben konnte, weil sie eben keine Auerbach war, sondern jemand, den man aus lauter Mitleid bei sich aufgenommen hatte.

War sie eine Deutsche, oder kam sie aus dem Ausland?

Alles war möglich.

Bambi schreckte zusammen, als sie eine Stimme vernahm: »Entschuldigung, ist hier noch frei?«

Sie bemerkte erst jetzt, dass sich das »Calamini« mittlerweile noch mehr gefüllt hatte. Nun ja, es war Kaffeezeit, und die Waffeln hier waren legendär und auch die anderen süßen Köstlichkeiten, die nachmittags neben dem Eis geboten wurden.

Vor ihrem Tisch standen zwei Frauen mittleren Alters.

Sie starrte sie an, was eine der Frauen bemüßigte zu sagen: »Ich möchte nur gern wissen, ob wir uns zu dir an den Tisch setzen können.«

Bambi nickte, und als die Bedienung vorbeikam, rief sie diese, um zu bezahlen.

»Oh, wir wollen dich aber nicht vertreiben«, sagte eine der Frauen.

Bambi winkte ab, murmelte etwas von eh weg müssen.

Sie stand auf und wäre davongelaufen, wenn die Bedienung sie nicht zurückgehalten hätte, um ihr das Wechselgeld zu geben, immerhin hatte sie ja mit zwanzig Euro bezahlt, dem Geld, das ihr Bruder Hannes ihr zugesteckt hatte. Ach ja, er war ja nicht mehr ihr Bruder, und das löste eine erneute Schmerzwelle in ihr aus.

Die Bedienung räumte den Überraschungsbecher ab, von dem sie gerade mal zwei oder drei Löffel gegessen hatte.

Überraschungsbecher …

Sie hatte eine Überraschung erlebt, und was für eine! Das war so bitter, dass es ihr nicht einmal leidtat, diesen Becher nicht gegessen zu haben, wo sie doch eine so große Naschkatze war.

Und mitleidig waren sie, die Auerbachs. Sie spendeten großzügig für Kinder in der Not, für Hungerleidende, für Tiere, für in Seenot geratene, für Erdbebenopfer. Die Liste ließe sich fortführen. Sie spendeten, wenn es eine Katastrophe gab, und wenn sie der Meinung waren, da helfen zu müssen.

Bambi hatte ihre Eltern dafür immer bewundert und sich vorgenommen, es ihnen gleichzutun.

Sie gehörte auch in diese Liste, und das zu wissen, war ganz schrecklich.

Wer war sie, fragte sie sich erneut.

Bambi, hatte sie den Namen von den Auerbachs bekommen, oder hatten ihre Eltern sie schon so genannt? Und Pamela, wie sie eigentlich hieß, wie verhielt es sich damit?

Bambi begann zu zittern.

Was sollte sie jetzt tun?

Sie konnte doch nicht in den Sonnenwinkel zurückkehren und so tun als sei nichts geschehen, dann wäre sie eine Verräterin, und das würde sie auch nicht aushalten.

Manuel kam ihr in den Sinn, ihr Freund seit frühester Kindheit.

Was würde der zu allem sagen?

Für ihn gehörte sie, wie für alle anderen Leute ja auch, zu den angesehenen Auerbachs, dem weltbekannten Professor und seiner liebenswürdigen Frau.

Es hatte sich immer so gut angefühlt, und jetzt wusste sie, dass sie mit ihnen nichts, aber überhaupt nichts gemein hatte.

Wieder die nächste Frage, die in ihr kreiste.

Wer waren ihre Eltern?

Im Hinausgehen hörte sie ein »Hallo, Bambi.«

Sie hatte die Mädchen bemerkt, die an einem der Tische sassen und Waffeln aßen. Die waren aus einer Parallelklasse, aber sie verstanden sich gut, und normalerweise hätte Bambi sich zu ihnen gesetzt.

Das ging nun überhaupt nicht, sie tat so, als habe sie nichts gehört und stürmte hinaus.

Es hatte sich noch mehr zugezogen, und gleich würde es anfangen zu regnen. Na prima! Und nun?

Bambi hatte keine Ahnung. Auch wenn es schrecklich war, so etwas überhaupt ansatzweise zu denken. Sie wusste es, aber in diesem Augenblick wünschte sie sich, sie wäre tot.

*

Bambi wusste nicht, was sie tun sollte. Sie rannte durch die Straßen, ohne überhaupt richtig wahrzunehmen, wo sie war.

Als sie den Marktplatz überqueren wollte, entdeckte sie Rosmarie Rückert.

Rasch presste sie sich an die Seitenwand eines Zeitungsstandes.

Rosmarie Rückert war die Letzte, die sie sehen wollte. Die tat zwar immer ganz freundlich, aber Bambi mochte die Frau nicht.

Dabei war Rosmarie mit ihren Geschwistern …, nein, sie war mit Ricky und Jörg verbandelt, die, es war kaum zu glauben, die Geschwister Stella und Fabian Rückert geheiratet hatten. Bambi hatte das immer lustig gefunden, doch jetzt ging es sie ja nichts mehr an. Nichts ging sie mehr etwas an, weil sie nicht dazugehörte.

Würde Rosmarie überhaupt noch mit ihr sprechen, wenn sie erfahren würde, dass sie keine Auerbach war? Wusste sie es gar und war deswegen so herablassend?

Bambi wischte sich die Tränen weg, die, ob sie es nun wollte oder nicht, über das Gesicht liefen, dann wagte sie einen vorsichtigen Blick um die Ecke. Von Rosmarie war zum Glück nichts mehr zu sehen.

Und was nun?

Es fing an zu tröpfeln, sie konnte sich in Hohenborn schon irgendwo unterstellen, doch das war keine Lösung. Sie musste eine Lösung finden, aber mit den ihr verbliebenen Euro kam sie nicht weit.

Als sie ein Hinweisschild sah, ging sie dem nach.

Für die nächsten ein, zwei Stunden, vielleicht auch mehr, war sie untergebracht, und dann musste sie weitersehen.

Als sie vor dem großen grünen Tor stand, klingelte sie.

Sie befand sich vor der Tür des Tierheims des Hohenborner Tierschutzvereins, in dem sie ihre Luna geholt hatte, nachdem ihr geliebter Jonny gestorben war.

Jonny war älter geworden, als es Collies normalerweise wurden, aber dennoch.

Sie war untröstlich gewesen, und als ihr die Großeltern vorgeschlagen hatten, im Tierheim nach einem Nachfolger für Jonny zu suchen, hatte sie nur widerwillig nachgegeben.

Anfangs hatte es auch überhaupt nicht so ausgesehen, dass sie für ein Tier ihr Herz entdecken könnte, obwohl es viele, teils auch ganz wunderbare Hunde im Tierheim gab, die alle eine Heimat suchten.

Es müsste verboten sein, an jeden X-beliebigen einen Hund zu verkaufen, ohne den zu überprüfen.

Tiere waren keine Wegwerfartikel!

Nun, auf jeden Fall war es etwas ganz Besonderes gewesen, wie Luna auf ihren Weg gekommen war.

Eigentlich hatten sie schon wieder gehen wollen, als ein putziges weißes Etwas auf sie zugestürzt kam als sei das ganz selbstverständlich.

Luna hatte sie gefunden und hatte sie ausgesucht, nicht umgekehrt, und die Omi hatte gesagt, dass ganz bestimmt Jonny ihr diesen entzückenden Labrador-Welpen geschickt hatte.

Bambi seufzte abgrundtief.

Sie liebte Luna sehr, beinahe schon wie Jonny, und den hatte sie mehr geliebt, als man sich denken konnte.

Gehörte Luna eigentlich jetzt ihr, oder gehörte sie den Auerbachs?

Sie konnte nicht länger darüber nachdenken, weil die Tür geöffnet wurde, und Frau Doktor Fischer, die Leiterin des Tierheims, stand ihr gegenüber.

»Hallo, Bambi, das ist aber eine schöne Überraschung, willst du ein wenig mit den Tieren spielen? Einen neuen Hund wirst du dir ja nicht aussuchen wollen, denn von deiner Omi weiß ich, dass du und Luna ein Herz und eine Seele seid.«

Die Großeltern waren große Unterstützer des Tierheims. Größer noch als ihre Eltern.

Eltern … Großeltern …

Sie waren es ja nicht wirklich, das konnten Hannes, Ricky und Jörg sagen.

Bambi nickte.

»Ich liebe Luna sehr und würde sie niemals hergeben, nein, ich …«

Sie brach ihren Satz ab, weil sie nicht wusste, was sie der netten Frau Doktor Fischer sagen sollte, die allerdings in keiner Weise irritiert zu sein schien.

»Komm rein, Bambi, wenn du magst, kannst du jetzt mit mir das Futter für später zurechtmachen. Ich kann Hilfe gut gebrauchen, weil zwei meiner Mitarbeiterinnen krank sind. Da kommst du mir gerade recht.«

Wieder konnte Bambi nur nicken, aber sie hatte schon einmal dabei geholfen, das Futter herzurichten, und das hatte ihr sehr viel Spaß gemacht. Sie konnte nur hoffen, dass es sie ablenkte, und danach …

Nein! Daran wollte sie jetzt nicht denken.

Zunächst einmal war es eine gute Idee, hergekommen zu sein.

*

Teresa und Magnus von Roth hatten, zusammen mit der ganzen Familie, ihren Enkel Hannes am Flughafen verabschiedet, und das war ganz schön emotional gewesen.

Hannes war ja gerade erst einmal beinahe ein Jahr auf Weltreise gewesen, und dass er nach einer kurzen Stippvisite im Sonnenwinkel ausgerechnet nach Australien wollte … Australien war ja nicht gerade um die Ecke.

Das war es auch, was sie alle am meisten bewegte, nicht die Tatsache, dass er dort ausgerechnet als Surf- und Tauchlehrer arbeiten wollte.

Die von Roths waren sich sicher, dass Hannes seinen Weg gehen würde und dass dieser Job nicht die Endstation für ihn war. Nicht für jemanden mit diesem Abitur und den glänzendsten Zukunftsaussichten.

Hannes war auch ganz schön gerührt gewesen. Beinahe hätte man den Eindruck haben können, dass er sich nicht sicher war, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Nun, sich so geballt der ganzen Familie gegenüberzusehen, die alle zum Abschied gekommen waren, die Großeltern, die Eltern, Schwester Ricky samt Ehemann Fabian und den Kindern, Bruder Jörg mit Ehefrau Stella und den Kindern.

Das ging schon ganz schön an die Substanz, zumal sie wirklich alle aneinander hingen.

Bambi hatte gefehlt, und das wurde von allen sehr bedauert. Aber sie hatte nicht gewollt, und das musste man akzeptieren.

Magnus und Teresa hatten eigentlich vorgehabt, die Verabschiedung mit einem Bummel durch die Großstadt zu verbinden, doch das hatten sie dann doch gelassen, weil das Wetter nicht dazu einlud zu flanieren.

Sie waren nach Hause gefahren, und dort empfing sie als Erstes Luna, die am Zaun der Auerbachvilla stand und kläglich bellte.

Das war ja merkwürdig.

Wo war Bambi?

Die würde Luna niemals allein lassen.

Während Magnus von Roth seinen Wagen in die Garage fuhr, begab Teresa sich zu Luna, die sie freudig begrüßte.

Es war schon praktisch, nebenan zu wohnen, sonst hätten sie das überhaupt nicht mitbekommen.

Teresa beugte sich zu dem Hündchen hinunter, begann es hingebungsvoll zu streicheln.

»Luna, wo ist denn die Bambi?«

Als Teresa den Namen nannte, begann Luna zu winseln.

»Weißt du was, die suchen wir jetzt.«

Als Teresa allerdings in ihr Haus gehen wollte, um den Schlüssel zum Haus ihrer Tochter zu holen, begann Luna laut zu bellen. Sie war außer sich, und das irritierte Teresa noch mehr.

Luna war ein ausgeglichener Hund, und wenn sie sich jetzt so gebärdete, deutete das darauf hin, dass sie schon länger allein war, was sie nicht kannte.

Merkwürdig.

Sie öffnete die Tür, und Luna kam herausgeschossen und heftete sich an ihre Seite, und das änderte sich auch nicht, als Teresa in ihr Haus ging, um den Schlüssel von nebenan zu holen.

Als Luna sie anstupste und erwartungsvoll ansah, konnte Teresa sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Sie wusste, was Luna wollte.

»Du möchtest jetzt ein Leckerli, nicht wahr. Aber das hätte ich dir doch auch so gegeben, dafür hättest du mich nicht anstupsen müssen.«

Teresa ging in die Küche, Luna folgte ihr auf den Fersen.

Vor dem Küchenschrank angekommen, setzte sie sich und blickte erwartungsvoll nach oben, wo Teresa ein Glas herausholte, das angefüllt war mit den schönsten Hundeleckereien.

Luna begann zu winseln, und dann stürzte sie sich gierig auf das Leckerli, das Teresa ihr reichte.

Normalerweise bekam Luna ein zweites hinterher, heute konnte Teresa Lunas bettelndem Blick nicht widerstehen und wollte ein fünftes Mal in das Glas greifen, als ihr Mann zur Tür hereinkam und sagte: »Teresa, nun ist es aber gut, du tust dem Tier nichts Gutes.«

Das stimmte, aber das waren nicht irgendwelche Leckereien, sondern welche aus dem Bioladen, mit einer ausgewogenen Zusammensetzung. Das sagte sie Magnus auch, doch der schüttelte den Kopf.

»Bitte, Teresa, lass es gut sein.«

»Nun gut, mein Lieber, aber ich werde dich daran erinnern, wenn ich wieder deine Lieblingskekse backe, und du dich darauf stürzt, als gäbe es kein Morgen.«

Er grinste.

»Eins zu Null für dich, also gut, ein Leckerli kann sie noch haben, aber bitte lass mich das geben.«

Teresa klopfte ihrem Mann auf die Schulter, dann sagte sie, dass sie nach nebenan gehen wolle, um nach Bambi zu sehen, und Magnus blieb sehr gern mit Luna zurück.

Von wegen ein Leckerli, dachte Teresa, als sie nach nebenan ging. Da würde sie gern Mäuschen spielen, aber es war gut, dass sie jetzt allein war.

Bambi war in nicht sehr guter Verfassung gewesen, und da war es besser, sie konnte sich um die arme Kleine kümmern, ohne dass Luna dazwischen herumsprang, weil sie auch Aufmerksamkeit ­haben wollte.

Hannes hatte am Flughafen ganz spontan noch einen kleinen Glücksbringer für Bambi gekauft, und den wollte sie ihr als Erstes geben, das würde sie hoffentlich schon mal ein wenig aufmuntern.

Ein wenig konnte sie Bambi schon verstehen, sie und Hannes waren, wie man so schön sagte, wie Topf und Deckel, und das lag wohl in erster Linie daran, dass sie sich altersmäßig am Nächsten waren.

Als ihre Tochter und Familie seinerzeit in den Sonnenwinkel gezogen waren, stand Ricky kurz vor dem Abitur und hatte sich ­unbändig in ihren Lehrer Fabian Rückert verliebt, den sie dann auch geheiratet hatte. Die hatte für nichts anderes Sinn.

Und Jörg?

Der war sauer gewesen, von seinen alten Freunden getrennt worden zu sein, der hatte mit dem Sonnenwinkel nicht viel im Sinn gehabt.

Hannes und Bambi waren überglücklich gewesen, vielleicht lag das auch daran, dass sie das so ersehnte Baumhaus bekommen hatten. Und dann oben das Herrenhaus mit seinen liebenswerten Bewohnern, allen voran Sandra, die damals noch nicht verheiratet gewesen war und die sich rührend um die Kleinen gekümmert hatte, vor allem war sie mit ihnen zur Felsenburg gegangen, die hoch über dem Erlenhof lag und eine große, spannende und doch recht blutrünstige Vergangenheit hatte, von der die Kinder allerdings nicht genug bekommen konnten, auch wenn es ihnen Gänsehaut verursachte.

Ja, Teresa konnte Bambi verstehen. Viele schöne und unbeschwerte Jahre verbanden sie miteinander.

Sie würde die Kleine, die sie ja noch immer war, auch wenn aus ihr allmählich eine junge Dame wurde, gleich in den Arm nehmen und ein wenig trösten, und über das Geschenk von Hannes würde sie sich bestimmt freuen.

Teresa ging ins Haus, lief von Raum zu Raum.

Von Bambi nichts zu sehen.

Teresa rief nach ihr.

Nichts!

Ein leises Lächeln glitt um ihre Lippen. Aber ja, dass sie nicht gleich darauf gekommen war.

Sie wusste, wo sie Bambi finden würde, im Baumhaus natürlich.

Dorthin zog Bambi sich immer zurück, wenn sie traurig war, natürlich nicht nur dann.

Teresa ging über die Terrasse in den Garten, am Baumhaus angekommen, rief sie nach Bambi.

Keine Reaktion!

Teresa versuchte es noch einmal.

»Bambi, bitte komm herunter. Ich bin zu alt, um noch zu dir nach oben zu kraxeln.«

Wieder keine Reaktion! Jetzt wurde Teresa ein wenig ungehalten. Sie liebte Bambi, sie konnte sich sehr gut in sie hineinversetzen, aber einmal musste gut sein. Man konnte alles übertreiben.

Teresa versuchte es ein drittes Mal, diesmal mit ziemlich energischer Stimme.

Als sich da oben wieder nichts rührte, überlegte sie kurz, dann stieg sie entschlossen die zum Baumhaus führende Leiter hinauf.

Es war ein wenig mühsam, und sie wurde wütend. Bambi würde etwas von ihr zu hören bekommen!

Sie war froh, es geschafft zu haben, wollte zu ihrer Strafpredigt ansetzen, was sie sich allerdings ersparen konnte.

Es war niemand im Baumhaus!

Von Bambi keine Spur!

Die aufkommende Unruhe war sofort wieder verschwunden, als ihr Manuel Münster einfiel. Ja, genau, bei dem war sie. Hannes und Bambi waren ebenfalls mit Manuel Münster aufgewachsen, dem Dritten im Bunde. Manuel war damals mit seinem verwitweten Vater hergezogen. Sein Vater hatte ein ziemlich renovierungsbedürftiges Gebäude direkt neben dem Herrenhaus für sehr viel Geld gekauft, um es für sich herrichten zu lassen. Und dabei hatte er sich in Alexandra von Rieding verliebt, in Sandra, wie sie genannt wurde. Und wie im Märchen hatte er sie geheiratet, und das war für Manuel ein großes Glück gewesen. Er wurde dadurch von einer ganz grässlichen Tante befreit, die sich nach dem Tod seiner Mutter um ihn gekümmert hatte. Gezwungenermaßen, sie war mehr an dem Vater interessiert und hatte den Jungen notgedrungen mit in Kauf genommen. Mit Sandra war es umgekehrt gewesen, die war zuerst von Manuel begeistert gewesen, vom Vater erst hinterher. Auf jeden Fall hatte es ein Happy End gegeben, und sie lebten noch immer glücklich da oben auf dem Erlenhof, nur, dass noch die Zwillinge hinzugekommen waren, die gemeinsamen Kinder von Felix und Sandra. Manuel und die Zwillinge liebten sich abgöttisch, mehr Zuneigung konnte es zwischen Geschwistern nicht geben.

Teresa seufzte. Was für eine schöne Geschichte, die sie allerdings nur vom Hörensagen kannte. Sie und Magnus waren erst in den Sonnenwinkel gezogen, nachdem der Architekt Carlo Heimberg, der später Sandras Mutter Marianne von Rieding geheiratet hatte, eine wunderschöne Siedlung auf dieses herrliche Fleckchen Erde gesetzt hatte. Zum Glück, konnte man nur sagen, denn das hatte erst möglich gemacht, dass sie zu ihrer Tochter Inge und deren Familie ziehen konnten. Und ein noch größeres Glück war, dass es das Haus direkt neben der Villa ihrer Kinder war. Ja, das war Glück, das sie und Magnus Tag für Tag genossen.

Sie und Magnus konnten sehr gut allein sein, ihnen reichte die Gegenwart des anderen. Aber erfüllender war auf jeden Fall das Miteinander. Da hatten sie wirklich Glück gehabt.

Teresa ging ins Haus zurück, verschloss sorgsam die Terrassentür, dann verließ sie das Haus, und auch hier achtete sie darauf, dass richtig abgeschlossen war.

Noch gab es im Sonnenwinkel keine Einbrüche, und das würde hoffentlich auch so bleiben. Es wohnten doch recht wohlhabende Leute hier, bei denen einiges zu holen war.

Weg mit solchen Gedanken, sie wollte nicht den Teufel an die Wand malen. Man konnte auch manches heraufbeschwören. Schnell lief sie in ihr eigenes Haus, sie musste mit Magnus reden, vor allem musste sie Manuel anrufen und ihn bitten, Bambi nach Hause zu schicken.

*

Magnus von Roth befand sich mit Luna noch immer in der Küche, und da das Glas mit den Leckern noch immer dastand, sagte Teresa besser gar nichts.

Das tat Magnus.

»Warum hast du Bambi nicht gleich mitgebracht?«, wollte er wissen.

»Weil sie nicht da ist«, erwiderte sie, dann erzählte sie ihm, wo sie überall gesucht hatte, und auch er war sofort der Meinung, dass sie dann nur bei Manuel sein konnte.

»Die beiden hängen doch immer zusammen. Ihm kann sie ihr Herz ausschütten, und Manuel ist gewiss auch traurig, dass Hannes weg ist, da können sie sich gegenseitig trösten.«

Noch während er sprach, holte er sein Handy aus der Tasche und rief oben auf dem Erlenhof an, während Teresa das Glas mit den Leckerli wegschloss, was Luna überhaupt nicht gefiel, sie knurrte.

Manuel war direkt am Apparat, Magnus redete mit ihm, dann legte er sein Handy auf den Tisch.

»Was ist?«, wollte Teresa wissen.

»Manuel hat sie in der Schule während einer Pause zum letzten Mal gesehen, und seither hat er nichts mehr von ihr gehört. Und er hat sich bei ihr auch nicht gemeldet, weil er der Meinung war, dass sie doch mit zum Flughafen gefahren ist, um Hannes zu verabschieden.«

Bislang hatte Teresa es locker gesehen, jetzt spürte sie, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte.

Wo war Bambi?

Draußen wurde es dunkel, das Wetter war schlecht, da lief man nicht herum. Außerdem war das nicht Bambis Art.

Was sollten sie denn jetzt tun?

Noch während sie überlegten, fuhr draußen ein Auto vor, Professor Auerbach und seine Frau hatten am Flughafen noch etwas mit den Kindern und Enkeln getrunken und kehrten nun gut gelaunt nach Hause zurück. Eines ihrer Kinder war zwar gerade in die weite Ferne gereist, aber war es nicht ein Glück, die anderen in unmittelbarer Nähe zu haben, und eines sogar noch zu Hause? Das war Glück, und damit trösteten Werner und Inge sich.

Inge wunderte sich ein wenig, dass ihre Mutter aus ihrem Haus gestürzt kam. Sie hatten sich doch gerade erst gesehen. »Gut, dass ihr da seid«, rief Teresa, »Bambi ist weg.«

Irritiert schaute Inge Auerbach ihre Mutter an.

Was redete sie da?

»Wie … Bambi ist weg, Mama. Was willst du damit sagen?«, erkundigte sie sich.

Teresa von Roth erzählte ihrer Tochter, dass sie Luna laut bellend am Zaun gefunden hatten, was ungewöhnlich war, und dass sie deswegen beunruhigt gewesen war und überall nach Bambi gesucht hatte. Ja, dass sie sogar aufs Baumhaus geklettert war.

Das klang zwar ein wenig dramatisch, doch Inge war noch immer nicht beunruhigt.

»Ach, Mama, all die Mühe hättest du dir nicht machen müssen, als du sie im Haus nicht gefunden hast, hätte doch ein Anruf genügt. Ihr ist ganz allein zu Hause zu langweilig geworden, und da ist sie zu Manuel gegangen.«

Es war überhaupt kein Wunder, dass Inge so dachte, jeder wusste schließlich, wie eng Bambi und Manuel miteinander waren.

»Nein, mein Kind, dort ist sie nicht«, sagte Magnus von Roth, der nun ebenfalls nach draußen gekommen war. Zusammen mit Luna, die nun Inge und Werner hingebungsvoll begrüßte, indem sie freudig bellend abwechselnd an ihnen hochsprang. Der kleine, weiße Wirbelwind war halt ein richtiger Familienhund, der seine Zuneigung auf alle verteilte, am meisten allerdings auf Bambi, die war eindeutig Lunas Favoritin. Und bei der im Zimmer schlief sie auch auf ihrem schönen, weichen Kissen. Aber das hatte auch Jonny getan.

Ihre Eltern machten besorgte Gesichter, und nun war Inge ebenfalls beunruhigt. Das war nicht zu übersehen, und dem Professor gelang es auch nicht, seine Frau jetzt zu beruhigen.

»Ich muss mich kümmern«, rief sie, und dann stürzte sie ins Haus, sie wollte alle Freunde von Bambi abtelefonieren.

Jetzt hatte sie ein schlechtes Gewissen.

Warum hatte sie Bambi bloß nicht überredet, doch mit zum Flughafen zu kommen? Bambi war ein Mensch, der Nähe und Wärme brauchte. Inge konnte sich vorstellen, wie einsam sie sich so ganz allein im Haus gefühlt haben musste. Und dann die Gedanken an Hannes, den sie so sehr liebte und der nun so weit weg war.

Es machte keinen Sinn, sich deswegen jetzt den Kopf zu zerbrechen. Sie hatte nichts gesagt, und es war Bambis Wunsch gewesen, allein zu Hause zu bleiben.

Es war also für alle Überlegungen, die sie in diese Richtung anstellte, zu spät.

Jetzt kam es nur noch darauf an, Bambi zu finden.

Wo mochte sie sein?

Sie hatte sich in ihrer Verzweiflung doch nicht …

Oh nein!

Einen solchen Gedanken wollte sie gar nicht erst zu Ende bringen. So etwas würde Bambi niemals tun.

Inge zog nicht einmal ihre Jacke aus, als sie sich zum Telefon stürzte. Dann griff sie zu ihrem Verzeichnis, in dem sie alle wichtigen Telefonnummern notiert hatte. Ja, sie gehörte noch zu den Menschen, die sich ihre Telefonnummern notierten und nicht im Handy oder Smartphone oder was auch immer speicherten. Und das würde sie auch weiterhin so machen, auch wenn ihre Kinder die Nase rümpften und sie altmodisch nannten. Sollten sie doch.

Noch war Inge ruhig.

Sie war fest davon überzeugt, dass sich alles aufklären würde.

Vermutlich hatte sie mit einer ihrer Freundinnen telefoniert und hatte sich ganz spontan entschlossen, sie zu treffen.

Zuerst würde sie es bei Jasmin versuchen, die wohnte zwar in Hohenborn, doch Bambi verstand sich mit diesem Mädchen sehr gut. Und da ein Mathe-Test anstand, war es durchaus möglich, dass Bambi zu Jasmin gefahren war, um mit der zu üben.

Ihre Hoffnung zerschlug sich rasch.

Bei Jasmin war Bambi nicht.

Und wen auch immer Inge anrief, alles war ohne Erfolg.

Nun wurde ihr doch ganz schön mulmig zumute.

Wo war Bambi?

Inge musste sich hinsetzen, denn sie hatte ganz weiche Knie. Was sollte sie jetzt tun? Inge war ratlos, und so fand Werner sie vor, als er den Raum betrat.

»Willst du deine Jacke nicht ausziehen?«, erkundigte er sich.

Inge bekam das überhaupt nicht mit. Erst als Werner seine Frage wiederholte, schreckte sie auf.

»Ich habe überall herumtelefoniert, Werner, Bambi ist nirgendwo«, sagte sie tonlos. »Wir müssen die Polizei anrufen. Da ist etwas passiert.«

Schon wollte Inge die Nummer der Polizei anrufen, als Werner sie davon abhielt.

»Inge, das ist doch Unsinn. Bambi kann überall sein. Kennst du alle ihre Freunde?«

Inge schüttelte den Kopf.

»Siehst du, Bambi ist jetzt in einem Alter, in dem sie nicht mehr alles ihren Eltern erzählt. Es ist noch nicht einmal Abend, sie wird schon nach Hause kommen. Also mach dich nicht verrückt, und zieh endlich deine Jacke aus.«

Wie konnte Werner so gelassen sein?

Schon hatte sie eine scharfe Erwiderung auf den Lippen, als sie sich besann. Sie erinnerte sich plötzlich daran, wie sie durchgedreht war, als eine Nachbarin ihr von einem Zwischenfall auf den Galapagos-Inseln erzählt hatte. Hannes hatte sich dort aufgehalten, und sie hatten längere Zeit nichts von ihm gehört. Werner war gelassen geblieben, und wie sich später herausstellte, war das richtig gewesen. Hannes war nichts passiert, und ganz gewiss würde es auch bei Bambi so sein. Sie musste aufhören, so gluckenhaft zu sein, Sie stand auf, zog ihre Jacke aus, und Werner war höflich genug, sie ihr abzunehmen und hinaus in die Diele zu bringen.

Sie blickte auf die Uhr, es war wirklich noch nicht Abend, es war draußen nur schon dunkel und es regnete. Und das schürte ihre Ängste.

Wenn Bambi irgendwo im Warmen saß, brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Aber wo war sie?

Werner kam zurück, sagte, dass er noch ein bisschen arbeiten wolle, dann strich er Inge übers Haar.

»Du musst jetzt nicht wie ein hypnotisiertes Kaninchen aufs Telefon starren. Bambi wird schon nach Hause kommen, und dann wird es eine ganz einfache Erklärung für alles geben. Ich denke, wir müssen uns daran gewöhnen, dass sie erwachsen wird und beginnt, ihren Weg ohne uns zu gehen, mein Herz.«

Inge seufzte.

Manchmal wünschte sie sich wirklich, ein wenig von Werners Gelassenheit zu haben. Es konnte doch jetzt wirklich nicht wahr sein, dass er es fertigbrachte, in sein Arbeitszimmer zu gehen und so zu tun, als sei überhaupt nichts geschehen.

Ahnte er ihre Gedanken?

»Inge, ich muss in zwei Tagen in Lissabon sein, und da gibt es noch viel zu tun. Ein Vortrag macht sich nicht von selbst. Man erwartet etwas von mir, was Hand und Fuß hat. Ich kann da nicht ein bisschen herumschwadronieren, man erwartet von mir einen fundierten wissenschaftlichen Vortrag.«

Werner hatte recht, wegen Hannes war er nicht so richtig zum Arbeiten gekommen. Natürlich hatte er so viel Zeit wie möglich mit seinem jüngsten Sohn verbringen wollen.

»Ich geh rüber zu Mama und Papa«, sagte Inge. »Wenn du fertig bist, kannst du ja rüberkommen …, oder wenn du keine Lust mehr hast oder …, wenn du nicht arbeiten kannst, weil du an Bambi denken musst.«

Das musste sie einfach hinzufügen, und das trug ihr prompt einen tadelnden Blick ein.

Werner wollte den Raum verlassen, doch dann überlegte er es sich anders, ging zurück, nahm seine Frau in den Arm.

»Liebes, mach dir keine Sorgen. Sie wird bald zurückkommen und eine ganz einfach Erklärung dafür haben, wohin sie gegangen ist. Aber ja, geh zu deinen Eltern, das sind vernünftige, besonnene Menschen, und die können dir gewiss deine … unbegründete Angst nehmen.«

Inge presste sich an ihn, und so sehr ihr die Nähe ihres Mannes sonst auch guttat, heute empfand sie nichts, und deswegen machte sie sich aus seiner Umarmung frei und sagte: »Geh am besten an deine Arbeit, Werner.«

Mit diesen Worten verließ sie zuerst den Raum, wenig später auch das Haus.

Bambi war noch nie weggegangen, ohne zu sagen, wohin sie ging, und warum hatte sie denn keine Nachricht hinterlassen?

Inge wusste es nicht, und das machte alles nicht einfacher. »Komm, Luna«, rief sie, und prompt folgte ihr das Hündchen. Sie konnte es sich ja auch einbilden, aber sie hatte den Eindruck, dass selbst Luna nicht so war wie sonst. Spürte sie, dass etwas nicht in Ordnung war?

Bambi und Luna waren unzertrennlich. Es war daher kaum zu verstehen, dass Bambi den Hund alleingelassen hatte. Das war noch nie vorgekommen.

Es machte keinen Sinn, darüber nachzudenken, was wann und wie gewesen war.

Heute gab es eine Situation, die fremd war und die ihr Angst machte.

Ein, zwei Stunden würde sie noch warten, und dann würde sie die Polizei anrufen, ob es Werner und ihren Eltern nun passte oder nicht.

*

Rosmarie Rückert spürte die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war und wunderte sich über sich selbst.

War Cecile Raymond so etwas wie eine Zauberkünstlerin, die es schaffte, Menschen in ihren Bann zu ziehen und das Gute aus ihnen hervorzuholen?

Es sah beinahe so aus. Geradezu spielerisch war es der jungen Französin gelungen, sie um ihren kleinen Finger zu wickeln.

Rosmarie mochte Cecile, ja, sie mochte sie wirklich und konnte nicht mehr verstehen, warum sie all diese Vorbehalte gegen die uneheliche Tochter ihres Mannes hatte. Etwas, was ihre Familie und mehr noch, beinahe auch ihre Ehe, entzweit hätte.

Nun war beinahe alles wieder so, wie es gewesen war, ehe Cecile in ihr Leben gekommen war.

Zumindest, was ihre Sorge um ihr Vermögen betraf, von dem Cecile wirklich nichts wollte. Ansonsten hatte sie sich verändert. Ganz allmählich dämmerte ihr, dass sie ihren Kindern keine so gute Mutter gewesen war, und auch ihren Enkeln gegenüber war sie viel zu distanziert. Das wurde ihr klar, als sie sah, wie sie mit ihrer anderen Oma Inge umgingen. Es war schon merkwürdig, dass ihr das nie zuvor aufgefallen war. Da musste sie etwas tun.

Am allerschönsten war, dass sie und Heinz wieder normal miteinander umgingen, dass er ihr unendlich dankbar dafür war, dass sie Cecile endlich kennen­gelernt hatte. Und nun wollte er seine Kanzlei auch nicht aufgeben, und von nach Frankreich ziehen war auch keine Rede mehr.

Und das war ja auch so merkwürdig. Jetzt, da Heinz glaubte, seine Pläne ihr zuliebe aufgeben zu müssen, bedauerte sie es. Es wäre ja vielleicht doch chic, ein zweites Domizil in Frankreich zu haben.

Ja, und da war noch ihr Äußeres …

Um einen Leidensdruck zu erzeugen, war Rosmarie ungeschminkt in die Arztpraxis von Frau Dr. Steinfeld gegangen, und dann hatten die Ereignisse sie überrollt, und ungeschminkt hatte sie Cecile kennengelernt, war so bei ihrem Mann und ihren Kindern aufgetaucht. Und eigentlich konnte Rosmarie es noch immer nicht fassen, dass alle es schön gefunden hatten. Ja, das hatten sie wirklich.

Ganz überzeugt war Rosmarie noch immer nicht, aber sie arbeitete nicht mehr so viel an sich, um entsprechend zurechtgemacht das Haus zu verlassen, und ihren nächsten Termin beim Schönheitschirurgen hatte sie abgesagt.

Für Rosmarie gab es die Zeit vor Cecile und dann die nach Cecile.

Wäre sie noch die von früher, hätte sie den Termin eingehalten und hätte eine weitere Korrektur vornehmen lassen, ja, da wäre es beinahe so etwas wie lebensnotwendig gewesen. Und heute? Heute sonnte sie sich darin, dass die Menschen sie doch tatsächlich nett und attraktiv fanden, wenn sie sich nur ganz wenig zurechtmachte.

Ehrlich gesagt hatte sie mit der neuen Rosmarie noch einige Schwierigkeiten. Sie war kein anderer Mensch geworden, hatte nur begriffen, dass sie bislang ihr Äußeres total überbewertet hatte, und das, solange sie zurückdenken konnte.

Die Distanz zu Fabian und Stella war noch immer da, auch wenn die sie jetzt wohlwollend betrachteten. Den richtigen Umgang miteinander mussten sie noch lernen, und Rosmarie wusste nicht, wie sie das schaffen sollte. Ohne Hilfe ging das vermutlich gar nicht.

Sie hatte ja nicht aus Bösartigkeit gehandelt, sondern es war nach ihrem Empfinden richtig gewesen, was immer sie auch getan hatte.

Wenn man so wollte, war es die junge Ärztin aus dem Sonnenwinkel gewesen, die ihr ein paar passende Worte gesagt hatte.

Bei ihr musste sie sich zuerst bedanken, also ging Rosmarie in den schönsten Blumenladen von Hohenborn und kaufte dort einen ganz ausgefallenen Blumenstrauß. Und da machte Rosmarie ebenfalls eine Erfahrung, die sie erst einmal verkraften musste. Normalerweise hätte sie das Beste und Teuerste gekauft, Hauptsache, es war beeindruckend und löste bei den Leuten, die den Strauß sahen, Entzücken und Bewunderung aus.

Diesmal war es anders. Sie fragte sich, welche Blumen der jungen Ärztin wohl gefallen könnten, und da war Rosmarie sich sehr schnell sicher, dass es keiner von den sogenannten Repräsentationssträußen war, die sie im Allgemeinen zu kaufen pflegte, um damit Eindruck zu schinden.

Nein, es waren afrikanische Blumen und Gräser, die sie für Frau Doktor Steinfeld auswählte. Und das versetzte die Besitzerin dieses exklusiven Ladens in Erstaunen, weil sie so etwas von Rosmarie Rückert nicht gewohnt war. Und solche Blumen hätte sie ihr demzufolge auch niemals angeboten. Die waren schön, keine Frage, aber sie waren auch sehr speziell, und man konnte damit keinen Eindruck schinden. Das war etwas für Liebhaber.

Wie auch immer, Rosmarie war sich sicher, die richtige Auswahl getroffen zu haben und zog mit ihrem Strauß glücklich davon. Sie fuhr direkt in den Sonnenwinkel und parkte auch vor dem Haus, obwohl sie dadurch die Einfahrt blockierte. Aber so weit, auf so etwas Rücksicht zu nehmen, war Rosmarie noch nicht. Und sie reagierte auch nicht auf den Hinweis eines älteren Mannes, dass sie vor der Arzteinfahrt parkte.

In der Praxis angekommen, stellte sie fest, dass im Wartezimmer noch einige Patienten warteten. Und sie hatte einen ziemlichen Disput mit Ursel Hellenbrink, der tüchtigen Mitarbeiterin von Doktor Steinfeld, auszufechten, die sie nicht annehmen wollte, weil sie keinen Termin hatte. So etwas kannte Rosmarie nicht, und normalerweise wäre sie jetzt aufgebraust, hätte was von Privatpatientin gesagt, die ein Recht hatte, drangenommen zu werden.

Heute ertappte sie sich dabei, dass sie sich auf das Bitten verlegte, sich entschuldigte, unangemeldet hereingeplatzt zu sein, dass es aber sehr, sehr wichtig sei, mit der Frau Doktor zu sprechen.

Ursel Hellenbrink war ein gutmütiger Mensch, und obwohl sie diese Frau eigentlich nicht leiden konnte, weil sie so selbstbewusst auftrat, so nach dem Motto – hier bin ich, was kostet die Welt, sagte sie: »Okay, dann bleiben Sie. Aber es kann dauern. Und wenn Sie noch einmal kommen, dann rufen Sie bitte vorher an und lassen sich einen Termin geben.«

Rosmarie bedankte sich, ja, das tat sie wirklich, sie sagte sogar, dass es ihr nichts ausmachen würde, warten zu müssen. Dabei war sie es nicht gewohnt und hasste es sogar.

Auch da hatte es eine Veränderung gegeben, die sie selbst erstaunte.

Sie ging ins Wartezimmer, grüßte freundlich, dann setzte sie sich. Sie bekam mit, wie sich zwei Frauen unterhielten, die von der Ärztin regelrecht schwärmten, und da wusste Rosmarie, dass es gut gewesen war, herzukommen.

*

Als Roberta wenig später zum Wartezimmer kam, um den nächsten Patienten aufzurufen, entdeckte sie Rosmarie Rückert. Und ehrlich gesagt, war sie darüber nicht sehr erfreut.

Sie hatte vor der Sprechstunde schon Hausbesuche gemacht, und die Patienten, die sie bis jetzt behandelt hatte, waren schwierige Fälle gewesen.

Hoffentlich war diese Frau nicht wieder hergekommen, um ihr die Zeit zu rauben, die sie eigentlich für wirklich Kranke benötigte.

Sie war ziemlich zwiegespalten, denn abweisen konnte sie die Frau schließlich auch nicht. Noch musste sie sich keine Gedanken machen. Es waren mehrere Patienten vorher dran.

Der Patient, um den sie sich jetzt kümmern musste, hatte viel mit einem unangenehmen Sodbrennen zu tun, und Roberta hatte viel Überzeugungsarbeit bei ihm zu leisten, ihn davon zu überzeugen, dass er sein Problem weitgehend durch eine vernünftige Lebensführung beseitigen konnte. Ihm wäre es lieber, sich weiterhin der Völlerei hinzugeben und dann im Bedarfsfall ein paar Pillen zu schlucken, ungefähr so wie bunte Smarties.

Die offizielle Sprechzeit war überschritten, als Rosmarie als letzte Patientin an der Reihe war.

Roberta begrüßte die Frau ziemlich reserviert, weil sie halt nichts Gutes erwartete, und deswegen war sie so erstaunt, dass Rosmarie in erster Linie gekommen war, um sich bei ihr zu bedanken und ihr die Blumen als Anerkennung zu überreichen. Ein Strauß, der wirklich wunderschön war, Roberta mochte ganz speziell diese Blumen und Gräser, die sie vor Jahren zum ersten Mal in Kapstadt gesehen hatte, wo sie am Krankenhaus ein Praktikum absolviert hatte.

»Danke, Frau Rückert, damit haben Sie mir eine ganz große Freude bereitet, aber es wäre wirklich nicht nötig gewesen. Es ist mein Beruf, den Menschen zu helfen, die zu mir kommen.«

»Ich weiß, aber ich bin ja nicht gekommen, um mir helfen zu lassen, sondern um Sie …, nun ja, um Sie zu benutzen, um ein Treffen mit der unehelichen Tochter meines Mannes zu vermeiden.«

»Und haben Sie meinen Ratschlag befolgt und sind zu dem Treffen gegangen?«, wollte Roberta wissen, die sich natürlich sehr gut an Rosmaries Besuch in ihrer Praxis erinnern konnte.

»Frau Doktor, das musste ich nicht. Als ich nach Hause kam, saß Cecile da und hat auf mich gewartet.«

Und dann erzählte sie Roberta von ihrem Gespräch mit Cecile, von dem Treffen mit ihren leiblichen Kindern und ihrem Mann, gemeinsam mit Cecile, und dass alles ganz wunderbar verlaufen war.

»Das freut mich, Frau Rückert«, rief Roberta, und das meinte sie auch so.

»Mich freut es jetzt auch, denn Cecile ist ein ganz wunderbarer Mensch, und alles, was ich mir da zusammengereimt habe, entsprang allein meiner Fantasie. Sie haben mich auf die richtige Spur gebracht, und eigentlich möchte ich Ihre Patientin werden, damit Sie mir helfen, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen, das mir augenblicklich ganz schön um die Ohren fliegt. Ich fürchte, ich habe ganz viel falsch gemacht, angefangen bei meinen Kindern, weil ich eine andere Sicht auf die Dinge hatte. Die Werte, die bislang für mich zählten, haben ihre Bedeutung verloren, und wo es wirklich längs geht, das weiß ich noch nicht. Es fällt mir schwer, mich in meinem neuen Leben zurechtzufinden.«

»Frau Rückert, ich freue mich sehr, dass Sie dieses Problem gelöst haben. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie das schaffen werden. Aber Ihren Weg zu finden, dabei kann ich Ihnen nicht helfen, ich bin keine Psychiaterin oder Psychologin. Ich kann Ihnen gern einen Kollegen empfehlen, von dessen Arbeit ich überzeugt bin.«

Davon wollte Rosmarie nichts wissen.

»Nein, das möchte ich nicht, wenn das herauskommt, denken die Leute doch, ich habe …, nun …, ich habe einen an der Klatsche. Nein, ich denke, Sie können mir helfen. Sie besitzen sehr viel Einfühlungsvermögen. Wissen Sie, ich bin ja nicht gerade einfach und trete ziemlich selbstbewusst, man kann sogar sagen, überheblich auf. Aber Sie haben sich davon nicht beeindrucken lassen. Und das hat mir gefallen. Es hat mir geholfen. Ich glaube, es reicht mir, zu Ihnen zu kommen und mit Ihnen zu reden.«

Das war jetzt keine einfache Situation, doch Roberta musste darüber nicht nachdenken.

»Frau Rückert, wenn Sie krank sind, wenn Sie eine Vorsorgeuntersuchung machen möchten, dafür bin ich zuständig, und da helfe ich Ihnen gern. Auch wenn es mir schmeichelt, dass Sie so viel von mir halten, ich bin keine Gesprächstherapeutin und brauche meine Zeit für die Patienten, die körperlich krank sind. Das verstehen Sie doch, oder? Wenn Sie ein Leiden hätten, dann hätten Sie doch auch gern meine volle Aufmerksamkeit. Ich kann Ihnen nur noch einmal anbieten, zu meinem Kollegen zu gehen, und da mache ich Ihnen gern einen Termin. Ansonsten denke ich, dass Sie stark genug sind, Ihr Leben selbst in den Griff zu bekommen, den ersten Schritt haben Sie bereits getan, und nun erfolgt der nächste, und dann geht es immer so weiter. Von einem Tag auf den anderen kann niemand sein bisheriges Leben komplett umkrempeln.«

Rosmarie wollte etwas sagen, doch Roberta ließ es dazu nicht kommen.

»Sehen Sie mal, Frau Rückert, den wunderschönen Blumenstrauß, den Sie mir mitgebracht haben, den haben Sie nicht einfach so gekauft, dazu ist er zu speziell. Ich bin überzeugt davon, dass Sie sich Gedanken darüber gemacht haben, was mir gefallen könnte.«

Das bestätigte Rosmarie.

»Und so handhaben Sie es künftighin mit allem. Machen Sie sich Gedanken, egal ob um Menschen oder um Dinge. Fragen Sie sich, soll ich das sagen? Könnte es ihm oder ihr gefallen? Und so gehen Sie Schrittchen für Schrittchen vorwärts, und denken Sie daran, Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.«

Roberta versuchte der ihr gegenübersitzenden Frau noch einige Hinweise zu geben, und als sie fertig war, war Rosmarie Rückert ziemlich überwältigt. Doktor Roberta Steinfeld hatte einen Fan, eine glühende Bewundererin gefunden.

»Sehen Sie, Frau Doktor, das ist es. Mit wenigen Worten können Sie einem etwas klarmachen. Es ist schade, dass ich nicht zu Ihnen kommen darf, damit Sie mir das Leben erklären. Aber ich verstehe Sie schon. Patienten, die Sie wirklich brauchen, die sind wichtiger. Ich werde auf jeden Fall zu Ihnen kommen, wenn mir etwas fehlt, auch wenn es in Hohenborn genügend Ärzte gibt. So jemanden wie Sie habe ich noch nicht erlebt. Ich bin froh, dass Sie mich wenigstens als Patientin annehmen werden. Das tun Sie doch, oder?«

»Ja, das tue ich gern. Und jetzt bedanke ich mich noch einmal für den wunderschönen Strauß, und wenn Sie die Adresse meines Kollegen doch noch haben wollen, dann rufen Sie mich bitte an. Ich will nicht unhöflich sein, aber ich habe noch, ehe die Nachmittagssprechstunde beginnt, Hausbesuche zu machen.«

Sofort sprang Rosmarie auf, entschuldigte sich, was sie früher niemals getan hätte, dann verabschiedete sie sich.

Als sie nach draußen kam, ihr Auto sah, bekam sie so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Es war wirklich ziemlich ungehörig, einfach in der Einfahrt zu parken.

War das auch ein Schritt in die richtige Richtung?

Sollte sie sich die Adresse des Psychiaters doch geben lassen?

Oder sollte sie einfach zu Inge Auerbach fahren, die war eine gute Ratgeberin, konnte ganz hervorragend zuhören, und bei Inge konnte man sicher sein, dass sie Geheimnisse für sich behielt.

Sie fuhr in Richtung der Auerbachschen Villa, um kurz davor wieder abzudrehen.

Sicher wäre es hilfreich, sich bei Inge auszuweinen, aber hatte die Frau Doktor nicht gesagt, sie solle Schrittchen für Schrittchen in ihr neues Leben gehen? Da gab es etwas, wo sie anfangen konnte, nämlich bei ihrer Tochter Stella. Es war an der Zeit, zu ihren Kindern ein anderes Verhältnis aufzubauen, und da konnte sie bei Stella anfangen. Mit der war es einfacher als mit Fabian, und von ihrer Tochter wusste sie, dass sie um diese Zeit zu Hause sein würde.

Sie war keine gute Mutter gewesen, und Stella hatte im Grunde genommen das meiste abbekommen, weil sie sich am wenigsten aufgelehnt hatte. Eigentlich überhaupt nicht, sie versuchte noch heute, es ihren Eltern recht zu machen, sie kam regelmäßig zu Besuch, brachte selbst gemachten Kuchen mit, und Rosmarie schämte sich schon wieder, wenn sie daran dachte, wie wenig sie es Stella bislang gedankt hatte.

Was war sie bloß für ein Mensch gewesen?

Hatte da wirklich Cecile kommen müssen, um ihr die Augen zu öffnen?

Warum war sie nicht von selbst darauf gekommen, dass bei ihr im emotionalen Bereich eine ganze Menge schieflief, und nicht nur da.

Warum hatte ihr sonst niemand etwas gesagt?

Rosmarie verstand die Welt nicht mehr, am wenigsten konnte sie mit sich selber umgehen.

Es war wirklich verrückt. Ausgerechnet Cecile, die sie abgelehnt, ja, die sie sogar bekämpft hatte, war es gelungen, einen Hebel bei ihr umzulegen, man konnte auch sagen, ihr einen Spiegel vorzuhalten. Und was sie sah, gefiel ihr nicht, konnte ihr überhaupt nicht gefallen. Denn da sah sie eine bösartige, egoistische Frau, die glaubte, die ganze Welt müsse sich um sie drehen.

Ja, es war wirklich nicht zu glauben, dass Cecile hinter die äußere Fassade geblickt hatte, und da war etwas zum Vorschein gekommen, das sie selbst nicht kannte.

Lag es daran, dass sie so geworden war, weil sie in ihrer Kindheit und Jugend Armut erlebt hatte, bittere Armut, und dass dann irgendwann der brennende Wunsch entstanden war, nie mehr arm zu sein?

Vielleicht hatte die Frau Doktor recht, und sie sollte zu einem Psychiater gehen. Es gab vieles in ihr, was sie verdrängt hatte, was von ihr in die dunkelsten Schubladen gesteckt worden war, und nun schien es ihr wirklich um die Ohren zu fliegen, und sie konnte damit nicht umgehen.

Sie hatte alles dafür getan, wer zu sein, zur Gesellschaft zu gehören. Das war ihr gelungen, doch welchen Preis hatte sie dafür gezahlt?

Darüber wollte Rosmarie jetzt nicht nachdenken, diese Wahrheit würde sie nicht verkraften.

Eines war auf jeden Fall sicher, alles, was wirklich zählte im Leben, das hatte sie leichtfertig aufs Spiel gesetzt.

Würden Stella und Fabian ihr verzeihen?

Würde sie einen Weg zu ihnen finden, oder war der für immer versperrt?

Darüber hatte Rosmarie niemals nachgedacht, und als sie jetzt ganz vorsichtig damit begann, verursachte es ihr Magenschmerzen.

Sie war ein schrecklicher Mensch!

Zu dieser Erkenntnis wäre sie ohne Cecile nicht gekommen, und das zu wissen, tat ziemlich weh.

*

Als Rosmarie vor der Haustür ihrer Tochter Stella stand, zögerte sie einen Augenblick, dann drückte sie entschlossen auf den Klingelknopf, und wenig später wurde ihr geöffnet.

Wie nicht anders zu erwarten gewesen, war Stella daheim.

»Du, Mama?«, erkundigte sie sich. »Ist etwas passiert?«

Die Frage war nicht unberechtigt, denn Rosmarie kam niemals einfach nur so vorbei. Man konnte die wenigen Male zählen, die sie überhaupt gekommen war. Selbst bei den Geburtstagen der Kinder hatte sie meist Ausreden erfunden.

Rosmarie wurde verlegen, und das bedeutete wirklich etwas.

»Nein, ich …, äh …, ich war gerade in der Nähe«, was natürlich gelogen war, »und da dachte ich …, dass …, wir …, nun ja, vielleicht einen Kaffee zusammen trinken können?«

Stella war so perplex, dass sie zunächst einmal nichts sagen konnte. Ihre Mutter kam einfach auf einen Kaffee vorbei? So etwas musste man im Kalender rot anstreichen. Aber in der letzten Zeit war einiges geschehen, dass sie sich eigentlich nicht wundern durfte. Seit Cecile mit ihr zusammen aufgetaucht war, war ihre Mutter anders geworden, und das hatte nichts damit zu tun, dass sie sich kaum noch schminkte, was ihr übrigens ganz hervorragend stand. Ihr Gesicht wirkte jetzt nicht mehr so maskenhaft, sondern weicher.

Stella riss sich zusammen.

»Komm rein, Mama. Es ist schön, dass du da bist«, sagte Stella, und das meinte sie sogar so.

Stella führte ihre Mutter in das große, modern eingerichtete Wohnzimmer, in dem es als Highlight einen schönen alten Schrank gab, den Stella von ihrer Erbtante Finchen geerbt hatte und jetzt in Ehren hielt.

Der Schrank erinnerte Rosmarie daran, wie wütend sie gewesen war, dass Finchen sie alle nicht nur an der Nase herumgeführt hatte, indem sie vorgab, eine arme Frau zu sein. Nein, sondern dass sie Stella zu ihrer Alleinerbin eingesetzt hatte. Sie hatte das Erbe für sich in Anspruch nehmen wollen, dabei war Stella es gewesen, die sich rührend um Finchen gekümmert hatte, die für sie einkaufen war, sie besucht hatte, und es hatte kein Fest gegeben, zu dem Stella Tante Finchen nicht geholt hatte.

Rosmarie wollte nicht mehr daran denken, wie sie sich gebärdet und wie sie ihrer eigenen Tochter die Erbschaft geneidet hatte.

»Mama, setz dich doch. Was möchtest du trinken? Einen ganz normalen Kaffee, Espresso oder einen Milchkaffee. Du kannst auch Tee haben.«

Rosmarie winkte ab.

»Das mit dem Kaffee war nur vorgeschoben, Stella«, sagte Rosmarie, »eigentlich bin ich gekommen, um …«, sie machte eine kurze Pause, weil es schon schwer war, Eingeständnisse zu machen, auch wenn sie stimmten.

»Mama, was auch immer der Grund für deinen Besuch ist«, sagte Stella, »ich freue mich, dass du da bist. Und weißt du was? Ich koche uns jetzt doch einen Kaffee. Auch wenn es noch nicht wirklich die Zeit ist. Ich habe gerade deinen Lieblingskuchen gebacken, davon solltest du ein Stück probieren, und wenn du magst, kannst du für dich und Papa auch noch etwas mitnehmen.«

Sagte es und verließ das Wohnzimmer, Rosmarie blieb allein zurück. Stella war wirklich ein guter Mensch. Eine solche Tochter hatte sie überhaupt nicht verdient.

Während Stella draußen war, sah Rosmarie sich um. Das Wohnzimmer war geschmackvoll eingerichtet, aber man sah, dass hier gelebt wurde. Da lag ein Kinderspielzeug herum, der Bezug des einen Sessels war an einer Armlehne leicht abgeschubbert. In der Nähe der Terrassentür standen ein Kindertisch und zwei Stühle, daneben eine Spielzeugkiste.

Die Kinder gehörten dazu, das war nicht zu übersehen.

Rosmarie wurde schmerzlich bewusst, dass Stella und Fabian das Wohnzimmer kaum betreten durften, abgesehen mal von Weihnachten oder wenn es Fototermine gegeben hatte, bei denen die komplette Familie abgelichtet wurde, weil sich so etwas immer gut machte. Für sie und Heinz waren die Kinder mehr oder weniger Statussymbole gewesen. Rosmarie konnte sich nicht daran erinnern, jemals mit ihnen gespielt zu haben. Sie hatte Stella und Fabian den Kinderfrauen überlassen.

Stella kam zurück, mit Kaffee und Kuchen, und das Tablett, das sie vor sich hertrug, wäre ihr beinahe heruntergefallen, als sie ihre Mutter sagen hörte: »Stella, es tut mir ja so leid. Ich … war euch …, bin euch … keine gute Mutter.«

Hatte ihre Mutter etwas genommen?

Sie hatte sich wirklich verändert.

Was war geschehen?

Stella sagte nichts, sondern stellte ihr Tablett ab, dann deckte sie für sich und ihre Mutter den Tisch.

Was sollte sie auch sagen?

Diese ungewohnte Form der Selbsterkenntnis war für Stella fremd. So, wie sie und Fabian aufgewachsen waren, war für sie normal gewesen, weil sie es ja nicht anders kannte. Erst durch die Auerbachs hatte sie mitbekommen, dass Eltern und Kinder eine unzerstörbare Einheit bildeten, die sich liebte, die füreinander da war.

Stella erinnerte sich noch sehr gut daran, wie es gewesen war, als Fabian und die Ricky Auerbach sich schon an dem Tag ineinander verliebt hatten, als sie in den Sonnenwinkel gezogen waren. Wie glühend sie ihren Bruder beneidet hatte. Stella dankte dem Himmel jeden Tag, dass sie mit Jörg Auerbach dieses Glück auch erleben durfte, auch wenn das nicht auf den ersten Blick gewesen war. Jörg hatte während seiner Studienzeit die schrägsten Freundinnen mit nach Hause gebracht, und ihr war beinahe das Herz gebrochen. Als sie mit überhaupt nichts mehr gerechnet hatte, war sein Blick auf sie gefallen, und da hatte sie begonnen, die schönste Zeit ihres Lebens, und daran hatte sich bis heute nichts geändert. Sie und Jörg passten zusammen wie Topf und Deckel. Sie liebten sich wie am Anfang, nein, ihre Liebe war inniger geworden, und ihre Kinder waren die Krone obendrauf.

Stella bat ihre Mutter zu Tisch, und dann probierte Rosmarie erst einmal den Kuchen, und es war kaum zu glauben, sie lobte ihn!

Wie viele dieser Kuchen hatte Stella schon in die Villa ihrer Eltern gebracht, und da war eigentlich immer daran herumgemäkelt worden, oder ihre Mutter hatte überhaupt nichts gesagt, was eine noch größere Art der Missachtung war.

Stella sah ihre Mutter an, die ohne die ganze Schminke sehr viel besser aussah.

Sie war doch jetzt nicht nur gekommen, um ihr zu sagen, dass sie eine schlechte Mutter war, oder?

»Mama, weswegen bist du wirklich gekommen«, erkundigte Stella sich schließlich, weil sie es nicht länger aushielt.

Sie sah ihre Mutter gespannt an, doch Rosmarie ließ sich mit einer Antwort Zeit. Es war nicht einfach, den richtigen Anfang zu finden. Sie überlegte, doch als Rosmarie bewusst wurde, dass sie hier keinen Vortrag halten musste, bei dem es auf geschliffene Worte ankam, sondern dass sie mehr oder weniger eine Beichte vor ihrer Tochter ablegen wollte, hatte sie keine Probleme mehr. Sie erzählte von ihrem ersten Besuch bei Frau Doktor Steinfeld, bei der sie sich ein Attest holen wollte, um Cecile nicht begegnen zu müssen. Sie erzählte, wie Roberta das abgelehnt hatte, ihr geraten worden war, sich der Situation zu stellen, wie Cecile in der Villa auf sie gewartet hatte, und wie ihr bewusst geworden war, dass sie nur Konzepte im Kopf hatte, die so anders als die Realität gewesen waren.

»Ich weiß nicht, was geschehen ist, Stella. Vielleicht hat Cecile etwas in mir ausgelöst, weil sie so sanft ist, so ganz ohne Argwohn. Sie sieht zuerst das Gute im Menschen, und daran hält sie unbeirrt fest. Durch sie habe ich mich verändert, meine Fehler fallen mir auf, und dafür schäme ich mich …, ich kann nichts mehr rückgängig machen, aber ich kann versuchen, mich …, mein Verhalten zu verändern. Und ich kann nur darauf hoffen, dass ihr mir verzeihen könnt …, vielleicht kann ich ja mit den Kindern mal Eis essen gehen, oder …«

Sie blickte Stella Hilfe suchend an, und nachdem die sich von ihrer Überraschung ein wenig erholt hatte, sagte sie mit bewegt klingender Stimme: »Das mit dem Eis ist keine so gute Idee. Aber die Kinder gehen für ihr Leben gern in Buchhandlungen. Sie lieben Bücher sehr. Da könntest du ihnen eine große Freude machen.«

Rosmarie warf Stella einen Blick zu, und da konnte man eindeutig Tränen in ihren Augen erkennen.

»Das haben sie von dir, du hast auch Bücher verschlungen.«

Stella lachte.

»Mama, das tue ich noch heute.«

Es herrschte eine merkwürdige Stimmung zwischen den beiden Frauen, und ehe sie ins Sentimentale abzudriften drohte, begann Stella von ihren Kindern zu erzählen, auf die sie so unglaublich stolz war.

Rosmarie war sogar bereit, was vorher niemals vorgekommen war, sich Bilder anzusehen. Mehr noch, sie wollte Bilder mitnehmen.

Auf einmal hatte Rosmarie es eilig zu gehen. Stella begleitete ihre Mutter zur Tür, dort zögerte sie kurz. Am liebsten hätte sie sie ja jetzt gern in den Arm genommen. Aber wie würde ihre Mutter das aufnehmen? Sie hatte sich zwar verändert, doch würde sie eine solche Nähe schon oder überhaupt zulassen?

Umarmungen waren bei den Rückerts niemals üblich gewesen.

Also sagte sie nur: »Mama, danke für deinen Besuch. Es war schön, dass du gekommen bist, und ich denke, das sollten wir wiederholen.«

Rosmarie sagte etwas, was es vorher auch noch nie gegeben hatte, ohne Voranmeldung ging bei ihren Eltern überhaupt nichts.

»Du kannst ja auch spontan vorbeikommen, wenn du in Hohenborn bist. Ich würde mich freuen.«

Jetzt konnte Stella nicht anders, nun umarmte sie ihre Mutter doch, und erstaunlich war, dass Rosmarie nicht zurückwich.

Wie sollte man das jetzt nennen? Wunder?

Es gab keine Worte, so entschloss Stella sich dazu, sich einfach nur zu freuen.

Es war ihre Mutter, und wenn sie jetzt so altersweise geworden war oder wie immer man es auch nennen wollte, an ihr sollte es nicht liegen.

Sie war zu einer Versöhnung bereit.

Rosmarie war längst abgefahren, und Stella stand noch immer sinnend in der Haustür, als Jörg vorgefahren kam. Heute war wohl der Tag der ungewöhnlichen Ereignisse.

Jörg sprang aus dem Wagen.

»War das eben deine Mutter?«, erkundigte er sich, nachdem er seiner Frau einen liebevollen Kuss auf die Stirn gegeben hatte.

»Ja, das war sie«, bestätigte Stella und wollte schon loslegen und ihrem Mann von der wundersamen Begegnung mit ihrer Mutter berichten, als sie sich entschloss, es für später aufzuheben.

Jörg war ungewöhnlich ernst, und um diese Zeit war er normalerweise auch nicht zu Hause.

Ehe sie ihm eine Frage stellen konnte, sagte er: »Ich bin auf dem Weg in den Sonnenwinkel. Meine Mutter ist außer sich … Bambi ist verschwunden.«

Das klang so ungeheuerlich, dass es Stella die Sprache verschlug.

Bambi und weg, das ging überhaupt nicht. Wenn jemand an seinem Zuhause klebte, dann war es doch Bambi.

»Als die Eltern vom Flughafen zurückkamen, war sie nicht mehr da, und auch bei Manuel oder ihren Freunden ist sie nicht, und niemand weiß etwas. Und die Polizei tut noch nichts, weil sie das Verschwinden von Bambi offensichtlich nicht so ernst nimmt. Man ist bei der Polizei der Meinung, dass die meisten Ausreißer spätestens nach achtundvierzig Stunden wieder zu Hause auftauchen. Du kannst dir vorstellen, dass meine Mutter kurz davor ist, durchzudrehen.«

Stella konnte es sich vorstellen, ihre Schwiegermutter war ein Muttertier, das war im guten Sinne gemeint.

»Natürlich musst du hinfahren, Jörg«, sagte Stella sofort, »das ist doch selbstverständlich.«

Jörg Auerbach warf seiner Frau einen liebevollen Blick zu. Er hatte von Stella auch nichts anderes erwartet.

»Da ist aber noch etwas. Ricky will eine Vorlesung ausfallen lassen und direkt von der Uni aus in den Sonnenwinkel fahren. Das Problem ist, dass Fabian eine Lehrerkonferenz anberaumt hat, die nicht aufschiebbar ist, weil es da um ein akutes und vor allem ernstes Problem geht. Die Kinder …«

Jörg brauchte seinen Satz überhaupt nicht zu beenden.

»Kein Problem«, sagte Stella sofort, »ich pack die Kleinen ein, wenn sie wieder zu Hause sind, dann fahre ich mit denen hinüber. Und ich bleibe dort, solange es nötig ist. Unterstützt eure Mutter. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die arme Inge am Rad dreht. Ich kann es nicht verstehen, Bambi ist doch niemand, der einfach davonläuft. Das hat sie noch nie getan. Glaubst du, dass die Abreise von Hannes sie so durcheinandergebracht hat? Aber antun würde sie sich deswegen doch nichts, oder?«

Das glaubte Jörg auch nicht. Aber erklären konnte er sich nicht, wohin Bambi gegangen sein könnte.

Rasch sprach er mit seiner Frau über alles Nötige, dann nahm er sie spontan in den Arm.

»Stella, mein Herz, du bist die Größte, eine andere Frau hätte nämlich jetzt angefangen zu meckern. Du weißt schon, dass unser Kinoabend für heute Abend flachfällt. Ich glaube nicht, dass ich mich beizeiten von meinen Eltern loseisen kann.«

»Entspann dich«, lachte Stella, »das Kino wird nicht abgerissen, und sollte der Film nicht mehr laufen, dann ist es auch kein Drama. Für alles gibt es ein nächstes Mal. Ich hoffe nur, dass Bambi bald wieder auftaucht. Was ist bloß in die Kleine gefahren?«

»Das weiß ich auch nicht. Es passt nicht zu ihr. Sobald ich etwas weiß, rufe ich dich an.«

Er küsste sie hingebungsvoll, sah ihr tief in die Augen und sagte: »Habe ich dir schon gesagt, wie sehr ich dich liebe?«

Dann ließ er sie los und lief zu seinem Auto, und Stella sah ihrem Mann liebevoll hinterher.

Ja, so war er, ihr Jörg.

Natürlich war auch bei ihnen nicht immer alles Sonnenschein, und manchmal fetzten sie sich ganz schön. Aber das gehörte zum Leben. Sie waren beide erwachsene Menschen, die ihre eigene Meinung hatten, und die prallten halt manchmal aufeinander. Aber es gab niemals Kräche, die anhielten, spätestens, wenn sie ins Bett gingen, war alles vorbei. Und Jörg würde auch niemals das Haus verlassen, wenn etwas nicht ausgesprochen und beigelegt war. Da war ihre Angst viel zu groß, es könnte etwas passieren, und im schlimmsten Fall bliebe der andere voller Schuldgefühle zurück.

Ja, sie liebte ihn!

Und er liebte sie!

Sie waren schon gemeinsam durch manche Höhen und Tiefen gegangen, und ihr Lebensfloß war niemals vom Kurs abgekommen.

Wer konnte das schon von sich behaupten?

Nun, vielleicht Ricky und Fabian. Ihr Bruder und ihre Schwägerin waren ihr großes Vorbild. Und Stella bewunderte Ricky noch mehr, seit sie sich entschlossen hatte, trotz ihrer Kinder ein Studium anzufangen. Anfangs hatten ja viele Leute die größten Bedenken, doch Ricky zog das durch. Und Fabian unterstützte seine Frau, so gut er konnte. Und das alles trotz der Kinder. Die litten auf jeden Fall nicht unter der Situation, im Gegenteil, sie fanden es cool, dass ihre Mutter zur Uni ging.

Stella blickte auf ihre Uhr.

Oh, so spät war es schon?

Da musste sie sich aber sputen. Sie musste die Kinder abholen, und sie wollte auch ein paar Sachen für sie zusammenpacken. Keine Ahnung, wann Fabian zurückkommen würde. Es war nicht das erste Mal, dass die Kinder bei den Verwandten übernachteten, das fanden sie ganz toll.

Sollte Bambi nicht auftauchen, war mit Ricky und Jörg nicht so schnell zu rechnen.

Was war bloß geschehen? Was hatte Bambi so sehr aus der Spur gebracht, dass sie kopflos geworden war?

Und wenn sie schon dabei war, sich Fragen zu stellen, dann konnte sie sich auch fragen, was mit ihrer Mutter geschehen war.

Es war ja schon unheimlich, was auf einmal mit ihr los war. Hatte Cecile mit ihrer sanften, freundlichen Art wirklich diese Veränderung bei ihr bewirkt?

Stella konnte es nicht glauben, und deswegen entschied sie sich, erst einmal abzuwarten. Mit ihrer Mutter hatte sie schon manche Episoden erlebt, und die waren nicht immer zum Lachen gewesen. Eine große Liebe konnte es eh nicht mehr werden, dafür war einfach zu viel Porzellan zerschlagen worden, dafür hatte es in der Kindheit zu wenig Liebe gegeben. Eigentlich überhaupt keine.

Nein! Stella zwang sich, nicht zurückzudenken. An der Vergangenheit konnte man nichts mehr ändern, die Zukunft war noch nicht da. Was zählte, das war die Gegenwart, und mit der war sie vollkommen zufrieden.

Sie war gesund, sie hatte einen tollen Mann, und sie hatte herrliche Kinder. Sie lebte sorgenfrei in einem schönen Haus.

Mehr zu verlangen, würde bedeuten, das Schicksal herauszufordern. Und sie wollte nicht so enden wie im Märchen von dem Fischer und seiner Frau, die, obwohl es ihr gut ging, sie alles hatte, immer noch mehr wollte.

Für die Frau war es böse ausgegangen, sie hatte alles verloren.

Ihre Mutter fiel ihr in diesem Zusammenhang ein, auf die traf das Märchen eigentlich voll zu. Dass ihr das nicht früher schon aufgefallen war. Wenn sie wirklich dabei war, sich zu ändern, dann konnte es nur gut sein, ehe es für sie ein böses Erwachen gab. Einen Hinweis hatte sie ja bereits bekommen, als man ihr den ganzen Schmuck geraubt hatte.

Schluss, sie wollte nicht an ihre Mutter denken, jetzt nicht. Und sie wollte auch nicht orakeln.

Ihre Welt war in Ordnung, und sie konnte nur beten, dass es auch so bleiben würde.

An Bambi denken musste sie schon noch, und das war auch vollkommen in Ordnung.

Hoffentlich war der Kleinen nichts passiert, das wäre ganz schrecklich, und das würden ihre Schwiegereltern nicht verkraften. Bambi war das Nesthäkchen, und das war nicht der einzige Grund, warum sie mit abgöttischer Liebe an ihren Eltern hing.

Es musste gut ausgehen, dachte Stella, und sie schämte sich nicht, ein Gebet gen Himmel zu schicken.

*

Jörg Auerbach hatte es sich schlimm vorgestellt, so schlimm allerdings nicht. Seine Mutter war vollkommen neben der Spur, und seinen Vater hatte er noch nie zuvor so hilflos erlebt.

Selbst die Großeltern waren vollkommen verunsichert.

»Gut, dass du da bist, Junge«, sagte sein Großvater. »Vielleicht kannst du deine Mutter ein wenig beruhigen. Wir wissen nicht, was wir noch tun sollen. Inge dreht durch, und das bringt doch niemanden weiter.«

»Ihr ist etwas passiert, das spüre ich. Vielleicht ist sie an den See gegangen, irgendwo am Ufer ausgerutscht, und dann ist sie ertrunken.«

Jörg versuchte, seine Mutter zu beruhigen.

»Mama, wenn sie an den See gegangen wäre, hätte sie Luna mitgenommen. Außerdem gibt es überall breite Wege, und an keiner Stelle sind die gefährlich. Außerdem kann Bambi schwimmen wie ein Fisch.«

Werner Auerbach seufzte abgrundtief.

»Jörg, lass es bleiben. Das habe ich Inge auch schon alles erzählt. Im Augenblick kann man nicht vernünftig mit ihr reden. Aber gut, dass du gekommen bist. Ricky muss auch bald hier sein. Ich hoffe, dass es ihr gelingen wird, Mama zur Vernunft zu bringen.«

»Du machst es dir einfach, Werner«, rief Inge aufgeregt. »Man kann fühlen, dass etwas Schreckliches passiert sein muss, sonst wäre Bambi daheim, und die Polizei …, ich bringe es in die Presse, wie lasch und unqualifiziert man mit besorgten Eltern umgeht.«

Inge begann zu weinen, mit wenigen Schritten war Werner Auerbach bei seiner Frau, nahm sie behutsam in die Arme.

»Liebes, so beruhige dich doch. Die Polizei wird sich kümmern. Aber versteh doch bitte, dass man da nicht sofort aktiv werden kann, wenn jemand anruft. Die Polizei ist unterbesetzt, man hat da nicht einmal die Leute, die sich sofort auf die Suche machen können. Und, mal ganz ehrlich, wo sollen sie anfangen? Wir sind ihre Eltern und haben keine Ahnung, wo Bambi abgeblieben sein könnte.«

Inge war vom Weinen von ihrer Angst schon so erschöpft, dass sie nicht antworten konnte, aber die Nähe von Werner tat ihr gut.

Und sie war froh, dass Jörg gekommen war. Er hatte alles stehen und liegen lassen. Und Ricky versäumte sogar eine sehr wichtige Vorlesung.

Wie auf Kommando kam Ricky angebraust, man hörte, wie sie mit quietschenden Bremsen vor dem Haus hielt und kurz darauf hineingestürmt kam.

Ricky, eigentlich Henrike, war eine sehr attraktive junge Frau, der niemand ihre Kinder ansah. Sie war groß, sehr schlank, und der Pferdeschwanz ließ sie noch jünger erscheinen als sie war.

Sie begrüßte ihre Großeltern, die Eltern, umarmte schließlich ihren Bruder. »Gut, dass du auch gekommen bist, Jörg. Wir zwei müssen uns jetzt kümmern, Bambi kann nicht einfach verschwunden sein. Allerdings wäre es vermutlich besser gewesen, darauf zu bestehen, dass sie mit zum Flughafen kommt. Dann hätten wir den Schlamassel jetzt nicht. So, wie Bambi an Hannes hängt, hätte man sich eigentlich denken können, dass sie das Alleinsein nicht verkraftet.«

Jörg warf seiner Schwester einen warnenden Blick zu, Ricky konnte manchmal sehr direkt sein.

Zu spät. Inge begann wieder stärker zu weinen, obwohl das kaum noch möglich war.

»Willst du damit sagen, dass es meine Schuld ist, dass Bambi jetzt weg ist?«, wollte sie wissen.

»Hört mit diesen Schuldzuweisungen auf«, ergriff Magnus von Roth das Machtwort. »Bambi ist weg, und jetzt sollten wir uns alle zusammensetzen und überlegen, wo sie sein könnte. Brainstorming nennt man das heutzutage. Was man in den Werbeagenturen tagtäglich tut, werden wir ja wohl auch können. Wir sind ja alle gescheite Leute. Also, Inge, du hörst auf zu weinen, damit erreichst du nichts. Setzen wir uns also, am besten an den großen Küchentisch, da haben wir alle Platz. Ich denke, wir sollten auch die Frau Doktor Steinfeld anrufen. Zu der wird Bambi zwar nicht gegangen sein, aber sie kann uns vielleicht sagen, an wen wir uns sonst noch wenden können. Im Kreiskrankenhaus in Hohenborn ist Bambi ja nicht. Und hat jemand schon bei den Lehrern nachgefragt?«

Inge schüttelte den Kopf.

»Nein, noch nicht, und ich weiß auch nicht, ob das eine gute Idee ist, dann ist Bambi bei denen ja unten durch.«

»Hast du Angst um dein Kind oder um dessen guten Ruf, Inge?«, erkundigte Magnus von Roth sich.

Ricky konnte nicht anders, sie warf ihrem Opa einen bewundernden Blick zu.

Das war so typisch ihr Opa, der hielt sich nicht lange mit Vorreden auf, sondern handelte. Und das lag ganz gewiss daran, dass die Großeltern in ihrem Leben schon viel mitgemacht hatten.

Ricky liebte ihre Großeltern über alles, und das nicht nur, weil sie sie darin bestärkt hatten, trotz ihrer Kinder zu studieren. Sie hatten ihr sogar ein kleines Auto finanziert, und sie waren sehr glücklich gewesen, dazu in der Lage zu sein.

Ricky fühlte sich auch überfordert, weil sie sich nicht vorstellen konnte, wo Bambi sein könnte. Natürlich hatte sie schon von Jugendlichen gehört und gelesen, die von zu Hause wegliefen, und das aus den unterschiedlichsten Gründen.

Aber nicht Bambi!

Ricky kam auf einmal ein ganz schrecklicher Gedanke, und sie ahnte nicht, wie nahe sie der Wahrheit kam.

»Und wenn Bambi nun erfahren hat, dass sie keine Auerbach ist, dass sie adoptiert wurde?«, fragte sie.

Das löste bei ihrem Vater sofort einen Protest aus.

»Ricky, was redest du da für einen Unsinn? Wie und durch wen sollte sie es denn erfahren haben?«, erkundigte der Professor sich ungewöhnlich scharf. Was das anbelangte, hatte er ein sehr schlechtes Gewissen. Die Adoption von Bambi war ein sehr unliebsames Thema bei den Auerbachs. Er und seine Frau hätten es der Kleinen längst schon sagen müssen. Aus lauter Feigheit hatten sie es immer wieder hinausgeschoben, oder sie waren froh gewesen, dass Ereignisse das verhinderten, wie beispielsweise damals der Tod von Jonny, Bambis Hund, der in der Nacht vor der geplanten Aussprache gestorben war.

Der neue Sonnenwinkel Box 2 – Familienroman

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