Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Box 8 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 4

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Eigentlich hatte Pamela Auerbach sich auf ihr Fahrrad geschwungen, um sich ihren Frust abzustrampeln. Sie war sauer, dass sie vergebens in Hohenborn in ihrer Schule gewesen war. Mehr noch ärgerte sie, dass niemand es für nötig gehalten hatte, die Schülerinnen und Schüler zu informieren. Sie waren schließlich bis mittags bereits in der Schule gewesen, und das am Nachmittag sollte ein Ersatzunterricht für viele ausgefallene Chemiestunden sein. Und nun war der ebenfalls ins Wasser gefallen. Also wirklich, bei ihrem Schwager Fabian wäre so ein Schlendrian nie passiert. Schade, dass nicht er der Direktor am Hohenborner Gymnasium war.

Sie war extra auf einen Seitenweg abgebogen, um niemandem zu begegnen, um schneller fahren zu können. Und nun das hier! Pamela gingen sehr viele Gedanken durch den Kopf.

Was sollte sie jetzt tun?

Es ignorieren, einfach so tun als habe sie nichts gesehen und weiterfahren?

Schon wollte sie wieder auf ihr Fahrrad steigen, als sie es sich doch anders überlegte. Sie stellte ihr Fahrrad an den Stamm einer alten, dicken Eiche, dann ging sie auf das in einem Gebüsch liegende andere Fahrrad zu. Sie kannte es, es war auch nicht zu übersehen mit seiner knallblauen Farbe und den darauf gemalten pinkfarbenen Blumen. Und sie kannte die Besitzerin. Sie mochte beides nicht, das auffallende Fahrrad nicht und dessen Besitzerin auch nicht.

Doch darum ging es jetzt nicht. Es beschäftigte sie eine ganz andere Frage. Wieso lag das Fahrrad im Gebüsch, ausgerechnet hier am Sternsee, den die Besitzerin abscheulich fand und in dessen Nähe sie auch überhaupt nicht wohnte.

Sollte sie nicht doch einfach so tun, als habe sie nichts gesehen und weiterfahren?

Nein, es ging nicht. Da waren einfach zu viele Ungereimtheiten. Bei diesem Fahrrad handelte es sich um ein eigens angefertigtes Designerstück, und die Blumen hatte eine Künstlerin draufgemalt, die für ihre Blumenstillleben berühmt war.

So ein Fahrrad schmiss man nicht einfach ins Gebüsch! Und wieso hier, abseits des Hauptweges, der in der Regel von den Leuten genutzt wurde. Es war alles sehr merkwürdig.

Pamela ging noch einmal zu dem Fahrrad, wollte es aus dem Gebüsch ziehen, doch dann ließ sie es bleiben. Sie glaubte zwar nicht, dass da etwas Schlimmes dahintersteckte, aber sollte es ein Tatort sein, so wusste sie, dass man an dem nichts verändern sollte.

Jetzt ging die Fantasie wirklich mit ihr durch, dachte sie beinahe belustigt. Auf jeden Fall war ihre schlechte Laune weg.

Es gab ja noch eine ganz einfache Erklärung, schoss es ihr durch den Kopf. Die Besitzerin des Fahrrades war sehr unbeliebt, sie war eingebildet, kam sich als etwas Besonderes vor, dabei war sie dumm wie Brot, denn sonst wäre sie nicht schon zweimal sitzen geblieben und hätte Ehrenrunden gedreht. Es konnte doch sehr gut sein, dass jemand ihr einen Streich spielen wollte und das Fahrrad hierhergebracht hatte. Das würde auch erklären, warum es auf einem Seitenweg im Gebüsch lag.

Dieser Gedanke erleichterte Pamela ungemein. Dennoch rief sie mehrmals: »Rautgundis?«

Das würde die, sollte sie sich irgendwo in der Nähe aufhalten, ungemein ärgern. Sie hieß so nach ihrer Großmutter, der sie ihren ganzen Wohlstand zu verdanken hatte. Rautgundis fand ihren Namen grässlich, bestand darauf, nur Gundi genannt zu werden. Doch alle am Gymnasium wussten, wie man dieses hochnäsige Ding ärgern konnte. Und das wollte Pamela jetzt. Die neue Bluse, die ihre Mama für sie genäht hatten, fanden alle toll. Sie hatte Rautgundis ebenfalls gefallen, denn ihrem Gesicht hatte man den Neid angesehen. Statt sich mit ihr zu freuen, hatte sie die Bluse heruntergemacht als das Machwerk einer Hausfrau. Ihre Mutter war eine begnadete Schneiderin, das sagte die Frau im Stoffladen auch immer. Und selbst wenn, warum war es schlecht, wenn Hausfrauen etwas nähten?

Rautgundis war eine dumme Nuss, aber jetzt kam Pamela alles ein wenig merkwürdig vor.

Als auf ihr Rufen keine Reaktion kam, versuchte sie es erneut, sie ging in das Gebüsch hinein.

Nichts!

Ja, es musste so gewesen sein, jemand wollte Rautgundis einen Streich spielen und hatte das Fahrrad hierhergebracht. Sie war zwar nicht mit ihr in einer Klasse, doch auf dem Schulhof würden sie sich sehen, und dann würde sie diesem arroganten Mädchen sagen, wo sie ihr Fahrrad finden würde. Und Rautgundis würde kochen vor Wut.

Für einen Augenblick überlegte Pamela, bei ihr anzurufen und ihr das jetzt schon zu erzählen. Dann entschied sie sich dagegen. Sollte sie ruhig noch ein wenig schmoren.

Sie lief noch einmal zur anderen Seite, wiederholte ihr Rufen, und weil keine Reaktion kam, ging sie zurück, warf einen letzten Blick auf das auffällige Fahrrad, dann nahm sie ihres vom Baumstamm weg, doch sie fuhr nicht weiter. Dazu war ihr die Lust vergangen. Sie fuhr zurück.

Sie überlegte, wer Rautgundis wohl diesen Streich gespielt hatte? Da fielen ihr viele Namen ein. Es gab nur ein paar Mädchen und Jungen, die sich um Rautgundis versammelten, und das nicht, weil sie die mochten, sondern weil die sich ihre Gefolgschaft erkaufte.

Eines fragte sie sich dennoch.

Warum hatte man das Fahrrad ausgerechnet an den See gebracht? Um sie zu ärgern, hätte es doch auch gereicht, es irgendwo in Hohenborn zu verstecken. Beispielsweise im Park oder so.

Steckte doch etwas anderes dahinter?

Pamela hielt an. Sollte sie noch einmal zurückfahren, noch mal rufen? Das hatte sie doch getan. Außerdem konnte sie sich nicht vorstellen, dass Rautgundis selbst mit dem Fahrrad in den Sonnenwinkel gekommen war, an einen Ort, den sie nicht mochte. Pamela konnte sich auch durchaus vorstellen, warum das so war. Hier konnte sie nicht herumstolzieren mit ihrer aufreizenden Kleidung, niemand würde sie bewundern. Rautgundis war nicht nur dumm, sie war auch ausgesprochen eitel.

So, und jetzt genug davon. Sie mochte das Mädchen nicht, und dafür beschäftigte sie sich viel zu sehr mit ihr.

Rautgundis und ihr dämliches Fahrrad konnten ihr gestohlen bleiben. Designerrad hin oder her, sie würde sich auf dieses Blümchending niemals setzen, das wäre ihr peinlich.

Pamela radelte nach Hause, stellte ihr Fahrrad in die Garage, weil sie es heute ganz gewiss nicht mehr benutzen würde.

Ihre Mutter war noch immer mit ihren Kreuzworträtseln beschäftigt und blickte ganz erstaunt auf, als sie ihre Tochter sah.

»Du bist schon zurück, Pamela?«, erkundigte sie sich. »Dann kann dein Frust ja nicht so groß gewesen sein.«

Pamela zögerte.

Sollte sie ihrer Mutter das mit dem Fahrrad erzählen?

Nein, so wichtig war es nun auch wieder nicht. Sollte ihre Mama nur ihre Rätsel machen. Sie ging an den Kühlschrank, holte sich etwas zu trinken, dann bemerkte sie: »Ich gehe hinauf in mein Zimmer und höre etwas Musik.«

Sagte es, verschwand, Inge Auerbach blickte ihrer Jüngsten ein wenig irritiert hinterher.

Was war mit Pamela los? Da stimmte etwas nicht. Und hatte es nicht ausgesehen, als habe sie ihr etwas sagen wollen? Nein!

Inge erinnerte sich an die Worte ihrer Mutter, die immer wieder sagte, sie solle damit aufhören, sie glaube immer, die Flöhe husten zu hören.

Inge seufzte, legte ihren Stift aus der Hand, griff nach ihrer Kaffeetasse, um etwas zu trinken. Es traf zu, sie machte sich wirklich Sorgen um alles, und das meistens vergebens.

Pamela war jung, in einem Alter, in dem man sich manchmal selbst im Wege stand. Sie hatte einfach keine Lust gehabt, um den See zu radeln. Was für Hannes gut war, das musste es nicht für Pamela sein. Die beiden hatten war eine besonders enge Bindung zueinander, doch sie waren schon sehr verschieden.

Hannes …

Der hatte sich nur kurz gemeldet, dass er gut in Brenlarrick angekommen sei, dass es ihm gut gehe und dass er es kaum erwarten könne, mit seiner Arbeit zu beginnen.

Tischler wollte er werden, und da machte es keinen Unterschied ob Möbel- Kunst- oder ein anderer Tischler.

Er studierte wieder nicht.

Inge war da zwar nicht so militant wie ihr Werner, der für Hannes eine akademische Laufplan geplant hatte, doch gefallen würde es ihr schon. Aber des Menschen Wille war sein Himmelreich, und ihr Jüngster machte eh, was er wollte. Da unterschied er sich gewaltig von seinen Geschwistern. Vielleicht lag es wirklich daran, dass er ein Sonntagskind war.

Ehe sie anfing zu grübeln, wandte Inge sich lieber wieder ihrem Kreuzworträtsel zu. Sie kaufte sich regelmäßig Rätselhefte und hatte den Ehrgeiz, alle Rätsel zu lösen, ohne auf den Seiten mit den Lösungen nachzusehen.

Wo hatte sie aufgehört? Ach ja, da … ›italienisches Reisgegericht‹, das war einfach, das musste natürlich Risotto heißen. Bald war sie wieder vertieft, es störte sie nicht einmal die Musik, die jetzt durchs Haus hämmerte.

*

In ihrem schönen Zimmer angekommen, schloss Pamela erst einmal das Fenster, denn im Garten tobten Luna und Sam herum, die wahrscheinlich gerade einen Schmetterling verbellten.

Pamela liebte ihre Luna über alles, doch mittlerweile hatte sie auch Sam in ihr Herz geschlossen, und ihr ging das Herz auf, wenn sie das Zweigestirn in schwarz und weiß sah.

Und ihr Herz ging noch immer auf beim Anblick ihres Zimmers. Nachdem Hannes ihr angeboten hatte, in sein bisheriges Zimmer zu ziehen, weil er sich bei seinen Besuchen im Elternhaus mit einem Gästezimmer begnügen würde, hatte sie natürlich sofort zugegriffen, nachdem sie zuvor ziemlich traurig gewesen war, weil das ja bedeutete, dass Hannes niemals mehr für immer in den Sonnenwinkel zurückkehren würde.

Pamela drehte die Musik laut, warf sich auf ihr Bett, Hannes hatte ihr die CD geschenkt, und die Musik war auch supercool. Jetzt konnte sie die nicht genießen, weil sie immer wieder an das auffällige Fahrrad denken musste.

Und wenn nun Rautgundis doch etwas geschehen war?

Das Fahrrad gehörte eindeutig ihr, und wo das war, konnte die Besitzerin nicht weit sein.

Ihre Gedanken drehten sich im Kreis.

Sie war sauer auf sich selbst. Warum war sie überhaupt vom Hauptweg abgebogen? Andernfalls hätte sie dieses dämliche Fahrrad nicht gesehen und müsste sich jetzt keine Gedanken machen. Ausgerechnet um das Mädchen, das sie von der ganzen Schule am wenigsten mochte. Die hatte vielleicht überhaupt noch nicht bemerkt, dass ihr Fahrrad weg war, die saß jetzt bei Calamini, aß Eis und würde hämisch darüber lachen, wenn sie wüsste, dass diese Pamela Auerbach sich ihretwegen Gedanken machte.

Pamela sprang hoch, sie machte die Musik aus.

Was sollte sie jetzt bloß tun?

Noch mal zu der Stelle fahren, an der das Fahrrad im Gebüsch lag?

Doch wozu sollte das gut sein, sie war herumgelaufen, hatte mehr als nur einmal gerufen.

Sie versuchte, sich für die Deutschklausur vorzubereiten, keine Chance. Ihre Gedanken flatterten durcheinander wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm.

Dass das Fahrrad dort lag, das war nicht normal, denn der Sternsee war nicht die Rennstrecke von Rautgundis.

Wäre sie doch bloß nicht mit ihrem Fahrrad zum See gefahren, dann wäre ihr alles erspart geblieben, dann müsste sie sich keine Gedanken machen.

Irgendwann hielt Pamela es in ihrem Zimmer nicht länger aus, sie polterte hinunter.

Ihre Mutter machte noch immer Kreuzworträtsel. Wäre Pamela nicht so mies drauf, hätte sie jetzt gelacht. Wenn sie einmal damit begann, dann rätselte ihre Mama wirklich bis zur Selbstaufgabe.

»Auch keine Lust auf Musik, mein Mädchen?«, erkundigte Inge sich. »Vielleicht Lust auf Kakao? Auf Himbeereis, selbst gemacht, mit ganz viel Sahne?«

Normalerweise liebte Pamela beides, diesmal kam eine Antwort, sie setzte sich hin.

»Mama, ich muss dir was sagen«, ihre Stimme klang leise und irgendwie bedrückt. Sofort legte Inge den Stift beiseite, schaute ihre Jüngste an.

Pamela zögerte erst noch ein wenig. Im Grunde genommen war doch nichts passiert. Im Gebüsch am See lag ein Fahrrad. Da musste man keine Staatsaktion draus machen.

Sie entschloss sich, es ihrer Mutter doch zu erzählen.

»Mama, es muss keine Bedeutung haben, doch dieses Fahrrad ist so was wie ein Heiligtum für Rautgundis, mit dem gibt sie an. Wieso liegt es im Gebüsch? Ausgerechnet am Sternsee, den sie öde findet?«

Natürlich hoffte Pamela darauf, jetzt von ihrer Mutter beruhigt zu werden. Das Gegenteil war der Fall.

»Pamela, es ist gut, dass du mir das jetzt erzählt hast. Wir fahren jetzt am besten gemeinsam zum See zu der Stelle, an der das Fahrrad liegt, ja?«

Pamela hatte zwar auf eine andere Antwort gehofft, doch irgendwie war sie erleichtert, dass ihre Mutter das jetzt in die Hand nahm.

Sie hatte zwar vorgehabt, ihr Fahrrad an diesem Tag nicht mehr zu bewegen, doch kurze Zeit später radelte sie neben ihrer Mutter her. Und gäbe es nicht diesen Hintergrund, dann würde es sogar Spaß machen.

Ihre Sorge, jemand könne inzwischen das Fahrrad gestohlen haben, war unbegründet. Es lag noch immer im Gebüsch, auch Inge fasste es nicht an. Sie gingen beide in verschiedene Richtungen auf die Suche, riefen ihren Namen. Nichts geschah.

»Wir rufen im Elternhaus von Rautgundis an, und wenn sie nicht daheim ist, rufen wir die Polizei«, entschied Inge, und Pamela ärgerte sich, dass sie nicht von selbst auf den Gedanken gekommen war.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich jemand meldete, dann wurde Inge gesagt, dass die Herrschaften für zwei Tage verreist seien und Gundi mit ihrem Fahrrad das Haus verlassen habe, um zu einer Freundin zu fahren, bei der sie vielleicht sogar übernachten wolle.

Inge bedankte sich. Sehr viel schlauer waren sie jetzt nicht, auf jeden Fall konnten sie sich von der Theorie verabschieden, jemand habe das Fahrrad hierher gebracht, um dem Mädchen einen Streich zu spielen.

»Wir rufen die Polizei an«, entschied Inge, die auf einmal ein sehr komisches Gefühl hatte. Vermisstenmeldungen ging man normalerweise nicht direkt nach, erst nach vierundzwanzig Stunden. Doch sie stand noch immer mit dem reizenden und tüchtigen Polizeihauptkommissar in Verbindung, seit sie vor gefühlten Ewigkeiten nicht nur eine Einbrecherbande daran gehindert hatte, im Sonnenwinkel ans Werk zu gehen. Nicht nur das, sie hatte den Hauptübeltäter zur Strecke gebracht, nachdem der zuvor versucht hatte, sie umzubringen.

Henry Fangmann meldete sich direkt, und Inge war sehr erleichtert, von ihm zu hören, dass er vorbeikommen würde. Sie sollten auf ihn warten, nichts anrühren. Es waren Worte, wie man sie aus Filmen kannte.

Pamela fiel ihrer Mutter um den Hals.

»Ich bin so froh, dass ich dir alles gesagt habe und du direkt alles in die Hand genommen hast. Es kann wirklich nicht schaden, allerbeste Kontakte zu unseren Freunden und Helfern zu haben. Gut, dass du Herrn Fangmann kennst, sonst hätte doch niemand sofort reagiert. Und weißt du was, wenn wir nach Hause kommen, dann hätte ich doch sehr gern ein Himbeereis mit Sahne. Ich finde, auf diesen Schreck habe ich das auch verdient … Ich mag diese Rautgundis wirklich nicht leiden, doch ich will auch nicht, dass ihr etwas passiert ist. Mama, ihr ist doch nichts passiert, oder?«

Inge strich ihrer Tochter beruhigend über die üppigen braunen Locken.

»Ich glaube nicht, doch darum müssen wir uns jetzt keinen Kopf mehr zerbrechen, bei Kriminalhauptkommissar Fangmann ist alles in besten Händen.«

Es dauerte nicht lange, da traf der auch ein, und umsichtig wie er war, hatte er auch Verstärkung mitgebracht. Die Männer hörten sich noch einmal an, was Pamela und ihre Mutter zu sagen hatten.

»Das war sehr klug von dir«, lobte er Pamela. »Man kann nicht aufmerksam genug sein.«

Pamela und ihre Mutter konnten gehen, die Männer berieten sich. Offensichtlich wollten sie schon jetzt mit der Suche beginnen.

Ein wenig gruselig war es schon, obwohl die Polizeibeamten nicht einmal Uniformen trugen.

Hoffentlich war Rautgundis nichts passiert. So schlimm, dass man ihr nur das Schlechteste wünschen konnte, war sie nun auch wieder nicht. Ein paar gute Seiten hatte sie schon. Auf jeden Fall nahm Pamela sich etwas ganz fest vor. Wenn Rautgundis wieder gesund und unversehrt in die Schule kam, würde sie das Mädchen fortan ebenfalls nur noch Gundi nennen. So, doch nun freute sie sich erst einmal auf das Himbeereis von ihrer Mama mit ganz viel Sahne …

*

Manchmal wünschte Roberta sich, aus einem bösen Traum zu erwachen in eine heile Welt, in der alles in Ordnung war. Leider erfüllten sich manche Wünsche nicht, und das war jetzt einer davon.

In ihrem Beruf als Ärztin erlebte sie alle menschlichen Höhen und Tiefen, kam mit Freude und Leid in Verbindung. Da warf sie niemals etwas aus der Bahn, da konnte sie mit allem sehr gut umgehen. Doch es war alles ganz, ganz anders, wenn man selbst betroffen war.

Seit Solveig, Lars’ Schwester, zu ihr gekommen war, um ihr ganz schonend beizubringen, dass Lars in der Arktis verschollen war und alle Suchaktionen nach ihm und seinen beiden Begleitern mittlerweile abgebrochen worden waren, hatte für sie die Welt sich aufgehört zu drehen, war sie in ein ganz tiefes Loch gefallen. Seitdem funktionierte sie nur noch, und sie wunderte sich manchmal selbst, dass ihr keine ärztlichen Fehler unterliefen. Da half ihr auf jeden Fall ihre Berufserfahrung.

Noch merkte niemand etwas, weil niemand etwas wusste. Klar wurde darüber geredet, dass da eine Frau im kleinen Haus war, gewiss hatten die ganz Neugierigen mitbekommen, dass Sachen abtransportiert wurden. Zum Glück wurde das ganze Getratsche an sie nicht herangetragen, doch es war bloß eine Frage der Zeit, da würde auch sie etwas dazu sagen müssen. Niemandem im Sonnenwinkel war verborgen geblieben, dass sie und Lars Magnusson ein Paar waren.

Lars …

Sie musste nur an seinen Namen denken, und schon hatte sie mit ihrer Selbstbeherrschung zu kämpfen, und wenn sie die Ringe, mit denen er ihre Zukunft, ihr gemeinsames Leben, besiegeln wollte, in der Nähe ihres Herzens spürte, glaubte sie den Verstand zu verlieren.

Lars hatte sie heiraten wollen, dazu hatte er die Ringe bereits gekauft!

Er hatte zu ihr ins Doktorhaus ziehen wollen, in dem sie als Mann und Frau, und später gewiss auch mit Kindern, leben wollte.

Ein Wunschtraum wäre für sie in Erfüllung gegangen, und es zerriss sie beinahe, wenn sie daran dachte, dass der Traum ihres Lebens sich nun nie erfüllen würde.

Lars war in der Arktis verschollen …

Die Suchaktion nach ihm und seinen beiden Begleitern war ergebnislos abgebrochen worden …

Roberta war nicht dumm, und auch wenn sie sich geradezu verzweifelt wünschte, man möge ihn irgendwo finden, er möge auftauchen, weil man an der falschen Stelle gesucht hatte …

Das war alles Wunschdenken, die Realität sah ganz anders aus. Sie musste beginnen, sich damit abzufinden, dass sie Lars nie mehr in ihrem Leben treffen würde und ebenso musste sie sich damit abfinden, dass es kein Grab gab, an dem sie um ihn weinen, an dem sie mit ihm sprechen konnte.

Lars Magnusson mit seinen unglaublich blauen Augen war aus ihrem Leben verschwunden, und eigentlich passte es zu ihm, dass es auf eine so spektakuläre Weise geschehen war. Roberta wurde den Gedanken nicht los, warum es ihn noch einmal in die Arktis getrieben hatte. Mit seinem Buch über die Eisbären und deren Lebensraum hatte er große Erfolge gefeiert, hatte sogar einen begehrten Preis dafür bekommen. Mehr ging eigentlich nicht.

Was hatte er da gesucht? Was war ihm so wichtig gewesen, dass er dafür die Vulkane in Island vergessen hatte und die scheuen Highland-Tiger in Schottland?

Sie musste damit aufhören, sich diese Fragen immer wieder zu stellen. Sie würde keine Antwort darauf erhalten. Eines war nur ganz gewiss – die Arktis, die er liebte, die ihm große Erfolge beschert hatte, die war ihm zum Verhängnis geworden.

Die Mittwochsprechstunde hatte sie irgendwie hinter sich gebracht, und Roberta war froh, dass keine Hausbesuche anlagen.

Dass es einmal so weit kommen würde, hätte sie nicht für möglich gehalten. Aus einer Ärztin beinahe aus Besessenheit war eine geworden, die funktionierte, die gewissenhaft ihre Pflichten tat.

Sie klappte die letzte Krankenakte zu, ihre tüchtige Ursel Hellenbrink war bereits gegangen. Natürlich wusste die Bescheid, und es zerriss sie beinahe, wenn sie ihre verehrte Chefin in diesem Zustand sah. Das Schicksal war manchmal wirklich ungerecht. Warum musste das ausgerechnet dieser Frau passieren, die unermüdlich den Menschen half, für sie da war?

Natürlich sprach sie das nicht aus, doch Roberta spürte, wie sehr Ursel sich bemühte, ihr das Leben ein wenig leichter zu machen.

Bei allem Elend konnte Roberta froh sein, dass sie jemanden wie Ursel hatte. Doch auch Alma und vor allem ihre Freundin Nicki waren rührend um sie bemüht. Nicki war sofort gekommen, und sie war geblieben, obwohl der Sonnenwinkel nicht so ihr Ding war. Vor allem verdiente sie während der Zeit hier kein Geld, und sie wollte von Roberta auch nichts annehmen.

Und das war es. Neben ihrem großen Schmerz um den Verlust der Liebe ihres Lebens kamen die Schuldgefühle wegen Nicki hinzu. Anfangs war sie wie betäubt gewesen, und es war schön, jemanden wie Nicki an ihrer Seite zu haben, eine Person, die ihr vertraut war, die sie kannte, vor der sie keine Geheimnisse hatte, die sie auffing. Mit Nicki war sie schon durch dick und dünn gegangen, an deren Seite hatte sie ihre unschöne Scheidung von Max sehr viel besser überstanden. Ach Gott, Max, damals hatte sie sehr gelitten, doch gegen das, was sie derzeit empfand, war es nicht viel mehr gewesen als ein Spaziergang durch einen Rosengarten.

Lars …

Mit den Gedanken an ihn schlief sie ein, mit den Gedanken an ihn wachte sie auf, und wenn sie dann auf die Fotos blickte, die sie überall aufgestellt hatte und die beinahe schon wie ein Museum wirkten, nahm es ihr den Atem, dann zerriss es sie vor lauter Schmerz, und dennoch wusste, sie, dass es irgendwie weitergehen würde. Es ging immer weiter.

Sie versuchte, sich von allen Gedanken an Lars zu befreien.

Das Leben ging weiter.

Kurz entschlossen verließ sie endgültig die Praxisräume, ging nach nebenan in ihre Wohnräume. Früher hatte sie sich immer darüber gefreut, wie angenehm es war, dass Arbeits- und Privaträume so dicht beieinander lagen. Heute konnte sie sich überhaupt nicht mehr freuen, sie fühlte sich erloschen, abgestorben, alles war ihr egal.

Alma war bereits seit dem frühen Morgen unterwegs, sie und ihr Chor wollten einem Jubilar ein Ständchen bringen und waren alle auch zu der Feier eingeladen worden. Es war schön, dass Alma fest in ihrem Leben etabliert war, und Roberta wollte nicht mehr daran denken, wie es gewesen war, als sie sich kennengelernt hatten. Nein, zurückblicken, das brachte nichts, und sie war noch nicht in der Lage, sich Almas Schicksal als Beispiel zu nehmen. Auch an dem Spruch – wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her. Tröstliche Worte, doch die konnte sich nur jemand ausdenken, der sich nicht in der Lage befand, in der alles ringsum erloschen war.

Nicki wartet bereits auf sie.

»Du bist spät dran, Roberta, und ich hoffe, du bist nicht böse, dass ich schon mal gegessen habe. Ich konnte Alma dazu überreden, für uns Kohlrouladen zuzubereiten, und ich wollte eigentlich nur mal probieren. Doch dann war es um mich geschehen, ich konnte nicht anders, ich musste anfangen zu essen.«

»Ich habe eh keinen Hunger«, sagte Roberta, »ich will nur etwas trinken.«

Nicki blickte ihre Freundin ganz betrübt an. So ging es jeden Tag, Roberta war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Doch was sollte sie machen? Sie konnte sie nicht zwingen zu essen.

»Du weißt nicht, was dir entgeht, Roberta, die Kohlrouladen sind so was von lecker, da kann man sich reinlegen.«

Trotz ihres Elends musste Roberta lächeln, so war sie, ihre Freundin Nicki.

»Also gut, damit du Ruhe gibst, werde ich ebenfalls etwas essen«, gab Roberta schließlich nach, »aber ich nehme mir das lieber selber, weil du es sonst zu gut mit mir meinst.«

Nicki atmete sichtlich erleichtert auf.

»Und weil es so lecker ist und ich so etwas so schnell nicht mehr bekommen werde, esse ich eine zweite Portion.«

Nicki tat sich noch einmal ganz ordentlich etwas auf ihren Teller, dann blickte sie betrübt auf das, was Roberta sich genommen hatte. Es war nicht einmal eine Kinderportion. Aber besser wenig als überhaupt nichts.

Nicki aß voller Behagen, Roberta stocherte in ihrem Essen herum und zwang sich, wenigstens ein wenig zu essen, weil sie die Blicke ihrer Freundin spürte und die nicht bekümmern wollte.

Als sie nach den Essen einen Kaffee tranken, sagte Roberta: »Nicki, es macht mir ein schlechtes Gewissen, dass du immer noch hier bei mir bist, statt deiner Arbeit nachzugehen. Ich weiß nicht, wie ich es ohne deine Hilfe geschafft hätte, doch jetzt komme ich allein zurecht.«

Nicki blickte ihre Freundin zweifelnd an, weil sie sich das nicht vorstellen konnte. Andererseits stimmte es schon, niemand konnte Roberta den Schmerz nehmen, der wegen des Verlustes ihres Lebensmenschen in ihr tobte. Aber sie jetzt allein lassen?

Roberta nahm sich zusammen, bot all ihre Kraft auf, Nicki davon zu überzeugen, dass sie wirklich allein klarkommen würde.

Nicki zögerte.

»Nicki, du kannst auch für mich da sein, wenn du wieder daheim bist. Ich weiß doch, dass ich dich Tag und Nacht anrufen kann, es liegen keine Welten zwischen uns, du kannst schnell zu mir kommen, ich ganz schnell zu dir fahren. Und dann gibt es all die anderen Kommunikationsmöglichkeiten, mit denen man ständig in Verbindung sein kann. Ich merke immer mehr, dass es etwas mit mir macht, dich hier festzuhalten mit dem Wissen, dass du kein Geld verdienen kannst, aber dass du auch von mir nichts annehmen möchtest.«

Roberta blickte ihre Freundin an.

»Nicki, es würde mir viel leichter machen zu wissen, dass du wieder in dein altes, gewohntes Leben zurückkehrst. Es ist ja nicht nur die Arbeit, du hast schließlich auch ein Privatleben, und dein Freund Pete …«

Roberta wurde sofort von Nicki unterbrochen.

»Wegen Pete musste du dir überhaupt keine Sorgen machen, liebste Freundin. Er ist nicht mein Freund, nicht einmal so etwas wie ein Lebensabschnittsgefährte …, mit Pete habe ich wirklich nicht mehr als unverbindlichen Spaß, weil er so anders ist, so unkompliziert, weil er nichts erwartet. Und wenn er weiterzieht, dann werde ich ihm keine einzige Träne nachweinen. Vielleicht ist er ja auch schon weg, wer weiß.«

Roberta stellte ihre Tasse ab.

»Heißt das, dass er überhaupt nicht weiß, dass du hier bei mir bist?«, erkundigte Roberta sich ganz erstaunt.

Nicki schüttelte den Kopf, konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.

»Nein, das weiß Pete nicht. Wozu auch? Ich sagte bereits, dass das mit ihm unverbindlich ist. Ich bin nicht in ihn verliebt. Die Nikola Beck von früher wäre vermutlich voll auf ihn abgefahren. Du weißt doch, wie ich drauf war, in jeder Männerbekanntschaft sah ich meinen Mr Right und war furchtbar enttäuscht, dass sie alle nach den Werbewochen doch nicht mehr als ein Frosch waren. Man kann manche Frösche unentwegt küssen, und doch wird aus ihnen kein Prinz.« Sie wurde wieder ernst.

»Roberta, ich glaube, das, was du mit deinem Lars …«, sie wollte sagen, erlebt hast, besann sich jedoch und fuhr fort: »Lars und dich verbindet die ganz große Liebe, von der wir alle träumen und die wir leider selten erleben.«

Roberta blickte nachdenklich auf den Kaffeelöffel, den sie in der Hand hielt und mit dem sie herumspielte. Dann nickte sie.

»So richtig bewusst geworden ist es mir erst jetzt, da ich ihn verloren habe.« Ihre Stimme klang schmerzerfüllt, sie war dem Weinen nahe.

Natürlich wusste Nicki, dass es aller Wahrscheinlichkeit auch so war, doch manchmal musste man zu etwas greifen, was dem anderen wenigstens vorübergehend half, ihm ein wenig Hoffnung machte.

»Roberta, so etwas möchte ich aus deinem Munde nicht hören. Wo ist die Frau geblieben, die stets sagt, dass man die Hoffnung nicht aufgeben soll? Solange man ihn nicht gefunden hat, lebt Lars für mich. Und ich kann nur wiederholen, dass er sich in der Arktis auskennt wie in seiner Westentasche, dass er auch an einem anderen Ort sein kann, und wenn …«

Diesmal war es Roberta, die ihre Freundin unterbrach.

»Nicki, lass es gut sein, ich weiß, dass du mir helfen möchtest. Wenn du falsche Hoffnungen in mir erweckst, dann tust du das nicht. Nein, nein, ich fühle es, Lars ist nicht mehr am Leben, und es gab genug Vorzeichen, die darauf hindeuteten, der schwarze Vogel auf meinem Auto, als ich aus seinem Haus kam, die Uhr, die stehen geblieben war. Das habe ich dir doch alles erzählt.«

»Hast du, du hast allerdings vergessen, dass du normalerweise an einen solchen Hokuspokus, wie du das immer nennst, nicht glaubst, das ist meine Domäne. Und weil ich mich da so gut auskenne, sage ich, dass du dir da etwas vorgaukelst, weil du es so haben möchtest. Das Haus steht allein am See, umgeben von Bäumen. Da ist es nicht verwunderlich, dass sich ein Vogel auch mal auf einem Autodach niederlässt. Und dass eine Uhr mal stehen bleibt, das ist auch normal. Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung. Bei dem, was du alles am Hals hast, wirst du vergessen haben, die Uhr wie üblich aufzuziehen. Schaff dir endlich eine automatische Uhr an, die läuft lange, ehe die Batterie ihren Geist aufgibt.«

Ach, die Nicki, die hatte für alles eine Erklärung, dabei war Roberta ganz tief in ihrem Inneren davon überzeugt, dass auch Nicki nicht daran glaubte, dass Lars Magnusson noch am Leben weilte. In der Arktis konnte man sich nicht wie in einem Wald verlaufen.

Roberta war froh, ihre Freundin davon endgültig zu überzeugen, dass sie jetzt allein zurechtkommen würde. Nicki würde also am nächsten Morgen abfahren, doch den Tag wollten sie noch gemeinsam miteinander verbringen, und abends würden sie in den ›Seeblick‹ gehen. Nicki war noch nicht dort gewesen, seit die nette Julia Herzog für ihr Restaurant den Stern bekommen hatte. Anfangs war es für Nicki schwierig gewesen, in den ›Seeblick‹ zu gehen, weil da immer überall Roberto präsent gewesen war, dem sie sehr lange nachgetrauert hatte, obwohl sie es gewesen war, die gegangen war.

Es war vorbei. Mit Roberto Andoni hatte sie eine wunderbare Zeit verbracht, doch wenn sie sich ansah, wie, wo und mit wem er jetzt lebte, wusste sie, dass das mit ihnen nicht auf Dauer gegangen wäre. Sie war kein Familienmensch, und offensichtlich war das für Roberto wichtig. Sie musste es gespürt haben, dass es für sie keinen gemeinsamen Weg gab. Doch als er dann seine neue Liebe präsentiert hatte, war sie sauer gewesen, hatte es nicht haben wollen. Menschen und ihre Gefühle konnten manchmal so kompliziert sein. Davon konnte sie ein Lied singen, schließlich hatte es nach Roberto weitere Lieben gegeben, alle ohne Happy End. Nein, es war gut so, erst einmal für sich allein zu leben, mit einem netten Nachbarn, einer unverbindlichen Affäre.

»Ich freue mich, Julia Herzog wieder zu treffen, es ist zu bewundern, wie sie das mit dem Stern durchgezogen hat.«

Roberta bestätigte es, sagte nichts dazu, dass Julia einen hohen Preis dafür gezahlt hatte, nämlich den Verlust ihrer Liebe. Es war vermutlich wirklich so, dass man nicht alles im Leben haben konnte. Vielleicht wurde man dann zu übermütig.

»Machen wir einen Spaziergang zum See?«, wollte Roberta wissen, doch das lehnte Nicki sofort ab.

»Roberta, tue dir das jetzt nicht an. Du weißt nicht, ob sie bereits mit den Abbrucharbeiten des Hauses begonnen haben, und willst du dir die Trümmer ansehen? In dir sind Trümmer genug, da müssen keine mehr hinzukommen. Was hältst du von einem kleinen Ausflug nach Hohenborn? Ich könnte ein Paar neue Sneakers ganz gut gebrauchen, und mit dir an meiner Seite weiß ich, dass ich nicht maßlos werde und alles kaufe, was mir passt. Du kennst mich doch.«

Das traf zu, Nicki konnte wirklich schnell man die Übersicht verlieren.

»Das ist eine gute Idee, Schuhe benötige ich zwar nicht, aber ich werde mir ein paar Bücher kaufen.«

Nicki seufzte.

»Sag mal, warum kannst du eigentlich nicht mal etwas ganz Unvernünftiges tun?«

Jetzt musste Roberta sogar ein wenig lächeln, und das ließ für einen Augenblick die Düsternis aus ihrem Gesicht verschwinden.

»Du, ich weiß nicht, ob es unbedingt vernünftig ist, sich neue Bücher zu kaufen, wenn ein ganzer Stapel davon noch ungelesen ist.«

Dem konnte Nicki nicht widersprechen, doch sie käme auch niemals in Versuchung, sich so viele Bücher zu kaufen, wie Roberta es regelmäßig tat. Sie las zwar auch ganz gern, doch meistens waren es Fachbücher, in die sie sich vertiefte.

»Okay, liebste Freundin, passen wir also aufeinander auf, du bremst mich, wenn ich meinem Schuhtick frönen will, und ich lasse nicht mehr als zwei, drei Bücher zu.«

Roberta war sich nicht ganz sicher, ob sie das einhalten würden, aber auf jeden Fall freute sie sich, mit Nicki nach Hohenborn zu fahren. Das war eine schöne Abwechslung, und später konnten sie sich im alten Wiener Kaffeehaus ein wenig ausruhen und auf jeden Fall die köstliche Sachertorte genießen, von der selbst Alma zugeben musste, sie so nicht hinzukriegen.

*

Der Sternsee hatte schon ganz beachtliche Ausmaße, doch so groß war er nun auch wieder nicht, dass man tagelang suchen musste, ehe man etwas fand. Und das schon überhaupt nicht, wenn erfahrene Polizeibeamte am Werk waren.

Polizeihauptkommissar Fangmann hatte dafür gesorgt, dass direkt eine Suchaktion gestartet worden war, und es gab auch recht schnell ein Ergebnis.

Man fand Rautgundis, aber an einer ganz anderen Stelle des Sees als ihr Fahrrad.

Und leider war sie tot!

Das war etwas, was auch erfahrenen Polizeibeamten an die Nieren ging, wenn sie einen so jungen Menschen tot auffanden, der noch sein ganzes Leben vor sich gehabt hätte.

Wenn man diesen Job machte, dann musste man seine Gefühle vollkommen ausschalten. Und das taten die Männer, sie riefen die Spurensicherung, den Arzt. Für sie war alles Routine.

Nachdem alles erledigt war, bestand für ihn dazu überhaupt keine Verpflichtung, doch Kriminalhauptkommissar Fangmann fuhr zu der Villa der Auerbachs. Er kannte Inge Auerbach, schätzte sie sehr, und sie war es schließlich auch gewesen, die ihn angerufen hatte.

Er klingelte an der Villa, und als Inge den Polizisten erblickte, dankte sie insgeheim dem Himmel, dass Pamela mit einer großen Portion Himbeereis für sie zu den Großeltern gegangen war, weil sie der Meinung gewesen war, dass die diese Köstlichkeit auch unbedingt probieren sollten. Ja, so war sie, ihre Pamela mit ihrem großen Herzen.

Inge spürte sofort, dass Henry Fangman keine guten Nachrichten brachte, dazu war er zu ernst.

Sie bat ihn ins Haus, bot ihm einen Kaffee an, den er dankbar annahm. Er hätte auch Kuchen haben können, doch den bot Inge ihm jetzt nicht an. Er war nicht zu einem gemütlichen Plausch gekommen.

Weil er nicht direkt etwas sagte, übernahm sie das.

»Das Mädchen ist tot, nicht wahr?«

Er nickte.

Und Inge überlegte jetzt schon fieberhaft, wie sie das ihrer Tochter beibringen sollte.

Sie konnte kaum zuhören, als der Kommissar ihr alles erzählte.

»Und die armen Eltern sind unterwegs und haben von nichts eine Ahnung.«

Da erklärte er ihr allerdings, dass man die Eltern erreicht hatte, dass sie sofort zurückkommen wollten und dass dann direkt jemand zu ihnen gehen würde.

So wie er das sagte, erkannte Inge, dass er nicht zum ersten Male in einer solchen Situation war, und sie wusste, dass sie seinen Job nie machen könnte.

»Und ist sie …, ist sie …«, Inge konnte das Wort kaum aussprechen, weil es so grauenvoll war, »ermordet«, er nahm es ihr ab, indem er sagte: »Noch kann man nicht sagen, ob es ein Unfall oder ein Tötungsdelikt war. Das wird die Obduktion zeigen.«

Das mit der Obduktion sagten sie in jedem Krimi im Fernsehen, im wahren Leben also ebenfalls. Sie wunderte sich, dass ihr jetzt etwas so Banales durch den Kopf ging. Das tat sie jetzt vermutlich zu ihrem eigenen Schutz, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie kannte das Mädchen nicht einmal persönlich, und den Erzählungen ihrer Tochter nach musste diese Rautgundis eine ziemliche Zicke gewesen sein. Es hatte immer wieder Zwischenfälle gegeben, und Pamela hatte sich aufgeregt. Das alles zählte jetzt überhaupt nicht. Angesichts des Todes trat alles andere in den Hintergrund, und Inge wollte sich nicht in die Lage der anderen Eltern hineinversetzen. Wenn ihr das passiert wäre …

Nein!

An so etwas wollte sie gar nicht erst denken, so etwas durfte nicht passieren, dann konnte man sie direkt in die Psychiatrie bringen. Keinem ihrer Kinder, ihrer Enkelkinder, durfte etwas zustoßen, auch denen nicht, die jetzt im fernen Brasilien lebten und zu denen sie keinen Kontakt mehr hatte, haben durfte.

Der Kriminalbeamte trank seinen Kaffee aus, bedankte sich bei Inge, sagte, dass er nun zu seiner Dienststelle müsse.

»Ich dachte nur, dass Sie das wissen sollten«, sagte er zum Abschied. »Ich bin überzeugt davon, dass Sie es Ihrer Tochter auf schonende Weise beibringen werden. Und sie erfährt es besser aus Ihrem Munde anstatt zufällig von irgendwem.«

Nur das nicht! Mit zufälligen Offenbarungen hatten sie ihre Erfahrungen gemacht, und das durfte niemals noch einmal passieren.

Inge bedankte sich bei ihm, brachte ihn bis zur Tür, und sie hatte noch nicht einmal seine Kaffeetasse weggeräumt, als Pamela hereingestürmt kam.

»Mama, du glaubst überhaupt nicht, was das mit dem Himbeereis ausgelöst hat, Omi und Opi haben sich ein Bein abgefreut, und sie haben das Eis sofort gegessen, und ich soll dir ausrichten, dass sie dafür immer zu haben sind.«

Dann wechselte sie das Thema. »Sag mal, war das eben dieser nette Polizist?«, erkundigte sie sich.

Der Kelch ging nicht an ihr vorüber!

Inge hatte gehofft, sich auf das Gespräch mit Pamela irgendwie vorbereiten zu können. Es ging nicht. Aber andererseits: Konnte man solche Gespräche überhaupt vorbereiten?

»Ja, das war Herr Fangmann«, bestätigte sie und bemühte sich, ihrer Stimme einen leichten Klang zu geben.

Aber Pamela ließ sich davon nicht ablenken.

»Und wollte man Rautgundis einen Streich spielen und hat deren Fahrrad zum See gebracht?«

Ach, wenn es doch bloß so wäre!

Wie sollte sie bloß beginnen?

Pamela dauerte das Schweigen ihrer Mutter zu lange.

»Hat man, Mama?« Pamelas Stimme klang beinahe ungehalten.

Es hatte keinen Sinn, es hinauszuzögern.

»Setz dich erst einmal, mein Kind«, forderte Inge ihre Tochter auf, und die folgte der Bitte ihrer Mutter mit recht gemischten Gefühlen.

Mein Kind, setzen, so etwas bekam sie in der Regel nur zu hören, wenn sie etwas Unangenehmes erfahren sollte.

Pamela hatte ganz weiche Knie und sie wünschte sich insgeheim von ganzem Herzen, dass nichts davon wahr sein würde, was ihr gerade durch den Kopf schoss.

Inge ließ sich Zeit, erzählte, dass man sich direkt auf die Suche gemacht hatte.

Pamela winkte ab.

»Mama, das weiß ich doch«, sagte Pamela voller Ungeduld. »Was ist los?«

Inge konnte es nicht länger hinauszögern, sie erzählte ihrer Tochter, was sie von Herrn Fangmann erfahren hatte und was ihr seither nicht mehr aus dem Kopf ging.

»Die Obduktion in der Gerichtsmedizin wird zeigen, ob es sich um einen Unfall oder«, sie zögerte, weil es ungeheuerlich war, es auszusprechen, »Mord handelt.«

So, nun war es heraus, und man hätte jetzt eine Stecknadel hören können, wenn die zu Boden fiel, so still war es zwischen Mutter und Tochter.

Aus dem Garten hörte man nur das spielerische Gebell von Luna und Sam, die an irgendetwas offensichtlich viel Spaß zu haben schienen.

Rautgundis war tot …

Das war etwas, was nur sehr schwer in ihren Kopf hinein wollte, denn der Tod war etwas so Endgültiges. Sie wollte sich nicht damit beschäftigen, wollte es nicht wahrhaben.

»Mama, wieso war sie überhaupt am See? Sie fand den Sonnenwinkel und alles, was dazugehört, spießig. Das hat sie mir mehr als nur einmal gesagt. Da geht man doch nicht an einen derartigen Ort. Und wieso war sie nicht bei ihrem Fahrrad?«

Inge erhob sich, ging zu ihrer Tochter, nahm sie behutsam in ihre Arme.

»Pamela, ich kann dir nichts dazu sagen, ich weiß ebenso wenig wie du, und deswegen sollten wir uns jetzt nicht in Mutmaßungen ergehen. Die Polizei wird alles herausfinden, und ich denke, Herr Fangmann wird mir auch das berichten. Bis dahin müssen wir warten.«

Es war still zwischen ihnen, Pamela krallte sich an ihrer Mutter fest.

»Das hat sie nicht verdient«, murmelte sie irgendwann.

Inge strich ihr über die wilden Locken.

»Ein solches Schicksal hat niemand verdient«, sagte Inge leise.

Sie konnte nicht mehr sagen, denn ganz offensichtlich hatten Luna und Sam von ihrem Spiel genug, sie kamen auf die Terrasse gerannt und begehrten bellend Einlass.

Inge konnte überhaupt nicht sagen, wie sehr sie das jetzt freute. Luna wurde von Pamela über alles geliebt, und sie hatte auch Sam sehr in ihr Herz geschlossen. Die beiden kamen jetzt wie gerufen.

Inge ließ ihre Tochter los, ging zur Terrassentür, öffnete die, Luna und Sam schossen herein, begrüßten zuerst sie, dann schenkten sie Pamela ihre ganze Liebe, indem sie sie schwanzwedelnd begrüßten, als hätten sie sie schon Ewigkeiten nicht mehr gesehen, leckten Pamela Hände und Füße.

Sie war abgelenkt, und Inge dankte insgeheim dem Himmel. Dafür hatten die Tiere eine kleine Belohnung verdient, später. Zuerst sollte Pamela sich mit ihnen beschäftigen. Und danach würde sie hoffentlich nicht wieder von dem tragischen Zwischenfall anfangen, der ihr so sehr zu Herzen ging. Wem nicht, man musste schon das Gemüt eines Fleischerhundes haben, wenn man von so etwas nicht berührt war. Ob ein Mensch sympathisch oder unsympathisch gewesen war, das zählte in solchen Augenblicken nicht.

Hoffentlich war es kein Mord, dachte Inge, als sie sich wieder auf ihren Platz setzte und ihren Kaffee trank. Der war zwar mittlerweile kalt geworden, doch das machte nichts.

Sie hoffte, Pamela würde sich nicht weiter mit diesem Thema beschäftigen. Doch was machte sie denn? Es ließ sie nicht los, vor allem musste sie fortwährend an die armen Eltern denken. Man konnte sich nicht ausmalen, das konnte niemand, wie denen wohl zumute war, wenn sie von dem Tod ihres Kindes erfuhren.

Pamela kniete mittlerweile zwischen den Hunden, und Luna und Sam waren außer sich vor Freude. Spürten sie, dass die Person, die sie so unendlich liebten, traurig war? Es musste wohl so sein, denn so liebevoll hatte Inge die beiden Labradore noch nie zuvor gesehen.

*

Es war ihr letzter Tag, und Roberta hatte es ja auch so gewollt, doch ein bisschen unbehaglich war ihr schon zumute. Nicki in der schlimmsten Zeit ihres Lebens an ihrer Seite zu haben, hatte ihr viel Kraft gegeben. Und es graute ihr vor den einsamen Abenden und den noch einsameren langen Nächten, in den sie ihren Gedanken ausgeliefert war, die sich nur um eines kreisten und das war Lars.

Natürlich ließ sich Roberta das nicht anmerken, denn sonst würde Nicki bleiben, ganz gleichgültig, ob sie dadurch noch mehr finanzielle Ausfälle hatte und keine Anschlussaufträge.

Sie hatten in Hohenborn beide viel Geld ausgegeben, und keine hatte die andere zurückgehalten. Geredet wurde vorher viel. Auf jeden Fall war Roberta für eine kurze Zeit abgelenkt gewesen, und das war es schon wert.

Und nun befanden sie sich auf dem Weg zum ›Seeblick‹, den sie zu Fuß zurücklegten, einmal, weil Bewegung immer gut war, außerdem wollten sie an ihrem letzten gemeinsamen Abend von dem köstlichen Wein trinken, den Julia in ihrem Restaurant kredenzte. Den Abend mit Mineralwasser oder alkoholfreiem Bier zu verbringen, wäre nicht gerade prickelnd.

Sie wunderten sich, dass auf dem großen Parkplatz alles besetzt war, obwohl es noch recht früh war und man normalerweise etwas später in ein Restaurant zum Essen ging.

Julias Befürchtungen, wegen des ihr verliehenen Sterns mit den Gästen Probleme zu bekommen, hatte sich also nicht bewahrheitet. Das Gegenteil war eingetreten, war man vorher gern in den ›Seeblick‹ gegangen, so war es jetzt geradezu ein Muss. Es freute Roberta ungemein, die ja hautnah mitbekommen hatte, wie die arme Julia anfangs um das Überleben zu kämpfen hatte.

»Na hoffentlich bekommen wir überhaupt einen Platz«, bemerkte Nicki, »guck dir an, wie viele Autos hier stehen, und ­eines ist beeindruckender als das andere. Die Schicki-Mickis scheinen den ›Seeblick‹ zu ihrem Lieblingsrestaurant auserkoren zu haben. Das ist kein gutes Zeichen.«

Das verstand Roberta nicht so ganz.

»Wie kommst du darauf? Sie haben halt mitbekommen, wie gut man hier essen kann und welch aufmerksame Wirtin Julia ist.«

Nicki seufzte.

Irgendwie bekam ihre Freundin wirklich nicht alles mit.

»Roberta, irgendwie sind die Schicki-Mickis wie Zugvögel, sie fliegen irgendwo ein, wenn ein anderes Restaurant eröffnet, ziehen sie weiter.«

Roberta atmete erleichtert auf.

»Ich glaube, das tangiert Julia nicht. Sie hat sich einen Kreis von Stammkunden aufgebaut, und ich bin überzeugt davon, dass die ihr die Treue halten werden.«

Sie hatten das Restaurant erreicht, es war wirklich bis auf den letzten Platz besetzt.

Obwohl Julia viel zu tun hatte, sowohl im Service als auch in der Küche gebraucht wurde, ließ sie es sich nicht nehmen, die beiden Frauen zu begrüßen.

»Wir hätten wohl vorher anrufen sollen«, bemerkte Nicki nach der Begrüßung und nachdem sie sich im Restaurant umgesehen hatte. »Wird wohl nichts mit einem Abend im ›Seeblick‹.

Das sah Julia nicht so.

»Du glaubst ja wohl nicht, dass ich euch wieder gehen lasse, ihr bleibt, und wenn ich euch in meinem eigenen Wohnzimmer oben platzieren müsste. Aber da hinten der Fensterplatz wird gleich frei, die Herrschaften haben bereits bezahlt, und ansonsten könnt ihr euch an den Katzentisch neben der Theke setzen, der normalerweise für mich und das Personal frei ist.«

Sie blickte Roberta an.

»Du kennst das ja schon, hast bereits bei meinem Vorgänger an diesem Tisch gesessen.«

Sie mussten nicht weiter darüber diskutieren, denn am Fenstertisch die beiden Herrschaften standen tatsächlich auf und machten sich bereit zu gehen.

Wenn sich bloß alle Probleme so leicht lösen ließen!

Nicki hatte Angst, jemand könne ihnen zuvorkommen, deswegen ging sie direkt auf den Tisch zu und machte eine launige Bekehrung: »Das ist aber nett, dass Sie den Tisch für uns frei machen.«

Die Frau machte ein leicht pikiertes Gesicht, doch der Mann ging auf Nickis scherzhaften Ton ein: »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, wären wir noch nicht gegangen, sondern hätten gern Ihre Gegenwart genossen.«

Nicki lachte den Mann an, sagte jedoch nichts, um nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen. Die Frau warf ihr einen bitterbösen Blick zu, ehe sie ihren Mann anzischte: »Hubert, wir gehen.«

Hubert warf Nicki einen bedauernden Blick zu, dann folgte er seiner Frau, die sich vergebens gesorgt hatte. An Hubert wäre Nicki niemals interessiert gewesen, auch nicht, wenn er der einzige Mann der ganzen Welt wäre.

Wie auch immer, um die beiden musste Nicki sich wirklich keine Gedanken machen, sie hatten nicht nur einen Tisch, sondern einen sehr schönen dazu, von dem aus man einen großen Teil des Restaurants überblicken konnte. Und so entging Nicki auch nicht, dass einer der Männer eines in der Nähe stehenden Tisches sie keck anflirtete.

Er hatte Pech, er passte nicht in ihr Beuteschema, und selbst wenn, wäre sie nicht darauf eingegangen, der Abend gehörte Roberta, nicht einmal ein gekröntes Haupt hätte heute eine Chance bei ihr, wobei das kein so guter Vergleich war, denn mit dem Adel hatte Nicki es nicht so.

Endlich kam Roberta, und sie saß noch nicht einmal richtig, als ein Gruß aus der Küche zu ihnen gebracht wurde, natürlich serviert mit Champagner.

Voller Wohlgefallen bemerkte Nicki aus einem Seitenwinkel, dass der Mann, der sie gerade noch angeflirtet hatte, ein wenig irritiert war und sich jetzt vermutlich den Kopf darüber zermartert, welche VIPs sie wohl waren.

Doch danach interessierte sie nicht mehr, was ringsum geschah. Sie und Roberta unterhielten sich angeregt, sie hatten sich immer etwas zu sagen.

Julia nahm sich zwischendurch Zeit, zu ihnen an den Tisch zu kommen, sich mit ihnen zu unterhalten. Sie ließ sich nichts anmerken, doch Nicki fragte sich insgeheim, ob sie den Verlust ihrer Liebe Daniel bereits weggesteckt hatte. Nicki konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie glühend sie Julia beneidet hatte, ihren Mr Right gefunden zu haben. Alles hatte sich so traumhaft angehört, vielleicht zu traumhaft. Für das wahre Leben brauchte man einen Partner auf Augenhöhe, mit dem man reden, mit dem man lachen konnte. So wie es bei Roberta und Lars gewesen war.

Es war eine große Liebe, verweht vom Wind …

Nein!

Daran wollte sie augenblicklich nicht denken, auch nichts mehr erwähnen. Roberta hatte gerade ein Lächeln gezeigt, das war immerhin ein kleiner Lichtblick.

»Ich glaube, meinem guten Jens würde es hier auch gefallen«, bemerkte Nicki, die nicht wusste, warum sie das jetzt erwähnt hatte, es war ihr irgendwie in den Sinn gekommen. Und wenn sie geahnt hätte, wie ihre Freundin darauf reagierte, hätte sie es gewiss gelassen.

»Bring ihn doch einfach mal mit«, sagte Roberta, und Nicki verdrehte die Augen.

»Roberta, Jens ist mein Nachbar.«

»Er ist auch ein Freund, schon vergessen?«

Nicki trank etwas von dem wirklich köstlichen Rotwein, dann sagte sie: »Roberta, er hat seine Liebschaften, ich habe meine. Gut, vielleicht redet man normalerweise nicht darüber, dass wir es tun, liegt einzig und allein an unserer wirklich guten Nachbarschaft. Es käme mir niemals in den Sinn, Jens mit in den Sonnenwinkel zu bringen und in den ›Seeblick‹. Er weiß vieles von mir, über mich, alles muss er nicht wissen.«

Julia kam zu ihnen an den Tisch und sagte vergnügt: »Die Männer von dem Tisch dort drüben würden euch sehr gern kennenlernen, und sie zermartern sich gerade den Kopf, wo sie euch schon mal gesehen haben. Doch den Zahn habe ich ihnen direkt gezogen, indem ich ihnen sagte, die Privatsphäre meiner Gäste sei mir heilig. Sie halten euch also für wichtig.«

»Na klar«, fiel Nicki in das Lachen mit ein, »wir genießen bei dir ja auch eine besondere Behandlung, bekommen Köstlichkeiten serviert, kaum dass wir sitzen, dazu Champagner, und du kommst ebenfalls häufig an unseren Tisch, das weckt nicht nur Begehrlichkeiten, sondern macht auch neugierig.«

»Ich würde niemals etwas von meinen Gästen preisgeben«, sagte Julia, »außerdem, was soll es denn, von dir Nicki, weiß ich, dass du von selbst einen Kontakt hergestellt hättest, wärest du an einem der Männer interessiert, und du, Roberta, du hast deinen Lars, der sich hoffentlich bald wieder darauf besinnt, welchen Schatz er hier hat.«

Das hätte jetzt nicht passieren dürfen. Doch Julia hatte ja auch überhaupt keine Ahnung. Ihr konnte man keinen Vorwurf machen.

Robertas mühsam aufgebaute Fassade fiel in sich zusammen.

»Habe ich etwas Verkehrtes gesagt?«, wollte Julia wissen. »Es war doch nur eine vorü­bergehende Trennungszeit zwischen euch vereinbart, eine Auszeit. Die muss doch jetzt vorüber sein. Hat er …, ich meine …, hat er dich verärgert …, oder hat er … gar Schluss gemacht?«

Natürlich war Julia die mit Roberta vorgegangene Veränderung nicht unbemerkt geblieben.

Roberta war nicht in der Lage, etwas zu sagen, sie rang mühsam nach Fassung, Nicki übernahm das: »Nein, er hat nicht Schluss gemacht, da gibt es schon etwas, doch ich glaube, es ist nicht der rechte Augenblick, dir das jetzt zu erzählen, Julia.«

»Aber ich …«

Roberta unterbrach sie.

»Julia, du hast nichts falsch gemacht. Ich bin derzeit nicht gut drauf, und Nicki hat recht, es gibt etwas zu erzählen, doch nicht jetzt und hier. Du wirst es erfahren, ja? Wenn es dir nichts ausmacht, dann würde ich jetzt gern gehen. Es ist spät, und Nicki reist morgen früh wieder ab.«

Julia wurde an einen anderen Tisch gerufen, entschuldigte sich.

»Dumm gelaufen«, meinte Nicki ein wenig traurig, doch Roberta schüttelte den Kopf.

»Nein, Nicki, ich muss lernen, damit umzugehen und darf nicht zusammenbrechen, wenn man bloß Lars’ Namen erwähnt. Ich kann jetzt wirklich nicht länger bleiben. Es tut mir leid für dich.«

Nicki beruhigte ihre Freundin sofort.

»Muss es nicht, Roberta. Wir haben köstlich gegessen und getrunken, uns unterhalten. Und es ist wirklich schon ziemlich spät. Außerdem habe ich keine Lust, von einem dieser Typen wirklich noch angemacht zu werden. Manche Männer sind so von sich eingenommen, dass sie nicht begreifen, dass man nichts von ihnen will.«

Julia kam zurück zu ihnen, entschuldigte sich noch einmal. Roberta wollte bezahlen, doch damit war Julia nicht einverstanden.

»Ihr wart nicht hier, als es die kleine Feier anlässlich der Sternverleihung gab, ihr seid von mir herzlich eingeladen.«

Roberta wollte sich zieren, doch Nicki bedankte sich, sie war sich sicher, dass jetzt ein Herumgeeiere Julia beleidigt hätte.

Sie verabschiedeten sich voneinander, verließen das Lokal, begleitet von Julia und den Blicken der Männer.

Julia erwähnte das Thema nicht mehr, doch das taten Roberta und Nicki auch nicht. Sie waren ziemlich schweigsam, doch es war kein unangenehmes Schweigen, sie kannten sich sehr gut, und so etwas kam öfters vor.

Roberta wurde bewusst, wie instabil sie war, dass sie die Fassung verlor, wenn sie an Lars nur dachte. Sie bedauerte, dass Solveig abgereist war, doch sie würden in Verbindung bleiben, und sollte sich eine Neuigkeit ergeben, würde Roberta sie sofort erfahren.

Nicki dachte an ihre Heimfahrt, und sie wunderte sich, dass ihr dabei auch ihr Nachbar Jens in den Sinn kam. Wenn sie ehrlich war, dann freute sie sich, ihn zu sehen, und das mehr noch als Pete zu treffen.

Das mit Lars hatte sie mehr mitgenommen als gedacht, es lastete auf ihr, und Nicki wusste nicht, ob sie wieder zu der unbeschwerten Leichtigkeit zurückfinden würde, die sie mit Pete verband.

Sie erreichten eine Stelle des Sees, an der das Ufer nicht mit Gestrüpp und Bäumen bewachsen war. Ohne sich miteinander abgesprochen zu haben, blieben die beiden Frauen stehen, um das sich ihnen bietende Bild zu genießen.

Das Wasser des Sees zeigte sich in allen Grünschattierungen bis hin zu tiefem Schwarz, und ein halb von den Wolken versteckter Mond spiegelte sich in dem sich kräuselnden Wasser, weiß und kalt. Es war eine Szenerie, die unwillkürlich an ein Gemälde von Caspar David Friedrich erinnerte, es war faszinierend, unwirklich und ein wenig bedrohlich zugleich. Man hörte nur das Wasser, wenn es in beinahe monotoner Gleichmäßigkeit am Ufer anschlug, ansonsten war es still.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sich wieder in Bewegung setzten. War es der bewegende Augenblick von eben, oder wäre es ohnehin fällig geworden, auf jeden Fall ergriff Roberta das Wort, sie fasste nach Nickis Hand, hielt sie fest.

»Nicki, ich werde dir auf ewig dankbar sein für das, was du wieder für mich getan hast. Das hat mir geholfen. Es ist sehr tröstlich zu wissen, dass du da bist, wenn man dich braucht.«

Nicki wurde ganz verlegen, doch das konnte zum Glück jetzt niemand sehen.

»Dafür sind Freundinnen da«, murmelte sie.

Damit war Roberta nicht einverstanden.

»Nein, Nicki, es ist mehr, uns verbindet wirklich etwas ganz Besonderes. Warum soll es tiefe, seelische Verbindungen eigentlich zwischen Männern und Frauen geben? Für mich bist du mein Seelenmensch, meine allerbeste Freundin. Nicki, ich bin unendlich froh, dass es dich gibt.«

Jetzt eine dumme Bemerkung zu machen, das wäre fatal, doch etwas sagen musste Nicki. »Danke, Roberta, es ist schön, dass du es so siehst, mir geht es nicht anders. Wenn man miteinander so eng befreundet ist wie wir, dann gibt es ein ständiges Geben und Nehmen, und da rechnet man auch nicht auf. Ich mag überhaupt nicht daran denken, wie oft du mich aufgerichtet, mir Trost gespendet hast, für mich da warst.«

Das traf zu, gewiss.

»Nicki, das kann man nicht vergleichen. Wenn bei mir etwas passiert, dann knallt es voll rein, die Scheidung von Max und jetzt das mit Lars, und auch als das mit Kay passierte, warst du für mich da. Ich habe dich auf jeden Fall intensiver in Anspruch genommen, doch das müssen wir jetzt nicht aufrechnen, weil unsere Freundschaft sehr viel mehr ausmacht, als sich gegenseitig zu trösten.«

Nicki nickte, wusste nicht, ob Roberta das jetzt mitbekommen hatte, musste sie nicht, weil sie sich ohne Worte verstanden. Und weil das so war, legten sie den Rest des Weges bis zum Doktorhaus schweigend zurück, gingen ihren Gedanken nach, die in sehr unterschiedliche Richtung gingen. Auch das war in Ordnung, schließlich waren sie unterschiedlich, wie man unterschiedlicher nicht sein konnte.

*

Den wöchentlichen Bauernmarkt im Sonnenwinkel besuchte jeder gern, sei es, um Waren von hoher Qualität einzukaufen oder einfach, um ein Schwätzchen zu halten. Zu den Schwätzchen-Halterinnen gehörten Inge Auerbach und deren Mutter Teresa von Roth nicht, doch sie liebten den Bauernmarkt, kauften dort gern ein.

Heute hatte es sich so ergeben, dass sie zufällig gemeinsam unterwegs waren. Teresa wollte sich auf jeden Fall einen bunten Blumenstrauß kaufen, Inge brauchte Obst, und dann wollte sie sich inspirieren lassen. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die wöchentliche Einkaufs- und Kochpläne aufstellten, sondern entschied sich gern spontan.

Da beide Damen im Sonnenwinkel bekannt waren, ließ es sich nicht vermeiden, hier und da ein paar Worte zu wechseln oder wenigstens zu grüßen.

Die größte Klatschtante der Siedlung war verstummt, nachdem sie Falschinformationen mit fatalen Folgen verbreitet hatte. Doch es gab immer wieder Frauen, die es einfach nicht lassen konnten, sich über alles und jeden auszulassen.

Neuestes Gesprächsthema im Sonnenwinkel war natürlich der Tod des Mädchens. Da Rautgundis nicht hier wohnte und man keine genauen Informationen bekam, brodelte natürlich die Gerüchteküche.

Weil Inge unbedingt ein paar Süßkartoffeln kaufen wollte, blieb es nicht aus, dass sie stehen blieben, und während Inge kaufte, bekam Teresa ungewollt mit, worüber die in der Nähe stehenden Frauen schwatzten. Sie beschloss, es einfach zu ignorieren, doch dann ging es einfach nicht mehr.

Inge wollte zwar weitergehen, doch Teresa rief: »Warte einen Moment, ich muss da etwas richtigstellen.«

Was redete ihre Mutter da?

Dann sah sie, wie die energisch auf die Frauen zuging, sich einfach in deren Gespräch einmischte.

»Was reden Sie da eigentlich für einen Unsinn? Es ist nicht einmal sicher, dass es ein Kapitalverbrechen ist oder ob es sich um einen tragischen Unfall handelt. Die Obduktionsergebnisse sind nicht bekannt. Und Sie wollen den Leuten von Herrn van Beveren einen Mord anlasten. Unabhängig davon, dass so etwas Rufmord ist und gerichtlich geahndet werden kann, ist es absoluter Unsinn. Denken Sie doch mal nach, die Männer sind auf der Baustelle von früh bis spät beschäftigt, leisten schwere körperliche Arbeit. Und dann fährt vermutlich in seiner Pause, wann sonst, jemand nach Hohenborn, gabelt dort eine Schülerin auf, lockt sie an den Sternsee, um sie zu ermorden. Merken Sie eigentlich nicht, was für einen bodenlosen Unsinn Sie da verzapfen?«

Inge glaubte, im Erdboden zu versinken, die Frauen waren auf einen Schlag verstummt, starrten die feine adelige Dame an.

»Sie finden doch ebenfalls nicht richtig, was da oben passiert«, wandte eine der Frauen ein.

Teresa nickte.

»Es ist richtig, ich war ursprünglich dagegen, habe Unterschriften gesammelt. Mittlerweile habe ich meine Meinung geändert, nichts lässt sich aufhalten, und es werden ja tatsächlich Arbeitsplätze für die Region geschaffen, und es werden Materialien aus der Region verbaut. Doch selbst wenn ich meine Meinung nicht geändert hätte, wäre ich jetzt eingeschritten. Sie wissen, dass es für eine Dame aus der Siedlung bereits unangenehme Folgen hatte, Unwahrheiten zu verbreiten. Haben Sie daraus nichts gelernt? Hören Sie auf, unschuldige Menschen zu beschuldigen, Lügen zu verbreiten. Wenn Sie viel Zeit haben, mit der Sie nichts anfangen können, fahren Sie nach Hohenborn, gehen Sie ins Tierheim, dort werden händeringend freiwillige Helferinnen gesucht.«

Sie blickte sie nacheinander an, und auf Inge wirkte ihre Mutter derzeit wie eine Rachegöttin, die mit einem flammenden Schwert auf die Erde gekommen war.

»Sollten mir noch einmal solche haltlosen Lügen zu Ohren kommen, dann zeige ich Sie wegen Verbreitung von Unwahrheiten an, das schwöre ich Ihnen.« Sie nickte ihnen zu. »Guten Tag, meine Damen.«

Dann wandte sie sich ihrer Tochter zu, die Frauen stoben auseinander.

»Mama, was war das denn?«

»Ich sagte doch, dass ich etwas richtigstellen musste«, bemerkte Teresa. Sie sah Inges Blick. »Inge, jetzt keine Maßregelungen, ich bin kein Kind, bin nicht senil und weiß recht gut, was ich tue. Ich hasse es wie die Pest, wenn schwatzsüchtige Frauen Unwahrheiten erfinden, weil sie sonst nichts zu sagen haben.«

»Mama, hat das jetzt etwas mit deiner neu entdeckten Sympathie für Piet van Beveren zu tun? Du kannst nicht haben, wenn jemand negativ über das Projekt da oben spricht.«

Teresa richtete sich in voller Größe auf, ihr Gesicht bekam einen leicht arroganten Ausdruck.

»Ich kann nicht haben, wenn jemand dummes Zeug redet, und wenn es dann noch um das Schicksal eines toten jungen Mädchens geht, dann hört es bei mir ganz auf. So etwas schlachtet man nicht auf so hässliche Weise aus.«

Ihre Mutter hatte ja recht. Hätte sie das nicht in einem anderen Tonfall sagen können? Sie war eine großartige Frau, und Inge hätte auch überhaupt keine andere Mutter haben wollen.

Doch manchmal kehrte sie die adelige Gutsbesitzerstochter heraus, dabei lag das gefühlte Ewigkeiten zurück. Alles hatte sich verändert, die Vergangenheit war tot, und sie konnten froh sein, eine so erfüllende Gegenwart zu haben.

»Gehen wir jetzt zu dem Obstbauern?«, wollte Inge wissen, »oder möchtest du zuerst zum Blumenhändler?«

»Mir ist die Lust vergangen«, bestimmte Teresa, »ich klinke mich aus und statte Sophia einen kleinen Besuch ab. Kauf mal in Ruhe deine Sachen ein, und geh nicht immer den Weg des geringsten Widerstandes, mein Kind. Was gesagt werden muss, muss gesagt werden, da macht man kein Läppchen drum.«

Nach diesen Worten ließ sie Inge einfach stehen, und die blickte ihrer Mutter ein wenig bedröppelt nach. Es stimmte ja, diese Frauen hätten einen solchen Unfug nicht erzählen dürfen.

Doch Inge war da anders als ihre Mutter, sie hätte sich nicht eingemischt, sie hätte es einfach ignoriert.

Menschen waren halt verschieden, und das war gut so. Sie ging zum Obstbauern, der sich freute, eine gute Kundin, die regelmäßig zu ihm kam, zu sehen.

»Heute habe ich besonders leckere Heidelbeeren und Himbeeren im Angebot, Frau Auerbach, und wenn man den Ernährungswissenschaftlern Glauben schenken darf, sollen Beeren ja besonderes gut sein für das ­Immunsystem, für den Blutdruck, für die Cholesterinwerte, für …«

»Hören Sie auf«, lachte Inge, »bei solchen Worten verliert man die Lust. Ich möchte einfach nur Obst kaufen und keine medizinischen Allheilmittel. Aber ich werde sowohl Himbeeren als auch Heidelbeeren mögen, die wir gern essen.«

Während der Mann die gewünschten Artikel für Inge bereitstellte, sah die sich um. Alles war appetitlich angerichtet, sah lecker aus. Da fiel es schwer, sich zu entscheiden, und Inge musste sehr an sich halten, jetzt nicht mehr zu kaufen als sie benötigte. Eines stand für sie allerdings fest, sie würde für ihre Mutter einen wunderschönen Blumenstrauß kaufen. Deswegen war die ja auf den Markt gekommen. Und eines stand fest: Inge liebte ihre Mutter über alles, und daran würde sich auch niemals etwas ändern. Sie hatte ihren Eltern vieles zu verdanken, und ganz vornan standen eine glückliche Kindheit und eine unbeschwerte Zeit der Jugend. Ihren Eltern hatte sie zu verdanken, dass sie so war wie sie war, und dass sie all die guten Eigenschaften auch an ihre Kinder weitergegeben hatte, die zu wundervollen Menschen geworden waren.

»Eine von den Honigmelonen nehme ich auch noch«, sagte sie, denn Melone mit Schinken mochten sie alle.

Da sie reichlich eingekauft hatte, bezahlte sie und bat den Händler, für sie die Sachen zur Seite zu stellen. Die Blumen für ihre Mutter mussten auf jeden Fall sein. Sie kannte ihre Mutter, die würde sich schwarz ärgern, weil sie davongestürmt war, ohne Blumen zu erwerben.

*

Teresa ärgerte sich noch immer über die schwatzsüchtigen Frauen, und deswegen kam sie auch ziemlich aufgebracht beim Haus der Damen von Bergen an, klingelte Sturm.

Sophia öffnete, und ihre erste Frage war: »Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen, meine Liebe?«

Es sprudelte aus Teresa nur so heraus, und als sie zu Ende war, bemerkte Sophia: »Komm erst mal ins Haus, es ist schön, dass du mich besuchst. Und es freut mich, dass ich das dem Umstand zu verdanken habe, weil du dich über ein paar Klatschbasen geärgert hast.«

Teresa musste lachen.

»Du hast recht, Sophia, es ist die Sache nicht wert. Aber einen Kaffee, den würde ich schon ganz gern trinken, weil es sich dabei besser plaudern lässt.«

Sie gingen gemeinsam ins Haus, und Teresa konnte sich nur immer wieder wundern, wie gut es Sophia mittlerweile ging. Von den Folgen des schrecklichen Unfalls war kaum noch etwas zu spüren. Sophia hatte hervorragende ärztliche und therapeutische Hilfe gehabt, doch einen Großteil ihrer Genesung hatte sie den Selbstheilungskräften zu verdanken, die sie direkt mobilisiert hatte.

Als sie sich gemütlich hingesetzt hatten, bemerkte Sophia: »Ehe du dich erkundigst, Angela ist nicht daheim. Sie hat ein Gespräch mit ihrem Verleger und wird, wenn überhaupt, erst heute sehr spät nach Hause kommen. Es kann aber auch durchaus sein, dass sie übernachten wird. Wobei ich allerdings nicht weiß, ob es wegen des Verlegers geschieht, mit dem noch etwas zu besprechen ist oder ob es ein Treffen mit Berthold von Ahnefeld geben wird.«

Teresa musste erst etwas richtigstellen, denn als sie hergekommen war, hatte sie wirklich nicht an Angela und Berthold gedacht, obschon sie das natürlich sehr interessierte. Schließlich war sie es gewesen, die bereits im Vorfeld gewusst hatte, wie wunderbar die beiden zusammenpassten.

»Sophia, ich bin deinetwegen gekommen, weil ich weiß, wie gut du jemanden immer wieder herunterholen kannst, und ich war in meinem Zorn ganz weit oben.«

Sophia von Bergen blickte ihre Freundin Teresa lächelnd an.

»Du bist halt temperamentvoll, und eines ist auf jeden Fall gewiss, du kannst leicht aufbrausen, aber ungerecht oder nachtragend bist du nicht. Du bist ein verlässlicher wunderbarer Mensch, und ich danke dem Himmel immer wieder, der uns in den Sonnenwinkel geführt hat. Es musste wohl so sein, dass wir dich, Magnus und deine Familie hier treffen würden, wussten wir beim Kauf des Hauses nicht. Es war wirklich eine richtig gute Fügung des Schicksals. Ja, ja, das Schicksal, es kann sehr launisch sein, man weiß nie, wann es zuschlägt. Eines weiß ich mittlerweile, man darf sich von ihm nicht unterkriegen lassen, sonst ist man verloren.«

Dem konnte Teresa nur beipflichten, doch jetzt interessierte sie schon, was Sophia da so ganz nebenbei bemerkt hatte.

»Sophia, wie kommst du darauf, Angela könnte Berthold treffen?«, erkundigte sie sich leichthin.

Die beiden Frauen waren sehr vertraut miteinander, konnten offen reden.

»Sie sind halt in Verbindung, irgendwie jeden Tag in Kontakt, und ich entnahm es einer Bemerkung. Weißt du, Teresa, ich hätte Angela nicht sagen sollen, dass ich Berthold von Ahnefeld zwar sehr schätze, dass mir für sie aber ein Mann ohne Altlasten lieber wäre. Sie weiß offensichtlich jetzt nicht, wo sie dran ist, und das hat sie vorsichtig gemacht.«

Teresa winkte ab.

»Sophia, ich glaube, da redest du dir etwas ein. Mit den beiden gibt es ja noch nicht so viel zu sagen. Sie waren nicht darauf vorbereitet, Gefühle füreinander zu entwickeln. Ich weiß nur, dass Berthold dabei ist, sein Leben in Ordnung zu bringen, und das finde ich sehr anständig. Ich bin mir sicher, dass er sich mit deiner Angela einen Neuanfang wünscht, frei von Altlasten, wie du seine Vergangenheit nennst. Niemand kann in die Zukunft blickten, doch ich bin mir sicher, dass Berthold alles tun wird, deine Angela glücklich zu machen. Sie sind wundervolle Menschen, die es verdient haben, nach vorne blicken zu dürfen, ein Stückchen vom Glück für sich in Anspruch nehmen zu dürfen. Sie sind beide sehr ernsthafte Menschen, ich finde es sehr vernünftig, dass sie es langsam angehen lassen möchten.« Sie warf Sophia einen nachdenklichen Blick zu. »Es ist ja durchaus vorstellbar, dass sie irgendwann ein gemeinsames Leben starten möchten …, äh …, ohne dich. Ich glaube nämlich nicht, dass man einen Neubeginn startet mit der Mutter im Gepäck. Du wärest dann wieder allein.«

Das machte Sophia überhaupt nichts aus.

»Teresa, ich bitte dich, Angela war verheiratet, sie und ihr Mann lebten nicht einmal in meiner Nähe. Ich kam sehr gut zurecht. Jetzt hat sich meine Situation im Gegensatz zu früher sehr verbessert. Ich habe euch, Frau Dr. Fischer vom Tierheim bindet mich in ihre Projekte mit ein, Rosmarie Rückert tut das ebenfalls, und sollte mir irgendwann mal die Decke auf den Kopf fallen, kann ich in den ›Seeblick‹ gehen, der ist für mich mittlerweile beinahe so etwas wie ein zweites Wohnzimmer geworden. Nein, nein, um mich muss man sich keine Sorgen machen. Ich kann übrigens auch gut allein sein, das nur ganz nebenbei bemerkt.« Ihre Stimme wurde leiser. »Mein größter Wunsch ist, dass meine Angela glücklich wird. Sie hat es so sehr verdient.«

Teresa nickte bestätigend.

»Ja, das hat sie wirklich, doch bei Berthold ist sie an den Richtigen geraten.«

»Ja, davon bin ich auch überzeugt. Doch manchmal mache ich mir schon meine Gedanken. Es waren keine guten Umstände, die die beiden zusammenbrachten. Hätte es diesen schrecklichen Unfall mit dem kleinen Flugzeug nicht gegeben, der seiner Frau und seinen Kinder das Leben gekostet hat, dann wären er und meine Angela niemals ein Paar geworden.«

»Sophia, hör jetzt bitte auf um die Ecke zu denken. Das Schicksal geht manchmal seltsame Wege, und es hat dafür gesorgt, dass Angela und Berthold sich finden. Das muss uns reichen.«

Sie unterhielten sich noch ein wenig über das Thema, das ihnen beiden am Herzen lag, dann stellte Sophia eine Frage, die ihr am Herzen lag.

»Teresa, ich weiß, dass du nicht darüber reden möchtest. Aber ich muss immer an das Mädchen vom See denken. Für die armen Eltern muss es schrecklich sein, mit einer so grauenvollen Wahrheit konfrontiert zu werden. Und müssen die sich nicht immerfort die Frage stellen, dass man das hätte verhindern können?«

»Du meinst, weil die Eltern nicht einmal daheim waren? Was hätte das denn geändert? Sie hätten ihre Tochter auch nicht festgebunden. Unsere Pamela ist auch manchmal unterwegs und sagt niemandem, wohin sie geht, ob und mit wem, was sie tut. Auf der Schwelle zum Erwachsensein wagt man immer mehr eigene Schritte in die Selbstständigkeit. Warum sie ausgerechnet an unseren See gekommen ist, da den Tod gefunden hat, ich denke, das wird die Polizei herausfinden, ebenso, ob es ein Unfall war oder …«, sie zögerte, wollte das Wort Mord nicht aussprechen, sondern sagte »eine kriminelle Straftat.«

Ihr Blick verlor sich ins Leere, ehe sie leise fortfuhr: »Die Details dienen der Aufklärung, entscheidend ist doch, dass das arme Ding mitten aus dem Leben gerissen wurde. Da spielen die Hintergründe wirklich nicht die entscheidende Rolle, Fakt ist, dass sie tot ist. Und das wünscht man unter solchen schrecklichen Umständen niemandem. Unsere Pamela ist fix und fertig, sie hat ja das Fahrrad gefunden. Und ich danke dem Himmel, dass sie nicht auch das Mädchen entdeckt hat. Ein solches Bild wird man niemals los in seinem Leben.«

Das bestätigte Sophia.

Teresas Handy klingelte, es war ihr Magnus, der sich erkundigte, wo sie blieb, sie habe doch bloß ein paar Blumen kaufen wollen.

»Das habe ich nicht getan, mein Schatz. Und vielleicht ist es ja auch gut so. Sind nicht die Männer dafür zuständig, ihren Frauen Blumen zu kaufen? Betrachte das jetzt bitte nicht als Aufforderung, mein Liebster. Deine Versuche, mich mit Blumen zu beglücken waren bislang nicht erfolgreich. Nein, ich bin bei Sophia, wir haben gemütlich Kaffee miteinander getrunken. Doch ich komme gleich heim.«

Er sagte etwas, sie lachte, dann beendete sie das Telefonat.

»Ich soll dich von Magnus grüßen«, sagte sie. Dafür bedankte Sophia sich, es freute sie, denn sie mochte Magnus von Roth sehr gern. Er und seine Teresa waren ein beeindruckendes Paar, und das in jeder Hinsicht.

»Dann lass deinen Schatz nicht warten, Teresa, ich möchte nicht, dass du Ärger bekommst.«

Teresa umarmte ihre Freundin.

»Da musst du dir überhaupt keine Sorgen machen, den bekomme ich mit meinem Magnus nur äußerst selten. Und wenn, dann gewiss nicht, weil ich eine Freundin besucht und mit der ein wenig Zeit vertrödelt habe.«

Teresa und Magnus von Roth waren ein bemerkenswertes Paar, und es machte Sophia manchmal ein wenig traurig, dass sie ihren Ehemann viel zu früh verloren hatte. Auch er war einer von den Guten gewesen. Aber so war es nun mal, das Leben, man wusste nie, wann man dran war. Eines stand für sie auf jeden Fall fest, meistens traf es die Verkehrten.

Sie begleitete Teresa zur Tür, sie verabschiedeten sich herzlich, und Sophia blickte ihrer Freundin lange nach, wie sie hoch aufgerichtet und stolz mit zügigem Tempo die Straße entlanglief.

Es war schön, jemanden wie Teresa als Freundin zu haben.

*

Im Hause Auerbach war es allgemein üblich, dass man zu ihnen unangemeldet kam, ob nun Familie oder Freunde. Das hatte sich ein wenig verändert. Hannes hatte damit angefangen, sein Kommen nach seiner Rückkehr vom Jakobsweg anzukündigen, Jörg war seinem Beispiel gefolgt, hatte ihnen mitgeteilt, dass er mit seiner Charlotte, die es zum Glück ja wieder war, kurz vorbeikommen und die Familie sehen wollte. Nur bei Ricky hatte sich nichts verändert, die kam, wenn sie mal in ihrem Zeitplan eine Lücke hatte. Und das würde vermutlich auch so bleiben; wenn man einen Mann und so viele wundervolle Kinder hatte, konnte man über seine Zeit nicht so einfach verfügen.

Inge war immer glücklich, eines von ihren Kindern zu sehen, und sie war froh, wenigstens ihr Nesthäkchen Pamela noch im Hause zu haben, sonst wäre es sehr einsam in der wunderschönen Auerbach-Villa geworden.

Inge war sich nicht sicher, was ihr lieber war, das Hereinbrechen nach Art von Heuschrecken oder sich anzumelden. Jedes Ding hatte zwei Seiten. Kamen die Kinder unverhofft, jammerte sie, weil sie sich nicht mit Lieblingsgerichten, mit kleinen Überraschungen auf den Besuch vorbereiten konnte. War es anders, saß sie wie auf heißen Kohlen, weil die Zeit des Wartens sehr schlimm war und überhaupt nicht vergehen wollte.

Nun also warteten sie auf Jörg und Charlotte, und wieder hatte Inge das Gefühl, die Zeiger der Uhr bewegten sich heute besonders langsam, was natürlich Unsinn war.

Ihre Eltern waren da, Pamela, und selbst Werner hatte einen Termin abgesagt, um bei dem Treffen anwesend zu sein. Das war nicht immer so gewesen, sein Beruf hatte immer an erster Stelle gestanden, und dem hatte er, als Stella noch an Jörgs Seite gewesen war, stets den Vorrang gegeben. Das war jetzt ganz anders. Vielleicht tat sie ihm ja Unrecht, doch Inge glaubte zu wissen, was der Grund war. Die toughe Handchirurgin erfüllte alle Erwartungen ihres Ehemannes. Charlotte war dynamisch, erfolgreich, zudem sah sie sehr gut aus mit ihren kurzen braunen Haaren, den klugen grauen Augen, dem schmalen Gesicht, der schlanken sportlichen Figur. Doch das Aussehen war es nicht, was für Werner wichtig war. Wäre das so, dann hätte er ihr vermutlich bereits ein paar Andeutungen wegen ihres Hüftgoldes gemacht, das leider nicht mehr zu übersehen war. Nein, es war die akademische Laufbahn, die ihren Ehemann für Charlotte einnahm.

Selbst Luna und Sam spürten, dass da etwas im Gange war, sie wollten nicht in den Garten, sondern saßen brav wartend auf ihren Kissen.

Vielleicht war es ein wenig töricht von ihr gewesen, den Kaffeetisch schon mal zu decken und darauf zu bestehen, Jörgs Lieblingskuchen, den sie natürlich sofort gebacken hatte, erst anzuschneiden, wenn er und Charlotte gekommen waren.

So saßen sie vor ihren ungefüllten Kaffeetassen und starrten mit Pfützchen im Mund auf den köstlichen Kuchen.

Teresa wollte ihre Tochter gerade bitten, sie wenigstens schon mal Kaffee trinken zu lassen, als es an der Haustür Sturm klingelte.

Luna und Sam sprangen wie elektrisiert auf, schossen durch das Zimmer, bellten draußen in der Diele. Das taten sie immer, wenn jemand kam, und zunächst klang das auch ziemlich furchterregend. Labradore waren allerdings ausgesprochen liebenswerte Hunde, die nach dem ersten Gebell auch einen Einbrecher freudig begrüßen würden.

Von den Erwachsenen hatte niemand eine Chance, die Tür zu öffnen, denn Pamela war bereits beim ersten Klingelton aufgesprungen und zur Tür gerannt.

Jörg und Pamela waren zwar altersmäßig zu weit auseinander, um eine gemeinsame Kindheit, gemeinsame sonstige Aktivitäten miteinander verbracht zu haben, doch das machte überhaupt nichts. Jörg war ihr großer Bruder, an dem sie mit abgöttischer Liebe hing und den sie sehr bewunderte.

Pamela riss die Haustür auf.

»Da seid ihr ja endlich«, freute sie sich, »wir warten schon seit Ewigkeiten auf euch.«

Jörg umarmte seine kleine Schwester.

»Habe ich darum gebeten?«, erkundigte er sich lachend, ehe er sie voller Wohlgefallen betrachtete. »Du wirst immer hübscher, mein Mädchen. Aus dir ist ja eine richtige junge Dame geworden. Stehen die Knaben bereits Schlange vor der Haustür?«

Pamela wurde vor lauter Verlegenheit ganz rot im Gesicht, und das sah allerliebst aus.

»Jörg«, murmelte sie, »sag doch nicht so etwas.«

Sie vertiefte es nicht weiter, sondern begrüßte Charlotte. Pamela verstand sich mit der neuen Frau an der Seite ihres großen Bruders ganz ausgezeichnet. Es hatte sie seinerzeit ziemlich mitgenommen, als sie von der Trennung der beiden gehört hatte. Zum Glück war das ja bloß vorübergehend gewesen. Eine dauerhafte Trennung wäre sehr, sehr schade gewesen, denn Jörg und Charlotte passten wunderbar zusammen, sie waren nicht nur optisch ein sehr schönes Paar. Sie hätte sich auch mit Stella gut verstanden, mit Charlotte verstand sie sich besser, die war offener, herzlicher.

»Schön, dass du da bist, Charlotte«, strahlte sie die junge Frau an und umarmte sie herzlich.

»Das ist ja höchst interessant, Pamela. Über mein Kommen freust du dich anscheinend nicht. So was Nettes hast du zu mir nicht gesagt«, neckte Jörg seine kleine Schwester, der natürlich ganz genau wusste, womit er Pamela aufziehen konnte.

»Das muss ich auch nicht, Jörg. Du bist mein großer Bruder, meine Familie, und die gehört für alle Zeiten zusammen. Da ist es selbstverständlich, dass man sich unendlich freut, die zu sehen, das muss man nicht extra betonen.«

Jörg wollte etwas erwidern, er kam nicht mehr dazu. Denn nun wollten Luna und Sam endlich die Aufmerksamkeit und ihre Streicheleinheiten haben.

Und dann gesellte sich auch noch die Großmutter zu ihnen.

»Ehe ihr hier festwachst und Wurzeln schlagt, da greife ich doch lieber ein. Ich möchte nämlich endlich meinen Kaffee haben, den eure Mutter aber erst herausrückt, wenn alle um den Tisch versammelt sind.«

»Bei der Mama herrscht halt Ordnung«, kicherte Pamela belustigt.

Sie beobachtete, wie liebevoll die Großmutter von Jörg und Charlotte begrüßt wurde. Ja, sie waren schon eine tolle, überaus herzliche Familie, und es war ganz großartig, ein Teil davon zu sein.

Auch wenn es zu Herzen ging, was sich ihr da bot, schließlich war Pamela es, die zur Eile drängte. Sie hatte nämlich keine Lust darauf, dass sich auch noch ihre Eltern und ihr Großvater in die Diele begeben würden, um Jörg und Charlotte zu begrüßen. Kaffee, das war zwar etwas für die Erwachsenen, worauf die offenbar immer Lust hatten, aber der Kuchen, der hatte sie lange schon angelacht, und den wollte sie endlich essen. Das war zwar nicht ihr Lieblingskuchen, aber ihr zweitliebster schon. Außerdem war Kuchen immer lecker, ganz besonders, wenn ihre Mama den gebacken hatte. Die konnte wirklich alles.

»Ihr könnt euch drinnen weiter unterhalten«, bemerkte sie, dann schnappte sie sich einfach ihren Bruder und zog ihn mit sich fort, Charlotte und die Oma folgten lachend, Luna und Sam rannten, wie konnte es auch anders sein, voraus.

Pamela verdrehte die Augen, denn es ging ja weiter. Zum Glück hielt ihr Opa sich kurz. Es war nicht zu übersehen, wie überaus herzlich ihr Vater Charlotte begrüßte, das hatte er bei Stella nicht getan, da war er eher freundlich-distanziert gewesen. Doch darüber musste sie sich wahrlich keine Gedanken mehr machen, das mit Jörg und Stella war endgültig vorbei. Und wenn man sie fragte, Stella war eine dumme Nuss, jemanden wie Jörg auszutauschen.

Mit ihrer Mama gingen wieder einmal die Gefühle durch, und Pamela war bloß froh, dass sie jetzt keine Freudentränen weinte. Alle Auerbach-Frauen hatten ziemlich nahe am Wasser gebaut und waren sehr schnell zu Tränen gerührt, weil sie halt sehr emotional waren. Pamela gehörte auch dazu, obwohl sie eigentlich keine echte Auerbach war, doch daran dachte niemand mehr. Sie auch nicht.

Endlich saßen sie alle am Tisch, und nachdem Jörg ausgiebig den extra für ihn gebackenen Lieblingskuchen gelobt hatte, durften sie auch essen. Ehe sie sich der Kuchenschlacht hingaben, holte Inge für Luna und Sam rasch ein paar Leckerli, was die dankbar begrüßten, denn sie setzten sich nach dem Genuss neben Inges Stuhl, dumm waren die beiden nicht. Aber als nichts mehr kam, gingen sie zu ihren Kissen und dösten vor sich hin, dabei behielten sie das Geschehen ringsum schon im Auge.

Es war eine gesellige Runde, die allerdings von Jörg unterbrochen wurde. »Es ist schön wie immer, aber Charlotte und ich haben nur begrenzt Zeit, wie ihr wisst, sind wir nur auf der Durchreise und haben einen Zwischenstopp eingelegt.«

Er warf Charlotte einen Blick zu, die strahlte ihn an, und Inge registrierte zufrieden, dass zwischen ihnen sehr viel Innigkeit herrschte.

»Wo wollt ihr eigentlich hin? Und warum wolltet ihr uns alle sehen?«, erkundigte Teresa sich, die spürte, dass da etwas auf sie zukam, und das wollte sie endlich erfahren. Sie hatte genug Kuchen gegessen und Kaffee getrunken.

Jörg warf seiner Großmutter einen liebevollen Blick zu. Ja, so war sie, seine Oma, und eigentlich hatte er es auch von ihr, direkt auf den Kern einer Sache zu kommen. Das jetzt war anders, das konnte man ruhig ein wenig spannender machen.

Charlotte hielt es nicht aus.

»Jörg, nun sag es endlich«, forderte sie ihn lachend auf. Wieder warf er ihr einen zärtlichen Blick zu.

»Na gut, wir sind auf dem Weg nach Bali, dort werden wir eine romantische Strandhochzeit feiern, nur Charlotte und ich.« Seine nächsten Worte gingen im einsetzenden Tumult beinahe unter.

»Wir sind beide im Ausland lebende Deutsche und müssen unsere im Ausland geschlossene Hochzeit eh bei den deutschen Behörden registrieren lassen. Und warum also nicht Bali?«

Pamela bekam ganz glänzende Augen. Das hätte sie von ihrem Bruder nicht gedacht, der Rest der ganzen Familie auch nicht, doch anscheinend gefiel es ihnen gut. Am besten vermutlich, weil es zwischen den beiden also diesmal wirklich ernst war, mit allen Konsequenzen. Die Großeltern gratulierten, der Professor freute sich ganz offensichtlich, Inge sagte nichts, diesmal hatte sie Tränen in den Augen, als sie ihren Sohn und die künftige Schwiegertochter umarmte.

Als sich alle wieder ein wenig beruhigt hatten, sagte Inge leise: »Schade, dass Ricky und unser Hannes jetzt nicht hier sind. Sie würden sich ganz gewiss ebenfalls über diese wundervolle Neuigkeit freuen.«

»Mama, sie wissen es.«

Erstaunt blickte Inge ihren Sohn an. Sie wusste, dass Ricky und Jörg in enger Verbindung standen. Doch Hannes?

»Auch Hannes?«, wollte sie wissen.

»Mama, ich stehe mit Hannes in engem Kontakt, natürlich weiß auch er es, und er freut sich mit uns. Und sowohl Ricky samt Familie als auch Hannes haben sich bereits als Besucher bei uns in Stockholm angekündigt.«

Ehe jemand etwas dazu sagen konnte, fuhr er fort: »Nun die nächste Neuigkeit. Charlotte und ich sind auf der Suche nach einem Haus, in dem wir sowohl wohnen können als auch arbeiten. Es ist ganz besonders für Charlotte wichtig, denn sie wird ihren Job im Krankenhaus aufgeben und sich selbstständig machen. Dann ist sie nicht mehr an die mörderischen Arbeitszeiten, an die vielen Überstunden gebunden, sondern kann sich ihre Zeit frei einteilen. Charlotte ist eine begnadete Handchirurgin, da wird es ihr an Patienten nicht mangeln. Vor allem kann sie dann Sven, ihren Sohn, aus dem Internat nehmen, denn er wird selbstverständlich dann mit uns wohnen.«

Am liebsten hätte Inge jetzt etwas gesagt, denn gerade der Junge war es doch gewesen, der zu der Trennung der beiden geführt hatte, weil Jörg durch ihn zu sehr an seine eigenen Kinder erinnert wurde, die Stella mit nach Brasilien in ihr neues Leben genommen hatte, die er so sehr vermisste und von denen er immer weniger hörte, weil sie ganz offensichtlich in ihrem neuen Leben angekommen waren, in dem ihr Vater keinen Platz mehr hatte.

Jörg ahnte, was seiner Mutter gerade durch den Kopf ging. Er warf ihr einen liebevollen Blick zu.

»Sven und ich sind mittlerweile ein sehr gutes Team, wir haben unsere Leidenschaft für Fußball entdeckt, haben sogar schon gemeinsam ein Fußballspiel gesehen und hatten dabei sehr viel Spaß. Und wenn wir Tennis miteinander spielen, dann muss ich höllisch aufpassen, dass der Junge mich nicht vom Platz fegt. Alles ist bestens. Wir freuen uns alle drei auf unser Zusammenleben.«

»Und wollt ihr kaufen oder mieten?«, erkundigte Magnus von Roth sich.

»Kaufen, Opa. Schweden wird unser Lebensmittelpunkt bleiben, uns gefällt es hier. Und beim Kauf sind wir frei in unseren Entscheidungen und nicht von einem Vermieter abhängig.«

Magnus nickte, für ihn war es eine vernünftige Entscheidung. Doch Werner wandte ein: »Ist das nicht ein bisschen unvernünftig, ein Haus im Ausland zu kaufen? Auch wenn Schweden euch gefällt, man weiß nicht, ob es mit Charlottes Selbstständigkeit so richtig klappt, und du sitzt derzeit zwar auf einem Chefsessel, doch das kann sich ändern. Und dann? Nichts ist für die Ewigkeit bestimmt. Denk an deinen letzten Job, als ein Besitzerwechsel stattfand …«

»Hätte ich bleiben können«, fuhr Jörg fort, »doch ich hatte ein besseres Angebot. Papa, ich sitze in unserem Konzern ganz fest im Sattel, bekomme ständig als Prämie Firmenanteile überschrieben. Die Big Bosse wissen, was sie an mir haben. Da will mich ganz gewiss niemand loswerden. Und wenn, dann werde eher ich freiwillig gehen. Und ehe du weitere Fragen stellst, Papa, dann kann ich mir sehr gut vorstellen, mich ebenfalls selbstständig zu machen, als Unternehmensberater beispielsweise, die werden gesucht, und ich habe das nötige know how. Doch das ist Zukunftsmusik. Jetzt ist erst mal Charlotte dran, und bevor wir uns da ins Zeug legen, hat unsere Strandhochzeit Priorität. Auf die freuen wir uns nämlich wie zwei Teenies, und wir hätten beide von uns nicht geglaubt, dass wir zwei so verkitschte Seelen sind.«

Die Hochzeit rückte noch einmal in den Mittelpunkt ihres Gespräches, und das war ja auch verständlich. Wenn jemand heiratete, wurde man ­immer sentimental, und eine Strandhochzeit, womöglich noch barfuß und im Mondlicht, das ließ die Fantasie in ungeahnte Höhen schießen.

Es war Inge, die das Thema beendete, und eigentlich ärgerte sie sich schwarz darüber. Aber sie konnte nicht anders, wenn ihr etwas auf der Seele brannte, dann musste es heraus.

»Jörg, du erwähntest vorhin, dass du in ständiger Verbindung mit deinen Geschwistern bist. Das mit Ricky ist klar, ihr habt schon immer alles geteilt. Doch mit Hannes, da …«

Jörg unterbrach seine Mutter.

»Mama, Hannes hat einen neuen Lebensabschnitt begonnen, und das wurde von euch, insbesondere von Papa, nicht gerade begeistert aufgenommen. Ich finde es großartig, und ich unterstütze Hannes in seinen Plänen. Er ist nun mal kein Schreibtischtäter, er ist auch niemand, der andere unterrichten kann. Hannes ist ein sehr kreativer Freigeist, der nicht herumspinnt, sondern sein Ziel dennoch ganz fest im Auge hat.«

Er trank etwas von seinem Kaffee, konnte dem Kuchen nicht widerstehen, obwohl er da bereits schon ganz schön zugeschlagen hatte.

»Er weiß, wie gut ich seine Entscheidung finde, und so bleibt es nicht aus, dass er sich mit mir über sein neues Leben in Brenlarrick austauscht. Es sieht für ihn alles sehr gut aus.«

Inge schluckte, Pamela beschwerte sich: »Warum schreibt er mir das nicht?«

»Wir hören ebenfalls kaum etwas von ihm«, fügte Teresa hinzu. »Das war anders, als er seine Weltreise machte.«

Jörg nickte.

»Das ist auch etwas, was ihm Probleme bereitet, er würde nämlich euch«, wandte er sich an seine Großeltern und seine kleine Schwester, »sehr gern an seinem neuen Leben teilhaben lassen. Doch er möchte Konflikte vermeiden. Ihr wohnt hier eng beieinander, verbringt viel Zeit zusammen. Er möchte nicht, dass zwischen euch ein Keil getrieben wird. Ihr müsstet schweigen, denn man spricht mit anderen nicht gern über etwas, wenn man weiß, dass der das nicht gutheißt. Und es ist ja nun mal so, dass Hannes’ Entscheidung nicht auf Zustimmung in seinem Elternhaus stößt.« Er blickte seinen Vater an. »Papa, du solltest endlich damit aufhören, für Hannes von einer akademischen Laufbahn zu träumen. Er wird diesen Weg niemals gehen. Der Besuch einer Kunsthochschule wäre später durchaus vorstellbar, aber das liegt auch in den Sternen. Ich bin auf jeden Fall stolz auf meinen kleinen Bruder, er ist anders als wir, aber er ist großartig, und er traut sich was. Zuerst die beinahe einjährige Weltreise mit dem Rucksack nach dem Abi, dann das mit der Tauch- und Surfschule in Australien. Er war das Aushängeschild für das Surfboard ›Sundance‹, hatte Modelangebote, die er konsequent abgelehnt hat, obwohl sie ihm viel Geld gebracht hätten. Es ist prima, dass es Hannes niemals ums Geld geht, und vermutlich hat er deswegen auch reichlich verdient. Und dann der Schnitt, als sein Leben nach dem Autounfall, als dieser depperte Autofahrer in sein Motorrad hineingefahren ist …, es hat ihn nicht aus der Bahn geworfen. Er ist nicht zu einem Psychiater gegangen, er hat auch nicht resigniert. Er hat auf dem langen Weg zu sich selbst auf dem Jakobsweg herausgefunden, wohin seine Reise gehen soll. Ehrlich mal, unser Hannes ist der Beste von uns allen. Wenn ich …«

Er wurde von Charlotte unterbrochen.

»Jörg, es ist an der Zeit für uns, wenn wir rechtzeitig unseren Flieger bekommen wollen.«

Jörg blickte auf seine Armbanduhr.

»Verflixt, ja, danke, dass du mich erinnert hast, mein Schatz. Natürlich müssen wir los.«

Er sprang auf.

»Tut mir leid, dass wir nun so abrupt aufbrechen müssen. Aber auf der Rückreise machen wir wieder einen Stopp, und dann bleiben wir für ein paar Tage, versprochen. Dann sind wir ein verheiratetes Paar, Charlotte kann mir nicht mehr davonlaufen.«

Er blickte sie liebevoll an.

»Das würde ich nie tun«, rief sie, und dann verabschiedeten sie sich voneinander.

Magnus und Teresa gingen gleich mit hinaus, wollten den beiden nachwinken, Pamela wollte mit den Hunden einen Spaziergang machen. Das tat sie immer, wenn sie emotional bewegt war, und das war sie jetzt.

Werner und Inge waren plötzlich allein.

Es war nicht gerecht, aber irgendwie brauchte Inge jetzt ein Ventil, um alles herauszulassen. Sie war hin und her gerissen, da war der viel zu kurze Besuch, die Nachricht von der Heirat. Wenn sie ehrlich war, berührte sie das nicht so sehr wie die Tatsache, dass Hannes sich irgendwie ausgeklinkt hatte. Er ließ sie nicht mehr an seinem Leben teilnehmen.

»Das liegt nur an dir, Werner«, platzte es auch ihr heraus. Der Professor blickte seine Frau ein wenig irritiert an: »Was liegt an mir?«, wollte er wissen.

»Nun, dass Hannes sich bei uns nicht mehr meldet. Du hast ihm ja deutlich genug gezeigt, wie schrecklich du es findest, dass er eine Tischlerlehre machen möchte. Und du hast diesem Chef sogar einiges unterstellt, beispielsweise, er brauche nur einen Ersatz für seine verstorbene Tochter, und da käme Hannes ihm gerade recht, und wenn …«

Werner unterbrach seine Frau.

»Inge, hör sofort mit diesen Schuldzuweisungen auf, glücklich warst du über seine Entscheidung ebenfalls nicht. Und mit Verstand betrachtet, ist es ja auch Perlen vor die Säue geworfen, wenn man bedenkt, was alles aus ihm hätte werden können.« Er seufzte. »Also gut, wenn du willst, dann sage ich ihm, dass er tun und lassen kann, was er möchte.«

»Werner, du bist manchmal so unsensibel. Er ist volljährig, da benötigt er eh nicht dein Okay. Da ist Vertrauen verloren gegangen, was wieder aufgebaut werden muss. Wie, das weiß ich noch nicht, ich bin auf jeden Fall fix und fertig, dass er uns nicht mehr in sein Vertrauen zieht, und dass meine Eltern und Pamela ebenfalls darunter leiden müssen, weil er sie nicht in Konflikte bringen möchte.«

Sie hätte weiter über dieses Thema gesprochen, doch Werner Auerbach unterbrach seine Frau.

»Stopp, Inge, du bist emotional viel zu erregt, ich bin sehr gern bereit, mit dir weiter über alles zu reden, jetzt aber nicht. Ich kenne dich und weiß, wie schnell das in einen Streit ausarten kann.«

Werner stand auf.

»Ich ziehe mich jetzt wohl besser in mein Arbeitszimmer zurück, ich bin eh mit meiner Zeit knapp, weil ich einen Vortrag vorzubereiten habe. Aber eines noch. Ich freue mich, dass Jörg seine Charlotte heiraten will. Sie ist eine sehr patente, intelligente Frau, was Besseres konnte ihm nicht passieren. Das mit der Strandhochzeit halte ich für grenzwertig, so was macht man, wenn man achtzehn ist, und das mit dem Haus, wenn du mich fragst …«

Sie unterbrach ihren Mann.

»Dich fragt aber keiner, Werner«, rief sie, was ihn veranlasste, beleidigt den Raum zu verlassen.

Inge war allein mit den Kuchenresten, dem benutzten Geschirr, und sie musste sich sehr zusammenreißen, um jetzt nicht zu weinen.

Natürlich freute sie sich sehr, dass Jörg und seine Charlotte im Sonnenwinkel gewesen waren, und dass sie heiraten würden, das war ganz großartig, das waren wunderbare Neuigkeiten. Dass die beiden das praktisch zwischen Tür und Angel verkündet hatten, brachte Inge durcheinander. Sie hätte gern mehr Zeit gehabt, und wenn sie ehrlich war, dann wäre ihr eine Hochzeit wenigstens im Familienkreis lieber gewesen. Traumhochzeit am Strand irgendwo auf Bali. Davon las man hier und da in den Glanzzeitschriften, wenn sich Promis vor einer dieser traumhaften Kulissen das Jawort gaben. Aus dem Alter waren die beiden heraus, außerdem war es deren zweite Ehe. Machte man dann so etwas? Inge merkte, dass sie ungerecht war. Jörg und Charlotte hätten nicht kommen müssen, sie hätten sie hinterher vor vollendete Tatsachen stellen können. Es ärgerte sie am meisten, dass Hannes sich zurückgezogen hatte, auch von ihr, dabei hatten sie ein so herrliches Verhältnis zueinander gehabt.

Werner …

Nein!

Da wollte sie sich jetzt nicht hineinsteigern, denn das würde zu einem Riesenkrach führen, der so unnötig war wie ein Kropf.

Sie stand ebenfalls auf, ließ alles stehen und liegen, was sonst überhaupt nicht ihre Art war, und flüchtete sich in ihr Bügelzimmer. Dort standen immer Wäschekörbe bereit, und einem von denen wollte sie sich jetzt widmen. Bügeln war für sie ein sehr gutes Ventil, wieder herunter in die Realität zu kommen. Was sich jetzt bei ihr abspielte, hatte damit nichts zu tun. Wenn es nach ihr ginge, hätte sie für immer ihre gesamte Familie um sich herum versammelt, wenigstens in ihrer Nähe. Das war utopisch, Kindern waren nicht mehr als eine Leihgabe des Lebens auf Zeit, und wenn man das bedachte, konnte sie sich glücklich schätzen, Pamela noch im Haus zu haben, Ricky ganz in der Nähe, und auch Jörg kam immer vorbei, wenn er es einrichten konnte, und wenn es nur für ein paar Stunden war.

Hannes …

Das war ihr Problem, sie hatte Angst, Hannes könne sich ganz zurückziehen, und das würde ihr das Herz brechen.

Was sollte sie tun?

Ihm schreiben?

Das konnte sie ja sehr gut, und das hatte auch geholfen, ihre Pamela aus Australien zurück in die Heimat zu holen. Pamela war nicht Hannes, und der konnte ganz schön stur sein.

Bügeln half heute auch nicht, sie hätte nämlich gerade aus lauter Unachtsamkeit eines von Werners Lieblingshemden versengt.

Sie stellte das Bügeleisen ab, verließ den Raum, lief hinauf, um den Tisch abzuräumen. Das musste auch getan werden, Heinzelmännchen gab es leider nicht bei den Auerbachs.

Inge versuchte, sich zu beruhigen. Morgen sah die Welt schon wieder anders aus, da war ein neuer Tag. Sie widerstand der Versuchung, sich einen Kaffee zu kochen. Davon hatte sie heute genug gehabt. Aber mit Werner reden würde sie, und das noch heute, wenn Pamela im Bett lag. Sie musste nichts von den Auseinandersetzungen ihrer Eltern mitbekommen. Sie war dann immer ganz erschreckt, dabei ging es bei den Auerbachs in der Regel gesittet zu, sie stritten kaum. Pamela war wegen dieses Mädchens, dessen Fahrrad sie gefunden hatte, eh durch den Wind. Und wenn sie ehrlich war, ging es ihr ebenfalls sehr nahe. Das kam auch noch hinzu.

Inge wusste, dass das keine Entschuldigung war für ihre Enttäuschung.

Das war nur vorgeschoben. Sie musste das mit Hannes wieder geradebiegen. Vor allem musste sie sich wieder unter Kontrolle haben, wenn Pamela mit den Hunden nach Hause kam.

Sie stand neben sich. Sie ließ alles stehen und liegen und ging nach nebenan zu ihren Eltern, die beiden waren sehr vernünftig. Mit denen würde sie noch einmal über alles sprechen, vielleicht veränderte sich dann ihre Sich auf die Dinge.

Ja, das würde sie tun, Inge fühlte sich sichtlich erleichtert, und es stimmte sie ein wenig versöhnlicher, dass es immerhin ein sehr großes Privileg haben, als selbst bereits Großmutter die Eltern noch ganz in ihrer Nähe zu haben, nicht nur in der Nähe, sondern sie überhaupt noch zu haben.

Das war keine Selbstverständlichkeit, und das war etwas, wofür man unendlich dankbar sein musste. Inge wollte sich ein Leben ohne ihre Eltern überhaupt nicht vorstellen …

*

Erst nach Nickis Abreise wurde Roberta bewusst, welch große Stütze ihre Freundin doch für sie gewesen war. Alma war zwar unglaublich bemüht um sie, doch es war nicht Nicki. Doch es war schon richtig gewesen, sie nach Hause zu schicken, schließlich hatte sie während ihrer Tage im Sonnenwinkel nichts verdient.

Roberta stand neben sich, und irgendwie kam sie sich zwiegespalten vor. Sie verrichtete ihre Arbeit wie immer gewissenhaft, doch außerhalb der Praxis, wenn sie von ihren Patientenbesuchen nach Hause kam, fiel sie in ein tiefes Loch.

Lars …

Um den drehten sich all ihre Gedanken, und ihn nicht mehr sehen zu dürfen, das zerriss sie fast.

Sie war auf dem Weg zu ihrem Haus, und es graute ihr jetzt schon.

Alma wartete bereits auf sie, sie würden gemeinsam essen, das würde sie ablenken, aber dann …

Roberta hätte niemals für möglich gehalten, dass Gedanken so quälend sein konnten, dass sie einen anfallen konnten wie wilde Tiere, die sich nicht abwehren ließen.

Würde es irgendwann aufhören?

Sie wurde abgelenkt, entdeckte jemanden, und dann trat sie auf die Bremse. Es war Dr. Anders, der nette Arzt aus dem Hohenborner Krankenhaus, der ihr aus dem Weg ging. Da musste sie etwas richtigstellen, zumal sie sich so gut verstanden hatten, und Roberta war sich keiner Schuld bewusst, warum sich das plötzlich geändert hatte.

Noch während sie ausstieg, rief sie: »Herr Anders, haben Sie einen Moment für mich?«

Es war nicht zu übersehen, dass es ihm peinlich war, von Roberta angesprochen worden zu sein. Am liebsten wäre er weitergegangen, doch das ging ja wohl nicht. Schließlich war er ein höflicher Mensch.

»Hallo, Frau Steinfeld«, sagte er und wagte kaum, sie anzusehen. Das verstärkte in Roberta das Gefühl, dass er etwas gegen sie hatte.

Einen Augenblick lang schwiegen sie sich an, doch ehe das Schweigen peinlich werden konnte, ergriff sie resolut das Wort: »Haben Sie etwas gegen mich, Herr Kollege?«, erkundigte sie sich geradeheraus.

Seine Verlegenheit steigerte sich, er wagte kaum, sie anzusehen. Nun verstand Roberta überhaupt nichts mehr, denn das war wirklich ein sehr merkwürdiges Verhalten, das er da an den Tag legte.

»Ich …, äh …, wie kommen Sie darauf?«

Er war das personifizierte schlechte Gewissen.

Dafür musste es einen Grund geben, und den wollte sie herausfinden.

»Herr Anders, wir haben uns immer verstanden, wenn wir uns im Krankenhaus trafen, hielten wir hier und da schon mal ein Pläuschchen, tranken einen Kaffee zusammen. Sie waren stets gern bereit, sich mit mir über Patienten zu erhalten, die ich ins Krankenhaus eingewiesen habe. Jetzt gehen Sie mir aus dem Weg, und es hat im Augenblick den Anschein, dass es Ihnen nicht angenehm ist, von mir angesprochen worden zu sein. Also, heraus mit der Sprache, was ist los. Wenn es nämlich ein Missverständnis geben sollte, aus welchem Grund auch immer, dann sollten wir das jetzt aus der Welt schaffen. Sie sind mir sehr sympathisch, und ich möchte nicht, dass wir uns aus dem Weg gehen.« Sie blickte ihn an, und weil er immer noch nichts sagte, wiederholte sie: »Was ist los, Herr Anders?«

Sie war so nett, und er …

Es fiel ihm schwer, jetzt die richtigen Worte zu finden, doch sie hatte ja recht, man hörte nicht grundlos auf, mit jemandem zu reden. Und sie konnte nichts dafür, dass er ein schlechtes Gewissen hatte.

»Herr Kollege, ich warte …, wenn es Ihnen allerdings peinlich ist, mit mir zu reden, dann …«

Er unterbrach sie.

»Ich habe ein schlechtes Gewissen«, gab er zu, »Ihre Frau Hellenbrink hat meiner Frau und mir diese traumhafte Wohnung besorgt, die wir ohne deren Vermittlung niemals gefunden hätten.«

»Ja, das ist doch wunderbar, dass es Ihnen gefällt«, freute Roberta sich, die keine Ahnung hatte, weswegen er dann ihr aus dem Weg ging.

Er nahm all seinen Mut zusammen.

»Das ist der Grund, dass ich mich so schlecht fühle. Sie haben mir das Jobangebot gemacht, bei Ihnen als Arzt zu arbeiten, nachdem meine Frau ausgeplaudert hatte, wie gern ich in einer Privatpraxis arbeiten würde, ohne selbst eine eigene zu haben.«

Sie nickte, weil das alles zutraf.

»Und wo ist das Problem?«, wollte sie wissen.

Er atmete ganz tief durch.

»Sie müssen jetzt doch denken, dass wir uns nur die Wohnung unter den Nagel reißen wollten, denn ich …, nun ja, ich arbeite noch immer als Krankenhausarzt, bin nicht mehr auf Ihr Angebot eingegangen.«

Und das war sein Problem?

Er dachte ganz schön quer, der Herr Dr. Mark Anders!

»Herr Anders, ich bitte Sie, das mit der Wohnung hat doch überhaupt nichts mit dem Jobangebot zu tun. Ich habe Ihnen ein Angebot gemacht, und wenn Sie das nicht annehmen, dann ist das Ihre Entscheidung, Sie werden nicht mit einer Pistole dazu gezwungen, bei mir zu arbeiten.«

Er blickte sie noch immer verunsichert, doch jetzt auch ein wenig erstaunt an.

»Und Sie sind mir nicht böse?«

Sie schüttelte entschieden den Kopf.

»Nein, Herr Anders, wenn jemand zu mir kommt, dann soll er das aus vollem Herzen tun, nicht halbherzig oder weil er sich verpflichtet fühlt. Wenn diese Wohnung es ist, weswegen Sie mir aus dem Weg gehen, dann lassen Sie uns das bitte vergessen. Ich schätze Sie sehr als Kollegen, Ihre Kompetenz …«

Sie wiederholte jetzt nicht, dass er sich das mit dem Jobangebot überlegen könne. Sie schätzte ihn noch immer als Arzt, doch als Mensch war er ihr einfach zu zögerlich, mit so etwas konnte sie nur schlecht umgehen.

»Was Ihr Angebot bezüglich der Praxis angeht …«

Sie schnitt ihm das Wort ab.

»Vergessen Sie es, Herr Kollege. Ich bin auf jeden Fall sehr froh, dass die Missverständnisse zwischen uns ausgeräumt sind. So, und jetzt muss ich weiter. Es war ein langer Tag.«

Sie reichte ihm freundlich die Hand, bat ihn, Grüße an seine reizende Frau auszurichten, dann verabschiedete sie sich von ihm, stieg in ihr Auto und fuhr davon.

Nachdenklich blickte er ihr nach.

Er war froh, dass er ihr nicht mehr aus dem Weg gehen musste, denn er schätzte sie sehr, und sie hatte ihm so manche Frage beantworten können, wenn er bei einem seiner Patienten oder einer Patientin Zweifel gehabt hatte.

Froh war er jetzt allerdings nicht, er hatte sich bei der Praxis ein Hintertürchen offen halten wollen. Darauf war sie nicht eingegangen, hatte sogar gesagt, dass er das vergessen solle. War es ein Fehler gewesen, nicht direkt zugegriffen zu haben? Sollte er sie, wenn er sich absolut sicher war, noch einmal darauf ansprechen? Mit seiner Lilli reden durfte er über dieses Thema allerdings nicht. Die war vollkommen begeistert gewesen von der Idee, wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte er direkt zusagen müssen, weil Lilli der Meinung war, eine solche Chance bekäme er so leicht nicht wieder.

Er würde über alles noch mal nachdenken, zumal ein neuer Chefarzt kommen würde, über den nicht gut geredet wurde. Er sollte launisch sein und für die wichtigsten Posten seine eigenen Leute mitbringen.

Wäre es nicht doch besser gewesen, wenn …

Nein!

Er ging weiter, noch war der Neue nicht da, und bislang hatte er sich mit allen Chefs verstanden, auch mit den schwierigen.

Ja, er würde sich alles noch mal durch den Kopf gehen lassen, doch jetzt wollte er einen langen Spaziergang am See machen. Dass sie hier wohnen durften, wo andere Leute ihren Urlaub verbrachten, das war so etwas wie ein Hauptgewinn in der Lotterie.

Und es war gut, dass sie sich ausgesprochen hatten, da sah die Welt doch ganz anders aus.

*

Alma wartete bereits auf sie. Die Gute tat wirklich alles, um ihr das Leben schön zu machen. Heute hatte sie für Roberta eine Curry-Ingwer-Suppe nach thailändischer Art gekocht, bloß weil sie mal erwähnt hatte, wie lecker sie das fand. Dazu gab es gebratene Garnelen und einen köstlichen Salat.

Alma war ein Schatz!

Und das sagte Roberta ihr auch, obwohl sie wusste, wie verlegen Komplimente Alma stets machten.

Es schmeckte ganz ausgezeichnet, Roberta entspannte sich, man sagte wirklich nicht umsonst, dass ein gutes Essen Balsam für die Seele war.

Roberta erzählte Alma von der Begegnung mit Dr. Anders, weil die sich wunderte, warum es nach ihrer telefonischen Ankündigung noch so lange gedauert hatte.

»Es ist schon verrückt, dass er mir aus dem Weg gegangen ist, bloß weil er das Gefühl hatte, sich die Wohnung erschlichen zu haben.«

»Hat er doch auch irgendwie«, sagte Alma, die sich freute, dass Roberta heute endlich mal wieder mehr als nur wie ein Spatz gegessen hatte, »denn ohne Jobangebot wäre keines für die Wohnung gekommen.«

Roberta winkte ab.

»Mir ist es lieb, dass Leute wie Dr. Anders und seine Frau in den Sonnenwinkel ziehen. Zwischendurch hat es in verschiedenen Häusern, deren Eigentümer weggezogen sind, doch so manch schräge Mieter gegeben.«

»Na ja, er wird schon wissen, was er davon hat. Sie haben ihm die Stelle doch nicht noch einmal angeboten, oder?«

»Nein, Alma, Sie sagen doch immer, dass man die Finger von etwas lassen soll, wenn es nicht direkt klappt, sondern wenn es einige Anläufe braucht.«

Das bestätigte Alma sofort.

»Es wird jemand auf ihren Weg kommen, Frau Doktor, der sich die Finger danach leckt, bei Ihnen arbeiten zu dürfen«, prophezeite sie.

Roberta wollte das Thema jetzt nicht vertiefen, das hätte Nicki zweifelsohne getan, denn sie und Alma ergänzten sich, was Zeichen, was Prophezeiungen betraf, ganz vortrefflich.

Nachdem sie mit den Essen fertig waren, wandte Roberta sich an ihre treue Haushälterin.

»So, Alma, und wenn das nun schon mal der Tag der Offenbarungen ist …, was haben Sie denn auf dem Herzen? Da gibt es etwas. Gibt es wieder eine Reise mit Ihrem Gospelchor, die Sie nicht antreten möchten, weil Sie glauben, mich nicht allein lassen zu können?«

Alma wurde verlegen, weil das anfangs wirklich so gewesen war, sie hatte sich im Doktorhaus wie im Himmelreich gefühlt und hätte nichts dazu getan, aus dem Himmel vertrieben zu werden. Sie fühlte sich noch immer wie im Himmel, mehr noch, wie im Paradies, und sie dankte Gott jeden Tag dafür, dass er sie dieses Leben bei dieser großartigen Chefin führen ließ.

»Nein, ich weiß doch, dass Sie möchten, dass ich keine dieser Reisen auslasse. Nein, da ist etwas anderes …«, sie zögerte, doch als Roberta auffordernd nickte, fasste sie sich ein Herz. »Nun, der Herr Magnusson hat mich gebeten, etwas für ihn zu tun«, sagte Alma leise, »und da er jetzt nicht mehr …«, sie beendete ihren Satz nicht. Das tat Roberta für sie: »weil er verschollen ist.«

Alma nickte, bekam sofort Tränen in die Augen, weil sie den Herrn Magnusson sehr mochte und weil es ihr auch wegen der Frau Doktor unendlich leidtat. Es zerriss Alma beinahe, denn so etwas hatte die Frau Doktor nicht verdient.

Sie versank in trübe Gedanken, aus denen sie aufschreckte, als Roberta sie daran erinnerte, dass Alma ihr doch etwas erzählen wollte.

Alma atmete tief durch.

»Der Herr Magnusson hat mich gebeten, ein Bild von ihm zu malen, das er ihnen geben wollte, damit Sie ihn immer in etwas größer bei sich haben als auf einem Foto.«

Roberta war ganz gerührt.

»Das hat er getan?«

Alma nickte.

»Und nun …, das Bild ist längst fertig, und nun weiß ich überhaupt nicht …«

Sie brach ab, blickte Roberta Hilfe suchend an.

Roberta bekam Herzklopfen. Alma war eine begnadete Malerin, praktisch ein Naturtalent, und Galeristen wollten das, was sie malte, ausstellen. Das wollte Alma jedoch nicht, für sie war die Malerei nicht mehr als ein Hobby. Roberta hatte einige Werke von ihr gesehen, eines hing im Wartezimmer nebenan und wurde von den Patienten immer bewundert. Porträts hatte sie von Alma bislang nicht gesehen, doch Lars hatte ihr das offensichtlich zugetraut, sonst hätte er sie nicht um ein Porträt gebeten.

»Alma, ich denke, es ist in seinem Sinne …, bitte, zeigen Sie mir das Bild«, Robertas Stimme klang ganz heiser. Und Alma atmete auf. So sehr sie der Frau Doktor auch wünschte, ihr Lebenspartner möge zurückkehren: Daran war auch mit ganz viel Optimismus nicht zu glauben. Und das Bild von ihm …, sie konnte nur hoffen, dass es ihr gefiel.

Alma zögerte.

»Angesichts all der Umstände glaube ich nicht, dass Lars etwas dagegen hätte«, sagte sie, und das tat sie bewusst. Auch wenn ihr Verstand ihr sagte, dass er in der Arktis unmöglich überlebt haben konnte, wollte ihr Herz noch immer an ein Wunder glauben.

Alma erhob sich geschwind, lief hinunter in ihre eigene kleine Wohnung, und während sie weg war, versuchte Roberta, tief durchzuatmen und ihren Herzschlag zu beruhigen.

Offensichtlich hatte Alma das Bild bereits bereitgestellt, denn sie kam sehr schnell wieder zurück. Es war eine recht große Leinwand.

Ehe sie Roberta das Gemälde zeigte, sagte sie: »Um einen Rahmen wollte Herr Magnusson sich selbst kümmern. Er hatte da gewisse Vorstellungen.«

Das war zutreffend, all ihre an den Wänden hängenden Bilder hatten ihm sehr gefallen. An den Rahmen hatte er teilweise etwas auszusetzen gehabt. Ja, da hatte er seine eigenen Vorstellungen.

Ihre Aufregung wuchs, und dann zeigte Alma ihr das Gemälde, sie hatte ein unglaubliches Porträt geschaffen, es war nicht verkitscht, was Porträts manchmal ja waren, sondern es blickte sie Lars an, der getroffen war, wie es besser nicht hätte sein können.

Roberta musste schlucken, sie war nicht in der Lage, einen einzigen Ton zu sagen. Sie betrachtete das Gemälde, das Alma vor sie auf den Tisch gestellt hatte, es von hinten festhielt.

Dann strich sie ganz behutsam mit unendlicher Zärtlichkeit über seine Konturen, seine unglaublich blauen Augen strahlten sie an, er lächelte, was einesteils beruhigend auf sie wirkte, ihr andererseits grausam bewusst machte, was sie verloren hatte.

Alma hatte ihre Chefin die ganze Zeit über beobachtet.

Warum sagte sie nichts?

Nach einer Weile hielt sie es nicht mehr aus.

»Gefällt es Ihnen nicht?«, erkundigte sie sich verunsichert und ganz leise.

Roberta riss sich zusammen. Sagen konnte sie noch immer nichts, doch sie erhob sich, nahm Alma das Leinwandbild weg, legte es behutsam auf den Tisch, dann nahm sie Alma ganz fest in die Arme. So verharrten sie eine Weile, ehe Roberta sagte: »Es ist unglaublich, wenn man das Bild sieht, glaubt man, Lars käme jeden Moment von der Leinwand herunter. Alma, da haben Sie sich übertroffen, und mir haben Sie eine ganz große Freude bereitet.«

Alma freute sich.

»Danke.«

»Wenn sich jemand zu bedanken hat, liebe Alma, dann bin ich es. Am liebsten würde ich das Bild auch direkt aufhängen, doch ich weiß nicht wo.«

»Und der Rahmen«, erinnerte Alma sie, doch Roberta winkte ab. »Ich hänge es ohne Rahmen auf, dann muss ich wenigstens nicht das Gefühl haben, dass Lars der Rahmen nicht gefallen könnte, den ich ausgesucht habe.«

Damit gab Alma sich zufrieden.

»Ich weiß, wo Herr Magnusson das Bild aufhängen wollte …, gegenüber von Ihrem Bett, da ist doch diese Wandnische, in die hinein wollte er es hängen.«

Das war ein guter Ort, auf den sie selbst nicht gekommen wäre.

»Was Sie nicht alles wissen, Alma«, wunderte sie, »ich kann mich überhaupt nicht erinnern, dass Sie und Lars so oft allein waren.«

»Waren wir, Frau Doktor. Wir haben uns immer sehr gut unterhalten, während wir auf Sie warten mussten, weil Patienten in der Praxis Sie aufhielten, oder wenn Sie später als geplant von Ihren Hausbesuchen zurückkehrten.«

Das waren noch Zeiten, und sie würden niemals mehr zurückkehren, Roberta wurde sentimental, sie brachten das Bild ins Schlafzimmer, und die umsichtige Alma hatte direkt Bilderhaken und einen Hammer dabei, was natürlich Roberta vergessen hätte, mehr noch, sie wäre überhaupt nicht darauf gekommen. Im Umgang mit Spritzen machte ihr keiner etwas vor, Hammer und andere Werkzeuge überließ sie lieber anderen Leuten.

Nicki sagte immer, dass man nicht alles können musste, und daran hielt sie sich, denn es gab schon einige Dinge im praktischen Leben, wofür sie kein Händchen hatte.

Auf dem Weg in ihr Schlafzimmer kamen sie an einer ganzen Fotogalerie vorbei mit Aufnahmen, die alle Lars zeigten, ernst, lachend, in allen Lebenslagen. Es war ihr ein Bedürfnis gewesen, ihn überall präsent zu haben. Jetzt bemerkte sie, dass sie da maßlos übertrieben hatte. Außerdem hatte sie längst festgestellt, dass alle Fotos dieser Welt den Schmerz, der in ihr tobte, nicht lindern konnten.

Sie war aufgeregt, einmal, weil Alma da in der Tat etwas ganz Wundervolles vollbracht hatte und vor allem, weil Lars es für sie in Auftrag gegeben hatte. Es war gewissermaßen ein letztes Geschenk von ihm.

Sie fanden schnell den richtigen Platz in der Nische, dann hing das Bild, und als Roberta sich auf die Bettkante setzte, um es von dort aus zu betrachten, war es kaum auszuhalten.

Als Lars das Bild bei Alma in Auftrag gegeben hatte, sollte es ein vorübergehender Ersatz für seine fehlende Präsenz sein, jetzt war es …, ja, was war es jetzt eigentlich? Sie wusste es noch nicht, doch sie hatte auf einmal das dringende Bedürfnis, mit dem Bild allein zu sein. Und obwohl sie kein einziges Wort gesagt hatte, war Alma feinfühlig genug, sich zurückzuziehen mit den Worten: »Wenn Sie noch etwas brauchen, Frau Doktor, Sie wissen ja, wo Sie mich finden. Ich geh dann mal hinunter in meine eigene Wohnung.«

»Danke, Alma.«

Alma ging, sie war allein, allein mit diesem wundervollen Bild. Sie saß da, starrte es an, und sie war sehr froh, jetzt allein zu sein, weil sie ihre Gefühle einfach nicht mehr unter Kontrolle halten konnte.

Lars …

Roberta schloss die Augen, versuchte, gleichmäßig zu atmen, so wie man es aus Entspannungsübungen, aus der Meditation kannte. Allmählich kehrte Ruhe in ihr ein. Vor ihr tauchten Bilder aus der Vergangenheit vor ihr auf, wie sie sich kennengelernt hatten, wie Lars mit einer Flasche Wein unter dem Arm vor ihrer Haustür aufgetaucht war, wie sie sich zum ersten Male geküsst hatten, wie er ihr gesagt hatte, wie sehr er sie liebe …

Bilder, Bilder, Bilder …

Es waren die schönen Bilder, die sie sah, alle Krisen, alle Auseinandersetzungen waren wie ausgelöscht. Es war gewiss nicht richtig, die Welt nur so zu sehen, wie man sie haben wollte. Doch im Augenblick half es ihr. Lars war ihr so nahe, dass sie glaubte, ihn neben sich zu spüren, ihn zu riechen, ihn zu fühlen.

Roberta verlor sich in etwas, was es nicht mehr gab, was es niemals mehr geben würde. Es waren magische Momente, die sie zwar aufwühlten, an denen sie sich aber auch festklammern konnte, weil ihr bewusst wurde, dass Lars bei ihr war, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte, dass er immer bei ihr bleiben würde. Das war schmerzlich und beruhigend zugleich.

Roberta hatte keine Ahnung, wie lange sie so verharrt hatte, losgelöst, da und doch nicht da.

Irgendwann fröstelte sie, denn das stille Verharren hatte die Kälte in ihr aufsteigen lassen. Der magische Augenblick war vorbei, die Realität hatte sie wieder, doch das Bild an der Wand, das blieb, und dort würde es auch für immer bleiben.

Sie stand auf, nahm das Lederband mit den beiden Ringen vom Hals, legte alles behutsam in ihre Nachttischschublade, und dann machte sie sich daran, das Museum, das sie ringsum für ihn errichtet hatte, aufzulösen.

Sie sammelte die vielen Fotos ein, ließ nur einige auf ihrem Platz. Sie brauchte all diese Fetische nicht. Herzensmenschen behielt man im Herzen, dort hatten sie ihren Platz.

Es war merkwürdig, aber sie hatte das Gefühl, das für sie von Lars in Auftrag gegebene Bild hatte irgendwie eine Wende gebracht. Sie hatte das Gefühl, das Tal der Tränen durchlaufen zu haben, und ein wenig kam sie sich vor wie der Phoenix aus der Asche, der sich seine Flügel verbrannt hatte und dennoch wieder gen Himmel stieg.

Sie durfte nicht mehr traurig sein, weil sie Lars, ihre Lebensliebe, verloren hatte, sondern glücklich, weil sie eine wundervolle, einmalige Zeit mit ihm hatte erleben dürfen.

Lars …

Noch konnte Roberta sich damit nicht trösten, doch es war wahr, eine Liebe, wie sie sie erleben durften, war etwas ganz Besonderes.

Als sie merkte, wie die Trauer sich wieder in ihr breit machen wollte, weil es nicht einmal ein Grab gab, an dem sie weinen konnte, versuchte sie alles, dem keinen Raum zu geben.

Für immer an einem Ort zu sein, auch wenn es nur seine sterblichen Überreste waren, das passte nicht zu ihm. Das hätte er auch nicht gewollt. Sie hatten darüber niemals gesprochen, doch mittlerweile war Roberta sich sicher, dass Lars gewollt hätte, dass man seine Asche verstreut hätte.

Es geschah nichts ohne Grund. Lars hatte gewiss nicht damit gerechnet, aus ihrem Leben einfach zu verschwinden. Dennoch hatte er Spuren hinterlassen, das in Auftrag gegebene Bild, die gekauften Ringe, das verkaufte Haus.

Er hatte bei ihr einziehen und sie heiraten wollen.

Seinen Namen würde sie niemals tragen. Doch seine Liebe würde ihr auf ewig gehören …

*

Es war schon sehr spät, als Angela von Bergen im Sonnenwinkel ankam, und als sie ihr Auto vor dem Gartenzaun parkte, weil sie keine Lust hatte, es in die Garage zu fahren, sah sie, dass im Wohnzimmer noch Licht brannte. Ihre Mutter war also noch wach, und sie wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte oder ob es besser gewesen wäre, sie erst am nächsten Morgen beim Frühstück zu sehen.

Es war verrückt. Sie war eine erwachsene Frau, und dennoch hatte sie auf einmal das Gefühl, etwas Verbotenes getan zu haben, für das sie sich nun vor ihrer Mutter zu rechtfertigen hatte.

Es war nur ein Gefühl, und dennoch kam Angela nicht dagegen an, dabei würde ihre Mutter ihr niemals Vorwürfe machen, das war auch in der Vergangenheit nicht geschehen.

Sie war tatsächlich beim ­Kleve Verlag gewesen, von dem sie in schöner Regelmäßigkeit Übersetzungsaufträge bekam, und die dort geführten Gespräche waren für sie sehr positiv gewesen. Man war mit ihren Arbeiten zufrieden, was eine Honorarerhöhung mit sich brachte, mehr noch, man hatte ihr zu verstehen gegeben, dass sie jetzt zu den Stammübersetzern gehörte, deren Mitarbeit gesichert war. Besser ging es nicht.

Normalerweise wäre Angela jetzt jubelnd ins Haus gerannt, denn davon hatte sie geträumt, und jetzt war es ihr praktisch in den Schoß gefallen.

Es gab etwas, was ihr wichtiger war, und das war Berthold von Ahnefeld, den sie getroffen, dessentwegen sie sogar einen Tag länger geblieben war.

Und ausgerechnet er war es, der Angela vor ihrer Mutter so herumeiern ließ. Sie war überzeugt davon, dass ihre Mutter ihr alles Glück der Welt wünschte und dass sie nichts mehr freute, wieder einen Mann an der Seite ihres einzigen Kindes zu sehen.

Auch wenn sie es nur kurz angedeutet hatte, wusste Angela, dass ihre Mutter Vorbehalte gegen Berthold hatte. Nicht gegen ihn als Mann, sondern wegen seiner Vergangenheit, für die er nicht einmal etwas konnte, sondern die das Schicksal ihm aufgezwungen hatte. Klar hatte er einen großen seelischen Knacks davongetragen, das würde jeder, der auf einen Schlag seine komplette Familie verloren hatte. Und jeder würde sich unentwegt die Frage stellen, warum ausgerechnet er am Leben geblieben war. Im Falle Berthold hätte er ja eigentlich auch in dem kleinen Flieger gesessen, wäre da nicht kurz vor dem Start dieser wichtige Anruf gekommen, der ihn gezwungen hatte, am Boden zu bleiben. Seinem Schicksal entging man wirklich nicht, denn er hatte für alle den Flug streichen wollen, doch sie hatten um jeden Preis fliegen wollen, auch ohne ihn, ihrem Verderben entgegen.

Angela strich sich über die Augen, dann stieg sie aus, holte ihre Tasche aus dem Kofferraum, ehe sie ins Haus ging. Sie stellte die Tasche in der Diele ab, dann begab sie sich ins Wohnzimmer, wo ihre Mutter vor dem Fernseher saß und sich einen Film anschaute.

Als sie ihre Tochter bemerkte, rief sie erfreut: »Angela, mein Kind, mit dir hätte ich heute nicht mehr gerechnet. Schön, dass du wieder daheim bist.«

Sie machte den Fernseher aus, als Angela protestierte, dass das nicht nötig sei, bemerkte Sophia: »Ach, es ist ja nichts Gescheites im Fernsehen, und ob ich diesen Film nun sehe oder nicht, ist ohne Bedeutung.«

Angela umarmte ihre Mutter, setzte sich neben sie, sie waren sehr vertraut und eng miteinander, Angela merkte, wie sie allmählich herunterkam. Die Probleme, die sie sah, fanden nur in ihrem Kopf statt. Sie erzählte von dem Erfolg, den sie im Verlag hatte, von der besseren Bezahlung und der Gewissheit, nun immer Aufträge zu bekommen. Und darüber freute Sophia sich sehr.

Alles war gut, Angela atmete tief durch.

»Ich bin nicht direkt zurückgekommen, weil ich mich mit Berthold getroffen habe, und aus einem eigentlich geplanten Tag wurden zwei.«

Angela sah, dass der Körper ihrer Mutter sich versteifte, sie sagte aber nichts.

»Mama, Berthold und ich kommen uns immer näher, er tut mir gut, und umgekehrt ist es auch so. Und er tut alles, um die Scherben aus seiner Vergangenheit zu beseitigen, damit wir einen unbelasteten gemeinsamen Weg gehen können. Und das wollen wir, das wollen wir beide.«

Sophia sagte noch immer nichts.

»Mama, ich weiß, dass du dir Sorgen machst, dass es dir lieber wäre, es gäbe einen Mann in meinem Leben, der frei von Altlasten ist. Mama, das ist kaum möglich. Ich bin nicht mehr taufrisch, es ist also davon auszugehen, dass die Männer, die mir über den Weg laufen, eine Vergangenheit hinter sich haben, genauso, wie es bei mir der Fall ist. Ich habe meinen Partner zwar nicht durch den Tod verloren, sondern durch eine Scheidung.

Es ist doch ganz gleichgültig, wodurch die Trennung kam, gescheitert ist gescheitert, ob nun unfreiwillig oder freiwillig. Mama, Berthold ist mir wichtig. Und ich wäre sehr glücklich, wenn du deine Vorbehalte gegen ihn aufgeben könntest. Mein Exmann und Berthold sind nun überhaupt nicht miteinander zu vergleichen, der eine ist ein feiner Mensch, der andere war ungehobelt und egoistisch, dennoch hast du nichts dagegen gehabt.«

Sophia richtete sich ein wenig auf.

»Du hättest dir von mir nicht reinreden lassen, du wolltest diesen Wim Halbach um jeden Preis haben. Vielleicht war es ja ein wenig Torschlusspanik, weil all deine Freundinnen längst verheiratet waren.«

Was war bloß mit ihrer Mutter los?

»Und was glaubst du, was es jetzt ist, Mama?«, erkundigte Angela sich.

Sophia zögerte mit der Antwort.

»Na so was Ähnliches, du bist älter geworden, glaubst, keinen Mann mehr abzukriegen, weil die alle verheiratet, nicht mehr auf dem Markt sind, die altersmäßig zu dir passen.«

Angela überlegte einen Augenblick, dann umfasste sie die schmalen Schulter ihrer Mutter.

»Mama«, erkundigte sie sich, »ist es nicht viel mehr so, dass dir ein wenig bange davor ist, wieder allein leben zu müssen?«

An der Reaktion ihrer Mutter merkte Angela, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.

Sie wartete eine Antwort überhaupt nicht erst ab.

»Liebe Mama, darüber haben Berthold und ich längst gesprochen. Wo immer unser gemeinsames Domizil auch sein wird, wird es auch deine Heimat werden.«

»Alt und jung gehören nicht zusammen«, behauptete Sophia.

Sie versuchte, sich aus der Umarmung ihrer Tochter zu befreien, nicht etwa, weil es ihr unangenehm war, sondern weil sie dadurch zeigen wollte, dass sie auch allein sein konnte. Es war ein dummer, beinahe verzweifelter Versuch.

Angela ließ sich nicht beirren. Sie hielt ihre Mutter nicht nur weiter fest, sondern sie verstärkte ein wenig den Druck ihrer Arme.

»Stimmt nicht, Mama. Auch wenn du eine sehr kluge Frau bist, muss ich dir jetzt widersprechen. Es hat sich mittlerweile längst herausgestellt, dass ein Zusammenleben von Jung und Alt ein Gewinn für alle Beteiligten ist. Man baut nicht umsonst überall Mehrgenerationenhäuser und sogar schon Siedlungen, bei denen dieser Gedanke aufgegriffen wird. Das Haus, in dem wir miteinander leben werden, wird groß genug sein, um Freiräume für jeden von uns zu bieten. Du wirst deine eigene kleine Wohnung haben. Doch unsere Türen werden für dich jederzeit offen sein, und sowohl Berthold als auch ich wünschen uns von ganzem Herzen, dass es umgekehrt ebenfalls so sein wird. Berthold hat schon sehr früh seine Mutter verloren. Er möchte dich sehr gern näher kennenlernen, du gefällst ihm nämlich sehr.«

Angela lockerte ihren Griff. Sophia rückte ein wenig von ihrer Tochter ab, wieder nicht, weil ihr deren Nähe unangenehm war, sondern weil sie Angela in die Augen sehen wollte.

»Und das habt ihr euch wirklich gemeinsam ausgedacht?«, erkundigte Sophia sich ein wenig misstrauisch.

Angela nickte.

»Ja, Mama, das haben wir, das haben wir gemeinsam«, das letzte Wort betonte sie besonders. »Sieh einmal, Berthold und ich sind keine Teenies mehr, die sich unbekümmert und sorglos in das Abenteuer Zusammenleben stürzen, die sich sofort wieder trennen, wenn sie merken, dass sie sich geirrt haben. Berthold und ich möchten unseren Weg gemeinsam gehen …, bis zum Ende.«

Sophia sagte nicht sofort etwas. Das lag auch ein wenig daran, dass sie ein wenig verwirrt war. Angela hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Im Grunde genommen hatte sie keine Vorbehalte gegen Berthold von Ahnefeld, der war wirklich ein ganz kultivierter, gebildeter Mann. Nein, sie hatte Angst davor, wieder allein zu sein, nachdem sie und ihre Tochter eine so schöne gemeinsame Zeit hatten, trotz allem, was es an Widrigkeiten gegeben hatte.

»Angela, ich …«

Angela streichelte die Hand ihrer Mutter. »Mama, wir müssen jetzt nicht weiter darüber sprechen. Manches zerredet man auch. Und Berthold und ich sind erst am Anfang, wir nähern einander ganz behutsam, wir haben wirklich keine Eile.«

So ganz verstand Sophia nicht, was ihre Tochter damit ­sagen wollte.

»Und wie soll das gehen?«, erkundigte sie sich deswegen.

Angela lächelte fein.

»Wir werden so eine Art Fernbeziehung führen, bis wir ganz genau wissen, wo unser Lebensmittelpunkt sein soll. Berthold ist ein sehr vermögender Mann, der nicht nur ein Privatvermögen besitzt, sondern bei dem es viele geschäftliche Verflechtungen gibt. Davon will er sich lösen. Der Verlust seiner Familie hat ihm bewusst gemacht, wie endlich das Leben ist, und das es jeden Tag vorbei sein kann, ob mit oder ohne Geld. Irgendwo hatte er wohl im Hinterkopf, die Geschäfte für seinen Wohn erhalten zu müssen. Das ist ja nun vorbei. Wir werden keine Kinder mehr haben. Und aus dem Alter, welche zu adoptieren, sind wir heraus. Das ist auch keine Option für uns. Man kann vieles für Kinder tun, ohne selbst welche zu haben. Aber auch das ist Zukunftsmusik. Berthold möchte frei sein für uns.«

»Er ordnet sein Leben, befreit sich von Altlasten«, wandte Sophia ein, »und du bringst deine Mutter im Gepäck mit. Das kann nicht klappen«, wagte sie eine düstere Prognose.

Angela löschte jedoch sofort alle Bedenken aus.

»Mama, wir ziehen morgen nicht um, wenn du Berthold erst einmal näher kennenlernst, siehst, was für ein wunderbarer, sehr großzügiger Mann er ist, wirst du irgendwann keine Bedenken mehr haben … Mama, wir sind in erster Linie nicht zusammen, weil wir fummelig aufeinander sind, nicht genug voneinander haben können, sondern weil unsere Seelen zueinander gesprochen haben. Das ist unbeschreiblich schön und gibt einem eine ganz andere Sicherheit, als wenn das Zusammensein in erster Linie auf körperlicher Anziehung beruht. Das ist bei uns auch der Fall, keine Frage, aber es ist nicht ausschlaggebend, und das macht den Unterschied aus.«

Sophia wollte eine Bemerkung machen, doch das ließ Angela einfach nicht zu. Sie legte ihrer Mutter sanft einen Finger auf den Mund.

»Mama, bitte sag jetzt nichts, freue dich einfach mit mir. Ich bin zum ersten Male in meinem Leben so richtig glücklich, fühle mich geborgen. Ich bin angekommen.«

Sophia blickte ihre Tochter an. Sie hatte sich immer alles nur erdenklich Gute für sie gewünscht, und das hatte nicht geklappt. Sollte es jetzt wirklich so sein, dass sie die wahre Liebe gefunden hatte, dass Berthold von Ahnefeld auf ihren Weg musste, auch wenn es auf Umwegen geschehen war und es viel Leid und Verluste gegeben hatte? Ja, es war wohl so, und das Schicksal ging seine eigenen Wege.

»Ich freue mich für dich, mein Kind«, sagte Sophia, und es war das erste Mal, dass sie diesen Satz ganz ohne Vorbehalte aussprach.

*

Inge überlegte gerade, ob sie nach Hohenborn fahren sollte, um einen Stoff zu kaufen, weil Pamela wieder einmal etwas gesehen hatte, was ihr unglaublich gefiel. Sie hatte zwar nicht darum gebeten, dass Inge ihr dieses Teil nähen sollte. Doch Inge war sich sicher, dass sie ihrer Tochter mit einer Überraschung eine große Freude machen würde. Pamela konnte sich so herrlich freuen.

Noch während sie darüber nachdachte, klingelte es an ihrer Haustür Sturm. Ehe da jemand die Klingel abriss, rannte sie schnell zur Haustür.

Rosmarie Rückert stand davor, und sie war bestens gelaunt.

»Da bin ich wieder«, sagte sie und umarmte Inge stürmisch, »und ehe ich zur Baustelle fahre, wo ich mich vermutlich eh nur ärgern muss, komme ich zuerst zu dir.«

Inge freute sich, dennoch konnte sie sich eine Frage nicht verkneifen: »Wolltet ihr nicht länger bei Cecile in Paris bleiben?«

Rosmarie seufzte.

»Ja, aber du kennst doch meinen umtriebigen Heinz. Der hat sich erstaunlicherweise schon ziemlich aus dem Tagesgeschäft in seinem Notariat zurückgezogen, doch ganz lassen kann er es nicht, hält sich noch immer für unentbehrlich, und deswegen lässt er sich auch täglich informieren. Und nun gibt es da etwas, wovon er glaubt, nur er sei in der Lage, es erledigen zu können.«

Sie lachte.

»Soll er. Ich bin ja froh, dass er sich mehr Zeit für mich nimmt, und Cecile war sehr glücklich, uns bei sich zu haben. Und die Wohnung, die wir in einem ihrer Häuser jetzt haben, die ist wunderschön. Wenn du dich mal aufraffen kannst, dann können wir gemeinsam hinfahren. Und du sprichst perfekt Französisch, da können wir eine ganze Menge erkunden.«

Es hörte sich alles gut an, doch sie standen noch immer in der Diele.

»Willst du nicht erst einmal reinkommen, Rosmarie?«, erkundigte sie sich.

Rosmarie lachte erneut.

»Du liebe Güte, ja, ich hatte nämlich nicht nur Lust, dich zu sehen, sondern ich möchte auch gern mit dir einen Kaffee trinken.«

Nach diesen Worten drückte sie Inge einen Karton in die Hand.

»Ich habe dir auch etwas mitgebracht. Du backst zwar wie eine Weltmeisterin, doch diese Apfeltorte wird dich vom Hocker hauen. Die kann man in Paris in einer ganz kleinen, unscheinbaren Pattisserie kaufen, die nur Insider kennen, Touristen würden die niemals finden.«

Inge bedankte sich.

»Dann können wir die ja gleich probieren.«

Damit war Rosmarie allerdings nicht einverstanden.

»Nein, nein, die ist für euch bestimmt, und für Teresa und Magnus habe ich auch noch eine im Auto.«

Sie gingen in die gemütliche Wohnküche, den Lebensmittelpunkt der Auerbachs, und wenig später saßen sie sich bei einem Kaffee gegenüber.

»Ich habe noch einen Hintergedanken, liebe Inge«, gestand Rosmarie. »Ich hoffe, dass du die Zutaten herausfinden wirst und wenigstens annähernd so eine Torte backen kannst.«

Inge lachte.

»Du setzt hohe Erwartungen in mich, meine Liebe. Versuchen kann ich es, versprechen nicht. Aber nun erzähl, wie war es? Wie geht es Cecile? Sie ist eine so wunderbare junge Frau, so unkompliziert, in keiner Weise eingebildet. Das ist schon erstaunlich, wenn man bedenkt, wie immens reich die Raymonds doch sind.«

Das konnte Rosmarie nur bestätigen, doch dann legte sie los, und sie hatte ganz glänzende Augen als sie über alles berichtete, was sie gemeinsam unternommen hatten.

»Cecile hat sich für uns Zeit genommen, sehr viel Zeit, und am meisten freut mich, dass sie und Heinz sich annähern. Und eines ist schon erstaunlich, je länger wir sie kennen und je näher wir uns sind, ist nicht zu übersehen, dass Cecile auch eine ganze Menge von Heinz hat. Es ist nicht zu verleugnen, dass er der Vater ist, und das macht ihn natürlich unglaublich stolz. Ach, Inge, ich hätte es nie für möglich gehalten, dass sich alles mal in diese Richtung ­entwickeln würde. Am liebsten würde ich niemals mehr daran erinnert werden, wie zickig ich anfangs war, welche Vorbehalte ich gegen diese wunderbare junge Frau hatte, und wenn …«

Inge unterbrach sie einfach.

»Rosmarie, hör auf damit, die ollen Kamellen hervorzukramen. Das war früher …, früher hatten wir auch einen Kaiser. Erfreue dich an der Gegenwart, vor allem auch darüber, dass Heinz und Cecile sich näherkommen. Ich habe übrigens auch Kuchen gebacken, der zwar nicht an deine Apfeltorte herankommt, den du aber magst.«

Sofort erwachte in Rosmarie die Begehrlichkeit.

»Und das sagst du erst jetzt? Was ist es denn?«

»Ein simpler Streuselkuchen.«

»Simpel nennst du den? Ich habe noch nirgendwo einen Kuchen mit so dicken Streuseln gegessen. Her damit.«

Inge freute sich, nicht wegen des Kuchens, sondern weil Rosmarie so gut drauf war, Paris hatte ihre Lebensgeister wieder geweckt, ihr die Zweifel genommen.

Inge servierte den Streuselkuchen, Rosmarie machte sich darüber her, warf hier und da französische Worte hinein, die sie neu gelernt hatte.

Es freute Inge, dass Rosmarie gekommen war.

»Und was gibt es an Neuigkeiten im verträumten Sonnenwinkel?«, erkundigte sie sich.

Das mit dem toten Mädchen behielt Inge erst einmal für sich, Rosmarie war gerade erst angekommen, da musste sie nicht direkt mit so einer Keule kommen, die die gute Stimmung sofort zerschlagen würde. Das war kein Thema, um danach sofort fröhlich weitermachen zu können. So etwas drückte die Stimmung.

»Jörg und Charlotte waren hier«, erzählte sie. Auch das hätte sie Rosmarie gern ein andermal erzählt, weil Jörg schließlich mal deren Schwiegersohn war, doch es war auf jeden Fall besser als ein totes Mädchen, und ansonsten geschah ja auch nicht viel im verträumten Sonnenwinkel. Zum Glück nicht, konnte man nur sagen.

Das griff Rosmarie direkt auf.

»Wie schön, Inge, dann haben die beiden sich also wieder versöhnt.«

Natürlich kannte Rosmarie die ganze Geschichte.

»Rosmarie, nicht nur das, sie sind auf Bali, und dort werden sie vermutlich mittlerweile geheiratet haben. Stell dir vor, Jörg und Charlotte wollten am Strand heiraten, ganz romantisch.«

Rosmarie äußerte sich nicht sofort dazu, und Inge bekam bereits ein schlechtes Gewissen. Das hätte sie jetzt vielleicht nicht sagen sollen.

Sie musste diese Bedenken nicht haben, denn Rosmarie verdaute diese Neuigkeit erst einmal, ehe sie sagte, und das klang sehr glaubwürdig: »Inge, ich freue mich für die beiden, ich freue mich sogar sehr.«

Inge warf ihr einen ungläubigen Blick zu, den Rosmarie registrierte.

»Inge, bitte höre auf, dir darüber Gedanken zu machen. Ich mache es längst nicht mehr, und ich möchte nicht immerfort wiederholen, dass meine Tochter deinen Sohn verlassen hat, dass ich es sein müsste, die deswegen Schuldgefühle haben müsste. Habe ich nicht. Stella ist erwachsen und allein für ihr Tun verantwortlich. Sie muss wissen, was sie tut, was sie getan hat.«

Inge zweifelte an diesen Worten, schließlich hatte sie hautnah mitbekommen, wie unglücklich Rosmarie über diese Trennung gewesen war und mehr noch darüber, dass Stella ihren Eltern nichts darüber gesagt hatte, sondern sang- und klanglos aus deren Leben verschwunden war. Bis heute.

Ehe Inge etwas dazu sagen konnte, fügte Rosmarie hinzu: »Inge, ich kann mir deswegen nicht für den Rest meines Lebens den Kopf zermartern, mich mit Schuldgefühlen quälen, nur weil Heinz und ich schlechte Eltern waren. Damals war damals, heute ist heute. Bitte, lass uns nicht über Stella sprechen, und glaube mir, ich freue mich wirklich für Jörg und seine neue Partnerin und wünsche ihm alles Glück der Welt. Er hat es verdient.«

Inge wollte das Thema nicht vertiefen; auch wenn man vorgab, über allem zu stehen, irgendwo blieb ein Stachel, der schmerzte. Ihr ging es nicht anders.

»Sag mal, hat Cecile eigentlich einen Partner?«, erkundigte sie sich, und das nicht einmal aus Neugier, sondern weil es sie wirklich interessierte. Sie mochte Cecile. Und sie war glücklich darüber, dass Ricky und Fabian sie zur Patentante der kleinen Teresa gemacht hatten. Und das weiß Gott nicht wegen der großzügigen Geschenke, die Cecile ihrem Patenkind machte.

Rosmarie seufzte bekümmert.

»Leider nicht, die arme Cecile scheint immer nur Frösche zu küssen, die auch Frösche bleiben. Es ist ja auch sehr schwer für sie, den richtigen Partner zu finden, weil sie niemals sicher sein kann, ob der Verehrer sie meint oder ihr Vermögen. Und auch wenn die Raymonds ein sehr zurückgezogenes Leben führen, sind sie in der Öffentlichkeit bekannt, und wo sie auch immer auftauchen für die Fotografen ein Objekt ihrer Begierde.«

Das konnte Inge sich sehr gut vorstellen, und ein von der Öffentlichkeit begehrtes Leben wollte sie nicht führen.

»Vielleicht sollte sie sich mal im Ausland umsehen«, schlug sie vor, »oder muss es unbedingt ein Franzose sein?«

»Schon vergessen, dass Ceciles eigener Vater ein Deutscher ist, nämlich mein Heinz?«, erinnerte Rosmarie sie. »Ich glaube, Cecile ist nicht auf der Suche, und da ähnelt sie ein wenig dir, sie glaubt nämlich, dass der Mann, der ihr vorbestimmt ist, schon auf ihren Weg kommen wird. Ich bin da anders, ich würde nachhelfen.«

Das hatte sie bei ihrem Heinz, in der Tat, doch es hatte viele Jahre gedauert, ehe den beiden bewusst geworden war, dass sie füreinander bestimmt waren, dass sie ihren Weg gemeinsam gehen sollten. Erst jetzt gab es bei den beiden ein Miteinander, vorher war es ein Nebeneinander gewesen. Sie hatten sich um sehr viel gebracht. Doch hier lohnte es sich nicht, darüber nachzudenken, es war vorbei, und es ließ sich nichts zurückholen, es ließ sich leider auch nichts konservieren, weil das Leben immer voranging. Man sollte sich nicht wegen anderer Menschen den Kopf zerbrechen, sondern vor der eigenen Tür kehren. Und man sollte sich stets bewusst machen, dass es im Leben für nichts eine Garantie gab, leider auch nicht für die Liebe, und wenn man der begegnete, dann war man schon ein Gewinner, weil einem die Zeit der Liebe niemand nehmen konnte. Es war niemals zu spät.

»Und habt ihr eure nächste Campingreise bereits geplant?«, wollte Inge wissen, weil auf so einer Reise zwischen Rosmarie und Heinz alles angefangen hatte, da hatten sie auf sehr engem Raum ihre Gefühle füreinander entdeckt.

»Ach, Inge, wir wüssten schon, wohin wir am liebsten am nächsten fahren würden. Wir sind ganz heiß auf diese Art des Reisens. Das können wir erst wieder in Angriff nehmen, wenn der Umbau fertig ist, wenn wir aus unserem Haus in Hohenborn ausgezogen sind. Piet van Beveren lässt uns zwar Zeit, und dafür sind wir ihm auch sehr dankbar, doch seine Geduld dürfen wir nicht zu sehr strapazieren.«

Inge überlegte einen kurzen Augenblick, dann stellte sie die Frage doch, weil es sie interessierte. »Und tut es dir noch leid, dich für das Haus im Sonnenwinkel entschieden zu haben?«, wollte sie wissen.

Rosmarie wusste direkt, worauf Inge anspielte. Sie lächelte.

»Es war töricht von mir, diese Entscheidung überhaupt infrage zu stellen, es war die beste unseres Lebens. Als ich nach unserer Rückkehr aus Paris in unsere Villa kam, gruselte es mich richtig. Es ist alles viel zu groß, man verliert sich darin richtig. Jetzt fällt es natürlich noch viel mehr auf, weil schon sehr viele der Möbel weg sind, weil das, was wir mit in unser neues Leben möchten, weitgehend gepackt ist und ordentlich in einer Ecke steht. Ehrlich, Inge, wir können dem lieben Gott auf Knien danken, dass er uns diesen Käufer geschickt hat. Wir hätten die Villa sonst nie verkaufen können, solch einen Kasten bindet sich doch freiwillig niemand ans Bein, allein schon wegen der hohen laufenden Kosten nicht.«

»Ihr habt es, meine Liebe, und dein Mann ist jemand, der sehr gut rechnen kann«, erinnerte Inge sie.

So etwas hörte Rosmarie überhaupt nicht gern. Sie winkte deshalb auch direkt ab.

»Inge, das war eine Frau aus einem früheren Leben, die einen solchen Irrsinn ausgeheckt hat. Bitte erinnere mich nicht mehr daran. Aber jetzt fällt mir auf, dass ich schon wieder viel mehr Zeit bei dir verbringe als geplant. Aber es ist halt auch immer wieder schön. Doch jetzt muss ich wirklich aufbrechen, zumal ich ja auch noch bei deinen Eltern eine Torte abgeben will.«

»Das kann ich für dich übernehmen, Rosmarie«, schlug Inge vor, doch davon wollte ihre Besucherin nichts wissen.

»Nein, die Zeit muss sein, ich möchte Teresa nämlich auch sehr gern begrüßen. Du weißt ja überhaupt nicht, was für eine großartige Mutter du hast, Inge.«

»Das weiß ich schon, doch ganz ohne ist meine Teresa auch nicht, sie hat ganz schöne unkonventionelle Talente.«

Rosmarie lachte.

»Ich würde sie mit all ihren unkonventionellen Talenten nehmen.«

Die beiden Frauen umarmten sich.

»Inge, ich freue mich schon darauf, bald ganz in deiner Nähe zu wohnen. Ich muss den Handwerkern gleich mal gehörig Dampf machen, aber erst, nachdem ich bei Teresa war.«

Sie ging, Inge begleitete sie noch zur Tür, sah, wie Rosmarie einen weiteren Karton aus ihrem Auto holte und zu einem weißen Haus stürmte.

Lächelnd ging sie in ihr eigenes Haus zurück in dem Bewusstsein, dass ihre Eltern sich über die Apfeltorte aus Paris sehr freuen würden.

Nach Hohenborn würde sie nun nicht mehr fahren, doch das bedauerte Inge in keiner Weise. Der überraschende Besuch von Rosmarie war schön gewesen, und das ganz gewiss nicht wegen der mitgebrachten Torte. Doch es war sehr nett von Rosmarie, an so etwas zu denken. Sie würde die Torte gemeinsam mit ihrem Werner und Pamela essen, die beiden waren für etwas Süßes immer zu haben. Und dann …, wenn sie ehrlich war, dann war ihr Ehrgeiz jetzt geweckt. Sie würde versuchen, die Torte nachzubacken. Ob sie Erfolg haben würde, das stand in den Sternen. Es war nicht einfach, und sie wusste, wovon sie redete. Schließlich versuchte sie immer wieder, die Sacher Torte aus dem Wiener Kaffeehaus nachzubacken. Das gelang ihr schon recht gut, sie wurde deswegen gelobt, doch an das Original kam sie einfach nicht heran. Deswegen ließ Inge sich allerdings keine grauen Haare wachsen.

Apropos graue Haare …

Davon entdeckte sie immer mehr auf ihrem Kopf, doch das störte sie nicht. Sie würde sich ihre Haare garantiert nicht färben lassen. Man musste in Würde alt werden. Außerdem alt, was sollte das, sie war eine Best-Agerin, so wurden die Leute in den besten Jahren genannt.

Ehe sie die Torte in den Kühlschrank stellte, warf sie einen Blick in den Karton. Sie sah toll aus, die Apfeltorte aus Paris, und wie sie duftete, köstlich …, da konnte man schon mal seine guten Vorsätze vergessen. Aber nein! Man musste sich auch beherrschen können. Seufzend stellte sie die Torte endgültig weg, dann räumte sie das benutzte Geschirr weg und pickte eine Streusel von ihrem Teller, denn sie hatte natürlich ebenfalls ein Stückchen Kuchen gegessen. Sie schob jetzt nicht vor, dass sie es aus Gesellschaft getan hatte, nein, sie war ehrlich. Der Kuchen schmeckte ihr, musste er ja auch, sonst hätte sie ihn nicht gebacken.

Sie blickte auf die Uhr, sie hatte Zeit, denn die Vorbereitungen für das Mittagessen hatte sie vor Rosmaries unverhofftem Besuch getroffen, weil sie ja in den Stoffladen nach Hohenborn wollte.

Was sollte sie jetzt tun?

Darüber musste sie nicht lange nachdenken, sie öffnete eine Tischschublade und holte ein Rätselheft und einen Stift heraus, und dann begann sie zu rätseln. Dabei konnte Inge herrlich entspannen, und es konnte ja auch nicht schaden, ihr Gehirn ein wenig arbeiten zu lassen.

Sie vergaß alles um sich herum. In diesen Augenblicken des geliebten Rätselratens fand Inge ihre natürliche Gelassenheit wieder.

*

Teresa von Roth öffnete ihre Haustür und war mehr als nur erstaunt, als sie sah, wer da vor ihr stand. Sophia von Bergen! Sie sahen sich zwar oft, doch es war immer Teresa, die zu Sophia ging, umgekehrt war es noch niemals der Fall gewesen.

»Sophia, jetzt glaube ich wirklich zu träumen«, lachte Teresa, die sich natürlich auch freute, »was treibt dich zu mir, meine Liebe?«

»Hast du ein bisschen Zeit für mich, oder musst du weg?«, erkundigte Sophia sich.

»Für dich habe ich immer Zeit, Sophia, und wenn ich weg müsste, würde ich mir die Zeit für dich nehmen. Komm rein, dann kannst du auch direkt etwas von einer köstlichen Apfeltorte probieren, direkt aus Paris, die …«, schon wollte sie sagen, die mir Rosmarie mitgebracht hat. Doch das verkniff sie sich im letzten Augenblick. Sophia war manchmal sehr empfindlich, und Teresa wusste nicht, wie die darauf reagieren würde.

»Die Magnus und ich zum Glück noch nicht ganz aufgegessen haben«, das war nicht gelogen.

Die beiden Damen gingen ins Haus, und wenig später servierte Teresa ihrer Freundin Sophia nicht nur die angekündigte Torte, bei der Sophia zum Glück nichts hinterfragte, sondern die nur genoss. Teresa trank dazu Kaffee, wie es sich für ihre Begriffe gehörte. Die Franzosen waren schließlich als Kaffeetrinker bekannt. Sophia wollte lieber Tee trinken, den bekam sie, schließlich war des Menschen Wille sein Himmelreich.

Nachdem Sophia die Torte hinreichend gelobt hatte, erkundigte Teresa sich ein wenig neugierig: »Und was führt dich zu mir, meine Liebe? Du hast doch etwas auf dem Herzen, oder?«

Sophia wurde rot wie ein junges Mädchen. Diese Teresa! Die hatte wirklich den Siebten Sinn!

Nach kurzem Zögern erzählte sie Teresa, was sie von Angela erfahren hatte und was sie noch immer ein wenig verwirrte und auch verunsicherte.

»Das kann doch nicht klappen, wenn sie mich mit in ihr neues Leben nimmt, Teresa. Ich will Angelas Glück nicht im Wege stehen, wenn nun …«

Teresa ließ sie überhaupt nicht aussprechen.

»Sophia, was erzählst du für einen Unsinn? Sophia, erinnere dich bitte daran, wie es früher bei uns in der Heimat war, wie es auf Bauernhöfen noch immer ist, in südlichen Ländern ebenfalls. Da werden die Alten nicht einfach abgeschoben, da lebt man mit ihnen, die heutigen Jungen haben den jetzt Alten ihre Existenz zu verdanken, ohne die wären sie nämlich überhaupt nicht da. Ich finde es richtig, was Angela und Berthold da entschieden haben, und von den beiden habe ich auch nichts anderes erwartet. Freu dich gefälligst, und wenn …«

Unvermittelt brach Teresa ihren Satz ab.

Sophia wartete eine Weile, und weil nichts geschah, erkundigte sie sich besorgt. »Teresa, was ist los? Warum redest du denn nicht weiter? Ist dir gerade doch noch etwas eingefallen, was gegen die Pläne von Angela und Berthold spricht? Gewissermaßen das Haar in der Suppe?«

Manchmal dachte Sophia wirklich ein wenig um die Ecke. Augenblicklich jedoch hätte sie gern eine andere Antwort von Teresa erwartet, die wie aus der Pistole geschossen kam.

»Da gibt es tatsächlich etwas.«

Als sie merkte, wie blass Sophia wurde, fuhr Teresa allerdings ganz schnell fort: »Sag mal, ist dir eigentlich schon in den Sinn gekommen, dass die wirklich ganz wunderbare Veränderung auch in deinem Leben bedeutet, dass wir uns dann nicht mehr sehen werden, wenn es so weit ist? Es ist schließlich kaum vorstellbar, dass Berthold von Ahnefeld seinen Lebensmittelpunkt in den Sonnenwinkel verlegen wird. Dass das nicht geschieht, darauf könnte ich wetten, und das bedeutet halt …«

»Dass wir diesen wunderschönen Platz ebenfalls verlassen werden«, ergänzte Sophia den Satz. Ihre Stimme zitterte dabei ein wenig. »Das ist ja schrecklich, nein, daran dachte ich bislang wirklich nicht. Und nun?«

Teresa stand auf, ging zu ihr, dann umarmte sie Sophia, die in diesem Moment auf sie wirkte wie ein kleiner verschreckter Vogel, der aus dem Nest gefallen war.

»Sophia, meine Liebe, es ist, wie es ist. Jetzt, da wir uns gefunden haben und immer besser verstehen, möchte ich das Beisammensein mit dir nicht mehr vermissen. Wir werden also Mittel und Wege finden müssen, uns hier und da zu treffen, und du musst dich endlich mal dazu überwinden, für deine Kommunikation mehr als nur das Telefon zu benutzen.« Obwohl ihr wirklich nicht danach zumute war, musste Teresa jetzt lachen, als sie bemerkte, wie unglaublich ängstlich Sophia sie anschaute.

»Teresa, ich kann das nicht, und ich will es auch nicht«, wehrte sie sofort entschieden ab.

»Ach, Sophia, so habe ich anfangs ebenfalls gesprochen und mich wie ein störrischer Esel mit Händen und Füßen gewehrt. Man muss nicht alles mitmachen, doch man darf sich auch nicht allem verschließen, nur weil es früher anders war. Ich habe nachgegeben, und Hannes hat mich unter seine Fittiche genommen und mir alles beigebracht. Ich werde ihm für seine unendliche Geduld auf ewig dankbar sein. So geduldig wie er bin ich leider nicht, aber fit genug, um nun dir alles zeigen zu können, was ich gelernt habe. Wir müssen mit niemandem darüber reden, sondern du kannst Angela und die anderen hinterher mit dem Ergebnis überraschen. Und glaube mir, alle werden sie begeistert sein, deine Angela voran.«

Sophia schenkte ihrer Freundin einen Blick, in dem deutliche Bewunderung lag. »Du gibst wohl niemals auf, nicht wahr? Und du hast auch auf alles eine Antwort.«

Sofort widersprach Teresa.

»Ich wollte, es wäre so, es gibt niemanden, der auf alles die richtige Antwort hat. Aber das mit dem nicht aufgeben, das trifft zu. Und ich versuche, alles nicht negativ zu sehen, sondern allem eine positive Seite abzugewinnen. Und nun zu dir, meine liebe Sophia. Für dich läuft es ja augenblicklich so gut, wie es besser nicht laufen kann. Angela und Berthold haben sich dazu entschlossen, ihren Weg gemeinsam zu gehen, und dich möchten sie mit auf ihre Reise nehmen. Das ist unbeschreiblich schön, freue dich, sei glücklich. Und eines bitte ich mir aus, betrachte dich nicht als ein lästiges Gepäckstück, das Angela sich da aufhalsen will. Du bist eine Bereicherung für jeden, weil du so unendlich viel zu geben hast. Und was uns zwei alte Mädchen betrifft, es wäre doch gelacht, wenn wir für uns nicht einen Weg finden würden, oder?«

Sophia nickte.

»Ist Magnus daheim?«, erkundigte sie sich plötzlich, und Teresa wusste nicht, was sie jetzt mit dieser Frage bezweckte.

»Nein, Sophia, ist er nicht. Wäre er es, dann hätte er dich nämlich längst schon begrüßt.«

Diese Antwort gefiel Sophia, das war nicht zu übersehen. Sie schob sich das letzte Stückchen der bereits viel gelobten Torte in den Mund, trank den letzten Schluck ihres Tees, und noch während sie die Tasse abstellte, erkundigte sie sich: »Worauf warten wir noch? Wo steht dein Computer?«

Das gefiel Teresa. Sofort erhob sie sich.

»Nebenan, da habe ich mir so etwas wie ein kleines Arbeits- und Lesezimmer eingerichtet. So sehr ich meinen Magnus auch liebe, wir müssen uns nicht fortwährend auf der Pelle hängen.«

Auch Sophia erhob sich, doch ehe sie Teresa nach nebenan folgte, erkundigte sie sich: »Und willst du nicht vorher deinen Kaffee austrinken? Und auch deine Torte hast du nicht aufgegessen.«

Teresa winkte ab.

»Das kann warten, der Computer aber nicht. An den setzen wir uns nämlich direkt, ehe du es dir anders überlegst, meine Liebe.«

Sophia ging auf den launigen Ton ein, sie fühlte sich plötzlich frei, und sie war ein wenig aufgeregt.

»Du hast wohl keine sehr hohe Meinung von mir?«, wollte sie wissen.

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Teresa. »Für mich bist du die beste Freundin, die man haben kann. Komm, und jetzt setze dich bitte auf diesen Stuhl hier, und schaue vor allem den Computer nicht an, als sei er ein Folterinstrument.«

Sophia musste lachen, und das entspannte sie ein wenig.

Und dann ging es los mit ihrer ersten Lektion, und ein ganz klein wenig kam sie sich vor wie an ihrem ersten Schultag.

*

Roberta hatte keinen Bereitschaftsdienst und derzeit auch keine Patienten, die ihre besondere Aufmerksamkeit brauchten. Sie hatte frei, und statt trübsinnig herumzuhängen, zumal auch Alma an diesem Wochenende nicht daheim war, entschloss sie sich Nicki zu besuchen. Sie wusste, dass sie ihrer Freundin damit eine ganz große Freude machte. Und Nicki hatte ohnehin noch etwas bei ihr gut für ihre selbstlose Hilfe, als herausgekommen war, dass Lars irgendwo in der Arktis verschollen war.

Alma hatte ihr Essen eingepackt, als sei sie wochenlang irgendwo in der Einsamkeit unterwegs, in der es weder Geschäfte noch Restaurants gab. Alles war portioniert, sie hatten die freie Auswahl, doch Roberta wusste, dass Alma eingeplant hatte, dass Nicki sehr gut das einfrieren konnte, was sie nicht essen würden.

Und Alma und Nicki, die waren ein Herz und eine Seele. Für Roberta war es okay, mehr noch, sie freute sich, sie hatte nicht nur das Essen in einer großen Kühlbox im Auto, sondern auch noch genügend Wein von der Sorte, die Nicki besonders mochte. Es war auch einer der Lieblingsweine von ihr und Lars gewesen, deswegen hatte sie genug davon im Haus.

Eigentlich hätte sie jetzt direkt zu Nicki fahren können. Doch da sie ja wusste, wie sehr Nicki spezielle afrikanische Blumen und Gräser liebte, wollte sie ihr noch eine Freude machen. Roberta wusste, dass Nicki sich diese Blumen nur sehr selten kaufte, weil sie ziemlich teuer waren, was auch erklärlich war, sie mussten einen sehr langen Weg zurücklegen, ehe man sich an ihnen erfreuen konnte.

Es war merkwürdig, sie hatte selbst lange in der Stadt gelebt und sie anfangs gemieden wie die Pest. Mittlerweile machte es ihr nichts mehr aus. Es konnte durchaus sein, dass es auch daran lag, dass ihr Exmann nicht mehr wie ein Heuschreckenschwarm in ihr Leben einfiel, was er immer noch versucht hatte, obwohl es ihm gerichtlich untersagt worden war. Nein, Roberta war fest davon überzeugt, dass seine neue, vor allem reiche Frau, dazu beigetragen hatte. Sie selbst war auf jeden Fall froh, ihn bei ihrem letzten Besuch hier zufällig getroffen zu haben, und da war er sogar richtig nett gewesen und hatte sich bei ihr entschuldigt. Für sie war immer noch schlimm, was er ihr alles angetan hatte. Das konnte sie nicht vergessen, doch sie war ihm ­gegenüber versöhnlicher gestimmt, und sie vergaß ihn immer mehr.

Als sie in den Blumenladen gehen wollte, stieß sie beinahe mit einer Frau zusammen, die das Geschäft eilig verlassen wollte. Beide blieben stehen, schauten sich an.

»Roberta, was machst du denn hier?«, erkundigte sich die eilige Kundin, und nachdem ­Roberta sich von ihrer ersten Überraschung erholt hatte, wollte sie wissen: »Claire, wieso bist du hier und nicht in Rom?«

Sie umarmten sich, lachten, hatten Freudentränen in den Augen. Das war jetzt ein unglaublicher Zufall. Dr. Claire Müller, eine sehr gute Internistin, hatte lange für sie gearbeitet, als sie noch Chefin der großen Praxis und verheiratet gewesen war mit Max, dem Charmeur. Dann hatte sie einen Italiener kennengelernt, und mit dem war sie nach sehr kurzer Zeit nach Rom gegangen, um ihn zu heiraten. Roberta erinnerte sich daran, als sei es erst gestern gewesen. Claire war es peinlich gewesen, von ihren Eltern ihren Vornamen erhalten zu haben. Es war nicht so, dass er ihr nicht gefiel, im Gegenteil. Sie fand es nur unerträglich, dass dann der simple Name Müller kam, gegen den sie auch nichts hatte, nur warum hatten ihre Eltern sie beispielsweise nicht Klara genannt, das passte zu Müller. Um dieses Trauma loszuwerden, hatte sie sich direkt mit Fabio Belani verlobt.

»Bist du zu Besuch hier, ­Claire?«, wollte Roberta wissen. Die schüttelte den Kopf.

»Ich bin wieder ganz in Deutschland, und ich heiße noch immer Müller. Dieser Name wird mich wohl bis an mein Lebensende verfolgen. Das mit Fabio hat nicht geklappt, wir haben uns direkt getrennt, nachdem die Werbewochen vorbei waren. Ich bin dann erst mal in Rom geblieben, habe dort in einer Klinik gearbeitet. Doch als der Führungsstab ausgewechselt wurde und es noch schlimmer wurde, habe ich die Reißleine gezogen und bin nach Deutschland zurückgekehrt. Es war eh eine Schnapsidee. Jetzt wohne ich in meinem alten Kinderzimmer und denke über die Zukunft nach. So etwas wie bei dir werde ich wohl nie mehr in meinem Leben bekommen. Doch dem muss ich nicht nachweinen, bei dir hat sich ja auch alles verändert. Du bist geschieden, der windige Max hat die Praxis gegen die Wand gefahren. Was machst du jetzt? Wo bist du abgeblieben? Das konnte mir bisher niemand sagen.«

Roberta konnte nicht direkt antworten, sie musste sich erst einmal von ihrer Überraschung erholen, und das war das zufällige Zusammentreffen wirklich, eine Überraschung. Claire Müller ausgerechnet hier zu treffen, was für ein Zufall. Nicki würde es natürlich nicht so bezeichnen, sondern es Vorbestimmung oder wie auch immer nennen.

Zum ersten Male fühlte Roberta sich wieder ein wenig frei und unbeschwert. Doch dieser Zustand sollte nicht lange andauern, denn Claire machte mit ihrer nächsten Frage alles unbewusst wieder zunichte.

»Und bist du wieder liiert?«

Diese Frage konnte Roberta nicht direkt beantworten, was Claire zum Anlass nahm, zu bemerken: »Vermutlich nicht, wer mit Max Steinfeld liiert war, muss sich davon erst einmal erholen und macht vermutlich einen großen Bogen um die Männer.« Sie blickte Roberta an, wunderte sich über deren plötzlich verändertes Aussehen. »Geht es dir nicht gut? Sollen wir irgendwo zusammen einen Kaffee trinken?«

Das würde Roberta wirklich gern, doch sie erinnerte sich, dass Nicki auf sie wartete.

»Ich bin verabredet, Claire. Doch komm mich doch besuchen. Ich würde mich freuen, und wenn du dir vorstellen könntest, an einem sehr idyllischen Ort zu arbeiten, dann hätte ich sogar etwas für dich.«

Das war ihr ganz spontan durch den Kopf gegangen und fühlte sich richtig an. Rasch erzählte sie Claire noch von ihrem Leben im Sonnenwinkel, ihrer Idee, jemanden einzustellen, weil sie allein alles nicht mehr bewältigen konnte. Dass sie psychisch angeschlagen war, behielt sie erst einmal für sich, das war ein sehr intimes Thema, das sich nicht vor der Tür eines Blumenladens besprechen ließ, in dem ein ständiges Kommen und Gehen herrschte.

Als Roberta fertig war, rief Claire überwältigt: »Roberta, das hört sich großartig an, und ich sage schon zu, ohne deine Praxis gesehen zu haben. Wieder mit dir zu arbeiten, das wäre fantastisch, die Erfüllung eines Traumes. Du glaubst ja überhaupt nicht, wie sehr ich es bereut habe, gegangen zu sein.«

»Claire, das musst du nicht, es wäre so oder so zu Ende gewesen. Max hat es weder geschafft, die Praxis ordentlich zu führen noch das Personal zu halten. Sie haben die Praxis verlassen wie die Ratten das sinkende Schiff. Schade, dass wir jetzt nicht weiterreden können, aber bitte, komm vorbei und überlege es dir. Eine Zusammenarbeit mit dir wäre perfekt, ich weiß ja, welch gutes Team wir waren.«

»Roberta, ich muss nicht überlegen, ich sage jetzt schon zu, weil ich ein besseres Angebot nie bekommen kann. Ich arbeite gern in einer Privatpraxis, aber ich möchte nicht die Verantwortung dafür tragen.«

Das war eine klare Ansage, das wollte auch Dr. Anders, doch im Gegensatz zu Claire kam der nicht in die Pötte. Und was hatte ein kluger Kopf einmal gesagt, und dieser Ausspruch war um die Welt gegangen? Wer zu spät kommt, den straft das Leben.

»Abgemacht, Claire, ich freue mich. Ruf mich an, dieses Wochenende habe ich meiner Freundin versprochenen, und die wäre sehr böse, wenn ich das jetzt absagen würde.«

»Frau Beck?«, wollte Claire wissen, und als Roberta nickte, fuhr sie fort: »Ihr wart ja immer ein Herz und eine Seele, es ist schön, dass diese Freundschaft noch besteht. Grüß sie recht herzlich von mir.«

Das versprach Roberta, sie wechselten noch ein paar Worte miteinander, dann verabschiedete Roberta sich, sie kannte Nicki, die saß jetzt bereits auf heißen Kohlen, und auch wenn sie selbst es mit der Pünktlichkeit nicht ganz so genau nahm, konnte sie ziemlich grantig werden, wenn sie auf jemanden warten musste. Außerdem war das Notwendigste gesagt.

Roberta betrat das Geschäft, wieder kannte sie niemanden vom Personal, was den Verdacht in ihr erweckte, der Besitzer könnte gewechselt haben. Alles veränderte sich, und wenn sie ihr eigenes Leben betrachtete, in dem war vieles passiert. Das Sortiment war auf jedem Fall auf diesem hohen Niveau geblieben. Sie hatte sogar den Eindruck, dass man es erweitert hatte. Sie wählte besonders schöne Blumen und Gräser aus, teilweise welche, die sie zuvor nicht gesehen hatte. Und während sie darauf wartete, dass die freundliche Floristin alles zu einem Strauß zusammenband, musste sie an die Begegnung mit Claire denken. Irgendwie war es nicht zu glauben. Sie suchte jemanden, das mit Dr. Anders hatte sich verzögert, und was sie anfänglich bedauert hatte. Jetzt war sie froh deswegen, denn so nett und kompetent er auch war: Claire Müller war ihre erste Wahl. Hätte Dr. Anders zugesagt, hätte sie dem natürlich keine Absage erteilt, sondern sie hätte ihr Wort gehalten, doch insgeheim hätte sie immer bedauert, diese vorzügliche Ärztin nicht an ihrer Seite zu haben.

Das konnte kein Zufall sein!

In diesem Fall war Roberta sogar geneigt zu glauben, dass es so etwas wie Vorbestimmung gab.

Vorhin, als Claire nach einem neuen Mann an ihrer Seite gefragt hatte, war die Trauer in ihr hochgeschwappt, und das würde wohl eine ganze Weile noch so bleiben.

Aber dass Claire Müller ihr praktisch in die Arme gelaufen war, dass sie eine neue Stelle suchte …

Roberta konnte sich nicht beruhigen. Sie zuckte zusammen, als die Floristin sie zum dritten Male fragte, ob der Strauß so recht sei. Das war er, Roberta sagte es, bezahlte, dann ging sie.

Es war schon merkwürdig. Sie hatte ihre alte Wirkungsstätte verlassen, es zog sie auch nicht mehr her, weil der Sonnenwinkel längst ihr Zuhause geworden war, dort war sie angekommen. Und doch kam es hier zu Begegnungen, die irgendwie sein mussten, die mit Max, um nicht nur schlechte Erinnerungen an ihn zu haben, und das jetzt mit Claire …

Es war wirklich unglaublich, und sie konnte sich nicht beruhigen.

Es gab in ihrem Leben noch einiges zu klären. Vielleicht sollte sie öfters mal kommen.

Nein!

Hier gab es nichts mehr, mit diesem Lebensabschnitt hatte sie abgeschlossen. Gäbe es Nicki nicht, wäre sie auch niemals mehr gekommen. Das, was ihr wirklich etwas bedeutete, das war Lars, und über den würde sie hier nichts erfahren. Sie war überzeugt davon, dass er hier keine Spuren hinterlassen hatte.

Sie fuhr los, versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass nichts für die Ewigkeit bestimmt war, dass man nicht erwarten konnte, sein ganzes Leben lang in einer Wohlfühlzone zu leben.

Claire war voller Erwartungen nach Rom gegangen, nicht nur, um ihren Namen Müller loszuwerden, damit hatte sie lediglich kokettiert. Sie war gescheitert, Nicki hatte mehr als nur eine Liebe hinter sich.

Warum war sie nicht in der Lage, Lars ebenfalls als einen Lebensabschnittsgefährten zu sehen, mit dem sie eine wundervolle Zeit hatte, die ihr niemand mehr nehmen konnte?

Sie hatte das Fabrikgelände erreicht, das man so herausgeputzt hatte, in dem die alten Gebäude in schicke Wohnungen verwandelt worden waren. Und sie fand sogar einen Parkplatz direkt vor der Tür. Sie stieg aus, klingelte, und ehe Nicki wegen ihres Zuspätkommens herummotzen konnte rief sie: »Beweg dich, komm herunter und hilf mir beim Ausladen.«

So etwas hörte Nicki gern, denn sie wusste, dass Köstlichkeiten sie erwarteten.

»Ich komme«, rief sie, und während Roberta auf sie wartete, blickte sie sich um. Es war wirklich ganz erstaunlich, was man aus der alten Papierfabrik gemacht hatte. Eine Wohnung, einen Loft, hier zu haben, das passte zu ihrer Freundin. Für sich selbst war es unvorstellbar. Sie wollte niemals mehr in der Stadt wohnen, der Sonnenwinkel, das Doktorhaus, das alles war perfekt für sie, und wenn …

Nein!

Sie durfte nicht daran denken, es ließ sich nichts zurückholen. Und dass sie die Praxis übernommen, das Haus schließlich gekauft hatte, das hatte nichts mit Lars zu tun, es war nicht für ein gemeinsames Leben geplant gewesen, die Begehrlichkeit war erst hinterher gekommen. Also durfte sie eigentlich froh sein, dass es so war. Es wäre unerträglich, jetzt allein in einem Haus, an einem Ort zu wohnen, was für ein Leben miteinander geplant war.

Nicki kam herausgestürmt, fiel ihr um den Hals, sie trug eine zerschlissene Jeans, wie es jetzt in war, ein großes, bequemes Shirt mit dem Aufdruck I’m the best. Das zeugte von Selbstbewusstsein, war für Roberta auch ein Indiz, dass ihre Freundin noch mit dem Straßenmusiker Pete verbandelt war, sonst würde sie nicht so herumlaufen. Da war Nicki wie ein Chamäleon, in ihrer Kleidung passte sie sich immer ihren Partnern an. So war sie halt, dachte Roberta nachsichtig, ehe sie sich herzlich begrüßten.

Roberta öffnete den Kofferraum, zeigte all die mitgebrachten Schätze. Nicki quietschte: »Da kann man ja den Eindruck gewinnen, wir müssten eine lange Hungerszeit überstehen.« Dann aber fügte sie hinzu: »Die Alma, die hat es wieder einmal gut gemeint. Sag mal, macht es dir eigentlich nichts aus, dass sie mich immer so großzügig bedenkt? Immerhin ist es von deinem Geld bezahlt.«

Sofort wehrte Roberta ab, sagte, dass sie so etwas niemals mehr hören wolle, dass sie sich freue, auch mal etwas für ihre Freundin tun zu können.

»Da müssen wir zweimal laufen«, sagte Nicki.

»Ich habe vorne auch noch einen Blumenstrauß für dich, Nicki«, sagte Roberta, holte den Strauß, der erst einmal ausgiebig bewundert wurde. Es war herrlich, Nicki etwas zu schenken, weil sie sich unglaublich freuen konnte.

»Du bist verrückt, Roberta«, rief sie schließlich ganz überwältigt, »aber schön verrückt, danke. Du glaubst nicht, welche Freude du mir mit allem machst. Aber am meisten freue ich mich, dass du tatsächlich gekommen bist. Und wenn …«, sie brach ihren Satz ab, schrie: »Halt, stopp, Jens, du kannst nicht einfach ins Haus huschen, wir brauchen dich.«

Roberta drehte sich um, sie hatte nicht mitbekommen, dass Professor Jens Odenkirchen, Nickis guter Nachbar, gerade das Haus betreten wollte. Er gesellte sich zu ihnen, begrüßte sie. Es war nicht zu übersehen, wie sehr er sich freute, Roberta zu treffen. Das beruhte auf Gegenseitigkeit, sie kannte ihn mittlerweile, wenn auch locker. Doch das reichte ihr, um zu wissen, dass der Professor ein perfekter Partner für ihre Freundin war. Es war nicht zu verstehen, warum sich da nicht etwas entwickelt hatte, warum sie nicht mehr als nur ganz gut miteinander befreundete Nachbarn waren, die sich alles erzählten.

Natürlich packte Jens sofort mit an, sodass sie es in einem Rutsch schafften, und da hatte Roberta eine Idee.

»Haben Sie keine Lust, heute Abend mit uns zu essen?«, erkundigte sie sich. »Ich habe reichlich mitgebracht, und ich kann Ihnen versichern, dass meine Alma eine ganz hervorragende Köchin ist. Stimmt’s, Nicki?«

Ehe Nicki das bestätigen konnte, sagte Jens voller Bedauern: »Das tut mir leid, ich bin anderweitig verabredet, sonst hätte ich die Einladung sehr gern angenommen.«

Sie waren oben angekommen, Jens stellte alles ab, dann verabschiedete er sich. Nicki und Roberta waren allein.

»Du gibst wohl nie auf, Roberta?«, erkundigte Nicki sich grinsend. »Willst du dir einen Kuppelpelz verdienen? Das wird nie was zwischen Jens und mir. Wir sind Nachbarn, mehr nicht, und so soll es auch bleiben. Und die Einladung hättest du dir ersparen können. Jens hat da wieder eine neue Flamme, für die er heiß entbrannt ist. Für die würde er sogar eine Audienz beim Papst sausen lassen. So, und jetzt stelle ich erst einmal meine wundervollen Blumen in die Vase. Setz dich schon mal. Magst du einen Kaffee? Vielleicht einen Sekt?«

Roberta wollte zunächst nichts.

»Ich sehe mich erst einmal um. Du hast dir hier wirklich ein Paradies geschaffen, Nicki. Dieser Loft passt zu dir, als hätte man ihn extra für dich gebaut. Und anfangs gefiel mir deine Idee nicht. Aber du hattest wirklich recht, nicht alles mit in dein neues Leben zu nehmen. Verschiedenes hätte überhaupt nicht hier reingepasst. Warum bist du eigentlich nicht Innenarchitektin geworden?«

Nicki lachte.

»Weil ich meinen Beruf über alles liebe. Man kann vieles können, muss aber nicht alles zu seinem Beruf machen.«

Roberta seufzte.

»Ich kann das von mir nicht behaupten. Als es beim lieben Gott um die Verteilung der Talente ging, hat er mich ziemlich einseitig bedacht.«

Sofort protestierte Nicki ganz heftig.

»Roberta, sag so etwas niemals wieder. Du brauchst keine vielen Talente, denn mit deinem bist du für die Menschen da, du bist die allerbeste Ärztin von der ganzen Welt.«

Roberta war ganz gerührt, dafür musste sie Nicki umarmen, und während die ihre Blumen versorgte, erzählte Roberta ihr von dem zufälligen oder nicht zufälligen Zusammentreffen mit Claire Müller, von ihrem Angebot, Claire einzustellen.

Nicki legte die Blumen beiseite.

»Das ist ja ein Ding«, sagte sie, »Roberta, das musste so sein, du suchst eine Praxisverstärkung, dieser Arzt aus dem Krankenhaus kam nicht in die Puschen, und ehrlich mal, ich kenne diesen Mann nicht. Doch ich kenne Claire, und ich finde sie sehr nett, sie ist eine gute Ärztin, du weißt, was du an ihr hast, hast schon mit ihr gearbeitet. Das ist perfekt.«

Ihre Stimme wurde leiser. »Ich glaube, der liebe Gott weiß, dass er bei dir etwas gutzumachen hat.«

Roberta schluckte. Sie verstand diese Anspielung sofort. Sie sagte aber nichts dazu. Was sollte sie auch sagen? Um jetzt keine trübselige Stimmung aufkommen zu lassen, rief sie: »Ich glaube, ich trinke jetzt doch einen Kaffee, und da ich zumindest den kochen kann, tue ich das jetzt auch. Was ist mit dir? Trinkst du auch einen Kaffee?«

Nicki wollte das erledigen, doch damit war Roberta nicht einverstanden. »Du kümmerst dich gefälligst um deine Blumen.«

*

Dieser Satz wurde ja oftmals als dummes Gerede abgetan, doch auf Roberta und Nicki traf er tatsächlich zu. Sie waren so eng miteinander, dass kein Blatt Papier zwischen sie passte.

Sie hatte geredet und geredet, köstlich gegessen, und nun hatten sie es sich mit einem ebenso köstlichen Rotwein gemütlich gemacht. Ganz so wie früher, ehe …

Nein!

Daran wollte Roberta jetzt nicht denken. Es war nicht mehr zu ändern. Für Liebe gab es kein Haltbarkeitsdatum.

Manche war nur flüchtig, manche hielt ein Leben lang. Leider gab es auch keine Garantie, irgendwann würden sie wieder auf das Thema kommen, doch nicht jetzt.

Nicht heute, morgen war auch noch ein Tag und wenn nicht, dann war es ebenfalls in Ordnung. Manches konnte man auch zerreden.

»So, liebste Nicki, deinen netten Nachbarn möchtest du, aus welchem Grund auch immer, nicht als Partner haben. Aber du hattest ja auch noch ein zweites Eisen im Feuer, diesen Straßenmusikanten Pete, den Aussteiger mit einer reichen Familie im Hintergrund, was ich persönlich …«

Nicki unterbrach sie lachend.

»Red nicht weiter, jedes Wort ist da überflüssig. Pete, das ist Geschichte. Er hat sich aus dem Staub gemacht, während ich bei dir im Sonnenwinkel war.«

»Das tut mir leid.«

»Muss es nicht, Roberta. Wir waren auf einer wunderbaren Spaßwolke, das mit ihm war eine fantastische Erfahrung für mich. Pete war dar erste Mann in meinem Leben, an den ich keine Erwartungshaltung hatte. Jetzt weiß ich, dass so was ebenfalls funktioniert.«

So richtig wollte Roberta das nicht glauben. Sie blickte Nicki an, und weil sie sich so gut kannten, deutete die diesen Blick richtig.

»Roberta, es ist wirklich so, und ehe du dir jetzt Gedanken machst, Pete könnte mich ausgenutzt, meine Gefühle für ihn missbraucht haben. Alles falsch. Wir wussten beide, was wir tun, es sollte eine unverbindliche Geschichte sein, meinetwegen so etwas wie ein flüchtiger Traum. Dass es ihm mit mir ebenfalls gefallen hat, siehst du daran, dass er einen Song für mich geschrieben hat. Er hat ihn pressen lassen, wenn du magst, können wir uns den irgendwann anhören.«

»Und was ist das für ein Song?«

Ein Achselzucken war die Antwort, dann bemerkte Nicki: »Keine Ahnung, ich habe ihn mir noch nicht angehört.«

Roberta würde dazu ganz gern eine Bemerkung machen, sie ließ es bleiben, weil Nicki sich manchmal bedrängt fühlte und heftig reagieren konnte.

»Roberta, ich habe mir die CD noch nicht angehört, weil ich keine Zeit hatte, weil es für mich auch nicht wichtig ist. Vermutlich hinterlässt er dieses Lied jeder Frau, die unterwegs seinen Weg kreuzt. Ist auch wurscht. Ich war an Pete interessiert, nicht an dem, was er da vor sich hingeträllert hat, ist nicht mein Musikgeschmack. Aber sag mal, können wir vielleicht davon aufhören? Ich finde es viel interessanter, noch einmal auf das zurückzukommen, was da vor dem Blumenladen passiert ist. Du weißt schon, dass das kein Zufall war, nicht wahr?«

Gottergeben schloss Roberta die Augen, weil sie wusste, dass dieser Kelch nicht an ihr vorüberging, denn nun legte Nicki los, um ihr in epischer Breite zu erklären, warum es kein Zufall sein konnte.

Irgendwann hatte Roberta keine Lust mehr, diesem Monolog zuzuhören.

»Nicki, man muss doch nichts hinterfragen oder deuten, Fakt ist, dass Claire und ich uns getroffen haben, dass sie aus Rom zurückgekehrt ist, eine neue Stelle sucht, dass ich eine Ärztin oder einen Arzt suche, der mich bei meiner Arbeit in der Praxis unterstützt. Dr. Anders kann sich nicht entscheiden, Claire hat spontan zugesagt, ohne den Sonnenwinkel oder die Praxis zu kennen.«

Nicki trank etwas von ihrem Wein, stellte das Glas langsam ab.

»Und das ist es, was mich bedenklich stimmt. Claire hat früher hier gelebt, danach in Rom, einer großartigen, pulsierenden Großstadt inmitten lebhafter Menschen, und das sind die Italiener nun mal. Ehrlich mal, Roberta, der Sonnenwinkel muss für Claire doch so etwas wie ein Kulturschock sein.«

Nicki und der Sonnenwinkel, das war eine Sache für sich.

»Ich habe zwar nicht in Rom gelebt, sondern, wie du weißt, hier, doch ich hatte eine sehr große Praxis, mit viel Personal, sowohl angestellten Ärzten und Ärztinnen als auch Assistentinnen.

Die Praxis von Enno Riedel zu übernehmen, das habe ich niemals bereut. Gut, anfangs war es nicht ganz einfach, doch ich bin überzeugt davon, dass es in erster Linie daran lag, weil ich seelisch so angeschlagen war und alles direkt auf die Goldwaage gelegt habe. Ich bin glücklich im Sonnenwinkel, und ich werde da niemals mehr weggehen. Das hätte ich übrigens auch für Lars nicht getan.«

Sie hatte nicht über ihn sprechen wollen, doch das ließ sich wohl nicht vermeiden. Schließlich wurde sie von nichts anderem als von den Gedanken an ihn beherrscht.

Es entstand eine kleine Pause, die schließlich Nicki durchbrach.

»Und da hätte es keine Probleme gegeben, denn darauf wollte Lars sich ja einlassen …, auf alles, was du dir erträumt hast.«

Roberta sagte nichts, weil sie mit ihren Tränen zu kämpfen hatte.

Wieder war Nicki es, die das Wort ergriff.

»Ich finde es tröstlich, dass Solveig dir das alles erzählt und dir sogar die Ringe gegeben hat, die von ihm gekauft worden waren. Stell dir bloß vor …«, sie brach ihren Satz ab, als ihr bewusst wurde, dass sie im Begriff war, etwas Dummes zu sagen.

Roberta griff das natürlich auf.

»Was soll ich mir vorstellen?«

Jetzt ging es nicht anders, sie musste heraus mit der Sprache, mit dem, was sie wirklich sagen wollte. Roberta und sie belogen sich niemals, und sie beschönigten auch nichts, nur, um die andere zu schonen.

»Nun, wie du weißt, habt ihr euch nicht gerade im Frieden getrennt, hattet diese Auszeit vereinbart. Und du hast nichts mehr von ihm gehört. Jetzt wissen wir warum. Weißt du, Roberta, manchmal glaube ich, dass ihn die vorübergehende Trennung von dir wachgerüttelt hat, dass ein Gedanke, dich zu verlieren, für ihn unerträglich war.«

»Ach, Nicki, das werden wir nie herausfinden. Wozu auch? Nichts bringt mir Lars zurück.«

Um jetzt nicht in eine tiefe Traurigkeit zu fallen, holte sie rasch ihr Handy aus der Tasche, zeigte Nicki das Porträt von Lars.

»Das ist großartig«, rief Nicki begeistert. »Wo hast du das her? Das habe ich noch nie bei dir gesehen.«

»Konntest du auch nicht, ich habe es erst vor ein paar Tagen bekommen.«

Und dann erzählte sie Nicki die unglaubliche Geschichte.

»Was für ein Geschenk«, murmelte Nicki, und jetzt war sie es, die ihre Tränen nicht zurückhalten konnte. »Und wie Alma das hingekriegt hat. Sie ist eine Künstlerin. Sag mal, Roberta, ist es nicht schade, dass sie dieses Talent vergeudet und stattdessen bei dir als Haushälterin arbeitet? Das ist doch Perlen vor die Säue geworfen …, entschuldige, ich will dir nicht zu nahe treten, weil ich ja weiß, dass du ohne Alma aufgeschmissen bist. Aber Haushälterinnen, die gibt es, begnadete Künstler nicht so häufig.«

Diesen Schuh zog Roberta sich nicht an.

»Nicki, hältst du mich für so egoistisch, um jeden Preis an Alma festhalten zu wollen? Ich habe es ihr angeboten, mehr als nur einmal, doch Alma möchte nicht. Für sie ist die Malerei ein Hobby, sie würde niemals einen Beruf daraus machen, und sie hat auch kein Interesse daran, ihre Bilder auszustellen, Geld dafür zu nehmen. Sie ist glücklich mit dem, was sie im Doktorhaus hat, und ich bin es auch. Soll ich ihr kündigen, damit sie sich als Künstlerin verwirklichen kann? Ehrlich mal, das würde ihr den Boden unter den Füßen wegziehen. Sie liebt ihre Wohnung, ihren Gospelchor, ist gern mit den Menschen zusammen, mit denen sie sich mittlerweile angefreundet hat. Nach allem, was Alma durchgemacht hat, ist sie glücklich in ihrer kleinen, heilen Welt. Das Künstlertum ist ihr zu unsicher, erscheint ihr wohl eher als eine Bedrohung. So, zufrieden? Es fängt nämlich gleich ein Film an, den wir uns ansehen sollten, von dem ich weiß, dass er dir gefallen wird.«

Nicki stimmte zu, weil sie sich sehr gut an die gemütlichen gemeinsamen Fernsehabende erinnern konnte. Doch es kam anders, es klingelte ziemlich heftig an der Wohnungstür.

»Erwartest du Besuch?«, fragte Roberta.

»Nein«, erwiderte Nicki und ging zur Tür. »Und wer immer es auch ist, den werde ich abwimmeln, weil es sich nicht gehört, um diese Zeit Menschen noch ihre Aufwartungen zu machen, und Jens kann es ja nicht sein, denn der turtelt, wie du weißt, mit seiner neuesten Eroberung herum.«

Es war Jens.

»Was willst du denn?«, erkundigte Nicki sich.

»Ich weiß, es ist schon spät, doch gilt eure Einladung noch? Ich möchte nämlich jetzt nicht gern allein sein. Diese Elfi ist der totale Reinfall. Ich hätte vorher darauf kommen müssen, wer heißt schon Elfi.«

»Komm rein, Jens, und dann erzählst du uns, was eigentlich passiert ist. Du warst doch so begeistert und vor allem so verliebt?«

»Das war, bevor ich mal ein paar Stunden mit ihr verbrachte. Diese Frau sieht zwar nett aus, aber es steckt überhaupt nichts dahinter. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass eine Frau so unglaublich oberflächlich sein kann, so langweilig.«

Er blickte Nicki an. »Wenn ich an unsere Gespräche denke, die haben wirklich ein ganz anderes Format. Danke, dass ich reinkommen darf. Ich störe euch doch hoffentlich nicht?«

»Jens, du störst niemals«, antwortete Nicki, was allerdings ein wenig gemogelt war, denn schließlich hatten sie und Roberta es sich gerade gemütlich machen und einen Film ansehen wollen wie in alten Zeiten.

Roberta gab ihre bequeme Haltung, die sie bereits eingenommen hatte, auf, versicherte ihm gleichfalls, dass er nicht störe.

Professor Jens Odenkirchen setzte sich, Roberta registrierte wieder einmal, welch gut aussehender Mann er doch war und wie vortrefflich er zu ihrer Freundin passte. Die beiden waren füreinander bestimmt, sie passten zusammen wie Pott und Deckel.

Warum merkte das außer ihr niemand?

Das Gespräch wurde in erster Linie von Jens und Nicki bestritten, und das war auch gut so, denn Roberta gefiel sich in der Rolle der Beobachterin. Sie hatte so etwas noch nie zuvor erlebt. Allerdings war sie auch kein Maßstab, sie war im Umgang mit Männern immer eher zurückhaltend gewesen, und das Resultat, das sie aufweisen konnte, war eher kläglich.

Nach einigen oberflächlichen Plänkeleien, die wohl jeder in seinem Leben hatte, war sie auf Max Steinfeld hereingefallen, was ein Fiasko schlechthin gewesen war, bei dem sie nur draufgezahlt hatte, und dann, ja dann hatte das Schicksal sie und Lars zusammengeführt für einen Flügelschlag der Seligkeit, um …

Roberta spürte, wie ihr Herz sich zusammenkrampfte. Sie bemühte sich, nicht mehr an Lars zu denken, weil sie, wenn sie sich da tiefer hineinbegab, für nichts garantieren könnte.

Sie versuchte, sich in das Gespräch von Nicki und Lars einzuklinken, und das gelang ihr sogar.

Es wurde jetzt kein Fernsehabend, doch das bedauerten weder Roberta noch Nicki. Der Professor war witzig, unterhaltsam. Er war perfekt für Nicki!

Verdammte Hacke, sie musste das jetzt einmal so ausdrücken, obwohl das sonst nicht ihre Art war, warum merkten die beiden eigentlich nicht, dass sie ein ­perfektes, das perfekte Paar schlechthin waren?

Sie tranken Wein, unterhielten sich, über Elfi wurde längst nicht mehr gesprochen: Es gab andere, spannendere Themen.

Für kurze Zeit schlich sich Robertas Traurigkeit davon, und eigentlich konnte Roberta dieser Elfi dankbar sein, die diesen netten Man in die Flucht getrieben hatte.

Es war weit nach Mitternacht, als sie sich voneinander trennten, Nicki begleitete den späten Gast zur Tür, als sie zurückkam, war sie gut drauf.

Ehe Roberta etwas sagen konnte, und vermutlich wäre es das Falsche gewesen, bemerkte Nicki: »Du glaubst überhaupt nicht, wie froh ich bin, einen so netten Nachbarn zu haben. Wir verstehen uns in jeder Hinsicht gut, und ich finde es ganz wunderbar, dass man jemanden hat, bei dem man sich ausweinen kann. Im Augenblick ist das ja bei mir nicht gegeben, doch die Zeit wird kommen, dass ich mich wieder in den verkehrten Mann verlieben werde. Und ich weiß, dass Jens mich dann trösten wird.«

Sie blickte Roberta an.

»Ehrlich mal, es ist in jeder Hinsicht gut, dass ich diesen Wohnungswechsel vorgenommen habe. Hier lebe ich meinen Traum, und wäre ich nicht hergezogen, dann hätte ich Jens nicht kennengelernt, der mir ein richtig guter Freund geworden ist. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass so etwas zwischen Mann und Frau überhaupt möglich ist.«

Sie setzte sich wieder, trank etwas von ihrem Wein, dann sagte sie ganz verträumt: »Ehrlich mal, für mich könnte es immer so bleiben. Nur Jens in der einen Wohnung, in der anderen ich. Vielleicht sollte ich mir ja wünschen, dass er sich nicht richtig verliebt, das würde alles zerstören.«

Roberta musste an sich halten, um jetzt nicht zu sagen, dass es durchaus die Möglichkeit gab, dass sie sich ineinander verliebten. Mehr noch, dass sie ineinander verliebt waren, dass sie es nur noch begreifen musste, dass sie vielleicht jemand daraufstoßen sollte.

»Nicki, du weißt, dass das Leben seine eigenen Spielregeln hat, dass alles so kommt, wie es kommen muss und dass man nichts dagegen tun kann.«

Nicki wusste sofort, worauf Roberta anspielte. Sie rückte näher an sie heran, legte einen Arm um ihre Schulter, sie musste nichts sagen, sie waren sich auch so sehr nahe, und es war tröstlich zu wissen, dass es da jemanden gab, der einen auch ohne viele Worte verstand.

Roberta war wieder bei ihrem Tief angekommen, und ganz gewiss würde es noch eine ganze Weile so weitergehen. Der Mantel des Vergessens würde sich niemals über alles ausbreiten, aber der Schmerz, der würde nachlassen. Und Roberta hoffte auf den Augenblick, in dem sie über Lars reden, an ihn denken konnte, ohne dass es sie innerlich zerriss.

Sie war froh, dass Nicki vorschlug, dass sie jetzt besser ins Bett gehen sollten, um morgen noch etwas von dem Tag zu haben. Und damit war Roberta sehr einverstanden. Sie wäre für Nicki jetzt keine gute Gesprächspartnerin mehr, außerdem wollte sie diese nicht immer wieder in ihren Schmerz hineinziehen. Nicki hatte schon so vieles für sie getan, sie hatte alles abbekommen. Und Roberta würde niemals mehr in ihrem Leben vergessen, wie großartig, wie selbstlos Nicki an ihrer Seite gewesen war.

Es ging wirklich nichts über eine allerbeste Freundin.

*

Inge hatte zwar gehofft, sich einfach davonschleichen zu können. Doch irgendwie ging es nicht, denn gerade dann tauchte ihre Mutter in schöner Regelmäßigkeit auf, als ahne sie alles. Und das war schon in ihrer Kindheit so gewesen; vor ihrer Mutter ein Geheimnis zu haben, das war unmöglich gewesen, und das war es noch immer.

»Inge, wo willst du hin?«, kam auch prompt die Frage.

Inge erklärte ihrer Mutter, dass sie nach Hohenborn fahren wolle, und ehe die nächste Frage kam, fügte sie hinzu, dass sie in den Stoffladen wolle, um Stoff für einen Rock zu kaufen, in den Pamela verliebt war und den man nicht von der Stange kaufen konnte.

Inge wunderte sich, dass jetzt keine Bemerkung von ihrer Mutter kam, die nicht verstand, dass Inge jeden dieser modischen Extrawünsche Pamelas erfüllte. Kaum sah Pamela in einer dieser angesagten Jugendzeitschriften etwas, raste Inge los, um den Wunsch ihrer Jüngsten zu erfüllen. Alles schön und gut, doch man musste die Kirche im Dorf lassen. Pamela konnte ja nur froh sein, dass ihre Mutter eine so geschickte Schneiderin war und diese Wünsche auch erfüllen konnte. Ach was, es ging sie ja im Grunde nichts an.

»Würdest du mir einen Gefallen tun und im Buchladen die von mir bestellten Bücher abholen?«, erkundigte sie sich stattdessen, »dann muss ich nicht extra nach Hohenborn fahren oder Papa schicken.«

Inge versprach es.

»Und wo willst du hin?«, wollte sie wissen, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass ihre Mutter hinterm Fenster gelauert hatte, um ihre Tochter abzupassen.

»Zu Sophia«, sagte Teresa, und ehe Inge weitere Fragen stellen konnte, bedankte sie sich, dann eilte sie davon.

Während Inge zu ihrem Auto ging, fiel ihr auf, dass die beiden Damen sich in letzter Zeit sehr häufig trafen, und sie fragte sich, was sie wohl immer zu besprechen hatten.

Es ging sie nichts an. Inge stieg ein und fuhr los. Sie besuchte den Stoffladen sehr gern, weil sie dort immer die passenden Stoffe fand. Es war schon unglaublich, dass die Inhaberin des Geschäfts immer das richtige Näschen für Trends hatte, und man konnte bei ihr Stoffe finden, die es sonst nirgendwo gab. Und sie waren immer annähernd so wie die der Outfits, die die Stars und Sternchen trugen. Im Falle von Pamela waren das die der Musikszene.

Hinzu kam, dass sie sich mittlerweile sehr gut kannten, dass Inges Sonderwünsche, wenn möglich, erfüllt wurden. Und Inge machte etwas so richtig stolz, etwas, worüber sie mit niemandem geredet hatte. Die Geschäftsinhaberin hatte sie tatsächlich gefragt, ob sie keine Lust habe, Nähkurse für interessierte Hobbynäherinnen abzuhalten.

Nähkurse!

Sie, die Inge Auerbach!

Sie hatte es abgelehnt, weil sie überhaupt keine Zeit und auch keine Lust dazu hatte. Aber stolz gemacht hatte es sie schon, schließlich war sie nicht vom Fach, hatte keine Ausbildung. Und ihr dann so etwas zuzutrauen! Das war ja wie ein wundervoller Ritterschlag für sie gewesen.

In Hohenborn angekommen, überlegte Inge, was sie zuerst machen sollte. In den Stoffladen gehen? Zuerst in die Buchhandlung? Nein, das würde dauern, denn wenn sie schon mal da war, würde sie sich auch für sich selbst umsehen. Sie las auch sehr gern.

Sie hatte eine andere Idee.

Warum tat sie nicht das zuerst, was sie sich eigentlich als Belohnung zum Genießen ausgedacht hatte?

Aber ja, sie würde zuerst in das Kaffeehaus gehen, dort Kaffee trinken und ein Stück der köstlichen Sachertorte essen, die sie leider trotz aller Versuche noch immer nicht so perfekt nachbacken konnte.

Ja, genau das würde sie tun.

Inge lief über den Marktplatz voller Vorfreude, als sie plötzlich innehielt, weil eine Stimme laut über den Platz rief: »Frau Auerbach!«

Der neue Sonnenwinkel Box 8 – Familienroman

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