Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Box 8 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 6
ОглавлениеIm Sonnenwinkel kannte man die Ehefrau des berühmten Professors Auerbach, in Hohenborn war das eher nicht der Fall.
Umso erstaunter war Inge, dass jemand mitten auf dem Marktplatz ihren Namen rief.
Doch sie kannte die Stimme, und deswegen drehte sie sich um, lächelte freundlich den Mann an, der eilig auf sie zugelaufen kam.
»Frau Auerbach, das ist ja eine schöne Überraschung«, sagte der Mann, und ihm war anzusehen, wie sehr er sich freute, Inge zu sehen. Es war Kriminalhauptkommissar Henry Fangmann.
Sie freute sich ebenfalls.
»Sind Sie auf den Spuren eines neuen Falles?«, erkundigte Inge sich, nachdem sie sich gegrüßt hatten.
Er lachte.
»Nein, zum Glück nicht. Ich habe frei und kann dem Kuchen in diesem Wiener Kaffeehaus einfach nicht widerstehen«, sagte er.
Das war ein Zufall!
»Ich auch nicht, und was glauben Sie, wohin ich gerade gehen will?«
Das gefiel Henry.
»Dann schlage ich vor, dass wir dieser Vorliebe gemeinsam frönen und uns auch ein wenig unterhalten.«
Sie mochten sich, und das hatte nichts mit der Anziehungskraft von Mann und Frau zu tun. Sie mochten sich menschlich, und der Kommissar bewunderte Inge für ihre Couragiertheit, die sie gezeigt hatte, als eine Einbrecherbande den Sonnenwinkel unsicher machen wollte, mehr noch, als man ihr sogar nach dem Leben trachtete.
Und auch jetzt im Fall des toten Mädchens vom Sternsee hatte sie richtig gehandelt.
»Herr Fangmann, Sie freuen sich gewiss, auch einmal tagsüber frei zu haben.«
Er lachte. »Ich habe mir einfach mal zwei, drei Stunden frei genommen. Wenn ich all die Überstunden zusammenrechne, die ich noch abbummeln kann, dann sind da Wochen drin. Ich könnte verreisen, ohne einen einzigen Urlaubstag in Anspruch nehmen zu müssen.
Aber so rechne ich nicht. In meinem Beruf hat man keine geregelten Arbeitszeiten, und meistens geschieht etwas außerhalb dieser Zeiten. Doch damit möchte ich Sie nicht langweilen, mein Beruf macht mir Spaß, richtiger, ich bin mit Leidenschaft dabei, und da zählt man keine Stunden. Doch jetzt genug davon.
Ich freue mich wirklich, Sie zu sehen, Frau Auerbach. Ich finde, in Gesellschaft schmecken Kaffee und Kuchen noch einmal so gut.«
Das konnte Inge nur bestätigen.
Das Café war wieder sehr gut besetzt, doch sie hatten Glück und fanden direkt einen freien Tisch. Die aufmerksame Bedienung war direkt zur Stelle, und da sie beide wussten, was sie wollten, standen auch nur kurze Zeit später Kaffee und natürlich die Sachertorte vor ihnen, die natürlich auch der Favorit des Kommissars war, was ihn nur noch sympathischer machte.
Sie unterhielten sich ganz allgemein, es gab viele Themen, die sie beide interessierten. Inge überlegte, ob sie es wagen sollte oder ob sie ihn dadurch in Verlegenheit brachte. Ihre Neugier siegte schließlich.
»Und gibt es schon neue Erkenntnisse zum Tod des Mädchens vom See?«
Er warf ihr einen prüfenden Blick zu, überlegte, doch dann entschloss er sich, offen mit Inge zu reden, weil er wusste, dass diese sympathische Frau nicht zu den Menschen gehörte, die mit brisanten Neuigkeiten sofort hausieren gingen. Das hatte die Vergangenheit gezeigt.
»Es war ein tragischer Unfall«, sagte er, »ein Verbrecher ist definitiv auszuschließen, das sagen die Untersuchungen der Gerichtsmedizin. Außerdem haben wir mittlerweile eine Zeugenaussage, die das bestätigte.«
Inge blickte den Kommissar irritiert an. Eine Zeugenaussage? Sie sprach es aus.
Wieder zögerte der Kommissar kurz.
»Was ich Ihnen jetzt erzähle, bitte ich Sie, ganz vertraulich zu behandeln, Frau Auerbach«, sagte er mit ernster Stimme. »Das muss unter uns bleiben.«
Inge versicherte ihm, dass sie selbstverständlich mit niemandem darüber sprechen werde, dass sie sich an seinen Wunsch halten werde. »Sie können sich auf mich verlassen, Herr Fangmann.«
Inge war auf einmal aufgeregt, weil sie spürte, dass es nicht einfach nur ein tragischer Unfall war, sondern dass mehr dahintersteckte.
»Das Mädchen war mit jemandem verabredet. Wie sich herausgestellt hat, hatte sie jemanden zum See bestellt, und es war …« Er machte eine kurze Pause. »Es war ein Lehrer ihrer Schule.«
Nun verstand Inge überhaupt nichts mehr. Sie bekam ganz feuchte Hände. Rautgundis hatte sich mit einem Lehrer am See verabredet? Aber wozu? Hatte Pamela nicht gesagt, dass sie den See nicht mochte? Wenn es so war, verabredete man sich nicht an einem Ort, der einem zuwider war.
Inge hätte jetzt gern etwas dazu gesagt, doch es kam kein einziges Wart über ihre Lippen. Sie überließ es dem Kommissar, jetzt alles zu erklären. Sollte er Fragen stellen, dann würde sie antworten, obwohl sie kaum etwas über das Mädchen wusste, nur, dass Pamela diese Rautgundis nicht leiden konnte. Das allerdings war in der Sache mehr als bedeutungslos.
Inge vergaß ihren Kaffee und Kuchen, gebannt hing sie an seinen Lippen. Und dann erfuhr sie eine ganz ungeheuerliche Geschichte.
Rautgundis hatte sich in einen jungen Lehrer ihrer Schule verliebt. Und da sie es gewohnt war, alles zu bekommen, was sie haben wollte, verfolgte sie diesen Mann. Dabei legte sie eine unglaubliche Raffinesse an den Tag. Sie stürzte scheinbar, als er in der Nähe war. Natürlich fühlte er sich verpflichtet, hinzuzueilen, sie aufzuheben. Was er allerdings nicht wusste, war, dass nicht nur dieser Sturz geplant war, sondern dass sie gegen Bezahlung auch jemanden abgestellt hatte, der mit ihrem Handy ein Foto machte, als sie den überraschten Mann küsste.
Das war wirklich nicht zu fassen.
»Und dann?«, erkundigte Inge sich leise.
»Jetzt hatte sie etwas in der Hand, um diesen Mann zu kompromittieren, zumal dieses Kussfoto sehr echt aussah. Sie wollte ihn um jeden Preis für sich, obwohl sie wusste, dass er verheiratet war, Vater eines kleinen Sohnes war. Sie bestellte ihn zum See, stellte ihn vor die Alternative, seine Familie zu verlassen, sonst würde sie das Foto ins Netz stellen.«
Das klang gruselig. Was für eine Durchtriebenheit gehörte dazu, so etwas von jemandem zu verlangen!
Inge war nicht in der Lage, etwas dazu zu sagen, musste sie auch nicht, denn er fuhr nach einer Weile fort. »Er versuchte alles, sie zur Vernunft zu bringen. Er wollte nichts von ihr, auch wenn er nicht verheiratet wäre, hätte er sich da auf nichts eingelassen. Sie hatte geglaubt, ihm Angst machen zu können, und weil das nicht klappte, rastete sie aus. Sie stürzte sich auf ihn, dabei rutschte sie aus, fiel mit dem Hinterkopf auf einen Stein. Sie war sofort tot.«
»Und dieser Mann …, er …« Inge war so erschüttert, dass sie nicht in der Lage war, einen vernünftigen Satz auszusprechen.
»Er hat sich davon überzeugt, dass sie tot war, und dann hat er leider einen fatalen Fehler gemacht. In seiner Panik hat er die Unfallstelle verlassen und auch nicht die Polizei informiert. Das wird man ihm jetzt anlasten, aus einem Tötungsdelikt ist er raus.«
»Er kann einem leidtun«, bemerkte Inge leise. Ihr Schwiegersohn Fabian war ebenfalls im Schuldienst. Er war ein fantastisch aussehender Mann, ihm konnte so etwas ebenfalls passieren. Durchgeknallte Schülerinnen und Schüler gab es immer wieder.
Das bestätigte der Kommissar.
»Er hat jetzt nicht nur ein Verfahren am Hals, sondern er ist auch seinen Job los, denn für das Gymnasium ist er jetzt untragbar. Tragisch ist, dass er mit seiner Familie gerade erst vor einem Jahr nach Hohenborn gezogen ist, und sie haben vor einem Monat eine Eigentumswohnung gekauft. Dieses Mädchen hat sein Leben zerstört.«
Inge war erschüttert.
So schnell konnte es gehen, von einem Tag auf den anderen geriet man in einen Strudel, der einen ins Verderben zog.
»Aber das Fahrrad«, fiel ihr ein, »das lag doch an einer ganz anderen Stelle.«
Er nickte.
»Das hat bei jemandem Begehrlichkeiten erweckt; weil es abgeschlossen war, schleppte der Dieb es beiseite, um das Schloss knacken zu können. Und weil das nicht gelang, schmiss er das Rad wütend in ein Gebüsch, wo es ja von Ihrer Tochter gefunden wurde. Tja, dieser Fall war sehr schnell gelöst, ehe er überhaupt zu einem Fall geworden war. Das Mädchen hat sich in ihrer Besessenheit ums eigene Leben gebracht, und den jungen Lehrer hat es ins Elend gestürzt.«
Was für eine Geschichte!
»Das Leben geht manchmal wirklich sehr seltsame Wege«, bemerkte Inge leise. »Und es macht da überhaupt keinen Unterschied, ob etwas gerecht oder ungerecht ist. Eigentlich sind die Eltern des Mädchens die Schuldigen, denn sie haben es zu einer egoistischen, maßlosen Person gemacht. Was für Vorwürfe müssen die sich jetzt machen.«
Henry Fangmann hätte es Inge jetzt gern erspart, er tat es nicht, sie hatte so viel erfahren, da musste er ihr den Rest auch nicht ersparen.
»Sie sehen das so, meine Liebe, die Eltern nicht. Die haben gegen den Lehrer ein Verfahren wegen Mordes an ihrer Tochter angestrengt.«
Als er Inges entsetztes Gesicht bemerkte, beruhigte er sie sofort.
»Dazu wird es nicht kommen, das Gericht wird es abweisen. Wie heißt es doch so schön, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Statt sich bei dem Lehrer und seiner Familie zu entschuldigen, deren Leben dieses durchtriebene Ding zerstört hat, fallen sie über ihn her, ziehen die unschuldigen Angehörigen mit hinein. Leider gibt es so etwas immer wieder.«
Eigentlich hatte sie es für sich behalten wollen, doch jetzt erzählte sie ihm doch, dass ihre Tochter gegen diese Rautgundis immer Vorbehalte gehabt hatte.
Er machte ihr ein Kompliment.
»Ist das ein Wunder? Das bestätigt doch meine Theorie von eben, die vom Apfel und dem Stamm.«
Inge wurde rot.
»Herr Fangmann, ich danke Ihnen sehr für Ihr Vertrauen, und ich kann nur darauf hoffen, dass wir uns ein andermal treffen, ohne dass es einen Fall gibt.«
Er blickte sie an.
»Frau Auerbach, das würde mich sehr freuen. Ich halte Sie für eine sehr kluge, patente Frau. Und ich unterhalte mich sehr gern mit Ihnen.«
Das konnte Inge nur bestätigen, und auch wenn es ein wenig schwierig war, wechselten sie das Thema. Insbesondere Inge war es, die schon gern noch ein paar Fragen gestellt hätte, aber sie wollte den Kommissar nicht überfordern. Und eines wusste sie auch schon, Pamela würde sie nur sagen, dass es ein Unfall gewesen war. Ob Gerüchte in der Schule kursieren würden, ob ein übereifriger Journalist es aufgreifen würde, das konnte ihr egal sein. Sie wollte es aus ihrem Leben streichen. Es war traurig, dass ein junger Mensch auf eine so tragische Weise gestorben war, doch wenn man daran dachte, wen und was Rautgundis mit in diesen Strudel gezogen hatte, hielt sich das Mitleid in Grenzen. Mitleid musste man mit dem Lehrer und seiner Familie haben, die waren fortan unschuldig mit einem Makel behaftet.
Und so etwas verfolgte einen immer.
»Und was werden diese armen Leute jetzt tun?«, wollte Inge aus ihren Gedanken heraus wissen.
»Ihre Wohnung mit Verlust verkaufen, wegziehen, und sie können nur darauf hoffen, dass die Vergangenheit sie nicht einholen wird. Und ob er wieder als Lehrer im öffentlichen Dienst arbeiten kann, das ist ja überhaupt noch nicht gewiss. Er hätte sich nicht vom Unfallort entfernen dürfen: Ich bin überzeugt davon, dass das Gericht ihm nur eine geringe Strafe aufbrummen wird, vermutlich eine Geldstrafe, was auch immer, so etwas wird im Polizeilichen Führungszeugnis vermerkt, und das muss man vorlegen, wenn man im öffentlichen Dienst arbeiten möchte. Er wird sein Leben neu ordnen müssen.«
Inge war voller Mitleid.
»Wo bleibt da die Gerechtigkeit?«, ereiferte sie sich.
Er blickte sie nachsichtig an, weil er mit so etwas täglich zu tun hatte.
»Die bleibt manchmal leider auf der Strecke.«
Die Bedienung kam an ihren Tisch, erkundigte sich diskret nach ihren Wünschen.
Inge und der Kommissar blickten sich an. Die Lust an einem Plausch war ihnen beiden vergangen, und so entschlossen sie sich zu gehen. Und Kommissar Fangman bestand darauf, Inge einzuladen.
»Es muss sein«, sagte er bestimmt, als sie protestieren wollte, »ich habe oft genug in Ihrem Haus Kaffee getrunken und Kuchen gegessen, der nicht minder köstlich war.«
Sie wurde rot vor Verlegenheit, das war ein Kompliment gewesen, der Kommissar war kein Mann, der etwas sagte, was er nicht so meinte. Das hatte sie längst festgestellt.
Draußen verabschiedeten sie sich voneinander, er lief zum Präsidium zurück, wo reichlich Arbeit auf ihn wartete, und Inge überlegte, was sie jetzt tun sollte.
In den Stoffladen gehen würde sie auf keinen Fall, danach war ihr jetzt wirklich nicht zumute. Und in die Buchhandlung? Okay, dorthin würde sie gehen, aber nur, um die Bücher für ihre Mutter abzuholen. Sie hatte jetzt keine Nerven, sich für sich umzusehen.
Diese Rautgundis!
Pamela hatte das richtige Gespür für dieses Mädchen gehabt. Wie durchtrieben musste man sein, sich an einen Mann heranzumachen, zu versuchen, ihn zu verführen, und als das nicht geklappt hatte, ihn zu erpressen.
Es war schlimm, dass sie das mit dem Leben bezahlen musste, doch schlimmer war es für den armen Mann, dessen Frau und das Kind, das hoffentlich niemals erfahren würde, in welchen Sumpf man seinen Vater ungewollt hineingezogen hatte.
Sie versuchte, diese Gedanken abzuschütteln, doch ganz so einfach war das nicht. Wenn sie ehrlich war, dann wäre sie jetzt am liebsten nach Hause gefahren, aber es ging nicht, ihre Mutter würde ihr die Hölle heiß machen. Und den Grund für das Durcheinander, in dem sie sich befand, konnte sie ja nicht nennen. Kriminalhauptkommissar Fangmann …
Das war wirklich ein sehr netter Mensch, und es ehrte sie, dass er sie ins Vertrauen gezogen hatte. Wäre sie jünger und frei, dann könnte er ihr schon als Mann gefallen. Doch die Frage stellte sich ihr nicht, sie hatte einen Mann, den sie über alles liebte. Und dass Henry Fangmann ihr dennoch gefiel, das war kein Verbrechen. Wo stand denn geschrieben, dass Männer und Frauen nicht miteinander befreundet sein konnten? Das stand nirgendwo. Und dass sie ihn nett fand, dass sie mit ihm im Café war, darüber konnte sie mit allen sprechen, und als Erstes würde sie es mit ihrer Mutter tun, die sie eh fragen würde, wo sie so lange geblieben war. Ihrer Mutter entging nichts.
Also gut, rasch noch deren Bücher abholen, und dann nach Hause, und wenn sie dort angekommen war, wäre es am besten, an dieses tote Mädchen nicht mehr zu denken. Wenn nur alles so einfach wäre …
*
Über Nacht hatte sich das Wetter verändert. Vorbei war es mit Sonnenschein und milden Temperaturen. Es war um einige Grade kälter geworden, die Sonne versteckte sich hinter zerrissenen grauen Wolken, und der Regen hörte überhaupt nicht auf.
Es war kein Wetter, um das Haus zu verlassen.
Roberta war froh, dass Mittwoch war. Nachmittags gab es also keine Sprechstunde, und sie hatte auch keine Bereitschaft, und Hausbesuche lagen zum Glück ebenfalls nicht an.
Sie wusste jetzt schon, was sie tun würde, nämlich es sich auf dem Sofa gemütlich machen und lesen. Sie wollte es zumindest versuchen, denn leider glitten ihre Gedanken immer wieder ab, und dann gab es nur eines – sie kreisten um Lars, um was und wen den sonst.
Die arme Alma war zu bedauern, denn sie war mit ihrem Gospelchor unterwegs, und gemeinsam mit anderen Chören sollte es ein großes Open Air Konzert geben. Man konnte nur hoffen, dass es dieses schreckliche Wetter nicht überall gab.
Die Sprechstunde war vorbei, für einen Moment überlegte Roberta, ob sie nicht doch ein paar Krankenakten mit nach nebenan nehmen sollte. Dann entschied sie sich dagegen. Aber mit Ursel Hellenbrink wollte sie noch sprechen, bislang hatte sie überhaupt keine Gelegenheit gehabt, ihr die Neuigkeiten zu berichten, die sich hoffentlich ergeben würden. Aber daran zweifelte Roberta eigentlich nicht.
Ursel saß noch an ihrem Schreibtisch und sortierte etwas.
»Jetzt ist aber Feierabend, Ursel«, rief sie, »was immer Sie da jetzt auch machen, das hat Zeit bis morgen. Außerdem muss ich Ihnen etwas erzählen.«
Sofort hörte Ursel mit ihrer Arbeit auf, blickte ihre Chefin erwartungsvoll an, sie bewunderte Roberta über alles. Ursel hatte auch gern für Robertas Vorgänger, den Dr. Riedel gearbeitet, doch diese Chefin zu bekommen, das war eindeutig eine Steigerung gewesen, die durch nichts mehr zu überbieten war.
»Sie wissen ja, dass ich meine Freundin besucht habe«, begann sie, dann erzählte sie von dem zufälligen Zusammentreffen mit ihrer früheren Mitarbeiterin, die aus Rom zurückgekommen und auf der Suche nach einem neuen Job war.
»Wir haben fantastisch miteinander gearbeitet, ich kann mich auf sie absolut verlassen, und sie hat ganz spontan gesagt, hier bei uns arbeiten zu wollen.«
Ursel sagte zunächst einmal nichts, und dann kam ein Satz, den sie von ihrer Freundin erwartet hätte, aber doch nicht von Ursel Hellenbrink.
»Frau Doktor, das kann kein Zufall sein.«
Roberta ignorierte es lieber.
»Ich kann nur hoffen, dass Claire sich wirklich alles ansehen wird, sie will sich melden. Ach, sie heißt übrigens Claire Müller, und machen Sie bitte niemals eine Bemerkung wegen des Namens. Claire gefällt ihr, sie hat auch nichts gegen Müller einzuwenden, doch Claire Müller ist für sie ein No-Go, dann hätten ihre Eltern sie besser Klara nennen sollen.«
Ursel kicherte.
»Hätte auch besser gepasst, aber was ist mit Dr. Anders?«
Roberta zuckte die Achseln.
»Was soll mit dem sein, er hat sich noch immer nicht entschieden, und nachdem ich klargestellt habe, dass er kein schlechtes Gewissen haben muss, weil Sie ihm das Haus besorgt haben, ist die Sache erledigt. Claire ist mir auf jeden Fall lieber, und ich kann nur hoffen, dass sie wirklich kommt. Doch da haben wir natürlich ebenfalls ein Wohnungsproblem, und wie Sie wissen, ist das in unserem Sonnenwinkel, mittlerweile ebenfalls in der Umgebung, ein Problem.«
Das stimmte in der Tat, und Roberta wusste nicht, warum ihre treue Mitarbeiterin jetzt lächelte. Es war wahrlich kein Grund dafür.
»Es ist kein Problem«, lachte Ursel. »Mein Bruder hat am Rande der Siedlung ein älteres Haus gekauft, es von Grund auf saniert und zwei Wohnungen daraus gemacht. Unten wird seine Schwiegermutter einziehen, die erste Etage ist für meine Begriffe viel schöner, sie hat nicht nur einen separaten Eingang, sondern eine wunderschöne Terrasse. Wenn ich nicht mein eigenes Haus hätte, würde ich da sofort einziehen. Es ist hell, großzügig geschnitten, und man hat einen wunderbaren Blick ins Grüne – und sogar auf die Felsenburg.«
Roberta konnte es kaum glauben. »Das ist ja ein Traum, hört sich fantastisch an, und diese Wohnung ist zu vermieten, nicht längst weg?«
Ursel lachte.
»Sie kennen meinen Bruder nicht. Natürlich rennt man ihm die Tür ein, doch ehe der sich entscheidet, da fließt viel Wasser ins Meer. Gestern war die Wohnung noch zu haben, außerdem ist das Badezimmer noch nicht fertig. Das sieht übrigens grandios aus, alles in edlen schwarzen und grauen Farben, aus Granit und Marmor. Das hat er sich was kosten lassen, weil er ursprünglich die Idee hatte, irgendwann später, wenn er kein anderes Haus mehr braucht, selbst da einzuziehen. Deswegen auch der Aufzug und der separate Eingang.«
»Ursel, hören Sie auf, jetzt können wir wirklich nur noch hoffen, dass Claire sich bald meldet. Ich habe mir dummerweise von ihr keine Telefonnummer geben lassen.«
Ursel blickte ihre Chefin irritiert an.
»Und so was passiert Ihnen, Frau Doktor?«, rief sie lachend.
Roberta fiel in das Lachen mit ein.
»Ursel, Sie wissen doch, nobody is perfect. Ich auch nicht.«
Ursel wollte gerade jetzt was sagen, als es an der Praxistür klingelte. Die beiden Frauen blickten sich an, sehr vielsagend.
Die Sprechstunde war vorüber, wenn es sich allerdings um einen Notfall handeln sollte …
Sie waren beide pflichtbewusst genug, um jetzt einen Patienten oder eine Patientin nicht draußen im Regen stehen zu lassen, und das im wahrsten Sinne des Wortes.
»Ich mach schon auf«, sagte Ursel und ging zur Tür.
Eine Stimme, die Roberta sofort erkannte, sagte: »Entschuldigen Sie bitte, ich habe nebenan geklingelt, doch da macht niemand auf. Ist Frau Dr. Steinfeld vielleicht noch hier, oder wissen Sie gar, wo sie ist?«
Ehe Ursel eine Antwort geben konnte, kam Roberta angerannt.
»Das glaube ich jetzt nicht«, rief sie überrascht, und ehe sie die Besucherin begrüßte, wandte sie sich an die staunende Ursel.
»Das ist Frau Dr. Claire Müller«, rief sie freudig überrascht, und zu der gewandt, sagte sie: »Wir haben gerade über dich geredet. Doch bitte, komm erst mal rein. Warum hast du nicht angerufen?«
»Weil ich mir erst einmal alles ansehen wollte, mit diesem scheußlichen Wetter konnte niemand rechnen, war auch nicht angesagt. Aber es gefällt mir sehr sogar. Und wenn man bedenkt, dass bei schönem Wetter die Welt ganz anders aussieht, dann ist das hier ein Paradies.«
»Ist es auch«, riefen Roberta und Ursel wie aus einem Mund, und dann gab es natürlich allerhand zu erzählen, und es war ganz erstaunlich, die drei Frauen waren sofort das perfekte Team, besser konnte es überhaupt nicht sein. Ursel hatte Kaffee gekocht, dafür hatten sie so etwas wie eine kleine Teeküche, dann saßen sie, nachdem Claire sich alles angesehen hatten, in Robertas Zimmer.
»Es ist viel schöner, als ich es mir vorgestellt habe«, rief Claire ganz begeistert. »Und ich darf wirklich hier bei dir anfangen?«
»Am liebsten sofort«, sagte Roberta. »Du kannst dir auch aussuchen, welches der Räume dein Behandlungszimmer sein soll. Und ich denke, dass Ursel, die so was wie die Feuerwehr ist, auch noch eine Assistentin für dich finden wird.«
Ursel wurde rot, zögerte, dann sagte sie leise: »Habe ich. Im Krankenhaus in Hohenborn arbeitet eine Freundin von mir, die will wegen des Schichtdienstes dort aufhören, weil sie überhaupt kein Privatleben mehr hat und ihr Mann deswegen herummotzt. Die würde direkt bei uns anfangen.«
Roberta gefiel es, dass Ursel ›uns‹ sagte, denn das zeigte ihr wieder einmal, wie sehr Ursel sich mit der Praxis und ihrer Arbeit hier identifizierte.
Wenn es bei etwas Widerstände gab, dann sollte man vorsichtig sein, das Projekt beiseiteschieben, wenn alles glattging, dann war das ein Zeichen dafür, dass alles seine Richtigkeit hatte.
Glatter ging es ja überhaupt nicht, und Roberta war mittlerweile der Überzeugung, dass Claire ihr der Himmel geschickt hatte, und das sagte sie auch.
Alle waren sie Feuer und Flamme, denn eine Frau steckte die andere mit ihrer Begeisterung an.
Und als Roberta dann auch noch die Wohnung erwähnte, gab es für Claire kein Halten mehr.
»Und darf ich die Wohnung sehen?«, erkundigte sie sich ganz aufgeregt.
Die umsichtige Ursel wär nicht die, als die man sie kannte, die rief direkt ihren Bruder an, und es gelang ihr sogar, den zu überreden, direkt zur Wohnung zu kommen.
»Alles okay, wenn Sie wollen, dann können Sie sich die Wohnung ansehen.«
Und ob Claire das wollte.
»Und danach kommst du zu mir zurück, allerdings nach nebenan, wo du zuerst geklingelt hast. Und, Claire, hoffentlich kannst du über Nacht bleiben?«
Darauf war Claire nicht eingerichtet, doch da weder Mann noch Kinder auf sie warteten, war es kein Problem. Roberta hatte Gästezimmer, und einen Schlafanzug hatte sie für Claire ebenfalls, sie hatten ungefähr die gleiche Größe.
Wie aufregend doch alles war!
Das Leben war schön!
Es war so schön, dass ihnen der Regen nichts mehr ausmachte, dass das triste Grau draußen ihre Stimmung nicht trübte.
Und für kurze Zeit musste Roberta auch nicht an Lars denken und an den Schmerz, der sie innerlich zerriss.
Es war auch so wundervoll, dass Ursel und Claire sich direkt so gut verstanden. Doch das war auch in ihrer früheren Praxis so gewesen, Claire hatte ein so sonniges Gemüt, eine so fröhliche, offene Art, dass sie sich nicht nur mit ihren Kolleginnen und Kollegen ganz hervorragend verstanden hatte, sondern mit dem gesamten Personal, ob es nun die Sprechstundenhilfen waren, die Laborantinnen, die MTA’s.
Was für ein Glück, dass sie sich getroffen hatten!
Als Ursel und Claire weg waren, ging Roberta nach nebenan in ihre Wohnung, und wenn sie an das scheußliche Wetter draußen dachte, konnte sie sich wieder einmal glücklich schätzen, nicht nach draußen zu müssen. Welch ein Privileg es doch war, nur nach nebenan zu müssen.
Claire würde kommen, und wie unkompliziert sie alles anging, der Sonnenwinkel gefiel ihr. Roberta konnte wirklich nicht begreifen, was Nicki gegen ein Leben hier hatte.
Es stand noch viel an, die Praxisräume mussten erweitert wer den, eine Mitarbeiterin wurde benötigt. Doch wenn Ursel da jemanden an der Hand hatte, sollte Roberta es nur recht sein, sie vertraute ihrer Mitarbeiterin da voll und ganz, und Ursel würde niemals jemanden empfehlen, für den sie nicht ihre Hand ins Feuer legen konnte. Ach was, nicht eine Hand, sondern beide Hände.
War es nicht verrückt, dass man manchmal an etwas herumdokterte, und auf einmal entwickelte es eine Eigendynamik? Ja, es sollte so kommen.
Auf Dauer hätte sie die ganze Arbeit allein wirklich nicht mehr bewältigen können. Da hätten ihre Patienten darunter gelitten. Und es tat ihr auch in der Seele weh, wenn sie Patienten abweisen oder wenn die eine Wartezeit in Kauf nehmen mussten.
Alles war gut. Nun ja, vielleicht nicht ganz. Hoffentlich würde sich nicht das wiederholen, was sie anfangs erleben musste. Da hatte man sie, was heute kaum noch vorstellbar war, ignoriert, weil man Dr. Riedel wieder als Arzt haben wollte, den man kannte, an den man gewohnt war.
Einen Unterschied gab es allerdings schon. Sie war von Anfang an an Claires Seite. Sie hatte man ins kalte Wasser geworfen, und sie hatte sehen müssen, wie sie allein mit allem fertig wurde, denn Enno Riedel hatte zu dem Zeitpunkt den Sonnenwinkel leider verlassen.
Es war vorbei, es machte keinen Sinn mehr, jetzt zurückzublicken, es war immer die Gegenwart, die entscheidend dafür war, wie es laufen würde.
Und in der Gegenwart fühlte sich alles gut an, geradezu perfekt …
*
Es dauerte gefühlte Ewigkeiten, bis Claire ins Doktorhaus zurückkehrte, und Roberta wusste nicht, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Es konnte doch nicht so lange dauern, sich eine Wohnung anzusehen. Und das Wetter lud auch nicht dazu ein, draußen herumzulaufen. Im Gegenteil, zu dem klatschenden Regen war auch nach ein heftiger Wind aufgekommen, der wütend an den Bäumen riss und Blätter vor sich hertrieb.
Roberta war froh, als Claire endlich eintraf, und natürlich blickte sie diese direkt an. Sie war bestens gelaunt, von Enttäuschung keine Spur. Bedeutete das …
Roberta musste sich deswegen keine Gedanken mehr machen, denn Claire fiel ihr jubelnd um den Hals und rief ganz begeistert: »Roberta, ich habe die Wohnung, und ich glaube, ich habe auch direkt eine Eroberung gemacht, Ursels Bruder …«
Sie wurde von Roberta unterbrochen.
»Claire, ich warne dich. Ich möchte nicht, dass du eine erneute Enttäuschung erlebst. Der Mann ist verheiratet.«
Das tangierte Claire in keiner Weise.
»Seine Schwiegermutter wird ebenfalls in das Haus einziehen, und ich möchte nicht, dass es da direkt zu Konflikten kommen wird.«
Auch diese Worte dämpften Claires Begeisterung nicht, und die Erklärung bekam Roberta direkt geliefert.
»Achim Hellenbrink ist geschieden, und es ist seine Ex-Schwiegermutter, die in das Haus einziehen wird. Ganz offensichtlich hat es bei der Trennung nicht den meist üblichen Rosenkrieg gegeben, sie verstehen sich noch immer und gehen freundschaftlich miteinander um. Ehrlich, Roberta, Achim Hellenbrink hat mit mir ganz offensichtlich geflirtet. Und ich finde ihn nett, als Architekt hat er gewusst, was er mit dem Umbau des Hauses zu tun hat, und die Wohnung ist perfekt für mich.«
Sie setzten sich.
»Es macht mir schon Angst, dass alles auf einmal in meinem Leben so reibungslos klappt, dass es keine Hindernisse mehr gibt.« Sie hielt Roberta ihren Arm entgegen. »Bitte kneife mich, damit ich spüre, dass das alles wunderbare Wirklichkeit ist, dass ich nicht träume.«
So war Claire!
Sie war erfrischend, und ihre gute Laune übertrug sich direkt auf ihr Umfeld. Das war gut für die Patienten.
Roberta lachte.
»Ich muss dich nicht kneifen, du träumst nicht. Es ist für uns beide eine ganz wunderbare Fügung, und wenn das jetzt auch mit der Wohnung in trockenen Tüchern ist, dann kannst du direkt anfangen. Bis wir ein Behandlungszimmer nach deinen Wünschen und Bedürfnissen für dich hergerichtet haben, findet sich schon eine andere Möglichkeit, Räume genug sind vorhanden.«
Claire freute sich über Robertas Begeisterung, doch dann wurde beiden Frauen schon klar, dass noch weitere Voraussetzungen notwendig waren, und mit der Wohnung würde es noch zwei, drei Wochen dauern. Außerdem musste die dann eingerichtet werden.
Sie durften jetzt nichts überstürzen.
»Und was dein Gehalt betrifft«, begann Roberta, doch da wurde sie direkt von Claire unterbrochen. »Das ist zweitrangig, ich weiß natürlich, dass ich hier nicht das verdienen kann wie in der alten Praxis. Es sind ja ganz andere Voraussetzungen, da konntest du mit den Kassen anders abrechnen als hier als praktische Landärztin.«
Eigentlich hatte Roberta ihr sagen wollen, dass sie das alte Gehalt nur gering erhöhen konnte, und nun ging Claire davon aus, weniger zu verdienen. Das stellte Roberta direkt richtig, und Claire sagte: »Das kommt überhaupt nicht infrage, wenn ich mein altes Gehalt bekomme, womit ich, wie gesagt, nicht gerechnet habe, dann ist das mehr als großzügig. Mehr nehme ich nicht an. Soll ich dir mal etwas sagen? Ich bin so glücklich, wieder für dich, vor allem, mit dir arbeiten zu dürfen …, irgendwie kann ich das noch immer nicht fassen. Es ist unbeschreiblich. Es ist wie ein Hauptgewinn bei einem Glücksspiel. Eigentlich müsste ich ja jetzt noch Geld mitbringen, weil sich gerade für mich ein Traum erfüllt.« Sie blickte Roberta an. »Du und ich …, wir zusammen wieder in einem Team …, danke Roberta, danke für die Chance, die ich da gerade von dir bekomme. Ich schwöre dir, du wirst es niemals bereuen, ich verspreche dir, alles zu geben …, ich glaube, es wird noch eine ganze Weile dauern, bis ich richtig begriffen habe, was für ein großes Glück …, wenn ich das so richtig überlege …, in Italien mehr oder weniger gescheitert, angeschlagen, ohne Perspektive …, und dann kamst du.«
Roberta war ganz gerührt. Es fühlte sich alles so gut, so richtig an. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel, weil sie sich kannten, wussten, was sie voneinander zu halten hatten. Es würde wieder zu einer großartigen Zusammenarbeit kommen, und das freute Roberta nicht nur für sich selbst, sondern vor allem für die Patientinnen und Patienten. Die kamen für sie immer an erster Stelle, weil sie Ärztin aus Leidenschaft war, und das war etwas, was man auch von Claire behaupten konnte.
»Claire, ich bin nicht minder glücklich. Und ich freue mich von ganzem Herzen auf unsere Zusammenarbeit hier im Sonnenwinkel.«
Der Regen hatte aufgehört, ganz vorsichtig lugte ein vorwitziger Sonnenstrahl aus dem grauen Himmel.
Schade, dass jetzt nicht Nicki anwesend war, die würde direkt sagen, dass das das ein Zeichen war. Und vielleicht war es das ja auch. Es fühlte sich auf jeden Fall sehr gut an.
*
Inge und Werner Auerbach warteten auf ihren Freund Berthold von Ahnefeld. Sie wussten beide, dass es diesmal kein längerer Aufenthalt sein würde, sondern dass Bert kam, um sich zu verabschieden und für die zuvor genossene Gastfreundschaft zu bedanken.
Bert war ein gern gesehener Gast gewesen, und sie hätten ihn gern noch eine Weile um sich gehabt. In der Auerbach Villa war es schon lange sehr ruhig, seit bis auf Pamela alle Sprösslinge längst ausgeflogen waren. Doch das war nun mal der Lauf der Dinge, das war etwas, was auf alle Eltern zukam.
Dass Bert nun seinen Aufenthalt bei ihnen nicht verlängern wollte, darüber konnten sie sich nur freuen. Welche Sorgen sie sich um ihn gemacht hatten, die auch sehr berechtigt gewesen waren. Er hatte vollkommen den Boden unter den Füßen verloren, nachdem sein vorheriges glückliches Leben sich in einen Trümmerhaufen verwandelt hatte.
Dass es nun diesen Lichtblick gab, darüber konnten sie sich nur freuen.
Werner sprach es jetzt auch aus.
»Weißt du, Inge-Maus, ich freue mich aufrichtig, dass unser Bert mit der reizenden Angela von Bergen zusammen ist. Aber wenn ich ehrlich bin, bedaure ich auch ein wenig, dass er nun nicht mehr bei uns sein wird. Ich habe die Zeit mit ihm genossen, wir haben alte Erinnerungen aufgefrischt, und mit ihm an meiner Seite waren meine Reisen noch einmal so schön. Bert ist wirklich ein überaus angenehmer, feiner Mensch.«
Inge blickte ihren Mann an.
»Und du bist ein Egoist, mein lieber Werner. Erst einmal zwingt dich kein Mensch, all diese Reisen zu unternehmen, die sind nur wichtig für dein Ego, und dass Bert und Angela sich zusammengetan haben, finde ich großartig. Sie tun einander gut. Bert hätte nichts Besseres passieren können, als ihr zu begegnen, sie ist einfühlsam, warmherzig, und sie hat, wie du weißt, auch schon eine ganze Menge mitgemacht. Ja, es war sehr angenehm, Bert hier zu haben, weil man mit ihm sehr gute Gespräche führen kann. Aber darauf kann man doch gern verzichten, wenn man weiß, dass er auf einem guten Weg ist, wieder zu seiner Mitte zu finden. Werner«, sie blickte ihn an, »bitte mach keine unbedachte Bemerkung, du weißt, wie empfindlich Bert ist. Freue dich mit ihm.«
»Aber das tue ich doch«, beschwerte er sich, »du tust ja geradezu so, als sei ich ein Monster.«
»Reg dich ab, mein Lieber, natürlich bist du das nicht. Aber du bist mit deinen Gedanken manchmal ganz woanders, und da sagst du etwas, was …«
Sie brach ihren Satz ab, weil es in diesem Augenblick an der Tür klingelte.
Die öffnete normalerweise Inge, doch diesmal ließ Werner es sich nicht nehmen, zur Tür zu gehen, und dann hörte Inge, wie die beiden Männer sich begrüßten.
Ja, sie freute sich wirklich für Bert.
Bert und Werner kamen in den Raum, Bert begrüßte Inge herzlich. Er hatte sich sehr verändert, wirkte nicht mehr so erloschen.
»Schön, dass du da bist«, sagte sie, dann zauberte er einen wunderschönen Rosenstrauß hinter seinem Rücken hervor, überreichte ihn Inge.
»Danke, dass ich in der schlimmsten Zeit meines Lebens bei euch sein durfte, ihr habt mir sehr geholfen. Ich weiß überhaupt nicht, was ich ohne euch gemacht hätte.«
»Du hättest vor allem Angela nicht kennengelernt, mein Lieber«, sagte Inge, dann bedankte sie sich für die Blumen, bat ihn, Platz zu nehmen.
»Ja, das ist richtig«, griff er Inges vorherigen Worte auf, »dann hätte ich sie nicht kennengelernt. Ihr habt mich aus meinem Tief geholt, doch Angela hat mich gerettet.«
»Und wie geht es jetzt weiter?«, wollte Werner wissen, der sich niemals lange mit einer Vorrede aufhielt.
Inge interessierte die Frage ebenfalls, doch sie hätte sie nicht direkt gestellt. Bert war doch gerade erst angekommen. Dem machte es allerdings offensichtlich nichts aus, denn er sagte sofort: »Wir wollen bald gemeinsam auf unsere Lebensreise gehen …, ich muss nur noch die Scherben aus meiner Vergangenheit beseitigen.«
»Bert, wir haben alle unsere Vergangenheit, die uns geprägt hat, die kann man nicht aus seinem Leben streichen«, wandte Inge ein.
Er schaute sie an, lächelte.
»Das will ich nicht, Inge, aber ich denke, Angela soll mit mir nicht das Leben an der Stelle fortsetzen, wo das alte aufgehört hat. Meine Frau und meine Kinder werden immer einen Platz in meinem Herzen haben. Angela soll nicht in deren Leben eintauchen.«
Sie sagte ihm, dass er sich nicht zu viele Gedanken machen müsse, dass Angela alt genug sei um zu wissen, worauf sie sich da einlasse.
»Außerdem soll doch Sophia bei euch sein«, erinnerte sie ihn, »die bringt Angela, wenn du so willst, mit in eure gemeinsame Zukunft.«