Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Jubiläumsbox 5 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 5

Оглавление

Der Stalker!

Das war der einzige Gedanke, der Roberta beherrschte. Sie dachte nicht darüber nach, dass es gefährlich werden könnte, dass er aus Angst vor Entlarvung übergriffig werden könnte.

Es musste ein Ende haben!

Nur daran dachte sie, und deswegen stürzte sie sich auf ihn, krallte sich an seiner Jacke fest und stieß hervor: »Endlich habe ich dich.«

Es war ein Mann, der schüttelte sie ab und drehte sich um. Und jetzt musste Roberta sich erst einmal von ihrer Überraschung erholen. Sie hätte mit allem gerechnet, damit wirklich nicht. An ihn hätte sie in ihren kühnsten Träumen nicht gedacht. Dieses Kapitel war doch längst schon abgeschlossen.

Der Stalker war … Dr. Max Steinfeld, ihr Ex-Ehemann!

Sie starrten sich an.

Max war anzusehen, dass es ihm überhaupt nicht recht war, erwischt worden zu sein. Für ihn hätte das Spiel weitergehen können.

Roberta brauchte eine Weile, ehe sie etwas sagen konnte.

»Max, was soll das? Warum tust du das? Du hast doch alles bekommen, was du wolltest, sogar noch mehr als dir zustand, weil ich dieses unwürdige Spiel, diesen Rosenkrieg einfach beenden wollte.«

Er sah schlimm aus, ein wenig heruntergekommen, längst nicht mehr so selbstherrlich, so arrogant, wie er immer als Halbgott in Weiß aufgetreten war.

»Es ist alles deine Schuld«, stieß er hervor. »Du hast alles kaputt gemacht.«

Nun verstand Roberta überhaupt nichts mehr.

»Max, hast du eine Amnesie? Du warst es, der mich permanent betrogen hat. Du warst hinter den Sprechstundenhilfen her, hinter allen Frauen, die bei drei nicht auf den Bäumen waren, du hast selbst vor Patientinnen nicht Halt gemacht. Soll ich noch mehr aufzählen, oder reicht das? Wenn jemand alles kaputt gemacht hat, dann du. Aber darüber müssen wir jetzt nicht mehr reden, das ist Vergangenheit. Max, warum hast du mich gestalkt? Was hast du damit bezweckt? Und vor allem, warum rote Rosen?«

Er war sauer, weil sie ihn erwischt hatte, das konnte er nicht verbergen.

»Können wir ins Haus gehen?«, schlug er vor.

Roberta schüttelte den Kopf.

»Nein, Max Steinfeld, mein Haus betrittst du nicht mehr.«

»Dein Haus?«

Das klang so hasserfüllt, dass Roberta sich ärgerte, es gesagt zu haben. Es ging ihn schließlich nichts an. Jetzt machte sie sich sogar schon deswegen Gedanken. »Ja, mein Haus«, sagte sie beinahe trotzig. »Ehe du auf komische Gedanken kommst, Max, das habe ich gekauft, als wir längst schon geschieden waren. Du kannst keine Forderungen geltend machen.«

Sein Gesicht war wutverzerrt. Er sagte nicht direkt etwas, aber man sah ihm an, wie es in ihm arbeitete. »Dein Haus, deine Praxis, dein Liebhaber, alles dein, dein, dein.«

Am liebsten hätte sie ihn jetzt stehen lassen, aber es musste zu einem Abschluss gebracht werden. Sie musste ihm erklären, dass er es nicht wagen sollte, sich ihr noch einmal zu nähern. Er war neidisch, er wusste von Lars. Er hatte sie also schon länger beobachtet.

»Max, gönnst du mir mein Leben nicht? Wir haben gemeinsam studiert, wir haben gemeinsam in der Praxis gearbeitet, die ich in erster Linie aufgebaut habe, in die ich Geld gesteckt habe. Und diese florierende Praxis habe ich dir überlassen, nur um einen Schlussstrich ziehen zu können. Und was hast du getan? Du hast alles gegen die Wand gefahren. Das wäre vermeidbar gewesen, wenn du endlich angefangen hättest, wie alle anderen Menschen es auch tun, zu arbeiten. Wenn man eine so große Praxis führt, mit vielen Angestellten, mit einem großen Patientenkreis, da reicht es nicht, im weißen Kittel herumzustolzieren, ein wenig Small Talk zu machen. Da muss man in erster Linie arbeiten. Danach kommt das Privatleben.«

»Hör auf, mich belehren zu wollen«, begehrte er auf. »Dir ist halt immer alles in den Schoß gefallen, und wenn du …« Es reichte!

Roberta unterbrach ihn.

»Max, ich habe mir alles hart erarbeitet. Aber jetzt möchte ich nicht mehr darüber diskutieren, das wird eine endlose Geschichte, und du wirst dann immer noch uneinsichtig sein. Max, ich hätte allen Grund dazu, doch ich werde dich nicht anzeigen. Sollte mir noch einmal so etwas widerfahren, werde ich der Polizei sagen, dass ich dich in Verdacht habe, und dann rolle ich die ganze Geschichte auf. Eines möchte ich nur noch wissen, ehe ich gehe und dann niemals mehr etwas mit dir zu tun haben will. Warum die roten Rosen? Warum mein Lieblingsparfüm?«

»Weil das Stalker tun, die exzessiv in ihren Handlungen sind, die unberechenbar sind. Ich wollte dich in Angst versetzen. So einfach ist das. Du hast alles, ich habe nichts.«

Sie blickte ihren Exmann entsetzt an, fassungslos, weil sie nicht begreifen konnte, dass sie ihn einmal geheiratet hatte.

Und eines wurde ihr jetzt klar.

»Max, du bist neidisch!«

Das war ein schwerer Vorwurf, doch er stritt es nicht etwa ab, er gab es zu.

»Ja, ich bin neidisch, und ich bin wütend, weil ich der Scheidung zugestimmt habe. Ich habe alles verloren, und für dich wäre es auch besser, Chefin einer großen Großstadtpraxis zu sein, als hier in der Pampa weit unter deinen Fähigkeiten herumzuhampeln.«

»Max, ich bin glücklich, und um mich musst du dir keine Sorgen machen. Mach für dein verkorkstes Leben keine anderen verantwortlich.«

»Roberta, wir waren ein großartiges Team.«

Es war nicht zu fassen, wie er sich sein Weltbild zurechtdrehte.

»Max, wir waren kein Team, ich habe gearbeitet und dich mit durchgezogen, und dann habe ich dir bei der Scheidung mehr überlassen, als dir zustand. Ich mag nicht mehr reden. Du hast dein Leben, ich habe meines. Und ich möchte jetzt zu dem Mann gehen, den ich liebe, und den ich heiraten und mit dem ich Kinder bekommen werde.«

So, das hatte gesessen, und auch wenn es leider nicht stimmte, bereute Roberta keines ihrer Worte.

Er schnappte nach Luft, und sie ergriff die Gelegenheit, ihm zu sagen: »Max, was du getan hast, das war nicht nur unter deiner Würde, es war dreist. Denke dir nicht noch etwas anderes aus, dann kommst du so glimpflich nicht mehr davon.

Dann zeige ich dich an, das schwöre ich dir. Und, ach, ehe du gehst, nimm die rote Rose von meiner Windschutzscheibe weg. Vielleicht kannst du sie ja noch anderweitig verwenden.«

»Roberta, ich …«

Sie drehte sich noch einmal um.

»Max, Schluss jetzt, ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Zerstöre jetzt nicht noch das letzte bisschen schöner Erinnerung, die ich an die Zeit mit dir habe. Es ist nicht mehr viel, und ich möchte mich nicht dafür hassen, dich geheiratet zu haben. Adieu, Max …, und vergiss die Rose nicht.«

Dann ging sie endgültig und spürte unangenehm seine Blicke in ihrem Rücken. Wenn Blicke töten könnten, dann wäre sie jetzt vermutlich eine Leiche.

In seiner Gegenwart hatte sie sich ja zusammengerissen, doch jetzt bebte sie am ganzen Körper.

Max ein Stalker!

Das war so ungeheuerlich, dass es vermutlich noch eine ganze Weile dauern würde, bis sie das überwunden hatte. Er war neidisch, und er missgönnte ihr ihren Erfolg. Doch der war ihr ja nicht zugeflogen, sie hatte hart dafür gearbeitet, und anfangs war es wahrlich nicht einfach gewesen, im Sonnenwinkel Fuß zu fassen. Die Leute waren sauer gewesen, weil Dr. Riedel gegangen war, und misstrauisch, weil sie einer Frau nicht zutrauten, in seine Fußstapfen treten zu können. Sie hatte Enno Riedel längst überholt, über ihn sprach niemand mehr. Aber über sie, und das so voller Hochachtung, dass es ihr manchmal schon peinlich war.

Sie hatte neu anfangen müssen, Max hatte sich in ein gemachtes Nest gesetzt. Und er war kein schlechter Arzt, er hatte die Arbeit halt nicht erfunden, und die Rolle eines Halbgottes in Weiß gefiel ihm einfach zu gut. Und er konnte von den Frauen nicht lassen.

Ja, er hatte wirklich alles gegen die Wand gefahren.

Roberta sah das kleine Haus am See vor sich, alle Fenster waren erleuchtet, es wirkte einladend, heimelig, und sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie den ganzen Weg über nur an Max gedacht hatte, schlimmer noch, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte, weil es ihr gut ging, weil ihre Welt in Ordnung war, weil sie über Max hinweg war. Das war er auch. Hätte sie ihm wirklich etwas bedeutet, dann hätte er sie nicht immerzu betrogen. Für Max war sie so etwas wie eine Kuh gewesen, die man wunderbar melken konnte.

Aus!

Schluss!

Vorbei!

Dr. Max Steinfeld war Vergangenheit, in dem Häuschen, das sie gleich betreten würde, war die beglückende Gegenwart. An Lars zu denken, besserte Robertas Laune sofort. Lars und sie waren wie zwei Schiffe, die sich begegnen mussten, mit ihm an ihrer Seite konnte sie das Floß ihres Lebens gefahrlos durch stürmischstes Gewässer bringen.

Wie sehr sie ihn doch liebte.

Ehe sie ins Haus ging, blieb sie noch einmal stehen, atmete tief durch, dann drückte sie die Türklinke herunter.

*

Lars Magnusson hatte an seinem Computer gearbeitet, doch als er Roberta erblickte, ließ er Arbeit Arbeit sein, sprang auf, ging ihr entgegen, wollte sie in seine Arme nehmen, doch dann hielt er inne, blickte sie forschend an.

»Roberta, mein Liebes, was ist geschehen? Ist dir ein böser Geist begegnet? Du siehst mitgenommen aus.«

»Das bin ich auch. Lars, du glaubst nicht, was ich erlebt habe. Ich weiß, wer der Stalker ist.«

Er führte sie zur Couch, setzte sich neben sie.

»Du weißt, wer der Stalker ist?«, erkundigte er sich ungläubig. Er hatte es hautnah mitbekommen, und er hatte erlebt, wie belastend es für Roberta gewesen war.

»Ja, Lars, und wenn ich dich jetzt fragen würde, würdest du niemals darauf kommen. Der Stalker ist mein Exmann Max, und ich habe ihn auf frischer Tat ertappt, als er eine rote Rose hinter den Scheibenwischer geklemmt hat.«

Lars Magnusson sah sie an, ein wenig verständnislos, als habe sie gerade Suaheli gesprochen.

»Dein Exmann?«, brachte er schließlich hervor, und Roberta nickte, und dann erzählte sie ihm alles.

»Er hat es aus Wut getan, er neidet mir mein neues Leben, und er ist zornig, weil ich dich habe. Er muss mich sehr genau beobachtet haben, denn er weiß alles über mich.«

Sie erzählte ihm jetzt nicht, dass sie Max, was ihre Beziehung betraf, einiges vorgeflunkert hatte.

Jetzt nahm er sie wortlos in seine Arme, hielt sie fest umschlungen.

Roberta genoss seine Nähe, wieder überkam sie das Gefühl von Geborgenheit. Sie waren sich so unglaublich nahe, und es bedurfte keiner Worte, um sie wissen zu lassen, wie sehr sie sich liebten, wie sehr sie auf einer Wellenlänge waren.

Roberta entspannte sich. Mit Lars an ihrer Seite konnte ihr überhaupt nichts geschehen. Lars war ihre Lebensliebe, und sie war so unendlich dankbar dafür, dass sie das erleben durfte.

Er zog sie enger an sich, und dann küssten sie sich. Wie schade, dass jetzt nicht die Geigen erklangen, die man im Kino bei solchen emotionalen Gelegenheiten dezent im Hintergrund hörte. Vermutlich lag es daran, dass das, was man auf der Leinwand erlebte, nur die Handlung eines ausgedachten Drehbuchs war. Da mussten die Liebesszenen besonders inszeniert werden.

Lars und sie …

Sie erlebten eine wunderbare Gegenwart, eine Zweisamkeit, die getragen wurde von einer ganz großen Liebe. Da brauchte man nicht einmal die berühmte Wolke Sieben.

Nach einer ganzen Weile lösten sie sich voneinander, er blickte sie noch immer besorgt an, ehe er sich erkundigte: »Geht es dir besser, mein Herz?«

Sie nickte. Es ging ihr wirklich besser.

»Ich weiß nicht, ob ich so großmütig gewesen wäre, ihn laufen zu lassen. Ich glaube, ich hätte ihn angezeigt.«

»Lars, und was hätte ich davon? Was passiert ist, ist passiert. Er hat es geschafft, mich in Schrecken zu versetzen. Erreicht hat er nichts. Seine Situation hat sich in keiner Weise verändert. Und wenn du ihn gesehen hättest! Es ist nichts mehr übrig geblieben, von dem selbstherrlichen Herrn Doktor. Ich weiß überhaupt nicht, womit er sein Leben jetzt fristet. Das Haus ist weg, die Praxis ist aufgelöst, die wirklich eine Goldgrube war.«

»Eine Praxis, in der du das Herz warst. Liebes, lass es los. Erinnere dich nicht mehr an das, was war. Du hast dir nicht vorzuwerfen. Ich bin auf jeden Fall froh, dass ich mir keine Sorgen mehr um dich machen muss, dass du wieder in deinem eigenen Haus schlafen kannst.«

Als er ihren Blick bemerkte, lächelte er.

»Ich bin gern mit dir bei dir, ich bin gern mit dir bei mir. Wo du bist, da ist mein Zuhause. Dieses Heimatgefühl, den Wunsch nach Hause zu kommen, den habe ich erst, seit ich dich kenne. Ich bin so froh, dass es dich gibt.«

Er ergriff ihre Hand, hielt sie fest.

»Mein Manuskript über die Eisbären wird in spätestens zwei Wochen fertig sein, doch ich werde danach nicht arbeitslos. Der Verlag hat mir ein neues spannendes Projekt angeboten, und ich denke, dass ich da zusagen werde.«

Roberta merkte, wie ihr Herz schwer wurde. Er war doch erst so lange weg gewesen.

»Es ist so schön«, fuhr er fort, »dass ich mein Leben weiterhin planen kann, ohne mit dir Probleme zu bekommen. Frauen machen Theater, wollen in erster Linie die Zweisamkeit genießen, stets einen Mann an ihrer Seite haben. Nach meiner gescheiterten Ehe wollte ich mich niemals mehr auf eine neue Beziehung einlassen, doch dann kamst du, und auf einmal war alles anders. Wir sind uns so nahe, wie man sich nicht näher sein kann, und auch wenn wir uns nicht sehen, sind wir wie mit einem unsichtbaren Band ganz eng miteinander verbunden …«, er hielt inne, warf ihr einen liebevollen Blick zu, »das ist so, weil wir uns lieben, lieben in der allerhöchsten Form, ohne Forderungen, ohne Besitzanspruch …, ich liebe dich so sehr, Roberta Steinfeld, du bist ein Geschenk des Himmels.«

Es waren wunderbare Worte, die alle ernst gemeint waren, ihr müsste das Herz aufgehen, doch da war im Hintergrund der Gedanke daran, dass er wieder gehen würde.

Wann? Wohin?

Vielleicht war es jetzt nicht der rechte Augenblick, doch sie musste ihm die Frage einfach stellen.

»Und das neue Projekt, das man dir angeboten hat?«, erkundigte sie sich.

Er war ein wenig irritiert, doch dann begann er zu strahlen.

»Gut, dass du noch mal davon anfängst. Ja, es ist eine ganz spannende Sache, und eigentlich bin ich mir sicher, dass ich den Auftrag annehmen werde. Es geht um ein Buch über den Highland Tiger.«

Roberta blickte ihn fragend an.

»Highland Tiger? Das sagt mir nichts.«

»Über ihn weiß man nicht viel, es ist eine Wildkatze, die nicht größer ist als eine Hauskatze. Niemand kann sie zähmen, und sie ist vom Aussterben bedroht, es gibt nicht mehr viele davon, es ist schwierig, sie zu finden. Und für die Schotten ist der Highland Tiger so etwas wie ein Freiheitssymbol.«

Er lächelte.

»Diesmal geht es nur bis nach Schottland in die Highlands, dennoch wird es alles sehr abenteuerlich sein. Ganz so, wie ich es liebe.«

Er war begeistert, er erzählte ihr eine ganze Menge, es sprudelte nur so aus ihm heraus. Und Roberta wurde klar, dass Lars Magnusson ihr niemals ganz gehören würde. Er war ein Freigeist, ein Abenteurer, der das, was er tat, liebte, das würde immer den Vorrang haben, und sie musste sich darauf einstellen, an seiner Seite immer nur die zweite Geige zu spielen.

Doch hatte sie eine andere Wahl?

Nein, die hatte sie nicht, weil das, was er ihr gab, und das tat er mit Herz und Liebe, immer noch viel mehr war als das, was sie zuvor in ihrem Leben erlebt hatte.

Er küsste sie, und für eine kurze Weile vergaß sie alles, was sie bedrückte.

Sie fuhren auseinander, als ein schriller Klingelton erklang.

»Der Auflauf ist fertig«, lachte er, »ich hoffe, du magst ihn.«

Welche Frage. Lars kochte erstaunlich gut, das gab sogar Alma neidlos zu, und die war eine begnadete Köchin.

Er stand auf, zog sie empor, und ehe er zum Ofen ging, nahm er sie noch einmal kurz in die Arme und küsste sie.

»Wir können es gerade noch schaffen, gemütlich zu essen, und danach hoffe ich, dass meine Telefonkonferenz nicht zu lange dauern wird. Ich möchte nämlich den Abend mit dir genießen, mein Herz. Darauf habe ich mich schon den ganzen Tag über gefreut.«

Roberta sah ihm zu, wie er mit ruhigen, sicheren Bewegungen die Auflaufform aus dem Ofen holte. Er war schon ein toller Mann, ihr Lars. Bei ihm stimmte alles, und als er ihr einen liebevollen Blick aus seinen unglaublich blauen Augen zuwarf, da schmolz sie dahin wie Butter in der Sonne.

Er liebte sie, sie liebte ihn. Ihre Beziehung war nicht perfekt, weil immer Wünsche offen blieben. Aber es war wohl so im Leben, dass man nicht alles haben konnte.

*

Man konnte nicht gerade behaupten, dass bei den Bredenbrocks eitel Sonnenschein herrschte. Ihr Leben war voller Höhen und Tiefen, doch die Höhen überwogen.

Maren und Tim begannen, im Sonnenwinkel, im Gymnasium in Hohenborn Fuß zu fassen.

Maren gehörte jetzt zu der coolen Clique, die sich nach der Schule oder während der Ausfallstunden im ›Calamini‹ traf, und Tim spielte mit ein paar anderen Jungen Fußball.

Es ließ sich alles gut an, sehr zur Freude ihres Vaters. Dann hatte er sein Opfer nicht umsonst gebracht. Er hatte am meisten aufgegeben. Als Direktor einer großen Schule hatte er eine ganz andere Position gehabt als jetzt als Lehrer für Mathematik und Physik.

Dr. Peter Bredenbrock beklagte sich nicht. Es war okay so. Für ihn zählten in erster Linie seine Kinder, und wenn es denen gut ging, dann ging es auch ihm gut.

Sie waren auf einem richtigen Weg, und es war so großartig, wie sehr er auf Angela von Bergen und deren Mutter Sophia zählen konnte. Die beiden Damen waren bereits schon so etwas wie Familie.

Heute in aller Herrgottsfrühe waren Maren und Tim mit Sophia und Angela in einen Freizeitpark gefahren. Sophia wollte sich dort ins Restaurant setzen, und Angela hatte sich vorgenommen, den Bredenbrock-Sprösslingen einen richtig schönen Tag zu machen.

Peter war es ganz recht, mal einen ganzen Tag für sich zu haben. Es war viel Arbeit für ihn liegen geblieben, da konnte er eine ganze Menge aufarbeiten. Und am Nachmittag würde er um den See laufen. Da war er schon gefühlte Ewigkeiten nicht mehr gewesen.

Und da Angela auf ihre vorsorgliche Art für ihn etwas gekocht hatte, musste er sich das Essen nur aufwärmen.

Er hatte bereits einiges geschafft, und wenn er sich sputete, würde er direkt nach dem Mittagessen zum See gehen können.

Welch verlockender Gedanke!

Peter war bestens gelaunt, und die Arbeit ging flott voran.

Ein wenig unwillig blickte er hoch, als es draußen an der Tür klingelte. Er erwartete niemanden, vermutlich war es der Briefträger.

Peter Bredenbrock stand auf, ging zur Tür, öffnete, und dann prallte er zurück.

Er glaubte einen Geist zu sehen!

Vor der Tür stand Ilka, seine Ehefrau, von der er noch immer nicht geschieden war, und mit der er nun überhaupt nicht gerechnet hätte.

Sie sah grauenvoll aus mit ihren bunt gefärbten Haaren, die eher zu einer Punkerin passten, aber nicht zu einer Frau, die eher gutbürgerlich war. Man musste wohl sagen, gewesen war. Sie hatte sich verändert, und alles, was geschehen war, das wäre für ihn zuvor undenkbar gewesen. Doch nicht Ilka! Da konnte man sehen, wie man sich täuschen konnte.

Seit sie weggelaufen war, hatte er sie nicht mehr gesehen, und er wunderte sich, wie emotional unbeteiligt er ihr gegenüberstand.

»Was machst du hier?«, erkundigte er sich, und seine Stimme klang freundlicher, wenn er sich mit der Zeitungsfrau unterhielt.

»Willst du mich nicht erst mal ins Haus lassen?«, wollte sie wissen. »Es muss ja nicht die ganze Nachbarschaft mitbekommen, was wir uns zu sagen haben.«

Er konnte sich nicht verkneifen zu sagen: »Ich habe dir nichts zu sagen. Aber meinetwegen, komm rein. Wie hast du uns überhaupt gefunden?«

Sie schob sich an ihm vorbei.

»Es war ja ganz schön dreist von dir, nicht nur wegzuziehen, sondern das Haus auch noch zu verkaufen. Das hättest du ohne meine Einwilligung überhaupt nicht tun dürfen.«

Er konnte jetzt nicht glauben, was sie da von sich gab. Und wie dreist sie war.

»Irrtum, das Haus gehörte mir bereits vor unserer Ehe, und deswegen kann ich damit tun und lassen, was ich will. Bist du hergekommen, um dich wegen des Hauses mit mir zu streiten?«

Sie setzte sich einfach hin. Nun, darüber wollte er sich allerdings nicht aufregen, er hätte ihr einen Platz angeboten, schließlich war er ein höflicher Mensch, der wusste, was sich gehörte.

»Ich wollte wieder ins Haus einziehen, jetzt werde ich wohl oder übel in den sauren Apfel beißen müssen und hierherziehen. Das finde ich nicht so prickelnd.«

Jetzt musste Peter sich ebenfalls erst einmal setzen, er war zunächst stehen geblieben.

Hatte er sich da verhört? Was hatte Ilka da von sich gegeben?

»Du willst was?«

»Wieder zu dir und Maren und Tim ziehen. Die Kinder brauchen ihre Mutter …, ich habe eingesehen, dass das Leben an der Seite eines umtriebigen Künstlers doch nichts für mich ist. Ich bin wohl zu bürgerlich.«

Er konnte nicht sofort etwas sagen, weil es einfach zu ungeheuerlich war, was diese Frau da von sich gegeben hatte.

Sie hatte auf nichts und niemanden Rücksicht genommen und hatte ihr Ding gemacht. Und als sie zufällig Maren und Tim gesehen hatte, war sie weggelaufen.

Und nun tat sie so, als sei alles in Ordnung, als könne sie wieder da beginnen, wo sie aufgehört hatte. Das war eine derartige Dreistigkeit. Das schlug dem Fass den Boden aus.

»Du hast dich für ein Leben gegen mich und gegen die Kinder entschieden«, erinnerte er sie. Hatte sie das vergessen?

»Mein Gott, du hättest doch nicht gleich alles aufgeben müssen. Ich wollte bloß ein bisschen Spaß haben.«

Am liebsten hätte er ihr jetzt die Tür gewiesen. Es ging nicht, er musste gute Miene zum bösen Spiel machen. Wenigstens solange, bis er herausgefunden hatte, wo sie zu erreichen war, damit der Rechtsanwalt ihr endlich die Scheidungspapiere zuschicken konnte.

»Und weil du Spaß haben wolltest, hast du Knall auf Fall die Kinder im Stich gelassen, von mir ganz zu schweigen. Und weil es doch nicht so ist, wie du dir das vorgestellt hast, da denkst du, dass du wieder herkommen kannst, bis zum nächsten Mal, wenn du wieder Spaß haben möchtest. Nein, Ilka, so geht das nicht. Dieser Zug ist abgefahren. Du sagst mir jetzt deine Adresse, und dann bekommst du die Scheidungspapiere zugeschickt. Und wenn ich deine Adresse habe, dann bitte ich dich zu gehen und nicht mehr herzukommen. Die Kinder sind gerade dabei, ihr Trauma zu überwinden. Die sind in ein tiefes Loch gefallen, als du sie verlassen hast.«

»Mein Gott, dramatisiere das doch jetzt nicht so. Sie sind kein Einzelfall, Eltern trennen sich immer wieder. Und ich bin sogar zurückgekommen. Es kann alles wieder so werden wie es war, leider nur hier. Was hast du dir bloß dabei gedacht, Maren und Tim in eine Gegend zu verfrachten, in der Fuchs und Hase sich Gute-Nacht sagen.«

Begriff sie es immer noch nicht?

Dann musste er eben drastischer werden.

»Ilka, es ist aus, es gibt keinen Weg zurück.«

Was war denn aus Peter geworden? Er war doch immer so bemüht gewesen, für alle eine heile Welt zu schaffen. Zog das nicht mehr?

Ihr Gesicht verzerrte sich.

»Du weißt schon, dass du für mich Unterhalt zahlen musst, und die Kinder, die nehme ich zu mir. Kinder gehören immer zur Mutter, das wissen die bei den Gerichten auch.«

Sie konnte ihm keine Angst machen, und es war wirklich erschreckend, das er für diese Frau nichts mehr empfand. Er hatte sie doch einmal geliebt.

»Ilka, du bist schlecht informiert und du hast eine falsche Erwartungshaltung. Ich muss keinen Unterhalt für dich zahlen, und kein Gericht der Welt wird dir das Sorgerecht für die Kinder erteilen. Du hättest dir alles vorher überlegen sollen. Schreib deine Adresse auf, und dann geh bitte.«

Sie dachte nicht daran.

»Wo sind eigentlich Maren und Tim? Die haben doch heute keine Schule.«

»Die sind unterwegs, und ehe du dich aufregst, sie sind unterwegs mit sehr guten Freundinnen, die sich sehr um die beiden kümmern.«

Ilka sah ihre Felle davonschwimmen. Mit einem solchen Ausgang hatte sie nicht gerechnet. Sie war vermessen genug gewesen zu glauben, Maren und Tim würden ihr um den Hals fallen, ganz so wie früher, und Peter würde sich ebenfalls freuen.

Wirklich dumm gelaufen!

Was sollte sie jetzt machen?

Sie musste versuchen, das Ruder herumzureißen.

»Peter, denk an die schönen Zeiten zurück, die wir miteinander hatten. Mit etwas gutem Willen kriegen wir das wieder hin. Allein schon der Kinder wegen.«

»Ilka, an die hast du doch überhaupt nicht gedacht, sonst wärest du nicht einfach gegangen. Schieb jetzt die Kinder nicht vor. Die sind dabei, in ihrem neuen Leben richtig anzukommen, funke nicht dazwischen und bring alles erneut in Unordnung.«

»Und du, Peter?«

Er blickte sie an, und er erkannte sie nicht mehr. Sie war nicht die Frau, die er geliebt hatte.

»Ich liebe dich nicht mehr.«

Damit hätte sie nicht gerechnet, sie starrte ihn an.

»Ilka, was du getan hast, hat mich sehr verletzt. Das ist nichts, wo man gleich wieder zur Tagesordnung übergehen kann. Es ist zu viel Porzellan zerschlagen worden, und es hat verdammt wehgetan.«

Darauf ging sie nicht ein.

»Gibt es eine Neue?«

Das war ihre Sorge?

»Nein, gibt es nicht«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Ich weiß nicht, ob noch einmal eine Frau Platz in meinem Leben haben wird. Ich brauche ja nicht nur eine Partnerin für mich, sondern jemanden, der Kinder mag, jemanden, den die Kinder mögen. Ich bin für Maren und Tim verantwortlich. Ich will, dass es ihnen gut geht, dass sie nicht noch einmal enttäuscht werden. Im Gegensatz zu dir will ich nicht nur ein bisschen Spaß haben. Da geht es um mehr. Aber das müssen wir jetzt nicht diskutieren. Unsere Wege trennen sich für immer, und es wäre gut, wenn wir die Scheidung hinter uns bringen könnten, ohne dass es zu einer Schlammschlacht kommt. Da wir keine Gütertrennung vereinbart haben, sondern in einer Zugewinngemeinschaft lebten, steht dir die Hälfte von dem zu, was während der gemeinsamen Ehejahre angeschafft wurde. Und du hast auch für die Zeit der Ehe Rentenansprüche. Für all das gibt es Gesetze, und du sollst alles bekommen, was dir zusteht. Was immer auch geschehen ist, wir hatten schöne Jahre miteinander, und du bist die Mutter meiner Kinder. Schon allein deswegen sollten wir versuchen, in Frieden die Trennung zu vollziehen, denn wir werden uns wegen der Kinder immer wieder begegnen.«

Sie sah ihre Fälle davonschwimmen!

Sie war wirklich davon ausgegangen, wieder da anknüpfen zu können, wo sie aufgehört hatten.

»Okay, Peter, dann gib mir auf das, was mir zusteht, einen Vorschuss«, sagte sie, weil sie wirklich klamm war und kein Geld hatte. Es war zu blöd, dass sie nicht in ihr altes Leben eintauchen konnte.

Damit war er einverstanden. Er hatte allerdings ein schlechtes Gefühl, weil es wirklich nicht seine Art war, ihr zu sagen: »Ich bekomme von dir die Adresse, unter der du erreichbar bist, und für das Geld bekomme ich eine Quittung.«

Er hatte sich wirklich verändert.

»Peter, ich bitte dich, ich bin deine Frau, da muss ich doch nichts unterschreiben.«

Klar, so war es früher gewesen.

»Wir sind nur noch auf dem Papier ein Ehepaar, und ehrlich gesagt, nach allem, was geschehen ist, traue ich dir nicht mehr, Ilka. Also was ist, gehst du auf meinen Vorschlag ein?«

Sie hatte keine andere Wahl.

Sie brauchte das Geld.

Es war zu dumm, dass die Kinder nicht daheim waren, dabei hatte sie den Zeitpunkt extra so gewählt. Vielleicht wäre da alles anders gelaufen. Die hingen an ihr, ganz besonders Tim.

Er ging in sein Arbeitszimmer. Er hatte normalerweise nicht viel Bargeld im Haus. Doch er wollte eine größere Anschaffung machen, und die musste bar bezahlt werden.

Er überlegte kurz, dann entnahm er der Schatulle fünftausend Euro, stellte die Quittung aus und schrieb als Zahlungsgrund auf, dass es sich um eine Vorauszahlung für die Vermögensteilung im bevorstehenden Scheidungsverfahren handelte.

Ehe er ihr das Geld gab, ließ er sich Ilkas Personalausweis zeigen, ob in dem tatsächlich die Adresse stand, die sie ihm aufgeschrieben hatte.

Nachdem alles erledigt war, traf sie noch immer keine Anstalten zu gehen, und deswegen sagte er: »Ilka, ich möchte jetzt gern wieder allein sein.«

Er hatte ihr keinen Kaffee angeboten. Eigentlich ging so etwas überhaupt nicht. Doch die Verletzungen saßen einfach noch zu tief, da konnte man nicht so tun, als sei nichts geschehen.

Weil sie Spaß haben wollte, war alles zerstört worden.

Das saß so tief, das würde er nie vergessen, und er musste sich sehr zusammenreißen, um jetzt nicht grob zu werden und ihr ein paar Wahrheiten zu sagen, die sich gewaschen hatten.

Welch ein Glück, dass die Kinder das jetzt nicht miterleben mussten, die wären ausgeflippt.

Ilka steckte das Geld ein.

»Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass du ein solcher Spießer bist, Peter. Es ist doch überhaupt nichts passiert, ich bin keine andere geworden, ich war nur eine Weile weg.«

Wollte sie von vorne anfangen?

Er stand einfach auf.

»Du bist eine andere geworden, und wenn ich dir einen Rat geben darf, Ilka, dann lass dir deine Haare wieder in deiner ursprünglichen Farbe einfärben. Das Bunte, das bist nicht du, irgendwie wirkst du wie jemand, der etwas sein möchte, was er nicht ist.«

Nach diesen Worten verließ er einfach den Raum, und sie hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Er öffnete die Haustür und komplimentierte sie mehr oder weniger hinaus.

Seine letzten Worte waren: »Du hörst also von meinem Anwalt, der wird dir die entsprechenden Vorschläge unterbreiten, und da wir lange genug getrennt leben, ist die Scheidung nur noch eine Formsache. Übrigens, wenn du gescheit bist, dann ersparst du es dir, einen eigenen Anwalt zu nehmen. Ich bin bereit, mich gütlich mit dir zu einigen. Und du musst keine Sorgen haben, zu kurz zu kommen. Wie bereits gesagt, bekommst du alles, was dir zusteht.«

Er verabschiedete sich, ging ins Haus zurück, schlug ostentativ die Tür zu, und sie lief zu dem Auto, das sie sich von einer Freundin geliehen hatte.

Verflixt noch mal …

Sie hatte sich das Treffen wahrlich anders vorgestellt. Aber er sollte bloß nicht glauben, dass sie so schnell aufgeben würde. Der Anwalt mochte schreiben was er wollte, sie würde die Scheidung hinauszögern. Sie würde die Kinder auf ihre Seite bringen.

Ja, die Kinder!

Die waren ihre Trumpfkarte!

Sie wusste, wie wichtig Maren und Tim ihm waren, sie wusste auch, dass er ein hingebungsvoller Vater war. Und wenn sie ehrlich war, als Ehemann war er verlässlich, treu und gut gewesen.

Sie hätte bei ihm bleiben sollen, und das mit der Affäre hätte nebenbei laufen können. Hätte …, hätte … Es machte keinen Sinn, darüber jetzt noch nachzudenken. Sie war wie besessen gewesen, die Affäre hatte Spaß gemacht, es war alles so anders, so aufregend gewesen. Der Spaß war ihr allerdings rasch vergangen, als ihr bewusst geworden war, dass sie für ihren Rockmusiker nur eine Affäre unter vielen gewesen war. Es hatte ihn gereizt, es mal mit einer Frau auszuprobieren, die älter war als die Groupies, die ihn sonst umschwärmten und beinahe ohnmächtig wurden, wenn sie ihn sahen.

Sie war gescheitert!

Und das ging überhaupt nicht!

Sie musste retten, was zu retten war. Es war zu dumm, dass die Kinder nicht daheim waren. Die bekam sie direkt wieder auf ihre Seite. Sie hatte doch gesehen, wie durcheinander sie gewesen waren, als sie ihr zufällig begegneten. Da wäre es wirklich nicht gegangen, mit ihnen zu reden. Da war sie noch vollkommen entflammt gewesen und hatte geglaubt, auf ewig die Rockerbraut bleiben zu können.

Na ja, darüber musste sie sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Das mit den Kindern würde sie schon schaffen, und mit Peter? Ja, mit dem letztlich auch. Er war pflegeleicht, gutmütig, für ihn war eine heile Welt wichtig. Und die würde sie ihm wieder bieten, und wenn es mit ihnen in Ordnung war, da würde sie als Erstes dafür sorgen, dass sie wieder in die Stadt ziehen würden.

Sonnenwinkel …

Das klang ja ganz schön, doch für sie war es gruselig, da wollte sie nicht einmal tot über dem Zaun hängen.

Fünftausend Euro hatte er ihr gegeben, und das, ohne mit der Wimper zu zucken. Großzügig war er immer gewesen, der Peter. Doch weit bringen würden sie die paar Euro nicht. Ehe die aufgebraucht waren, musste alles wieder in trockenen Tüchern sein. Und vielleicht sollte sie doch zum Friseur gehen und sich die Haare färben lassen. Mit den bunten Haaren würde er sie nicht zurücknehmen, dazu war er irgendwo viel zu spießig. Nun, bei seinem Beruf konnte man wohl nicht anders.

Sie musste es hinkriegen!

Ilka Bredenbrock wurde nur von den Gedanken an sich beherrscht, und ihr wurde überhaupt nicht bewusst, wie egoistisch das war.

Was sie ihrem Ehemann, vor allem aber ihren Kindern angetan hatte, das kam ihr nicht in den Sinn. Sie wollte ihre materielle Sicherheit wieder haben, und um die zu erreichen, dazu war ihr jedes Mittel recht.

Sie fuhr schnell und war froh, diese verträumte Idylle hinter sich zu haben.

Was war bloß in Peter gefahren, mit den Kindern in die Pampa zu ziehen? Sie hatten in einem so schönen Haus gewohnt.

Apropos Haus.

Sie musste auf jeden Fall zuerst einmal herausfinden, ob das stimmte, dass sie keinen Anspruch auf die Hälfte hatte, weil ihm das Haus bereits vor der Ehe gehörte.

Sie war zwar überzeugt davon, dass sie das mit Peter und den Kindern wieder hinkriegen würde. Aber wenn nicht, dann wollte sie herausholen, was herauszuholen war. Und sie musste dann sehen, dass die Kinder zu ihr kamen. Mit dem Unterhalt, den er für Maren und Tim zahlen musste, konnte man schon etwas anfangen. Und Peter würde großzügig sein, seinen Kindern sollte es an nichts mangeln. Das allerdings wäre die schlechteste Option, und deswegen schloss sie das sofort wieder aus. Sie wollte alles! Basta!

*

Rosmarie Rückert hatte sich so fest vorgenommen, endlich mal das Tierheim wieder zu besuchen. Doch als sie vor der Tür stand, zögerte sie. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, denn anfangs, als es neu für sie gewesen war, da hatte sie sich voll eingebracht, nicht nur mit Geld, viel Geld, sondern sie war auch beinahe täglich da gewesen, um zu helfen. Irgendwann hatte es nachgelassen, schließlich waren ihre Besuche nur noch sporadisch erfolgt, dann hatte sie sie ganz eingestellt.

Warum das so gekommen war, konnte Rosmarie nicht einmal mehr sagen.

Als Teresa von Roth sie irgendwann einmal mit ins Tierheim genommen hatte, war es eine für sie vollkommen neue Welt gewesen. Ja, sie hatte nicht einmal gewusst, dass es in Hohenborn überhaupt ein Tierheim gab.

Teresa war zunächst sehr skeptisch gewesen, doch dann hatte sie gemerkt, dass es sie tatsächlich interessierte. Und ihr größtes Glück war gewesen, als sie die Bekanntschaft mit Beauty, der wunderschönen Beaglehündin gemacht hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Irgendwann hatte sie Frau Dr. Fischer, die Leiterin des Tierheims, davon überzeugen können, dass es ihr ernst damit war, und sie durfte Beauty mit nach Hause nehmen.

Mittlerweile war Rosmarie ein Leben ohne die kleine Hundedame überhaupt nicht mehr vorstellbar. Selbst ihr Heinz war in Beauty verliebt, und das wollte schon etwas heißen, anfänglich war das keineswegs der Fall gewesen, da hatte er keinen Hund im Haus gewollt. Und nun ging Heinz freiwillig mit dem Hund spazieren.

Alles war gut!

Also, warum war sie niemals mehr in das Tierheim gegangen, in dem sie viele schöne Stunden verbracht hatte, in dem sie sich gebraucht gefühlt hatte und in dem sie als Rosmarie anerkannt und geschätzt gewesen war.

Für manches gab es einfach keine Erklärung, und Rosmarie wusste auf ihre Fragen keine Antwort. Aber sie wusste, dass sie jetzt das dringende Bedürfnis verspürte, sich im Tierheim aufzuhalten, die Anhänglichkeit der Tiere zu spüren, deren treue, bettelnde Blicke zu sehen.

Die Tiere merkten, wie man es mit ihnen meinte, und für ein paar Streicheleinheiten, für ein paar liebevolle Worte, da bekam man so viel zurück.

Am liebsten würde sie alle Tiere bei sich aufnehmen, sie in Freiheit entlassen, es war schrecklich, sie so eingesperrt zu sehen. Und da gab es überhaupt keine Ausnahme. Es waren nicht nur die Straßenköter, die man einfing und herbrachte, auch nicht nur Mischlinge, sondern im Tierheim befanden sich edle Rassehunde, die sehr viel Geld gekostet hatten. Um ein Auto fahren zu können, benötigte man einen Führerschein, Tiere konnte man unüberprüft kaufen. Das müsste verboten werden. Es musste aufhören, dass man sie erwerben konnte wie einen Fernseher, ein Fahrrad oder eine Designerhandtasche. Der Unterschied war leider nur, dass man die toten Gegenstände behielt. Der Tiere entledigte man sich, wenn man erst einmal merkte, dass sie Arbeit machten, viel Aufmerksamkeit benötigten. Man konnte ja von Glück reden, wenn die Tiere ins Tierheim gebracht wurden. Viele von ihnen wurden einfach ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen. Das traf häufig zu Beginn der Ferien zu.

Während ihrer aktiven Zeit im Tierheim hatte Rosmarie ganz furchtbare, unglaubliche Dinge erfahren, und sie war vor Mitleid beinahe zerflossen. Sie hatte viel gespendet, um das ganze Elend wenigstens ein bisschen zu lindern. Das war nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Frau Dr. Fischer war eine ganz großartige Frau, die für die Tiere alles tat. Aber ihr waren Grenzen gesetzt, und zaubern konnte sie auch nicht.

Rosmarie ärgerte sich.

Sie hätte nicht aufhören sollen. Es hatte nicht nur Spaß gemacht, sondern sie hatte sich aufgewertet gefühlt. Alles war so sinnvoll gewesen. Frau Dr. Fischer hatte sie mehr als nur einmal gelobt, hatte sich immer wieder bei ihr bedankt. Auch Teresa von Roth war voller Hochachtung gewesen, weil sie ihr das niemals zugetraut hätte. Und auf Teresas Meinung legte sie großen Wert. Teresa hatte nie aufgehört, im Tierheim aktiv zu sein. Sie war überhaupt ein sehr sozial eingestellter Mensch, und sie half bei den unterschiedlichsten Organisationen, Vereinen, Einrichtungen, ohne ein Aufhebens davon zu machen.

Rosmarie beschloss, sich endlich ein Herz zu fassen und ins Tierheim hineinzugehen. Deswegen war sie schließlich hergekommen. Da sie sich auskannte, ging sie direkt in Frau Dr. Fischers Büro, und dort fand sie sie auch. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch und machte ein sehr sorgenvolles Gesicht.

Rosmarie wusste, warum!

Es mangelte dem Tierheim wieder mal an Geld!

Doch ein paar Sorgen konnte sie der armen Frau nehmen, sie hatte nämlich einen dicken Umschlag mit Geld in der Tasche, Geld, das sie beim Verkauf eines Brillantarmreifens erzielt hatte, den sie sich irgendwann einmal in einem Anflug von Wahnsinn für sehr, sehr viel Geld gekauft hatte. Einen Bruchteil des Geldes hatte sie jetzt beim Verkauf erhalten, dabei hatte der Armreif ungenutzt im Safe gelegen. Sie hätte ihn niemals getragen. Es gab noch eine ganze Menge von Schmuck, der ebenfalls ein solch trauriges Dasein fristete.

Manchmal glaubte sie wirklich, das musste eine andere gewesen sein, die ihren Lebenssinn darin gesehen hatte, die Scheckkarte glühen zu lassen und sich alles zu kaufen, wonach ihr der Sinn stand. Glücklich war sie eigentlich nur gewesen, ehe sie das Objekt ihrer Begierde in Händen gehabt hatte, danach war nur eine geradezu unerträgliche Leere in ihr gewesen.

Vorbei!

Sie hatte in ihrem Leben noch viel mehr falsch gemacht, als sich unsinnige Dinge zu kaufen. Leider ließ sich das Rad der Zeit nicht mehr zurückdrehen.

Margot Fischer erhob sich sofort, als sie Rosmarie bemerkte. Ein Lächeln glitt über ihr sorgenvolles Gesicht.

»Frau Rückert, das ist aber eine schöne Überraschung, dass Sie mich besuchen«, mit ausgestrecktem Arm kam sie auf Rosmarie zu, begrüßte sie.

Rosmarie fühlte sich noch schlechter.

»Ich könnte eine kleine Pause gut gebrauchen. Trinken wir zusammen einen Kaffee?«

Damit war Rosmarie sofort einverstanden, sie setzte sich in die kleine Besucherecke.

»Wie geht es Beauty? Sind Sie noch immer froh, sie aus dem Heim geholt zu haben?«, erkundigte Margot Fischer sich, als sie den Kaffee servierte und sich gleichfalls setzte.

Rosmarie staunte, dass die Heimleiterin sogar noch den Namen des Beagles wusste. Und das bei all den Tieren, die es hier gab, bei all den Ab- und Zugängen. Frau Fischer machte nicht nur einen Job, nein, es war ihre Berufung, ihre Lebensaufgabe, das Dasein der Tiere, so gut es ging, zu erleichtern.

»Ich liebe Beauty über alles. Sie mitzunehmen, war meine beste Entscheidung. Sie ist nicht nur ein wunderschönes Tier, nein, sie ist klug und so anhänglich. Sie macht uns große Freude.«

Das hörte Frau Dr. Fischer gern. Sie begann ein wenig zu erzählen, was sich während Rosmaries Abwesenheit im Tierheim ereignet, welche Veränderungen es gegeben hatte.

Rosmarie entspannte sich allmählich. Frau Fischer war nicht sauer auf sie. Das konnte sie auf sich selber sein, weil sie so lange nicht hier gewesen war. Da hatte sie sich um einiges gebracht.

»Schön, wieder hier zu sein«, sprach Rosmarie ihre Gedanken aus.

»Frau Rückert, ich wollte mich immer mal bei Ihnen melden. Doch mein Tag könnte die doppelte Anzahl von Stunden haben, und es würde immer noch nicht reichen. Ich möchte jetzt die Gelegenheit nutzen, mich noch einmal für Ihre großzügigen Spenden zu bedanken. Das Geld hat sehr geholfen. Ich wage überhaupt nicht daran zu denken, wie es ohne Ihre Hilfe gegangen wäre.«

Rosmarie wurde rot.

Sie könnten noch viel mehr tun. Aber Heinz saß auf seinem Geld, und wenn er mal etwas herausrückte, dann erinnerte er sie mehrfach, die Spendenbescheinigung nicht zu vergessen, damit er es beim Finanzamt geltend machen konnte.

Rosmarie fasste einen Entschluss. Sie musste Heinz nicht bitten. Sie musste nur nach und nach Schmuck verkaufen, den eh niemand tragen würde. Stella hatte einen ganz anderen Geschmack, und Ricky trug keinen Schmuck. Auch ihr Geschmack hatte sich verändert.

Es fühlte sich gut an. Sie konnte für die Tiere etwas tun.

Und das würde sie auch.

Zuerst einmal griff sie in ihre Handtasche und reichte den prallen Briefumschlag über den Tisch.

Margot Fischer blickte ihr Gegenüber an.

»Mit dem darin enthaltenen Geld möchte ich gern das Tierheim unterstützen«, erklärte Rosmarie, »ich weiß doch, dass es an allen Ecken fehlt.«

Margot Fischer hatte Tränen in den Augen.

»Frau Rückert, ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Sie schickt der Himmel. Ehe Sie kamen, habe ich an meinem Schreibtisch gesessen und mir Gedanken gemacht, wie ich die offen stehende Futterrechnung bezahlen soll. Und nun …, eigentlich dürfte ich das nicht annehmen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Sie haben schon so viel getan.«

»Und ich werde noch mehr tun, Frau Dr. Fischer«, versprach Rosmarie. »Und ich werde mich auch wieder einbringen.«

Margot Fischer konnte ihr Glück nicht fassen, das Geld jetzt war wirklich so etwas wie eine Rettung in letzter Sekunde gewesen. Sie wusste nicht, wie viel Geld in dem Umschlag steckte, doch so dick, wie er war, musste es eine ganze Menge sein.

»Ich stelle Ihnen dann auch sofort eine Spendenbescheinigung aus«, sagte sie, weil sie mitbekommen hatte, wie sehr der Ehemann darauf bestand.

»Das ist nicht nötig, Frau Dr. Fischer. Ich habe Schmuck verkauft, ich brauche keine Bescheinigung.«

Jetzt bekam Margot wirklich ein schlechtes Gewissen. Rosmarie Rückert hatte bereits Schmuck verkauft, um etwas für die Tiere zu tun.

»Frau Rückert, das dürfen Sie nicht tun. Schmuck ist für jede Frau von Bedeutung.«

Rosmarie beruhigte Margot, indem sie sagte: »Frau Dr. Fischer, ich habe den Schmuck gekauft, wie andere Leute Briefmarken sammeln. Es sind nur wenige Stücke, die ich mag und die ich auch trage. Bitte, machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin sehr froh, helfen zu können. Und ich habe eine ganz große Bitte. Können Sie sich die Zeit nehmen, mir zu zeigen, was sich verändert hat? Es wäre mir eine ganz große Freude.«

Margot Fischer tat nichts lieber als das.

Sie verstaute sorgsam den Geldumschlag in ihrem Schreibtisch, schloss ihn ab, dann sagte sie: »Meinetwegen können wir unseren Rundgang starten. Es wird mir ein Vergnügen sein …, aber vorher möchte ich Ihnen eine indiskrete Frage stellen, die Sie nicht beantworten müssen …, haben Sie Kummer?«

Zunächst einmal fiel Rosmarie aus allen Wolken, dabei durfte sie sich eigentlich nicht wundern. Wer sich so gut mit Tieren auskannte, der hatte auch einen Blick für die Menschen.

Margot Fischer hatte nicht aus Neugier gefragt, und deswegen sprudelte es aus Rosmarie nur so heraus. Sie erzählte, wie sehr es sie belastete, dass ihre Tochter aus ihrer Ehe ausgebrochen war und dass sie das ihren Eltern bis heute nicht erzählt hatte.

Margot Fischer war eine sehr einfühlsame Person, und sie war eine sehr gute Zuhörerin.

Rosmarie war ganz erschöpft, als sie mit ihrer Erzählung fertig war. Doch es war sehr befreiend, das loszuwerden, was sie so sehr belastete. Immer konnte sie nicht zu Inge Auerbach laufen. Eigentlich hatte sie sonst niemanden, denn Fabian, der war zwar ihr Sohn, sie verstanden sich auch viel besser als früher, aber dem durfte sie mit so etwas nicht kommen. Klar hatte er recht damit, wenn er sagte, es sei einzig und allein Stellas Entscheidung. Sie war die Mutter, und da nahm man so etwas Schwerwiegendes nicht einfach zur Kenntnis und ging zur Tagesordnung über.

Welch ein Glück, dass sie ins Tierheim gekommen war. Es fühlte sich so gut an, den Tieren helfen zu können, aber noch besser fühlte sich die Anteilnahme von Frau Dr. Fischer an, die jetzt die richtigen Worte fand, um Rosmarie ein wenig herunterzuholen.

Sie nahm sich ganz fest vor, wieder öfters ins Tierheim zu kommen, auch wenn sie mittlerweile auch regelmäßig in die Seniorenresidenz ging, blieb noch genug Zeit für die Tiere. Und sie würde noch mehr Schmuck verkaufen. Außerdem wollte sie auch noch einmal ihre Kleiderschränke durchforsten. Prada, Chanel, Gucci.

Sie besaß Kleidung, Schuhe, Taschen von allen namhaften Designern. Das meiste trug sie nicht mehr, hatte es teilweise nicht getragen. Es gab genug Frauen, die nach etwas mit dem begehrten Label verrückt waren, so verrückt, dass sie auch für Second Hand viel Geld ausgeben wollten.

Für die Tiere …

Daran musste sie denken, wenn sie zum Befreiungsschlag ansetzte. Und vielleicht konnte sie Heinz in einer guten Stunde noch einmal dazu bewegen, auch etwas für das Tierheim zu spenden, natürlich mit der entsprechenden Spendenbescheinigung.

Sie machte mit Frau Dr. Fischer einen Rundgang. Es gab Tiere, die sie bereits kannte. Und es brach ihr beinahe das Herz, dass sich für diese armen Geschöpfe noch immer kein neues Herrchen gefunden hatte. Es gab neue Tiere, viele neue Tiere, für die unbedingt mehr Platz geschaffen werden musste, für die es sehr beengt war.

Und da gab es Miss Marple …

Das war eine kleine Mischlingshündin mit kurzem schwarzem Fell, in die Rosmarie direkt verliebt war.

»Ist die süß«, rief sie begeistert, »warum heißt sie eigentlich Miss Marple?«

Margot Fischer lachte.

»Sie ist wach, intelligent und unglaublich neugierig«, sagte sie, »wie die Miss Marple aus den Agatha-Christie-Krimis. Wir haben sie so genannt. Als sie zu uns gebracht wurde, war sie verwahrlost, krank, verletzt. Hätte sie nicht einen so starken Willen, hätte sie das alles nicht überlebt. Sie muss furchtbare Sachen erlebt haben. Miss Marple ist schon ein ganz besonderer Hund. Ich hoffe, dass wir sie sehr bald in gute Hände abgeben können. Sie hat es verdient, in ein gutes Leben zu kommen.«

Rosmarie ging in den Zwinger hinein, Miss Marple kam sofort auf sie zugelaufen, blickte sie erwartungsvoll an, und Rosmarie holte eines von den Leckerli aus ihrer Tasche, die Frau Dr. Fischer ihr zugesteckt hatte.

Miss Marple war überhaupt nicht gierig, sie nahm das Leckerli ganz vorsichtig aus Rosmaries ausgestreckter Hand, dann blickte sie Rosmarie so hingebungsvoll an, dass die nur so dahinschmolz.

»Frau Dr. Fischer, würde Miss Marple sich mit meiner Beauty vertragen?«

Margot Fischer blickte Rosmarie ein wenig verwundert an.

»Ja, beides sind sehr verträgliche Tiere, die miteinander leben könnten. Da gäbe es überhaupt keine Probleme. Weswegen möchten Sie das wissen, Frau Rückert?«

Rosmarie streichelte Miss Marple noch einmal, sie konnte dem Blick aus diesen wunderschönen Augen kaum widerstehen. Sie steckte ihr ein weiteres Leckerli zu, das ihr ebenfalls ganz ohne Gier aus der Hand genommen wurde. Dann erhob sie sich.

»Weil ich mich unsterblich verliebt habe, Frau Dr. Fischer. Ich möchte Miss Marple gern ein neues Zuhause geben.«

Damit hätte die Tierheimleiterin jetzt überhaupt nicht gerechnet. Ein neues Zuhause für dieses Tier, in das hier alle verliebt waren, wäre ganz großartig. Anders als damals mit Beauty, wo sie zunächst ziemliche Bedenken hatte, gab es die jetzt nicht. Sie würde Rosmarie Rückert Miss Marple sofort anvertrauen.

Aber …

Es gab ein Aber, ein großes sogar.

»Frau Rückert. Es würde mich sehr, sehr freuen, wenn Miss Marple in gute Hände käme. Nach allem, was dieses arme Tierchen bereits erlebt hat, wäre es das Paradies. Doch Sie wissen mittlerweile, dass ein Hund kein Wegwerfartikel ist, auch nicht etwas, was man einfach umtauschen kann. Sie leben nicht allein. Sie sollten das erst einmal mit Ihrem Mann besprechen.«

Heinz!

An den hatte sie jetzt wirklich nicht gedacht. Und anfangs hatte er wegen Beauty ziemlich herumgezickt. Was würde er gegen einen zweiten Hund sagen? Platzmangel konnte es nicht sein, auch nicht ein Argument, dass ein Hund viel kostete.

Aber Miss Marple war ein so wunderschönes Hündchen! Und wie sie sie jetzt anblickte. Das war kaum auszuhalten.

Rosmarie war jetzt verunsichert. Sie wusste nicht, was sie jetzt tun sollte. Ihrem Herzen folgen und Miss Marple einfach mitnehmen oder ihrem Verstand, der ihr sagte, dass es vernünftig war, zunächst mit Heinz zu reden.

»Frau Rückert, sprechen Sie mit Ihrem Mann. Zeigen Sie ihm ein Foto von Miss Marple, das kann ich Ihnen gleich im Büro geben, dazu eine Biografie, in der alles steht, was wir herausbekommen haben. Wenn er einverstanden ist, dann holen Sie Miss Marple. Sie ist gesund, geimpft. Sie zahlen die Schutzgebühr, und Miss Marple gehört Ihnen.«

Rosmarie konnte sich vom Anblick der kleinen Hündin nicht losreißen.

»Miss Marple ist ja so süß. Schon allein deren Anblick lässt jedes Herz höherschlagen. Die will bestimmt jeder haben. Und wenn sie mir nun jemand wegschnappt?«

»Frau Rückert, um Hunde aus dem Tierheim reißt man sich leider nicht, man bringt mehr von ihnen her als man mitnimmt. Meistens wollen die Leute einen reinrassigen Hund haben. Sollte jemand ernsthaft an Miss Marple interessiert sein, dann informiere ich Sie sofort, und Sie bekommen sie, wenn es daheim bei Ihnen geklärt ist. Das verspreche ich Ihnen, einverstanden?«

Rosmarie war einverstanden, dann konnte sie nicht anders. Sie musste noch einmal zu Miss Marple gehen, sie noch einmal streicheln. Miss Marple freute sich, sie leckte sogar Rosmaries Hand, ohne dass sie ihr etwas gegeben hatte. Es war ein Zeichen von Zuneigung. Miss Marple wollte zu ihr!

Rosmarie wurde ganz warm ums Herz. Sie hatte jegliches Interesse an einem weiteren Rundgang verloren.

Sie musste unbedingt mit Heinz reden!

Wenn sie Glück hatte, dann war er bereits daheim. Sollte das nicht der Fall sein, würde sie in sein Büro gehen. Das, was sie ihm sagen wollte, duldete keinen Aufschub.

Sie streichelte Miss Marple ein letztes Mal, flüsterte ihr zu: »Ich hole dich«, dann hatte sie es eilig, zu gehen. Sie ließ sich von Frau Dr. Fischer die Unterlagen geben, dann rannte sie nach Hause. Welch ein Glück, dass sie sich mittlerweile angewöhnt hatte, bequeme, flache Schuhe zu tragen. Mit ihren früheren Stilettos wäre ein solcher Spurt nicht möglich gewesen.

Miss Marple …

Was für ein schönes Hündchen die doch war.

*

Rosmarie hatte Glück! Heinz war gerade nach Hause gekommen, und er wollte seinen wohlverdienten Feierabend genießen. »Da bist du ja endlich.«

Heinz Rückert gefiel es überhaupt nicht, wenn seine Frau nicht daheim war, wenn er Feierabend machte.

»Ich war im Tierheim, Heinz«, rief sie, und sie war noch immer ganz aufgeregt und erfüllt von dem, was sie erlebt hatte. Ihre Freude wurde allerdings ein wenig gedämpft, als ihr Mann sagte: »Und nun willst du mir Geld aus dem Kreuz leiern, das du spenden kannst.«

»Ja, Heinz, es wäre nicht schlecht, wenn du etwas lockermachen würdest. Das würde das Leid der Tiere erheblich lindern. Du sitzt auf dem Geld wie Dagobert Duck, mitnehmen kannst du nichts.«

Rosmaries Einstellung zu Geld hatte sich vollkommen geändert.

Früher war sie ähnlich gewesen wie ihr Mann. Geld, Geld, Geld, darauf war sie fixiert gewesen.

Welche Sorgen sie sich doch gemacht hatte, Cecile, die plötzlich aufgetauchte uneheliche Tochter von Heinz, könne an ihr Geld wollen. Es war absurd und beschämend zugleich gewesen, und Rosmarie wollte sich niemals mehr an die unwürdige Rolle erinnern, die sie damals gespielt hatte.

Cecile besaß unendlich viel Geld, dagegen war das Vermögen der Rückerts nichts. Sie stellte überhaupt keine Ansprüche. Sie war einfach nur froh, ihren Vater kennenzulernen, von dem sie keine Ahnung gehabt hatte, und ihre Geschwister. Cecile, Stella und Fabian hatten sich sofort blendend verstanden. Und Cecile war sogar die Patentante der kleinen Teresa geworden.

Auch Cecile und deren Einstellung zu Geld hatte dazu beigetragen, dass Rosmarie sich verändert hatte. Heinz war stehen geblieben, und das in jeder Hinsicht.

Oder war er so, wie er immer gewesen war, und sie sah ihren Ehemann jetzt mit anderen Augen? Das konnte durchaus sein.

Heinz Rückert sah seine Frau ein wenig entgeistert an. Sie war so anders geworden, und das gefiel ihm überhaupt nicht. Die frühere Rosmarie war pflegeleichter gewesen, die war glücklich, wenn sie auf Shoppingtour gehen konnte.

All die neuen Ideen, die sie hatte, gefielen ihm wirklich nicht.

Eine Frau Rückert musste nicht kostenlos in der Seniorenresidenz helfen oder sich im Tierheim einbringen. Das konnten andere Leute machen, nicht die Ehefrau des hoch geachteten Notars. Die Inge Auerbach hatte Rosmarie bestimmt all die spinnerten Flausen in den Kopf gesetzt. Es war überhaupt nicht gut, dass Rosmarie immerzu in den Sonnenwinkel fuhr. Für ihn wäre es bequemer, Rosmarie ginge wie früher shoppen was das Zeug hielt.

»Rosmarie, ich hatte einen anstrengenden Tag. Ich möchte meine Ruhe haben, und ich möchte mich nicht mit dir zanken.«

Das wollte sie auch nicht!

Rosmarie wusste, dass es jetzt überhaupt nicht vernünftig war, mit Heinz über das zu reden, das ihr so sehr am Herzen lag.

Es wäre besser, erst später am Abend auf das Thema zu kommen.

Doch dann konnte es etwas im Fernsehen geben, was er unbedingt sehen wollte, oder er würde auf dem Sofa einnicken. Das kam auch schon mal vor.

Sie sah die süße Miss Marple vor sich, die bettelnden Augen.

Sie konnte nicht warten.

»Heinz, ich habe im Tierheim einen Hund gesehen, in den ich mich sofort verliebt habe, wie damals in Beauty.«

Er blickte sie an.

»Schön, Rosmarie, und warum erzählst du mir das?«

Rosmarie holte tief Luft.

»Weil ich Miss Marple aus dem Tierheim holen möchte. Sie soll bei uns ein neues Zuhause haben.«

Es war ausgesprochen, und die Reaktion von Heinz gefiel ihr überhaupt nicht. Er sagte nämlich nichts, sondern drehte sich nur um und verließ den Raum. Das hatte er noch nie gemacht.

Was sollte sie jetzt tun? Ihm nachlaufen, ihn zur Rede stellen? Das würde einen Riesenkrach heraufbeschwören, und sie war jetzt auch nicht in der Lage, rational zu denken und zu reagieren.

Sie würde Miss Marple holen, dachte sie trotzig, ob mit oder ohne die Zustimmung ihres Ehemannes. Das Haus gehörte auch zur Hälfte ihr, dann würde sie halt mit den Hunden ins Obergeschoss ziehen.

Nein!

Mittlerweile war sie klug geworden. Sie durfte sich nicht in diese negative Energie hineinsteigern. Sie musste taktisch vorgehen. Heinz konnte es überhaupt nicht haben, wenn sie Krach miteinander hatten. Und noch weniger konnte er es haben, wenn sie abends nicht an seiner Seite war.

Das würde sie heute nicht sein. Sie würde irgendwo in der Stadt etwas essen, vielleicht auch ins Kino gehen, und er sollte daheim schmoren.

Es war nicht schön, was sie da plante, doch es ging um Miss Marple. Sie musste sie haben!

Ehe Rosmarie ihre Gedanken in die Tat umsetzen konnte, kam Heinz zurück.

»Du willst also einen neuen Hund. Hast du dich schon mal gefragt, ob du so etwas wie einen Ersatz für Stella suchst? Ein Mensch und ein Tier lassen sich nicht miteinander vergleichen. Und du kannst ein ganzes Rudel Hunde ins Haus holen, und nichts verändert sich. Du wirst auch dann nicht verwinden, dass unsere Tochter sich unmöglich benommen hat. Ein solches Verhalten ist nicht akzeptabel. Und noch eines, mit mir musst du heute Abend nicht rechnen. Ich gehe ins Büro zurück, dort wartet eine Menge Arbeit auf mich, und dann werde ich irgendwo etwas essen. Warte also nicht auf mich, und noch eines Rosmarie. Ich will, wenn ich nach Hause komme, meine Ruhe haben. Überfall mich nie mehr mit solch unsinnigen Wünschen nach einem zweiten Hund. Zieh los, kauf dir was, damit kann ich umgehen.«

Er verließ den Raum, ehe Rosmarie etwas hätte sagen können, und sie blieb ganz verwirrt zurück.

Was war denn mit Heinz los?

So hatte sie ihn noch nie erlebt. Auf jeden Fall musste sie das Haus jetzt nicht mehr verlassen. Das hatte auch etwas für sich. Statt sich abzulenken, statt zu schmollen, sollte sie sich besser mal Gedanken darüber machen, was bei ihr und Heinz nicht mehr stimmte, was in die verkehrte Richtung lief. Sie zogen nicht mehr an einem Strang, sie gingen unterschiedliche We­ge. Diese Entwicklung war für eine Ehe überhaupt nicht gut. Es machte Rosmarie Angst. Sie hatten doch nur sich. Fabian machte sein Ding, in dessen Leben spielten Heinz und sie keine Rolle. Es gab Pflichtbesuche und Pflichteinladungen, mehr nicht. Es war kaum anzunehmen, dass sich daran noch etwas ändern würde. Aber Stella! Rosmarie konnte nicht begreifen, was mit ihrer Tochter plötzlich los war. Stella hatte ihre Eltern regelmäßig besucht, ob nun aus Pflichtgefühl oder nicht. Auf Stella hatte man sich verlassen können. Wahrscheinlich war sie deswegen so durch den Wind, weil sie so etwas von Stella niemals erwartet hätte.

Aber was Heinz sagte, dass Miss Marple für sie so etwas wie ein Stellaersatz sein sollte, das stimmte nun wirklich nicht.

Tiere waren sehr zuverlässige Hausgenossen, das merkte Rosmarie, als Beauty zu ihr kam, sich an sie kuschelte und ihre Füße leckte, was ein großes Zeichen von Zuneigung war.

Rosmarie beugte sich hinunter, streichelte Beauty.

»Ich bin so froh, dass ich dich habe, meine Kleine«, flüsterte sie, »und ich bin überzeugt davon, dass du dich mit Miss Marple sehr gut verstehen wirst. Und weißt du, wie ich sie nennen werde? Missie, ich finde, das klingt schön.«

Beauty bellte, und Rosmarie deutete das als Zustimmung. Missie …

Ja, so wollte sie ihren Neuzugang nennen, und sie würde das Hündchen ins Haus holen. Sie musste es nur schaffen, Heinz zu einer Zustimmung zu bewegen, die ihn glauben ließ, es sei seine Entscheidung gewesen. Das dürfte nicht schwer sein, Rosmarie kannte da ein paar Tricks.

Sie und Heinz mussten sich wieder annähern, statt immer weiter auseinanderzudriften. Verlieren wollte sie Heinz nicht, auf keinen Fall …

*

Roberta versuchte, nicht mehr daran zu denken, dass ausgerechnet ihr Exmann der Stalker gewesen war. Und Lars war ganz großartig, er bemühte sich geradezu rührend um sie. Sie hatten eine wundervolle Zeit, für Roberta war es die schönste Zeit ihres Lebens.

Sie verdrängte alle Gedanken daran, dass Lars schon wieder ein neues Projekt anvisiert hatte. So war er nun mal.

Lars Magnusson würde niemals sesshaft werden. In ihm war das wilde Blut seines Urgroßvaters, der ein Norweger gewesen war, den es ebenfalls in die weite Welt getrieben hatte. Dass es sehr bald die Highland-Tiger sein würden, das war für Roberta kein Trost.

Leider hatte sie keine Wahl.

Sie musste Lars nehmen, wie er war, weil sie ihn mit der ganzen Kraft ihres Herzens liebte. Er liebte sie ebenfalls, daran gab es keine Zweifel, nur tat er es auf seine Weise.

Ihre Freundin Nicki war zu Besuch gekommen, und Roberta wurde bewusst, dass sie Nicki nur von Lars vorgeschwärmt hatte, der leider nicht da war. Er hatte einen Termin mit seinem Verleger, und er musste eine Pressekonferenz geben.

Als Roberta mal Luft holte, erkundigte Nicki sich lachend: »Sag mal, hast du eigentlich auch noch ein anderes Thema? So kenne ich dich überhaupt nicht. Du bist von deinem Lars ja regelrecht besessen.«

Roberta blickte ihre Freundin entsetzt an.

»Entschuldige, Nicki. Mir ist gar nicht bewusst geworden, dass ich nur über Lars geredet habe. Aber ich liebe ihn so sehr. Er ist ein so unglaublicher Mensch. Er ist wirklich meine Lebensliebe. Doch jetzt höre ich auf, reden wir über dich! Ich freue mich auf jeden Fall sehr, dass du gekommen bist und mit mir zu den Kennenlerntreffen ins Herrenhaus gehen wirst. Der Graf ist ein außergewöhnlicher Mann, und wenn er nicht gebunden sein sollte, dann …«

Nicki unterbrach ihre Freundin.

»Hör bitte auf, ihn anzupreisen. Du weißt nicht, ob er mit einer blassen Blaublütigen liiert ist, und selbst wenn er es nicht wäre: Ich habe es nicht mit dem Adel, das weißt du, und auch wenn dieser Graf Mathias heißt, ist das für mich ganz ohne Bedeutung. Ich gehe mit dir mit, weil du mich darum gebeten hast, basta. Ansonsten freue ich mich, dich endlich mal wieder zu sehen, ich freue mich auf einen gemütlichen Mädchentalk, ganz so wie früher. Hoffentlich hast du genügend Chips eingekauft, sonst fahre ich nämlich noch rasch in den Supermarkt und hole welche. Die gehören dazu wie das Amen in der Kirche.«

Roberta lachte. Auch sie war froh, dass Nicki da war, und auch sie freute sich auf Abende wie in alten Zeiten. Nicki würde nicht nur über das Wochenende bleiben, sondern sie wollte noch ein paar Tage dranhängen.

Alma mochte Nicki sehr gern, und sie überlegte, was sie alles kochen sollte. Nicki hatte eine sehr gewinnende Art, und sie hatte Alma im Sturm erobert. Wäre Nicki nicht ihre allerbeste Freundin, könnte Roberta eifersüchtig werden.

»Nicki, entspann dich. Es ist bestens für dich gesorgt. Alma hat alles eingekauft, womit sie dich erfreuen kann, und sie wird für dich kochen wie eine Weltmeisterin.«

»Super«, freute Nicki sich, »du weißt überhaupt nicht, was für ein Juwel du da hast. Hätte ich genügend Geld, sie mir leisten zu können, würde ich Alma schamlos abwerben.«

»Würdest du nicht«, widersprach Roberta sofort. »Aber es ist schön, dass ihr euch so gut versteht. Auch dass du Lars akzeptierst.«

»Von dem ich nicht viel mitbekommen habe«, bemerkte Nicki. »Aber er ist schon in Ordnung, und er passt zu dir. Äußerlich, von seiner ganzen Art. Durch ihn bist du viel lockerer geworden, und ich finde es schon super, dass er dir über die Geschichte mit Max so gut hinweggeholfen hat. Das war wirklich ein Ding. Max Steinfeld ist für jede Überraschung gut.«

Roberta war so gut drauf, an ihren Ex wollte sie jetzt wirklich nicht erinnert werden.

»Nicki, ich will nicht über ihn reden. Meinetwegen soll er in der Hölle schmoren. Was er sich da erlaubt hat, das war das Allerletzte.«

»Er neidet dir dein Leben, in das er sich am liebsten wieder einnisten würde wie die Made in den Speck. Aber du hast recht, über diesen Loser müssen wir nicht sprechen. Wie sieht es denn bei dir aus? Musst du Patienten besuchen?«

Das musste Roberta, doch zum Glück würde sie damit rasch fertig sein, und eigentlich war es gut, dass Lars nicht da war. So hatte sie Zeit für Nicki, und die würde sie sich nehmen und das Beisammensein mit ihr genießen.

»Und was machst du, während ich weg bin?«, wollte sie wissen. »Du kannst dich ein wenig hinlegen, ausruhen.«

Nicki wehrte sofort ab.

»Das klingt zwar verlockend, doch angesichts dessen, was uns bevorsteht, werde ich mich aufschwingen und um den See traben, wenigstens zu einem Viertel oder zur Hälfte. Ich habe ganz schön Hüftgold angesetzt, und du weißt doch, Ruhe und Rast ist die halbe Mast. Du bist zu beneiden, dass du kein Gramm ansetzt, dabei wäre das jetzt nicht mehr schlimm, du hast deinen Prinzen gefunden. Ich muss mich noch am Riemen reißen und auf mich achten, mich immer aufhübschen. Apropos aufhübschen, muss man sich entsprechend kleiden, wenn man zur Audienz auf das gräfliche Anwesen geht?«

»Muss man nicht, Nicki, und du übertreib jetzt nicht so grenzenlos. Du ziehst dich für dich hübsch an, nicht für die Männer an deiner Seite.«

Robertas Telefon klingelte.

Ein Patient hatte sich am Arm verletzt, der brauchte dringend Hilfe.

»Ich komme, bleiben Sie ganz ruhig, und halten Sie den Arm still«, sagte Roberta, dann hatte sie es eilig, Es kam immer anders, als man dachte.

»Nicki, wir sehen uns später«, sagte sie, umarmte ihre Freundin. »Ich beeile mich. Ich bin so froh, dass du da bist, Nicki. Du bist wirklich die beste Freundin der Welt.«

Nach diesen Worten ging sie, Nicki blieb ganz gerührt zurück, und sie hatte Tränen in den Augen. Irgendwann musste sie Roberta sagen, dass sie in dieser Freundschaft auf jeden Fall die Gewinnerin war. Sie war es, die ständig Probleme hatte, die ihrer Freundin damit in den Ohren lag. Und Roberta hatte eine unglaubliche Geduld mit ihr. Sie hörte ihr zu, gab ihr Ratschläge, baute sie auf. Dabei war es manchmal schon ganz krass, was sie Roberta zumutete. Sie war halt ein emotionaler Mensch, und bei ihr gingen die Gefühle deswegen auf und ab.

Sie freute sich für ihre Freundin, dass sie endlich den passenden Mann gefunden hatte, dem sie auf Augenhöhe begegnen konnte. Aber ein wenig traurig machte es Nicki schon, dass es nicht das perfekte Glück gab. Vielleicht gab es das auch überhaupt nicht, was man sich so erträumte. Einen Haken gab es immer. Und Roberta musste auf Kinder verzichten und auf den goldenen Ring am Finger, den sich jede Frau wünschte.

Sie selbst hatte ja bislang auch immer danebengegriffen.

Manchmal glaubte sie schon, dass Leben habe für sie vorbestimmt, dass sie als Single ihr Dasein führen sollte. Sie hatte, weiß Gott, genügend Menschen kennengelernt. Männer, von denen sie geglaubt hatte, endlich den Mr Right gefunden zu haben, und wie viele Frösche hatte sie schon geküsst. Es waren immer nur Frösche geblieben, niemals waren sie ein Prinz geworden. Und der Prinz auf einem weißen Pferd hatte sich nie auch nur in ihre Nähe verirrt.

Mathias …

Ja, der hätte es werden können. Es war so unglaublich mit ihnen gewesen, so einfach, so schön. Und das hatte nichts mit der Currywurst zu tun gehabt, die sie ihm spendiert hatte. Sie war heute noch gerührt, wenn sie daran dachte, wie er ihr gesagt hatte, er habe seit Ewigkeiten keine Currywurst mehr gegessen. Nicht einmal dafür hatte sein Geld gereicht. Das war schon unglaublich, dass Menschen am Existenzminimum entlangschlitterten, denen man es nicht ansah.

Dass er kein Geld hatte, das hatte ihr überhaupt nichts ausgemacht. Geld allein machte nicht glücklich. Er war so anders gewesen, so besonders.

Sie schloss verträumt die Augen.

Mathias …

Sie war sich so sicher gewesen, dass auch er vom Blitzschlag der Liebe getroffen worden war. Warum versuchte er nicht, sie zu finden?

Er musste ganz in der Nähe sein. All die Kartenleger, Wahrsager und Pendler konnten sich nicht täuschen. Und auch aus dem Kaffeesatz war es klar zu lesen, dass er in der Nähe war.

Aber wo?

Sie durfte Roberta niemals erzählen, dass sie nicht aufgehört hatte, all die Wahrsager und Co. aufzusuchen. Roberta war sehr tolerant, hatte für vieles Verständnis. Doch in diesem Punkt hörte die Freundschaft auf, da wurde sie wütend.

Nicki war startklar für ihren Lauf, obwohl sie keine Lust hatte. Sie war halt eher eine Couchpotatoe, das gab sie ja zu. Doch sie hatte wirklich an Hüftgold zugelegt, und sollte sie, was sie inständig hoffte, mit Mathias zusammentreffen, dann sollte er nicht auf Speckröllchen blicken müssen.

Sie blickte auf ihre Uhr.

Okay, eine halbe Stunde würde sie sich geben, vielleicht auch ein bisschen mehr. Das Wetter war ideal, es war mild, windstill, und zwischendurch kam sogar die Sonne hinter den Wolken hervor.

»Ich bin dann mal weg, Alma«, rief sie munter und riss die Küchentür auf. Doch von Alma war nichts mehr zu sehen, und da erinnerte sie sich, dass Roberta gesagt hatte, dass Alma zu einer Geburtstagsfeier eingeladen war.

Schade, sie hätte gern noch ein paar Worte mit Alma gewechselt, und die hätte ihr gewiss auch ein paar Komplimente wegen ihres Outfits gemacht. Und wenn die dann auch noch ehrlich gemeint waren, gingen sie herunter wie Öl.

Im Grunde genommen jammerte Nicki auf hohem Niveau. Sie hatte eine zierliche Figur, und die Speckrollen, die sah nur sie selbst.

In ihrem bordeauxfarbenen Jogginganzug sah sie sehr professionell aus, dazu trug sie die passenden Schuhe, und ihre schwarzen langen Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten.

Sie sah sehr stylisch aus, das bestätigten die bewundernden Blicke, die man ihr zuwarf. Und das besserte ihre Laune augenblicklich.

*

Wenn man erst einmal den inneren Schweinehund überwunden hatte, wurde alles viel einfacher. Jetzt war Nicki sehr froh, losgelaufen zu sein. Der Weg am See war wirklich fantastisch, und es war wie im Urlaub. Der See mit seinem bewachsenen Ufer war wie die Kulisse für einen Film. Auf dem in verschiedenen Blau- und Grautönen schimmerndem Wasser kräuselten sich die Wellen. Möwen verharrten still und beinahe bewegungslos in der Luft, um sich dann pfeilschnell auf die Beute zu stürzen.

Schwäne glitten geradezu majestätisch dahin, Enten schnatterten.

Es war ein Bild des Friedens, eines Friedens, der auch in sie einkehrte. Nicki begann Roberta zu begreifen. Hier zu wohnen, hatte eine sehr hohe Lebensqualität.

Statt auf den Weg zu achten, konnte sich Nicki einfach nicht von dem Bild losreißen, das sich ihr auf dem Wasser bot. Verzückt blickte sie auf eine Weide, die ganz dicht am Ufer stand, und deren Zweige bis ins Wasser reichten. Es war Natur pur.

Sie stolperte über eine Wurzel und wäre böse hingeschlagen, wenn nicht jemand beherzt hinzugesprungen und sie aufgefangen hätte.

Als Nicki sich von ihrer Überraschung erholt hatte, blickte sie in ein schmales, sympathisches Gesicht, das umrahmt wurde von kurz geschnittenen Haaren.

Sie wurde rot. Er sah das, lächelte und bemerkte: »Es ist noch einmal gut gegangen. Ich war für Sie gern der Retter in letzter Not.«

Retter …

Eine andere Begebenheit fiel ihm ein, da hatte er Angela, die er damals noch nicht kannte, geholfen, die Kette auf ihr Fahrrad aufzuziehen, und nun hatte er diese attraktive Frau, die er noch nie zuvor gesehen hatte, vor einem Sturz bewahrt.

Vielleicht sollte er öfter mal um den See laufen. So einfach lernte er Frauen normalerweise nicht kennen.

Nicki bedankte sich.

»Man soll seinen Weg nicht aus den Augen verlieren«, sagte sie, und er antwortete: »Nein, das sollte man nie.«

Wer immer diese Frau auch war, die gefiel ihm. Er ärgerte sich insgeheim, dass ihm keine geistreichere Bemerkung eingefallen war.

»Ja, dann will ich mal wieder.«

Nicki wollte sich wieder auf den Weg machen.

»Ich kann Sie begleiten und vor weiteren Stürzen bewahren«, rief er schnell.

Nicki zögerte. Der Mann gefiel ihr, und dass er sie aufgefangen hatte, dass er direkt zur Stelle gewesen war, das konnte kein Zufall sein.

Schon wollte sie ja sagen, doch dann besann sie sich. Sie war unter anderem auch hier, um endlich mit Mathias zusammenzutreffen, und jetzt zeigte sie bereits wieder Interesse an einem anderen Mann.

Sie schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln, dann sagte sie: »Ich bin schon ein großes Mädchen und kann selbst auf mich aufpassen. Aber danke noch mal, es hätte böse für mich ausgehen können. Einen schönen Tag noch.«

Sie winkte ihm zu, dann lief sie davon, und sie merkte, wie er ihr nachblickte.

Er war sehr, sehr nett gewesen. Was wäre schon dabei gewesen, wenn sie gemeinsam gelaufen wären? Dann hätte sie ein wenig Unterhaltung gehabt. Er hätte sie gewiss nicht bedrängt, zu dumm! Da lernte sie mal einen attraktiven Mann kennen, und dann vermasselte sie sich alles.

Sie hatte die Lust verloren, weiter um den See zu laufen, sie rannte zurück, ziemlich schnell sogar. Vielleicht holte sie ihn ja noch ein.

Nein!

Das tat sie nicht. Von ihm war nichts mehr zu sehen. Wie dumm!

Was wäre denn dabei gewesen, wenn sie sich mit ihm unterhalten, vielleicht sogar ein wenig geflirtet hätte? Sein Interesse an ihr war nicht zu übersehen gewesen.

Als die ersten Häuser in Sicht kamen, hörte sie auf zu laufen und ging ganz manierlich weiter. Dann traf sie auf Teresa und Magnus von Roth, die sich sichtlich freuten, Nicki zu sehen.

»Hallo, Frau Beck. Da freut sich die Frau Doktor gewiss, dass Sie die mal wieder besuchen. Und wie hübsch Sie aussehen, dieser Anzug steht Ihnen ausgezeichnet. Sie bringen damit so etwas wie Großstadtflair in unseren Sonnenwinkel.«

Nicki mochte das Ehepaar sehr, sie plauderte auch gern mit den beiden. Aber jetzt wäre sie lieber diesem Mann, ihrem Retter, nachgelaufen.

Doch dann hatte sie eine Idee.

»Der See ist so schön, dass man sich da nicht sattsehen kann, und das wäre mir beinahe zum Verhängnis geworden. Ich wäre böse hingestürzt, hätte mich da nicht ein Mann aufgefangen, der zufällig in der Nähe war. Ich war so perplex, dass ich mich nicht richtig bei ihm bedanken konnte. Sie haben nicht zufällig jemanden gesehen?«

Teresa blickte ihren Mann an, der überlegte kurz.

»Nein, aber …, warten Sie mal, Herr Dr. Bredenbrock kam vom See, als wir unser Haus verließen. Vielleicht war der das. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Wenn Sie sich unbedingt bei ihm bedanken möchten, dann haben Sie Gelegenheit dazu, wenn für die Sonnenwinkler das Kennenlerntreffen oben im Herrenhaus stattfindet, zu dem Graf Hilgenberg eingeladen hat. Da gehen Sie doch gewiss mit der Frau Doktor hin, oder?«

Nicki bestätigte es, dann wechselte sie mit dem Ehepaar noch ein paar Worte, ehe sie sich verabschiedete.

Dr. Bredenbrock.

Ein schöner Name.

Ob er das gewesen war?

Ihr Ärger über sich selber nahm immer mehr zu.

Irgendwie vermasselte sie sich immer alles selbst. Warum war sie denn nicht locker gewesen und hatte seinen Vorschlag angenommen? Er hatte ihr schließlich keinen Heiratsantrag gemacht oder eine Entscheidung von ihr verlangt, die ihr Leben veränderte.

Und wenn sie sich dagegen entschieden hatte, dann war es okay. Dann musste sie doch jetzt nicht herumjammern.

Außerdem …

War es normal, dass sie begehrlich auf einen anderen Mann blickte, obschon sie eigentlich auf Mathias fixiert war? Vermutlich nicht. Vielleicht sollte sie mal zu einem Therapeuten gehen und hinterfragen, warum sie ein so gestörtes Verhältnis zu Männern hatte.

In Robertas Haus angenommen, kochte sie sich erst einmal einen grünen Tee, dem sagte man eine ausgleichende, beruhigende Wirkung nach. Und das brauchte sie jetzt.

*

Normalerweise kehrte bei den Rückerts nach einem Krach relativ schnell wieder Frieden ein.

Diesmal war es anders. Rosmarie wollte Miss Marple, und Heinz blieb stur. Wollte er ihr dadurch beweisen, dass er der Herr im Hause war, dass er das Sagen hatte?

Rosmarie hatte keine Ahnung. Sie zog auf jeden Fall ihr Ding durch. Sie verkaufte weiteren Schmuck. Frau Dr. Fischer bekam ein schlechtes Gewissen und befand sich ziemlich in einem Zwiespalt. Auf der einen Seite brauchte sie das Geld dringend, andererseits kam sie sich wie eine Schmarotzerin vor, die Rosmarie Rückert ausnutzte.

Natürlich tat sie alles für Rosmarie, und die durfte selbstverständlich mit Miss Marple nicht nur Spaziergänge machen, nein, sie hätte sie auch probeweise mit nach Hause nehmen dürfen, doch da traute Rosmarie sich doch nicht. Es herrschte dicke Luft, und sie wollte es nicht zu einer Eskalation kommen lassen. Dabei brach es ihr beinahe das Herz, wenn sie die kleine Hündin wieder im Tierheim abgeben musste.

Zu manchen Besuchen nahm sie Beauty mit, und es war so herrlich anzusehen, wie die sich mit Miss Marple verstand. Die beiden Hunde hatten sich miteinander angefreundet, und es war ein so schönes Bild, sie miteinander herumtollen zu sehen, wenn sie auf dem Hundespielplatz waren.

Wenn doch Heinz bloß nicht so stur wäre!

Was sollte sie tun, um ihn umzustimmen?

Darüber dachte sie nach, als sie mit Beauty und Miss Marple spazieren ging.

Und dann geschah etwas, wofür Rosmarie keine Erklärung hatte. Das ging doch jetzt nicht mit rechten Dingen zu. Da musste jemand die Hand im Spiel haben.

Während Beauty manierlich an ihrer Seite blieb, begann Miss Marple plötzlich aufgeregt zu jaulen, sie lief los, und zum Glück war das mit der langen Laufleine auch möglich. Sie lief auf einen Mann zu, sprang an ihm hoch, freute sich.

Rosmarie blieb wie angewurzelt stehen.

Der Mann war kein anderer als Heinz, ihr Ehemann!

Rosmarie hatte keine Ahnung, warum der jetzt auf der Straße war.

Er war es halt, blieb ebenfalls stehen, war ein wenig verwirrt, dann beugte er sich zu Miss Marple herunter, streichelte sie ein wenig unbeholfen und erkundigte sich: »Wer bist du denn?«

Beauty sah sich die Szenerie ungerührt an, Rosmarie fasste sich wieder, was ein wenig mühsam war, denn es war schon ungeheuerlich, was sich da ereignet hatte. Miss Marple war ein Hund. Sie konnte doch unmöglich wissen, dass dieser Mann, auf den sie freudvoll zugelaufen war, der war, der die Schuld daran trug, dass sie noch immer im Tierheim sein musste.

»Heinz, das ist Miss Marple …. Missie, wie ich sie nennen möchte …, sie …, sie scheint dich zu mögen.«

Missie bellte freudig, sprang an Heinz hoch, Beauty sah sich das an.

Es gab ja Dinge im Leben, die passierten, ohne dass man etwas dazu beitrug und für die es keine Erklärung gab.

»Die, äh …, die ist wirklich süß.«

Wieder bellte Missie, wedelte mit dem Schwanz, freute sich.

Nachdem Rosmarie sich von ihrer Überraschung erholt hatte, sagte sie rasch: »Heinz, darauf kannst du dir jetzt etwas einbilden. Missie hat ein schreckliches Leben hinter sich. Sie wurde geschlagen, gequält. Das Urvertrauen, das jedes Lebewesen auf der Welt hat, das war weg. Sie hatte panische Angst vor Menschen. Frau Dr. Fischer hat alles getan, um wieder etwas Vertrauen aufzubauen, aber das jetzt ist schon unglaublich.

Missie spürt, dass du gut zu ihr bist, dass du sie nicht verletzt, und von Frau Dr. Fischer weiß ich, dass Hunde sich immer einen Menschen suchen, dem sie sich anschließen, der ihr Rudelchef sein soll. Heinz, Missie will dich. Sieh mal, Beauty interessiert das überhaupt nicht.«

Insgeheim dachte Rosmarie: »Oder sie ist so schlau, dass sie erst einmal abwartet und ihre neue Freundin ihr Ding machen lässt.« Die kleine schwarze Mischlingshündin hieß nicht umsonst Miss Marple, die war auch schlau, gewitzt.

Heinz war ganz gerührt. Rosmarie hätte ihrem Mann solche Emotionen überhaupt nicht zugetraut.

Missie blieb an seiner Seite, und Rosmarie beschloss, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war.

Sie drückte dem verdutzten Heinz Missies Leine in die Hand, dann bemerkte sie: »Wenn du magst, gehen wir zusammen ein wenig spazieren.«

Heinz war einverstanden, und während Beauty dahin und dorthin sprang, blieb Missie ganz manierlich an der Seite von Heinz.

Es war unglaublich!

Sie liefen durch ein paar Straßen, Missie schmiss die Beinchen wie ein Turnierpferd, und Heinz bemerkte, dass man ihr hier und da bewundernde Blicke zuwarf.

Irgendwann lenkte Rosmarie ihren Weg Richtung Tierheim, und ehe sie es erreichten, sagte sie: »Ach, das Tierheim, da können wir Missie gleich abgeben.«

Beinahe erschrocken schaute Heinz Rückert seine Frau an.

»Ich …, äh …, ach, was soll es, Rosmarie. Wir haben Platz genug im Haus, und erlauben können wir uns einen zweiten Hund ebenfalls …, okay, ich bin einverstanden. Wenn du noch immer willst, dann nehmen wir Miss Marple …, äh … Missie, zu uns.«

Rosmarie musste sich zusammenreißen, denn sonst hätte sie vor lauter Freude gequietscht. Etwas, womit sie niemals gerechnet hätte, war eingetreten.

Sie warf einen Blick gen Himmel.

Der musste seine Hände im Spiel gehabt haben, der von da oben aus alles beobachtete.

Rosmarie bemühte sich, ihrer Stimme einen gleichgültigen Klang zu verleihen und ein wenig unbeteiligt zu tun. Dabei hätte sie Heinz vor lauter Freude am liebsten umarmt, geherzt und geküsst. Das konnte sie nachholen, und das würde sie auch tun. Es erfüllte sich bei ihr gerade ein Herzenswunsch!

»Wenn du meinst, Heinz, dann lass uns hineingehen und die Formalitäten erledigen. Missie hat es verdient, zu Menschen zu kommen, denen sie vertraut. Das, was mit ihr und dir geschehen ist, Heinz, das war schon unglaublich. Missie hat dich sofort in ihr Herz geschlossen, du bist ihr Boss.«

Heinz Rückert fühlte sich geschmeichelt. In dem Augenblick warf Missie ihm einen Blick zu, der sein Herz berührte. Heinz Rückert, der trockene Notar, der sich mit den Gesetzen auskannte wie sonst keiner, der hatte Tränen der Rührung in seinen Augen.

Und weil das so anrührend war, musste auch Rosmarie weinen. Es war ein unglaublich emotionaler Augenblick, in dem Rosmarie auch ihrem Mann so nahe war wie schon lange nicht.

Heinz beugte sich zu dem Tierchen hinunter, streichelte es hingebungsvoll und sagte: »Du wirst es sehr gut bei uns haben, meine Schöne, das verspreche ich dir.«

Missie bellte, wedelte mit dem Schwanz.

Heinz richtete sich auf und sagte ungeduldig: »Also, Rosmarie, lass uns hineingehen. Worauf warten wir noch. Bringen wir es hinter uns.«

Am liebsten hätte Rosmarie jetzt ganz beglückt ausgerufen: »Mit dem allergrößten Vergnügen.« Sie verkniff sich diese Bemerkung, denn Heinz sollte glauben, es sei einzig und allein seine Entscheidung.

Miss Marple … Missie …

Das Wunder, auf das sie gehofft, um das sie gebetet hatte, das war eingetreten. Aus Dankbarkeit würde Rosmarie in die Kirche gehen und ein, vielleicht auch zwei Kerzchen anzünden.

Beauty und Missie spielten miteinander. Wenn man das sah, konnte einem das Herz aufgehen. Das ließ niemanden unberührt, auch Heinz nicht.

»Also los, gehen wir hinein«, rief er, dann lief er einfach voraus.

Frau Dr. Fischer saß an ihrem Schreibtisch, dort traf man sie um diese Zeit meistens an. Als sie die Rückerts bemerkte, erhob sie sich, Rosmarie machte die beiden miteinander bekannt. Und Heinz sagte: »Wir möchten Miss Marple, die wir Missie nennen werden, zu uns nehmen.«

Und aus Rosmarie platzte heraus, was sich ereignet hatte.

Miss Marple war Frau Dr. Fischer ans Herz gewachsen, doch sie freute sich unglaublich, dass dieses Tierchen jetzt in gute Hände kommen würde.

»Herr Rückert, Sie können wirklich sehr stolz darauf sein. Nach all den negativen Erfahrungen, die Miss Marple in ihrem Leben gemacht hat, ist es schwer, wieder Vertrauen zu Menschen aufzubauen. Es war wohl, wie es das bei Menschen ja ebenfalls geben soll, Liebe auf den ersten Blick. Und sehen Sie doch bloß, wie gut Beauty und Miss Marple …, äh, bleiben wir gleich bei dem neuen Namen … Missie sich mit einander verstehen. Es ist eine Freude, das sehen zu dürfen.«

Dann drängte Heinz auf Erledigung der Formalitäten, das war schnell erledigt, denn Rosmarie hatte gute Vorarbeit geleistet. Heinz zahlte anstandslos die geforderte Schutzgebühr. Und nachdem das erledigt war, bemerkte er ganz nebenbei: »Sie müssen Ihr Dach reparieren lassen, Frau Dr. Fischer. Das macht einen sehr maroden Eindruck. Bei dem nächsten großen Regen wird es reinregnen, und bei dem nächsten großen Sturm fliegen die Dachziegeln herunter.«

Margot Fischer wurde rot.

»Ich weiß, Herr Dr. Rückert«, sagte sie ganz bekümmert. »Und ich habe auch bereits mehrere Angebote eingeholt. Die Firma Becker würde es am günstigsten machen. Aber es fehlen mir die Mittel, die Reparatur zu bezahlen. Vor der Reparatur des Daches sind andere Dinge wichtiger. Und in erster Linie steht das Wohl der Tiere.«

Heinz überlegte einen Augenblick.

»Ich kenne Herrn Becker. Der ist ein sehr seriöser Geschäftsmann. Die Firma arbeitet gut und zu reellen Preisen. Bitte, zeigen Sie mir doch mal das Angebot. Ich möchte einen Blick drauf werfen.«

Mit wenigen Handgriffen hatte Frau Dr. Fischer das Angebot zur Hand. In ihrem Betrieb herrschte Ordnung.

Wenn Heinz Rückert sich mit etwas auskannte, dann waren es Verträge. Er hatte das Angebot im Nu überflogen.

»Es ist insgesamt okay«, sagte er, »aber an der einen oder anderen Position kann man noch etwas sparen.«

Es hörte sich gut an. Hatte er sie eben nicht verstanden? Nicht einmal zum halben Preis oder noch weniger könnte sie den Auftrag erteilen. Und das sagte sie ihm auch.

»Wer sagt Ihnen denn, dass Sie das tun sollen? Die Kosten für das neue Dach übernehme ich. Man kann es nicht mehr mit ansehen. Und je größer der Schaden, und das ist voraussehbar, umso größer die Reparaturkosten.«

Die Heimleiterin konnte den Notar nur ansehen. Sie kannte die Endsumme des Angebots, das waren nicht nur ein paar Euro, da ging es um große Summen. Margot Fischer war nicht in der Lage, etwas dazu zu sagen. Es hatte ihr die Sprache verschlagen.

Auch Rosmarie wusste nicht, was sie jetzt sagen sollte. Ihr Heinz wollte ein ganzes Dach auf seine Kosten reparieren lassen. Ihr Heinz, der wegen einer kleinen Spende herumlamentierte, der peinlich darauf achtete, auch die Spendenbescheinigung zu erhalten, damit er alles absetzen konnte.

Hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu!

Hier waren übersinnliche Kräfte am Werk!

Zuerst das mit Missie. Was vorher ein Drama gewesen war, was zu einem ernsthaften Zerwürfnis geworden war, war praktisch ein Selbstläufer geworden, hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst. Und das jetzt mit dem Dach … Rosmarie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Aber sie wusste, was sie zu tun hatte, sie fiel ihrem Heinz um den Hals. Dann sagte sie, überwältigt vor lauter Glück: »Danke, Heinz.«

Nun fasste auch Frau Dr. Fischer sich und bedankte sich bei dem großzügigen Spender.

Heinz ließ es sich eine Weile gefallen, genoss es sogar, doch dann meldete sich Missie, die ihn anschubste und bellte.

»Ich nehme das Angebot mit, Frau Dr. Fischer, und, versprochen, ich kümmere mich. Für das Dach muss ein Gerüst aufgebaut werden. Das wird für Sie einige Unannehmlichkeiten geben. Doch hinterher müssen Sie keine Angst mehr vor Regen und Sturm haben.«

Diese Worte waren für die Heimleiterin ein Grund, sich nochmals zu bedanken. Sie hatte Tränen in den Augen und musste an sich halten, Heinz Rückert jetzt nicht zu umarmen.

Das hätte sie nie gedacht!

Erst die Großzügigkeit von Frau Rückert. Die hatte sie mehrfach gerettet. Und nun er. Der Notar Rückert spendete, ohne mit der Wimper zu zucken, ein ganzes Dach!

Margot Fischer konnte es noch immer nicht glauben, sie musste sich erst einmal setzen, und jetzt weinte sie wirklich vor lauter Freude, Glück Ergriffenheit.

Wenn man so wollte, hatte sie alles Miss Marple zu verdanken. Die war ein ganz besonderer Hund. Und wie die Film Miss Marple letztlich alles auf die Reihe brachte, hatte es hier die kleine schwarze Mischlingshündin geschafft. Sie hatte sich in das Herz der Rückerts geschlichen. Aber sie war auch so schön und so klug, und wenn sie einen anblickte …

Frau Dr. Fischer wischte sich die Tränen weg, dann ging sie hinaus und blickte sich das Dach an.

Es war wirklich grauenvoll, in einem katastrophalen Zustand.

Am Himmel kam die Sonne zwischen zwei grauen Wolken hervor, tauchte alles in ein goldenes Licht. Leider sah man jetzt in aller Deutlichkeit auch die Schwachstellen des maroden Daches. Früher wäre sie vor Entsetzen zusammengezuckt. Jetzt blieb sie ganz ruhig. Es war nur noch eine Frage der Zeit, und wie sie Heinz Rückert einschätzte, würde binnen kürzester Zeit das Gerüst vor dem Haus stehen.

Margot merkte, wie sie sich entspannte. Sie ließ erst einmal die Arbeit sein und machte einen Rundgang. Das mit dem Dach war großartig, doch die Tiere, die waren am wichtigsten, die waren ihr Leben. Und das, was sie tat, war für sie der schönste Job der Welt. Natürlich gab es auch Schattenseiten, manche Tiere waren so traumatisiert, so aggressiv, dass man sie einschläfern musste. Manche Tiere waren verletzt, krank.

Da war es ein Glück, dass sie Tierärztin war und die Behandlung selbst übernehmen konnte.

Der Platz von Miss Marple war jetzt frei. Margot ging in eine Box hinein, streichelte eine Boxerhündin, die ein wenig apathisch in einer Ecke saß.

»Komm, Emma, ich habe einen schöneren Platz für dich.«

Emma ließ sich streicheln, stand auf, folgte Margot.

Sie war ein zahmes, gutmütiges, pflegeleichtes Tier, und sie war wunderschön. Doch eines stand jetzt schon fest. Emma würde, es sei denn, es geschah ein Wunder, den Rest ihres Lebens im Tierheim verbringen. Sie war alt, konnte nicht mehr gut sehen, und laufen konnte sie auch nicht mehr richtig. Ein solches Tier holte man sich nicht nach Hause. Emma war zu ihnen gekommen, weil der Besitzer verstorben war, und niemand von den Erben wollte Emma haben, das Haus und das Geld des Verstorbenen schon. Dass Emma ihm am Herzen gelegen hatte, dass sie über viele Jahre hinweg eine treue Begleiterin gewesen war, dass sie Sonne in das Herz des alten Herrn gebracht hatte, das interessierte niemanden. Aber so war das Leben.

Gleich nebenan war ein junger Dalmatiner untergebracht. Er war ein Weihnachtsgeschenk gewesen. Als der Besitzer festgestellt hatte, dass ein Hund Arbeit machte, Auslauf brauchte, hatte man ihn ins Tierheim gebracht. Da musste man kein schlechtes Gewissen haben.

Dalmatiner waren derzeit nicht so in. Doch Margot Fischer konnte sich noch sehr gut an die Zeit erinnern, als der Dalmatiner-Film gelaufen war. Da hatte es zunächst einen Ansturm auf die Züchter gegeben, hinterher einen Ansturm auf das Tierheim.

Alf, so hieß der Hund, würde irgendwann einen neuen Besitzer finden. Es hatte bereits mehrere Interessenten gegeben, doch die hatte Margot abgelehnt. Auch wenn das Tierheim aus allen Nähten platzte, war das für sie kein Grund, Platz zu schaffen. Sie prüfte die Bewerber auf Herz und Nieren, und wenn es ihr nicht passte, wenn sie ein ungutes Gefühl hatte, gab sie keines der Tiere her.

Es waren Lebewesen, keine Spielzeuge, die man, wurde man ihrer überdrüssig, einfach in die Ecke stellte oder, schlimmer noch, entsorgte. Das hatte es auch schon gegeben.

Als sie weiterging, atmete sie tief durch.

Der Himmel hatte ihre Gebete erhört!

Sie würden ein neues Dach haben. Eine riesige Last fiel von ihr ab, und ansonsten …, irgendwie würde es weitergehen.

Sie traf eine ihrer freiwilligen Helferinnen und erzählte ihr, was passiert war. Diese wunderbare Neuigkeit konnte sie einfach nicht für sich behalten.

*

Inge Auerbach war gerade mit der Zubereitung des Mittagessens fertig, als die Haustür zugeschlagen wurde, jemand in der Diele polterte.

Ein Lächeln glitt um Inges Lippen.

Das konnte nur Pamela sein, die machte sie immer lautstark bemerkbar. Und wenn sie heute besonders laut war, dann musste das ein gutes Zeichen sein.

Inge kannte ihre Jüngste, sie konnte in ihr lesen wie in einem Buch.

Pamela kam in die Küche gestürmt. Inge betrachtete sie voller Wohlgefallen. Pamela wurde immer hübscher. Ihr ausdrucksvolles schmales Gesicht wurde von braunen Locken umrahmt, ihre großen grauen Augen blitzten. Nicht mehr lange, und die jungen Männer würden vor ihrem Haus Schlage stehen. Pamela war etwas Besonderes.

»Mami«, Pamela schleuderte ihre Schultasche in die Ecke, »in Mathe habe ich eine Eins, und in Englisch, da habe ich die beste Arbeit geschrieben, mit Abstand die beste. Der Durchschnitt war grottenschlecht. Außer mir hatte niemand eine Eins. Nun ja, es liegt mir halt im Blut, weil meine leibliche Mutter ja …«, sie brach ihren Satz ab, »Mami, tut mir leid.«

Inge nahm ihre Jüngste in die Arme.

»Liebes, es muss dir doch nicht leidtun. Die Muttersprache deiner leiblichen Mutter war Englisch. Darüber können wir doch reden.«

Pamela lehnte sich an ihre Mutter, die nicht wirklich ihre Mutter war, weil man sie als Kleinkind adoptiert hatte. Und diese Adoption war der wunde Punkt zwischen ihnen, den niemand berühren wollte.

Eine Adoption an sich war ja keine große Sache. Es gab unzählige Jungen und Mädchen, die adoptiert wurden, und das war gut so.

Das war viel besser, als die Kinder in ein Heim zu stecken, in ein Waisenhaus.

Bei den Auerbachs war es ein Thema, das sie nicht gern berührten, weil sie Pamela die Adoption verschwiegen hatten und das arme Mädchen es zufällig durch fremde Frauen erfahren hatte.

Inge wollte nicht mehr daran erinnert werden, welchen Stein das ins Rollen gebracht hatte. Pamela, damals noch Bambi, hatte sich von ihnen abgewandt, sie hatte niemals mehr etwas mit ihnen zu tun haben wollen, war mit Hannes nach Australien gegangen, und der Weg der Annäherung war ein steiniger und sehr schmerzlicher gewesen.

»Ich bin froh, dass es wieder so ist wie früher, Mami«, sagte sie, »und ich möchte dich und Papi nicht verletzen, wenn ich über meine leiblichen Eltern spreche. Es ist doch alles gesagt, ich weiß alles über sie. Und lebendig machen kann ich sie nicht mehr.«

Inge streichelte Pamela behutsam übers Haar.

»Du bleibst aber die Tochter von zwei ganz wunderbaren Menschen, und wenn du das Bedürfnis hast, über sie zu sprechen, dann kannst du das tun, dann musst du es tun, Pamela. Für uns bist du ein Geschenk des Himmels, und wir sind unendlich dankbar dafür, dass du zu uns gekommen bist. Du hast Sonnenschein in unser Leben gebracht, und wir lieben dich alle sehr.«

Pamela lehnte sich an ihre Mutter.

»Ach, Mami, du findest immer die richtigen Worte. Ich kann dankbar sein, dass ich zu euch kommen durfte.« Sie machte sich aus Inges Armen frei und erkundigte sich: »Wo ist eigentlich Luna? Die begrüßt mich doch sonst immer.«

Inge lachte.

»Die ist mit den Großeltern unterwegs. Es ist eine Win-Win-Situation, dank Luna machen sie lange Spaziergänge.«

Pamela fiel in das Lachen mit ein.

»Und die freut sich, weil ihr köstliche Leckerli zugesteckt werden. Bei Omi und Opi möchte man Hund sein. Was sie für Luna kaufen, das ist nur vom Allerfeinsten. Aber ich kann mich auch nicht beklagen, wir unternehmen so viele schöne Sachen zusammen, sie geben viel Geld für mich aus.«

»Sie freuen sich, dass sie das tun können, dass es ihnen im ­Alter an nichts mangelt, dass sie­ sorgenfrei leben können. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Viele Menschen bekommen nur eine kleine Rente, obwohl sie ihr Leben lang gearbeitet haben. Und statt ihr Dasein genießen zu können, müssen sie jeden Cent umdrehen. Das ist traurig, doch darüber müssen wir jetzt nicht reden. Zeig mir lieber deine Arbeiten. Ich bin ja so stolz auf dich, mein Kleines. Du machst Hannes Konkurrenz. Der hatte seine guten Noten erst später.«

»Aber dann hat er Gas gegeben, Mami«, fügte Pamela hinzu. »Hannes hat es allen gezeigt. Ich mag Ricky und Jörg sehr, sehr gern. Aber der Hannes, der ist mein Lieblingsbruder. Wir zwei verstehen uns ohne Worte. Auf ihn kann ich mich verlassen, und ich werde niemals vergessen, wie lieb er zu mir war, als ich in Australien weilte.«

»Pamela, ihr seid die Jüngsten, seid miteinander aufgewachsen, während Ricky und Jörg bereits aus dem Haus waren. Das verbindet. Also, zeigst du mir jetzt die Arbeiten?«

Pamela lachte.

»Mami, die zeige ich dir später, die laufen nicht davon. Ich habe einen tierischen Hunger. Was gibt es denn zu essen?«

»Wie von dir gewünscht, einen Nudelauflauf.«

Obwohl sie sich ja gerade erst aus deren Armen befreit hatte, umarmte Pamela ihre Mutter erneut.

»Nudelauflauf, davon kann ich nicht genug bekommen. Du bist die allerbeste Mami von der ganzen Welt.«

Das ging bei Inge herunter wie Öl. Und sie war so froh, dass die Schatten der Vergangenheit endgültig gewichen waren.

»Und wo ist der Papi?«

»Auf den müssen wir nicht warten, der kommt erst heute Abend nach Hause.«

»Ach ja, der Papi, der kann es einfach nicht lassen. Aber wenigstens bleibt er nicht ständig tagelang weg, und er reist auch nicht mehr um die Welt wie früher.«

Inge gab darauf keine Antwort. Pamela war in Australien gewesen, als es bei den Auerbachs die große Krise gegeben hatte. Damals hatte Inge ihrem Mann ein Ultimatum gestellt, und sie hätte sonst wirklich die Konsequenzen gezogen. Werner hatte es mit der Angst zu tun bekommen, und es war nicht mehr bei den leeren Versprechungen geblieben. Der Herr Professor hatte die Reißleine gezogen, weil ihm bewusst geworden war, dass seine Inge für ihn das Wichtigste im Leben war und dass er ohne sie nicht sein konnte und nicht sein wollte. Werner arbeitete immer noch sehr viel, aber er nahm sich auch Zeit für die Familie, Auszeiten, die er mit Inge genoss, und die hatte jetzt das, wonach sie sich immer gesehnt hatte. Sie genoss es in vollen Zügen.

Pamela setzte sich schon mal auf ihren Platz an dem großen Familientisch, nachdem sie sich die Hände gewaschen hatte. Darauf legte man Wert im Hause Auerbach. Und dann konnte sie es kaum erwarten, dass Inge ihr eines ihrer Leibgerichte servierte. Voller Behagen begann Pamela den Nudelauflauf in sich hineinzustopfen, und ihr Essen wurde begleitet von vielen ­›Ooohs‹ und ›Hmmms‹.

Inge freute sich. Für Pamela zu kochen, das war ein Vergnügen. Sie war schnell zu begeistern, und sie zeigte ihre Begeisterung auch.

Nach zwei großen Portionen gab Pamela schließlich auf. Inge wunderte sich immer wieder, was in diesen schmalen Körper hineinpasste.

Inge kochte sich einen Kaffee, das musste sein. Und dann durfte sie endlich die Arbeiten sehen. Pamela besaß eine große mathematische Begabung, die hatte sie von ihrem leiblichen Vater geerbt. Und das Englische lag ihr wirklich im Blut. Die Arbeit war sehr anspruchsvoll. Inge wunderte sich überhaupt nicht, dass die meisten Schüler die Arbeit versemmelt hatten, die Pamela immer zu sagen pflegte, wenn etwas danebenging.

Inge war stolz auf Pamela, und sie lobte sie auch entsprechend.

Mutter und Tochter genossen ihre Zweisamkeit. Der große Küchentisch war für die Auerbachs so etwas wie die Schaltstelle des Lebens. An diesem Tisch wurde gelacht, es wurde geweint. Es wurde gespielt, und es hatte, und die gab es noch immer, viele heiße Diskussionen gegeben.

Inge merkte sofort, dass Pamela etwas auf dem Herzen hatte, was sie unbedingt loswerden wollte.

Inge sprach ihre Tochter darauf an, und dann sprudelte es aus Pamela nur so heraus.

»Mami, es geht um den Fühlstein, den Manuel mir vor seinem Wegzug gegeben hat.«

Pamela legte den Stein auf den Tisch, und Inge erinnerte sich daran, dass dieser Stein zunächst einmal der ständige Begleiter von Pamela gewesen war.

»Ich erinnere mich, mein Kind, es war sehr großzügig von Manuel. Schließlich hat er den Stein von seiner verstorbenen Mutter gehabt und ihn immer mit sich herumgetragen. So etwas zu verschenken, das zeugt von Größe. Und es sagt auch, was du Manuel bedeutest.«

Pamela nahm den Stein in die Hand, spielte mit ihm.

»Er hat ihn mir geschenkt, weil ich so traurig war und er damit nicht umgehen konnte. Er wollte mich trösten.«

»Das hat er doch.«

Pamela nickte. »Mittlerweile fühle ich mich aber nicht mehr gut damit. Für Manuel ist der Stein von sehr großer Bedeutung. Für mich ist er das nicht. Auch wenn er schön ist, ist es doch bloß ein Stein. Und deswegen dachte ich …, nun, ich habe mir überlegt …, ich meine …«

Inge unterbrach ihre Tochter.

»Pamela, worauf willst du hinaus?«

Pamela atmete tief durch, dann erzählte sie ihrer Mutter, dass sie daran gedacht hatte, Manuel den Stein, der ein Erinnerungsstück an seine Mutter war und ihm sehr viel bedeutete, zurückzugeben.

»Mami, ich fühle mich nicht besser und auch überhaupt nicht schlechter, ob nun mit oder ohne Stein. Manuel wohnt nicht mehr hier. Er wird niemals mehr zurückkommen. Die Omi sagt, dass alles seine Zeit hat, dass ich Manuel in schöner Erinnerung in meinem Herzen behalten soll, dass mir das niemand nehmen kann, was wir als wunderschöne und gemeinsame Kindheit hatten. Mami, darf man ein Geschenk zurückgeben, ohne den, der das Geschenk gemacht hat, zu verletzen?«

Ihr armes Mädchen, womit Pamela sich jetzt quälte.

»Mein Kind, wenn du Manuel das alles schreibst, was du mir gerade erzählt hast, dann wird er es verstehen. Und er wird sich bestimmt darüber freuen, dass er das, was so wichtig für ihn war, wieder besitzen wird. Schreib ihm, dass du dankbar bist für die Leihgabe, dass du jetzt ohne den Stein auskommst, schreib ihm das mit der Erinnerung an eine wunderschöne Kindheit, die für immer in deinem Herzen sein wird. Und so ist es doch, nicht wahr? Das was war, das kann dir niemand mehr nehmen.«

Pamela war so froh, ihrer Mutter erzählt zu haben, was sie so sehr quälte.

Sie sprang auf, eilte auf ihre Mutter zu, umarmte sie heftig, küsste sie, dann rief sie: »Was würde ich bloß ohne dich machen, Mami. Du bist die beste und klügste Mami von der ganzen Welt, und weil das so ist, muss ich es dir immer wieder sagen.«

Inge war gerührt, doch ehe sie sich äußern konnte, war eine Stimme zu hören: »Und wer küsst mich?«

Professor Werner Auerbach war unbemerkt in die Küche getreten.

Pamela rief: »Papi, du bist später dran, ich habe jetzt etwas sehr Wichtiges zu erledigen.«

Nach diesen Worten verließ sie die Küche.

Werner und Inge waren allein, und die erkundigte sich ganz verwundert: »Werner, wieso bist du schon da? Du wolltest doch erst heute Abend kommen?«

»Ja, das ist richtig, mein Herz. Aber das Nachmittagsprogramm ist nicht wichtig. Da fiel es mir nicht schwer, mich dafür zu entscheiden, nach Hause zu kommen.«

So hätte Werner früher nie geredet. Da hatte er alles bis zum Schluss ausgekostet.

Ja, es hatte sich wirklich eine ganze Menge verändert, zum Guten hin, und dafür war Inge unendlich dankbar. Sie waren ganz schön vom Kurs abgekommen, und es war schön und beruhigend zugleich, dass das Floß ihres Leben sich wieder in ruhigeren Gewässern bewegte.

»Es ist schön, dass du da bist«, rief sie aus ihren Gedanken heraus glücklich.

Werner ging langsam auf sie zu, zog sie zu sich empor, und dann küsste er sie voller Zärtlichkeit.

In seinen Armen fühlte Inge sich geborgen und sicher, und so war es immer gewesen, von Anfang an. Es war eine Gnade, nach vielen gemeinsam verbrachten Jahren noch so zu empfinden.

Und als er irgendwann sagte: »Es ist schön, dass es dich gibt«, schmolz sie nur so dahin.

*

Inge blickte ganz irritiert auf, als ihre Mutter ins Haus geschossen kam, anders konnte man es nicht nennen.

»Mama, was ist passiert?«

»Mein Kind, es ist gut, dass du sitzt, denn das, was ich dir jetzt erzählen werde, würde dir den Boden unter den Füßen wegziehen.«

So kannte Inge ihre Mutter wirklich nicht.

»Mama, wolltest du nicht nach Hohenborn fahren, um die bestellten Bücher abzuholen?«

Teresa winkte ab.

»Das kann warten. Ich habe gerade einen Anruf von Frau Dr. Fischer erhalten.«

Das war nichts Neues. Ihre Mutter arbeitete schließlich ehrenamtlich im Tierheim mit. Weswegen also die Aufregung, die Inge überhaupt nicht verstand.

»Ja, und?«

Teresa setzte sich. Sie war wirklich vollkommen durcheinander.

Teresa holte tief Luft, und dann platzte es nur so aus ihr heraus.

»Das Tierheim bekommt ein neues Dach.«

So, nun war es heraus, doch Inge verstand nicht, weswegen ihre Mutter deswegen ein solches Aufhebens machte. Das stand schon länger an.

»Gut, dann ist das Geld für die Reparatur endlich zusammengekommen, für Frau Dr. Fischer eine Sorge weniger.«

Was redete ihre Tochter da!

»Inge, weißt du eigentlich, was ein Dach kostet? Wir hätten noch jahrelang sammeln müssen. Das ist jetzt mit einem Schlag erledigt, und du wirst niemals im Leben erraten, wer die ganzen Kosten übernimmt.«

Inge wurde ungeduldig.

»Mama, sprich nicht in Rätseln, sag es endlich.«

Teresa machte eine kurze Pause, ehe sie den Namen preisgab.

»Heinz Rückert.«

Das war wirklich ungeheuerlich!

Inge konnte dazu erst einmal nichts sagen, sie starrte ihr Mutter nur an, und Teresa freute sich diebisch, als sie in das Gesicht ihrer Tochter blickte. So ähnlich musste sie ebenfalls ausgesehen haben, als sie diese Neuigkeit von Frau Dr. Fischer erfahren hatte.

»Heinz?«, ächzte Inge schließlich, nachdem sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte.

Teresa nickte.

»Ja, Heinz Rückert, und es ist nicht nur das, sie haben sich auch einen zweiten Hund angeschafft. Durch den ist es schließlich auch gekommen, dass Heinz plötzlich die Spendierhosen anhatte. Zwischen Heinz und dem Hund war es irgendwie Liebe auf den ersten Blick.«

Es hörte sich alles fantastisch an.

Für einen Augenblick war Inge geneigt zu glauben, ihre Mutter spräche über einen ganz anderen Mann, doch nicht über den Heinz Rückert, der sich eher ein­ Loch ins Knie schießen ließ, ehe er für etwas Geld herausrückte, vor allem nicht für ein Tierheim.

»Mama, ich glaube es nicht.«

»Du musst es glauben, mein Kind.«

Nach diesen Worten erzählte ihre Mutter ihr, was sie von der überglücklichen Leiterin des Tierheims erfahren hatte.

Heinz Rückert war irgendwo für jede Überraschung gut. Es hätte niemand damit gerechnet, dass er während seiner Studienzeit in Paris gewesen war, dort seine große Liebe kennengelernt hatte, von der unglückliche Umstände ihn getrennt hatten. Dass plötzlich eine Tochter aus dieser Verbindung auftauchte, die reizende, wunderschöne Cecile, war eine Sensation gewesen. So etwas hätte man von Heinz nicht gedacht!

Und so war es jetzt vermutlich auch mit dem Dach. Es gab Seiten an ihm, die man von ihm nicht kannte, von denen er wahrscheinlich selbst überrascht war.

»Mama, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«

Teresa kannte ihre Tochter, sie wusste, was ihr immer half, ob sie nun über etwas nachdachte, ob sie sich freute, ob sie traurig war.

Sie brachte ihr einen Kaffee, vergaß sich selbst ebenfalls nicht, und dann begannen sie über Heinz Rückert zu reden und das, was geschehen war.

»Mama, wenn er diese weiche, großzügige Seite hat, warum zeigt er sie nicht öfters?«

So typisch ihre Inge, sie musste alles hinterfragen. »Inge, er wird seine Gründe dafür haben. Und müssen wir uns den Kopf deswegen zerbrechen? Die Rückerts sind reich. Er kann das Dach mehr oder weniger aus der Portokasse bezahlen, und glaube mir, er ist gewieft genug, sich das alles bei seiner Steuererklärung zurückzuholen.«

Es stimmte alles, dennoch.

»Mama, ich finde es sehr großzügig, und es ist für das Tierheim ein Segen. Heinz und auch Rosmarie haben bei ihren Kindern gewiss einiges verkehrt gemacht. Doch einmal sollte da Schluss sein. Ich rufe gleich Ricky an, damit sie es Fabian stecken kann. Der sollte sein Verhalten seinen Eltern gegenüber mal überdenken. Was früher verkehrt gelaufen ist, kann man nicht korrigieren. Und heute bemühen sie sich doch, ganz besonders Rosmarie.«

»Inge, halte dich da raus. Damit hast du nichts zu tun. Ein jeder soll vor seiner eigenen Tür kehren. Die Rückerts müssen mit ihren Kindern ihre Konflikte selber lösen. Kommen wir mal zu einem ganz anderen Thema. Gehen wir gemeinsam hinauf zu dem Kennenlerntreffen? Gemeinsam mit Sophia und Angela.« Dagegen hatte Inge nichts einzuwenden.

»Können wir machen, aber ich glaube, Pamela schmollt noch immer. Sie ist sauer, weil es keinen neuen Zugang zur Felsenburg gibt. Der Graf hat es versprochen.«

»Und er wird sein Versprechen auch halten. Zunächst einmal war es für ihn wichtig, sich selbst in seinem neuen Leben einzurichten, und vergiss nicht, dass er auch seine beruflichen Aktivitäten von dort oben regeln will. Das muss geplant und durchgeführt werden. Er muss keinen Zugang für alle Leute zur Felsenburg schaffen. Sie gehört zu seinem Besitz.«

»Früher war halt alles anders«, bemerkte Inge.

»Früher hatten wir auch einen Kaiser«, Teresas Stimme klang leicht ungeduldig. »Ich kann das mit der Felsenburg nicht mehr hören. Vor allem mokieren sich Leute darüber, die niemals hinaufgegangen sind. Wenn es nach mir ginge, würde ich keinen Zugang zur Ruine schaffen. Du lässt doch auch nicht Menschen durch deinen Garten laufen, damit sie sich den See angucken können. Graf Hilgenberg ist ein sehr netter Mensch, und Sophia kennt die Familie. Um noch einmal darauf zurückzukommen, was du gesagt hast, dass früher alles anders war. Marianne von Rieding hatte nie einen richtigen Bezug zu dem Besitz, sie weiß nicht, was alte Traditionen sind. Das sage ich jetzt nicht abwertend. Aber es ist so. Wäre uns unser Besitz erhalten geblieben, hätten Magnus und ich uns auch abgegrenzt. Man ist freundlich und nett zu seiner Umgebung, verhält sich seinen Angestellten gegenüber korrekt, aber man verbrüdert sich nicht mit ihnen.«

»Mama, du bist ein Snob. Außerdem lebst du nichts von dem, was du da gerade erzählst.«

»Weil sich alles verändert hat. Es wäre sehr töricht, etwas leben zu wollen, was es nicht mehr gibt. Ich sage es immer wieder, alles hat seine Zeit, man muss mit den Gegebenheiten leben.«

»Nun, Angela von Bergen scheint dann zurückzublicken, sie hat ihren Mädchennamen angenommen.«

Teresa winkte ab.

»Darüber haben wir bereits gesprochen, und da warst du durchaus meiner Meinung. Angela hat ihren Mädchennamen angenommen, weil sie durch nichts an ihren schrecklichen Ehemann erinnert werden möchte. Ich habe ihr dazu geraten, und dazu stehe ich auch. Inge, deswegen müssen wir wirklich nicht streiten. Es macht mich nur wütend, dass alle auf den Grafen Hilgenberg sauer sind, weil er für seinen Besitz andere Regeln einführt.

Er lädt alle Leute aus dem Sonnenwinkel ein, damit sich alle bei ihm treffen. Erinnere dich, dass Frau von Rieding oder die Münsters nur einen ausgewählten Personenkreis zu sich eingeladen haben. Aber nun Schluss mit dem Thema. Ich fahre jetzt nach Hohenborn, und wenn du magst, dann kannst du mitkommen.«

Inge überlegte kurz, dann lehnte sie ab.

»Danke, Mama, ich bleibe lieber hier. Falls Pamela es sich anders überlegt, möchte ich das Kleid zu Ende nähen, das sie sich gewünscht hat.«

Nähen konnte Inge ebenfalls sehr gut. Eigentlich konnte sie alles, vor allem stand sie mitten im Leben, und da konnte Teresa stolz auf sich und Magnus sein. Sie hatten ihre Tochter zu dem gemacht, was sie war.

*

Nicki erzählte eigentlich ihrer Freundin immer alles. Die Begegnung mit dem Mann am See behielt sie für sich. Roberta hatte wirklich für alles Verständnis, sie wäre ziemlich irritiert, wenn sie erführe, dass Nicki schon wieder an einen anderen Mann dachte, nachdem sie Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um ihren Mathias zu finden.

Dachte sie an den Mann, der vielleicht Dr. Bredenbrock hieß, weil er interessanter war als Mathias?

Oder war es, weil sie aufgegeben hatte, Mathias zu suchen, der offensichtlich nicht mehr war als ein Phantom?

Sie hatte keine Ahnung, und sie war deswegen ziemlich verwirrt.

Am liebsten wäre Nicki nicht mit zu diesem Treffen gegangen. Sie tat es nur in der Hoffnung, ihrem Retter zu begegnen.

Roberta sah in ihrem schmalen, schlichten Kleid aus leichter Wolle sehr hübsch aus. Dazu trug sie eine schön geschnittene Jacke.

Nicki seufzte.

Roberta konnte anziehen was sie wollte, sie stellte immer etwas dar.

Sie selbst fühlte sich in ihrem Kostüm ein wenig verkleidet. Sie hätte am liebsten eine Hose und ein Twinset angezogen. Da sie jedoch nicht wusste, was bei ›Grafens‹ so verlangt wurde, hatte sie sich für das Kostüm entschieden.

Ihre Haare hatte sie ordentlich hinten zu einem Knoten hochgesteckt.

»Du siehst toll aus, Nicki«, rief Roberta spontan, als sie ihre Freundin sah, »du solltest viel öfter so herumlaufen.«

Da Nicki wusste, dass sie das nicht tun würde, antwortete sie nicht.

Sie machten sich auf den Weg, und der halbe Sonnenwinkel schien unterwegs zu sein. Nicki stellte fest, dass die Menschen sehr unterschiedlich angezogen waren, doch herausgeputzt hatten sie sich irgendwie alle.

Als sie den größten Teil der Wegstrecke hinter sich gebracht hatten und um die Ecke bogen, blieben sie stehen.

Man sah das Herrenhaus, die Dependance, doch mittendrin stand ein großes weißes Zelt.

»Der Herr Graf will das gemeine Volk offensichtlich nicht in sein Wohnzimmer lassen«, spottete Nicki. »Weißt du, wenn ich so etwas sehe, habe ich schon keine Lust mehr.«

Sie wollte sich umdrehen, zurückgehen, doch Roberta hielt sie zurück.

»Nicki, ich weiß, dass du nur meinetwegen hier bist, eigentlich wolltest du das nicht. Und nun suchst du ein Haar in der Suppe. Ich finde das mit dem Zelt eine geniale Idee. Auch wenn das Herrenhaus sehr groß ist, kann man unmöglich alle Leute des Sonnenwinkels darin unterbringen. Im Zelt geht das. Also, reiß dich zusammen, mir zuliebe. Wir müssen nicht lange bleiben, okay?«

Nicki zuckte die Achseln, dann gingen sie weiter hinauf bis zu dem Zelt, das bereits ziemlich gefüllt war. An einer Seite war ein kaltes Buffet aufgebaut, die Tische waren hübsch eingedeckt. Es sah alles sehr gut aus, man hätte hier auch eine Hochzeit feiern können, so stilvoll war es. Der Graf hatte sich nicht lumpen lassen. Von dem sah man nichts, er machte vermutlich bei den Leute, die zuerst gekommen waren, shake hands.

Da Roberta überall bekannt war, musste sie viele Hände schütteln, und Nicki langweilte sich, zog sich ein wenig zurück, überlegte, wie sie sich unauffällig entfernen könnte.

Sie zuckte zusammen, als eine Männerstimme sagte: »So sieht man sich wieder.«

Sie wirbelte herum und sah in die Augen ihres Retters. Ihr ging es sofort besser.

»Ich wusste überhaupt nicht, dass Sie im Sonnenwinkel wohnen. Warum sind Sie mir nie aufgefallen?«, machte er ihr ein Kompliment. Dann stellte er sich vor, und es war Dr. Bredenbrock, wie von Teresa von Roth vermutet.

»Ich wohne nicht hier, sondern ich besuche nur meine Freundin, die Frau Dr. Steinfeld, und die hat mich dazu verdonnert, sie zu begleiten.«

»Und ich bin in erster Linie hier, um Menschen kennenzulernen, in deren Nachbarschaft ich wohne, noch nicht lange, wohlgemerkt.«

Nicki verkniff sich die Frage, wie man aus freien Stücken in den Sonnenwinkel ziehen konnte. Jeder hatte für alles seine Gründe, und Roberta war schließlich hier ebenfalls gelandet, und schlimmer noch, sie fühlte sich wohl.

Sie unterhielten sich angeregt. Irgendwann zuckte Nicki zusammen, weil sie tatsächlich glaubte, Mathias gesehen zu haben. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihn nicht mehr entdecken. Sollte sie daran erinnert werden, dass es Mathias war, der bei ihr Begehrlichkeiten erweckte? Sie bekam ein schlechtes Gewissen, und sie entschuldigte sich rasch mit dem Bemerken, ihre Freundin suchen zu müssen.

Er war wirklich sehr, sehr nett, dieser Dr. Bredenbrock.

Ob es wohl eine Frau Bredenbrock gab? Offensichtlich nicht, sonst wäre er nicht allein gekommen.

Nicki entdeckte ihre Freundin in einem Pulk von Menschen, da schien es ja etwas Interessantes zu geben. Neugierig näherte sie sich den Leuten, und dann erstarrte sie.

Nicht Roberta war der Mittelpunkt, nein, es war …

Es konnte nicht wahr sein!

Ihre Fantasie musste ihr einen Streich spielen.

Roberta entdeckte ihre Freundin, winkte sie näher zu sich heran und rief: »Nicki, ich möchte dich gern mit dem Grafen Hilgenberg bekannt machen.«

Nicki glaubte, im Boden versinken zu müssen.

Graf Hilgenberg …, das war ihr Mathias!

Sie wäre am liebsten davongelaufen, doch sie hatte keine Chance, Roberta, bestens gelaunt, hatte sie am Arm genommen. »Graf Hilgenberg, darf ich Sie mit meiner allerbesten Freundin, Nikola Beck … Nicki, bekannt machen?«

Ihre Blicke begegneten sich. Sie versanken ineinander.

Sie hielt es nicht länger aus, sie murmelte so etwas, was klang wie »ich freue mich«, dann schob sie die Leute beiseite und lief davon.

Sie hörte nicht, wie Roberta ihren Namen rief, sie spürte nicht die verwunderten Blicke, die sie trafen. Sie war nur von einem beseelt …, sie wollte weg, nichts als weg.

Sie hatte sich ein Bein ausgerissen, ihn wiederzusehen, sie hatte ein Vermögen an Wahrsager und noch mehr ausgegeben.

Es war nicht einmal gelogen, sie hatten davon gesprochen, dass er in der Nähe war. Nur niemand von ihnen hatte ihr erzählt, dass ihr Mathias zufällig ein Graf war, der auf einem stattlichen Anwesen residierte.

Wie peinlich!

Sie hatte ihn für jemanden gehalten, der knapp bei Kasse war, sie hatte ihm nicht nur eine Currywurst spendiert, und er hatte sich vermutlich innerlich kaputtgelacht.

Sie hatte sich in ihn verliebt, sie hatte geglaubt, ihm ginge es ähnlich, dabei lagen zwischen ihnen Welten, Ozeane.

Wäre sie bloß nicht mitgegangen, dann wäre ihr einiges erspart geblieben.

Mathias Graf Hilgenberg!

Das musste sie erst einmal verdauen.

Sie kam völlig außer Atem an Robertas Haus an, und dort packte sie in Windeseile erst einmal ihre Sachen zusammen.

Was da geschehen war, das hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen.

Das war grotesk! Das war eine Farce!

Ihre Gefühle fuhren mit ihr Achterbahn, und die schwankten zwischen Zorn, Enttäuschung und …, sie wusste nicht, was noch.

Nicki war innerlich so aufgewühlt, dass sie nicht einmal weinen konnte. Das wäre jetzt eine Erleichterung gewesen.

Sie wollte gerade für Roberta ein paar erklärende Zeilen hinterlassen, als die nach Hause kam. Sie war ziemlich aufgebracht. Bei allem Verständnis für Nicki und die Eskapaden, die es bei ihr immer wieder mal gab, das war jetzt zu weit gegangen.

»Kannst du mir mal sagen, was das jetzt zu bedeuten hatte?«, wollte Roberta wissen.

Nicki musste sich erst einmal setzen.

»Roberta, ich fühle mich so was von, entschuldige bitte den Ausdruck, doch mir fällt kein besserer ein, verarscht.«

»Nicki, du hast dich danebenbenommen, dein Auftritt war mehr als peinlich.«

Nicki konnte nicht mehr, sie begann zu weinen.

Sofort war Roberta wieder besänftigt, sie fasste ihre Freundin bei der Schulter.

»Nicki, was ist los? Weswegen weinst du jetzt?«

Es dauerte eine Weile, ehe Nicki ihr eine Antwort geben konnte, und dann erzählte sie ihrer Freundin unter Schluchzen, was geschehen war.

»Dieser Graf ist mein Mathias, er hat mir etwas vorgemacht, er hat sich auf meine Kosten amüsiert. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als ich erfahren musste, dass der vermeintliche arme Mann, den ich in Erinnerung hatte, ein Graf ist, nicht nur das, dass er in diesem Anwesen da oben residiert?«

Oh Gott!

Damit hätte Roberta nun nicht gerechnet!

Welch furchtbares Missverständnis.

Dennoch …

»Nicki, du hättest nicht davonlaufen müssen. Graf Hilgenberg hätte bestimmt alles aufgeklärt.«

Nicki wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Das hätte er tun müssen, als wir uns damals trafen, als er den armen Mann mimte, der in teuren, aber alten Klamotten herumläuft, der nicht die Kohle hatte, angeblich wohlgemerkt, sich eine Currywurst zu kaufen. Wie peinlich! Ich wünsche diesem Grafen die Pest an den Hals.«

Nicki war impulsiv, sie machte aus ihrem Herzen keine Mördergrube, deswegen nahm Roberta das mit der Pest auch nicht so ernst.

»Nicki, noch einmal, du hättest bleiben müssen.«

Nicki schüttelte den Kopf.

»Nein, Roberta, wozu denn? Mit dem anderen Mathias hätte ich etwas anfangen können, mit einem Grafen nicht. Ich möchte jetzt nach Hause fahren.«

»Nicki, das geht in deinem Zustand überhaupt nicht. Weglaufen ist übrigens auch keine Lösung.«

Roberta konnte reden wie sie wollte, sie konnte bitten, sie konnte drohen. Nicki war von ihrem Vorsatz nicht abzubringen, und so gab Roberta schließlich nach. Nicki musste ihr versprechen, langsam zu fahren und sich direkt zu melden, wenn sie daheim angekommen war.

Das versprach Nicki.

Es war so anders gelaufen als gedacht, es war wie im wahren Leben.

Dass Graf Hilgenberg Nickis Mathias war, damit hätte niemand rechnen können. Roberta war sich sicher, dass es für sein Verhalten eine Erklärung gab, aber Nicki war für nichts mehr zugänglich.

Roberta begleitete ihre Freundin noch zu deren Auto, und dann blickte sie ihr nach, bis sie um die Ecke verschwunden war.

Graf Hilgenberg Nickis Mathias. Das war schon was, damit hätte auch sie nicht gerechnet. andererseits, der Graf legte ganz offensichtlich keine großen Wert auf seine Kleidung. Er lief immer ein wenig herum wie jemand, der sich nichts Neues erlauben konnte. Doch das hatte er mit den englischen Lords gemeinsam. Wenn man die sah, hatte man auch immer das Gefühl, ihnen etwas Geld geben zu müssen, damit sie sich eine neue Hose, eine neue Jacke oder einen neuen Pullover kaufen konnten. Das war das Understatement, das sie bewusst kultivierten, und Graf Hilgenberg tat es auch.

Hoffentlich kam Nicki heil zu Hause an. Sie hätte sie nicht fahren lassen dürfen.

Roberta wusste, dass sie erst wieder zur Ruhe kommen würde nach Nickis Anruf.

Dumm gelaufen!

Mehr fiel Roberta augenblicklich zu allem nicht ein.

*

Peter Bredenbrock hätte sich gern weiter mit der Freundin der Frau Doktor unterhalten, doch die war plötzlich wie vom Erdboden verschwunden gewesen. Und auch die Frau Doktor hatte dieses Kennenlerntreffen sehr schnell verlassen.

Gut, lange war er ebenfalls nicht geblieben. Maren und Tim waren zu Hause geblieben. Und sie allein zu wissen, ließ ein ungutes Gefühl in ihm aufsteigen. Ilka war unberechenbar, sie stand mit dem Rücken zur Wand, nachdem ihre Träume von einem Leben an der Seite eines jungen Rockmusikers geplatzt waren. Er konnte mit ihr umgehen, doch er wollte nicht, dass Ilka in den Seelen der Kinder einen noch größeren Schaden anrichtete. Maren und Tim waren gerade dabei zu vergessen, was geschehen war und was ihre heile Welt zerstört hatte.

»Papa, hat es dir bei dem Grafen nicht gefallen?«, erkundigte Tim sich.

»Nicht wirklich, ich bin viel lieber mit euch zusammen.«

Das schien die Kinder zu freuen.

Dennoch verhielten sie sich ein wenig merkwürdig, gedrückt. Peter konnte es fühlen. In der kurzen Zeit, in der er nicht zu Hause gewesen war, musste etwas passiert sein.

Ilka?

Sofort gingen alle Alarmglocken bei ihm an.

Er merkte, wie er ein flaues Gefühl in der Magengegend bekam. Und noch während er darüber nachdachte, wie er seine Fragen formulieren sollte, sagte Maren mitten in seine Gedanken hinein: »Papa, die Mama hat angerufen. Sie will sich mit uns treffen.«

Er hatte es geahnt!

Ilka würde alles versuchen, um die Kinder auf ihre Seite zu bringen, und das nicht, weil sie die beiden über alles liebte, sondern weil sie Geld für sie bekommen würde. Was für eine traurige Erkenntnis. Es stimmte. Es stimmte leider.

Und es stimmte auch, dass er den Kindern den Umgang mit ihrer Mutter nicht verbieten konnte. Die Frage des Sorgerechts war noch nicht geregelt. Und was Ilka immer auch getan hatte, sie war und blieb die Mutter von Maren und Tim.

Dr. Peter Bredenbrock war ein ausgezeichneter Pädagoge, er konnte sich sehr gut in seine Schüler hineinversetzen. Er war beliebt.

Das alles zählte jetzt nicht.

Hier war er nicht der beliebte Lehrer, sondern er war ein Vater, der alles für seine Kinder tun würde.

Und was sollte er jetzt tun?

Er hatte keine Ahnung, überhaupt keine Ahnung.

Dass ihr Vater nichts sagte, verunsicherte Maren und Tim noch mehr. Mitten hinein in das Schweigen erkundigte Maren sich ganz zaghaft: »Papa, müssen wir die Mama treffen?«

Peters Kopf ruckte hoch.

Was hatte Maren da gefragt?

Tim mischte sich ein: »Papa, wenn wir es nicht müssen, dann wollen wir es nicht.«

Das sagte Tim, der erklärte Liebling von Ilka?

Peter riss sich zusammen.

Die Kinder wollten es nicht. Sie wollten ihre Mutter nicht treffen, und Ilka konnte deren Seelen nicht wieder vergiften.

»Ihr müsst Mama nicht treffen«, sagte er ruhig. »Ihr müsst das tun, was Ihr für richtig haltet. Aber ihr müsst auch auf mich keine Rücksicht nehmen. Ich meine, ihr müsst nicht darauf verzichten, eure Mutter zu treffen, weil ihr glaubt, dass ich es nicht möchte. Ich habe es euch schon mehr als nur einmal gesagt, dass ich euch sehr liebe, dass ihr für mich das Wichtigste auf der Welt seid. Und daran wird sich niemals etwas ändern. Gefühle für einen Menschen sind einfach da, die stellen sich nicht ein, weil man etwas vollbracht hat, was dem anderen gefällt. Also, wenn ihr …«

Maren unterbrach ihren Vater.

»Papa, Tim und ich haben es für uns entschieden, und das hat nichts mit dir zu tun. Wir möchten Mama nicht sehen. Wir …, wir können ihr nicht mehr vertrauen. Was ist, wenn ihr ein anderer Rockmusiker über den Weg läuft, oder ein Mann, mit dem sie Spaß haben will? Nein, Papa, es war sehr schwer für Tim und mich. Aber du hast uns nicht allein gelassen, du warst immer auf unserer Seite, obwohl wir es dir gewiss nicht leicht gemacht haben. Der Tim und ich haben ganz schön herumgezickt. Und du hast nicht die Nerven verloren. Und dass wir hier in den Sonnenwinkel gezogen sind, das ist schon okay für uns. Du hast dir bestimmt was dabei gedacht.«

Tim mischte sich ein.

»Papa, wir wissen, dass du uns lieb hast, aber wir …, wir …, die Maren und ich …, wir haben dich auch sehr lieb.«

Nach diesem Geständnis war es still.

Peter hatte alle Mühe, jetzt Tränen der Rührung zu unterdrücken. Ja, er hatte viele Opfer für Maren und Tim gebracht.

Er hatte seinen Job, der sehr wichtig für ihn gewesen war, aufgegeben. Er hatte für Maren und Tim ein Umfeld gewählt, von dem er glaubte, dass sie da zu sich finden würden und dass er da besser ein Auge auf sie haben konnte. Er war schließlich ein alleinerziehender Vater. Er war es gern, und er würde alles so, wie es geschehen war, immer wieder tun.

Es hatte sich gelohnt!

Es hatte sich alles gelohnt!

Peter Bredenbrock breitete seine Arme aus, und Maren und Tim flüchteten sich voller Vertrauen hinein.

Es hatte Höhen und Tiefen gegeben. Er war mehr als nur einmal am Ende seiner Kräfte gewesen. Das war alles vergessen.

»Und was fangen wir an mit dem Rest des Tages?«, erkundigte er sich, während er die Kinder noch immer fest umfangen hielt.

Da hatte Tim sofort eine Idee.

»Freizeitpark?«, erkundigte er sich vorsichtig und blickte seinen Vater an.

Der Freizeitpark war nicht unbedingt Peters erste Wahl. Doch heute war er zu allen Kompromissen bereit.

»Möchtest du das auch, Maren?«, erkundigte er sich bei seiner Tochter.

Die lachte.

»Papa, der Freizeitpark geht immer.«

»Also gut, gehen wir in den Freizeitpark«, gab Peter sich geschlagen. Und es dauerte nicht lange, da fuhren Vater, Tochter und Sohn los.

Maren und Tim waren aufgeregt, sie stritten darüber, was ­zuerst unternommen werden sollte, und Peter atmete insgeheim auf. Der Kelch war noch einmal vorübergegangen. Doch er kannte Ilka. Die stand mit dem Rücken zur Wand und würde sich deswegen nicht so einfach geschlagen geben.

Sie würde einen erneuten Versuch unternehmen, und er konnte nichts dagegen tun.

Beinahe gewaltsam schüttelte Peter die Gedanken an seine Noch-Ehefrau ab.

Heute war ein schöner Tag, und den würde er mit Maren und Tim genießen. Das war auf jeden Fall sehr viel besser, als beim Grafen Small Talk zu machen.

Aber mit dieser netten Freundin von der Frau Doktor, mit der hätte er sich gern noch ein wenig länger unterhalten. Sie war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Schade!

Sie war die erste Person, die er seit der Trennung von Ilka bewusst als Frau wahrgenommen hatte. Aber darum musste er sich jetzt wirklich keine Gedanken machen. Auch wenn es schön wäre, eine neue Frau hatte im Grunde genommen in seinem Leben keinen Platz.

Außerdem hatte sie nicht so ausgesehen, als sei sie erpicht darauf, sich einen Mann anzulachen, der zwei pubertierende Kinder im Schlepp hatte.

»Seid ihr fertig?«, erkundigte er sich, und als Tim und Maren das wie aus einem Munde bestätigten, rief er: »Gut, dann können wir los.«

Freizeitpark …

Das war etwas, was die Herzen höherschlagen ließ. Maren und Tim waren noch nie so schnell im Auto gewesen.

*

Roberta wusste nicht, was sie tun sollte, und sie ärgerte sich auch über sich selbst, dass sie Nicki nicht zurückgehalten hatte. Aber die war ja wie besessen gewesen, wegzukommen, und sie war erwachsen.

Roberta hätte ihrer Freundin nicht befehlen können zu bleiben.

Und jetzt saß sie am Telefon und versuchte immerfort, Nicki zu erreichen, die ihr Handy übrigens ausgeschaltet hatte.

Sie wollte mit niemandem reden, auch mit ihr nicht.

Irgendwie hatte sie alles überrollt. Wer hätte auch ahnen können, dass der Graf Hilgenberg der von Nicki gesuchte Mathias war. Da passte nichts zusammen, und aus dem Grund wäre es auch besser gewesen, Nicki hätte nicht fluchtartig das Haus verlassen, sondern sie hätten sich ausführlich über alles unterhalten. Und da gab es Gesprächsbedarf.

Jetzt half es nicht, herumzujammern. Sie konnte nur hoffen, dass Nicki gesund zu Hause ankam und dass sie nichts Unüberlegtes tat.

Roberta blickte auf ihre Armbanduhr.

Nicki hätte längst zu Hause sein müssen.

Ihre Unruhe wuchs, und sie bedauerte unendlich, dass Lars nicht daheim war. Er verstand es ganz wunderbar, einem die Sorgen zu nehmen. Vielleicht hätte Nicki sogar auf ihn gehört.

All diese Gedanken brachten überhaupt nichts.

Vielleicht …, hätte …, wäre …

Als es an ihrer Haustür klingelte, hielt Roberta kurz inne, dann rannte sie los.

Nicki?

Das wäre durchaus möglich, Nicki neigte zu Handlungen, die nicht immer nachvollziehbar waren.

Sie riss die Haustür auf, blickte verblüfft den Besucher an.

Es war Mathias Graf von Hilgenberg.

Mit dem hätte sie nun überhaupt nicht gerechnet, und deswegen blickte sie ihn auch ein wenig entgeistert an.

»Bitte entschuldigen Sie die Störung, Frau Dr. Steinfeld«, sagte er artig. »Darf ich für einen Moment eintreten?«

Natürlich durfte er das.

In ihrem Kopf begann es zu rattern.

Weswegen war er hier?

Roberta bot ihm Platz an, trinken wollte er nichts, und dann kam er auch sofort auf den Grund seines Besuches zu sprechen.

»Frau Dr. Steinfeld, ich würde mich gern mit Ihrer Freundin, mit Nicki, unterhalten. Sie war so plötzlich weg, und ich konnte ihr leider nicht direkt folgen. Schließlich hatte ich meine Verpflichtungen als Gastgeber.«

Roberta erzählte ihm, dass Nicki fluchtartig abgereist war, und sie konnte sich nicht verkneifen zu sagen: »Es war ein wenig verwirrend für Nicki, Sie plötzlich als den Grafen Hilgenberg zu sehen. Sie hat Sie unter anderen Umständen kennengelernt.«

Er nickte.

»Und es war eine wunderschöne Begegnung, die mir unvergesslich geblieben ist. Ich hätte mich bei Nicki gemeldet und hätte alles aufgeklärt, wenn ich erst einmal mein Leben geordnet hätte. Im Chaos fängt man nichts Neues an.«

Es hörte sich alles gut an, und Roberta glaubte dem Grafen auch. Doch es gab da noch einige Ungereimtheiten, und über eine wollte sie sprechen.

»Herr von Hilgenberg, es ist nichts dagegen einzuwenden, dass Sie sich nicht als Graf Hilgenberg geoutet haben. Aber die Sache mit der Currywurst.«

Er blickte sie erstaunt an.

»Mit der Currywurst?«

Roberta gab wieder, was Nicki ihr erzählt hatte, dass sie und Mathias an einer Frittenbude vorbeigelaufen waren, dass er gesagt habe, schon seit Ewigkeiten keine Currywurst mehr gegessen zu haben und dass Nicki angenommen hatte, er habe kein Geld, sich eine Currywurst zu kaufen. Und deswegen habe sie ihn eingeladen.

Nach diesen Worten war es erst einmal still. Das musste der Graf verdauen. Dann erzählte er, dass er tatsächlich lange keine Currywurst mehr gegessen hatte, doch das nicht, weil er das Geld dafür nicht hatte, sondern weil es im Ausland, da, wo er lange gelebt habe, keine Currywurst gab.

Er blickte Roberta an.

»Nicki wollte mich um jeden Preis einladen, ich hatte überhaupt keine Chance, da etwas richtigzustellen. Letztlich habe ich mich einladen lassen, um ihr die Freude nicht zu verderben.«

Roberta glaubte dem Grafen sofort.

Das war so typisch Nicki. So etwas konnte man sich nicht ausdenken.

Jetzt bot sie ihm doch etwas zu trinken an, was er dankbar annahm. Es würde wohl noch ein längeres Gespräch werden.

»Es ist alles ziemlich dumm gelaufen«, bemerkte Roberta, dann erzählte sie ihm, dass Nicki alles daran gesetzt hatte, diesen Mathias erneut zu treffen, und welcher Schock es für sie gewesen war, ihm plötzlich gegenüberzustehen. Nicht dem ein wenig abgerissen wirkenden Mathias, sondern dem Grafen von Hilgenberg.

»So etwas muss man erst einmal verdauen«, schloss sie, und wieder war es erst einmal still.

Er trank etwas, stellte bedächtig sein Glas ab, und Roberta dachte, dass er ein wirklich attraktiver Mann war.

»Ich lege keinen großen Wert auf Kleidung, und wenn ich etwas gern anziehe, dann tue ich es auch, solange es möglich ist. Es war so erfrischend, Nicki zu erleben, und es war wohltuend, dass sie an mir als Mann interessiert war, ohne etwas über mich zu wissen, sie mochte den Mathias. Das hatte ich noch nie zuvor erlebt …, wenn Nicki mich nicht so überrollt hätte, hätte ich vermutlich noch alles richtiggestellt. Doch dann kam eine Frau auf uns zu, sprach Nicki an, und ich …, nun, irgendwie habe ich erst einmal kalte Füße bekommen. Ich bin gegangen, und, wie gesagt, ich hätte mich gemeldet, sehr bald schon. Das Herrenhaus ist fast eingerichtet, und in der Dependance können wir in Kürze anfangen zu arbeiten.«

Roberta war kein neugieriger Mensch, aber es interessierte sie schon, was er da tun würde. In der Siedlung kursierten die wildesten Gerüchte.

Ehe sie eine Frage stellen konnte, sagte er: »Ich habe eine Agentur für Film, Fernsehen und Print, und da habe ich mir einen Namen gemacht. Ich arbeite international auf allerhöchstem Niveau und konkurrenzlos. Wäre das nicht der Fall, könnte ich mir als Firmensitz nicht diese ein wenig …, nun ja …, verträumte Gegend erlauben.«

Es klang interessant, der Graf gewann überhaupt. Sie hatte ihn ganz anders in Erinnerung. Und sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass es seine Art gewesen war, auf die Nicki gehüpft war. Er kehrte nicht den Adeligen mit einem ellenlangen Stammbaum heraus.

Er trank noch etwas, dann wurde er allerdings ungeduldig: »Frau Dr. Steinfeld, wir können uns gern ein anderes Mal unterhalten, und ich gebe Ihnen gern Auskünfte über alles, was Sie wissen möchten. Doch jetzt würde ich gern mit Nicki sprechen, um alles aufzuklären.«

Roberta erzählte ihm, dass sie bislang vergebens versucht hatte, Nicki zu erreichen.

»Dann fahre ich eben zu ihr hin, wo wohnt sie?«

Das brachte Roberta ein wenig in Verlegenheit, und sie sagte ihm, dass sie unmöglich Nickis Adresse herausgeben könne.

»Ich kann nicht einfach über meine Freundin verfügen. Ich muss deren Privatsphäre schützen. Bitte, haben Sie dafür Verständnis.«

So richtig hatte Mathias von Hilgenberg das nicht. Aber er wartete, während Roberta weiterhin versuchte, Nicki zu erreichen. Sie ging nicht ans Telefon, und das Handy blieb abgestellt.

Es war nichts zu machen, und der Graf war ein höflicher, gut erzogener Mann.

»Bitte, reden Sie mit Ihrer Freundin und versuchen Sie, ihr klarzumachen, dass ich eine Chance verdient habe, ihr alles zu erklären. Ich habe Nicki nicht in die Irre geführt, mich zu offenbaren, das hat sich halt nicht ergeben. Und um noch einmal auf die Currywurst zurückzukommen. Das hat sich wirklich so zugetragen, und ich hatte nicht die geringste Chance, Nicki zu erklären, weswegen ich für lange Zeit keine Currywurst gegessen hatte. Vermutlich hätte sie mir nicht einmal richtig zugehört, so besessen war sie von der Idee, mich einzuladen.«

Im Grunde genommen war alles so einfach. Doch würde sie Nicki davon überzeugen können? Roberta war sich nicht einmal sicher, ob es all die Missverständnisse waren, die Nicki so sehr irritiert hatten. Nein, es war vielmehr die Tatsache, dass Mathias ein waschechter Graf mit einem stattlichen Besitz war.

Nicki hatte es wirklich nicht so mit dem Adel.

Doch legte man auch solche Maßstäbe an, wenn man verliebt war? Und das war Nicki doch, sonst hätte sie sich nicht beinahe ein Bein ausgerissen, um Mathias zu finden.

Roberta versprach dem Grafen, sich sofort bei ihm zu melden, wenn sie mit Nicki gesprochen hatte. Und dann würde sich zeigen, ob Nicki sich auf ein Gespräch mit Mathias einlassen würde oder ob sie weiterhin schmollen wollte. Da konnte man bei Nicki leider niemals sicher sein, auch nicht als allerbeste Freundin.

Sie brachte den Grafen noch bis zur Tür. Nachdenklich ging sie zurück in ihr Wohnzimmer, und jetzt schenkte sie sich erst einmal ein Glas Rotwein ein.

Was für eine verrückte Geschichte!

So etwas konnte man sich nicht ausdenken. Das passierte nur im wahren Leben.

Graf Hilgenberg war an Nicki interessiert, keine Frage. Doch ging sein Interesse auch so weit, dass er in Erwägung zog, Nicki einen Antrag zu machen, sie zu seiner Frau zu machen.

Stopp!

Jetzt galoppierten ihre Gedanken aber gewaltig davon. Ihr war bislang überhaupt nicht bewusst gewesen, dass sie eine so romantische Ader hatte.

Ihre Freundin Nikola Beck als Gräfin, Nikola Gräfin Hilgenberg. Das musste man sich auf der Zunge zergehen lassen.

Wenn es sich bewahrheiten würde, dann wäre das beinahe so etwas wie der Prinz auf einem weißen Pferd, der seine Angebetete auf sein Schloss holte. Ein Schloss war das Herrenhaus zwar nicht, aber stattlich und beeindruckend war es schon, und nicht zu vergessen die Felsenburg. Die toppte alles, sogar ein Schloss.

Roberta versuchte erneut, Nicki zu erreichen. Es war wieder vergebens, und jetzt machte sie sich ernsthafte Sorgen. Sie hätte Nicki überreden müssen.

Es wäre nicht gegangen, sie hätte es mit Engelszungen versuchen können, und Nicki hätte nein gesagt. Sie war so aufgebracht gewesen. Viel Lärm um nichts, anders konnte man es nicht nennen. Wäre Nicki geblieben, dann hätte sich alles in Wohlgefallen aufgelöst.

Sie versuchte es erneut, und sie nahm sich vor, es gegebenenfalls die ganze Nacht über zu versuchen, wieder meldete Nicki sich nicht.

Es war wirklich zu dumm!

*

Als Maren aus der Schule kam, entdeckte sie ihren Bruder, der sich hinter dem Fahrradschuppen versteckte und einen verstörten Eindruck machte. Hatte er wieder mal eine Arbeit versemmelt?

Das war leider in letzter Zeit häufiger vorgekommen, aber zum Glück machte ihr Vater deswegen kein Theater. Also gab es keinen Grund, dass er sich versteckte und sich nicht nach Hause traute.

»Tim, wieso bist du noch hier? Du hast doch bereits seit einer Stunde frei?«

Tim war blass und aufgeregt.

»Ich traue mich nicht, den Schulhof zu verlassen«, sagte er leise.

Das war neu.

Dass andere Jungen ihm auflauerten, das war ausgeschlossen. Tim hatte eine sehr verbindliche Art, und er war überall beliebt. Und weil er sehr sportlich war, wollte man ihn auch immer im Team haben.

»Tim, was ist passiert?«

Tim holte Luft.

»Die Mama steht da vorn auf der Straße. Vielleicht will sie uns ja entführen.«

Ihr Bruder!

Manchmal war Tim wirklich noch so richtig klein. Er durfte sie auf jeden Fall nicht mehr diese Filme mit Mord, Totschlag und Entführungen ansehen. Das machte etwas mit ihm, und ihr Papa wäre sicherlich sehr entsetzt, wenn er das wüsste.

»So ein Quatsch, Tim. So einfach geht es in Wirklichkeit nicht, das funktioniert ganz easy nur im Film. Bist du dir sicher, dass es Mama ist?«

Jetzt war Tim empört.

Was sollte denn diese Frage?

»Maren, ich kenne unsere Mama doch. Außerdem erkennt man sie jetzt erst recht an ihren bunten Haaren. Das ist ja so krass, so peinlich.«

Das fand Maren auch. Kein Kind wünschte sich eine Mutter, die wie ein Paradiesvogel aussah. Es wäre anders, wenn sie eine coole Sängerin wäre oder so was, die durften auch bunte Haare haben, doch keine Mutter.

»Bestimmt will sie mit uns reden«, bemerkte Maren, die sich erinnerte, dass das das Anliegen ihrer Mutter gewesen war.

»Das wollen wir doch nicht, Maren.«

Tim war wirklich klein.

»Nein, wir wollen das nicht, aber wir müssen das hinter uns bringen, sonst kommt sie immer wieder. Ich möchte nicht, dass der Papa sich Sorgen macht oder dass er traurig ist.«

Das wollte Tim ebenfalls nicht, also trottete er neben seiner großen Schwester her, die ganz cool war. Tim konnte ja nicht sehen, dass sie ganz schönes Herzklopfen hatte.

Es war wirklich ihre Mutter, die da aus einem Auto stieg, sich ihnen näherte, ihre Arme ausbreitete.

Tim traf Anstalten, in diese Arme zu laufen. Maren hielt ihn gewaltsam zurück.

»Bist du verrückt, Tim?«, zischte sie.

Tim blickte seine Schwester schuldbewusst an. Er hatte für einen Augenblick vergessen, dass nichts mehr so war, wie er es von früher her kannte. Da war er unbeschwert gewesen, hatte sich mehr als nur einmal in die Arme seiner Mama geflüchtet.

Weil nichts passierte, ließ Ilka ihre Arme sinken.

»Hallo Maren, hallo Tim, mein kleiner Liebling …, wollt ihr mich nicht richtig begrüßen?«

Das schlug wirklich dem Fass den Boden aus.

Was erwartete ihre Mutter eigentlich?

Maren warf ihrer Mutter einen erbitterten Blick zu. Dann sah sie sich erst einmal vorsichtig um, nicht etwa, weil sie eine Entführung befürchtete, wie Tim es angedeutet hatte. Nein, sie hoffte, dass niemand vorbeikam, den sie kannte oder gar einer von den Lehrern. Das wäre jetzt voll peinlich. Ihre Mutter fiel auf, und die bunten Haare, die waren wirklich mehr als krass.

»Was willst du?«, herrschte Maren ihre Mutter an. »Wir haben dir doch bereits gesagt, dass du uns in Ruhe lassen sollst. Wir wollen nichts mehr mit dir zu tun haben. Wir haben Papa, und der kümmert sich um uns, der würde uns niemals verlassen.«

Verflixt!

Ilka hatte es sich anders vorgestellt, und sie war wirklich der Meinung gewesen, dass sie nur die Arme ausbreiten musste, und Maren und Tim rannten hinein. Besonders Tim, der war doch stets ein Mama-Kind gewesen.

»Ich bin eure Mutter«, sagte Ilka, und wie sie es aussprach, klang es ein wenig theatralisch und wenig überzeugend.

Tim wollte etwas sagen. Maren kniff ihn so heftig in den Arm, dass er am liebsten aufgeschrien hätte. Er war ein Junge! Die jammerten nicht. Tapfer unterdrückte er seinen Schmerz.

»Wie eine Mutter hast du dich aber nicht verhalten«, Marens Stimme klang wütend, und das war sie auch.

Oh, es würde viel Überzeugungskraft kosten, Maren wieder auf ihre Seite zu bringen. Wie schade, dass sie Tim nicht allein getroffen hatte. Mit dem wäre alles sehr viel einfacher gewesen.

»Nun gut, es war vielleicht nicht richtig, wie ich mich verhalten habe«, gestand Ilka ein, »aber jeder Mensch macht Fehler. Ich wollte halt bloß ein bisschen Spaß haben. Darauf hat jeder Mensch ein Recht.«

Die Kinder antworteten nicht. Maren hielt ihren Bruder fest umklammert, den die Begegnung mit der Mutter sichtlich mitnahm.

»Du kannst machen, was du willst. Es interessiert uns nicht mehr, und jetzt lass uns in Ruhe.«

Ilka wurde wütend.

»Hallo, kleines Fräulein, was ich tue und was nicht, das bestimmst du nicht. Ich bin eure Mutter, und ich habe Rechte. Hat euer Vater euch gegen mich aufgehetzt?«

Jetzt mischte Tim sich ein.

»Nein, das hat der Papa nicht. Das würde er nicht tun.«

Maren fühlte sich durch die Situation sichtlich überfordert. Ilka war, auch als Gunte, ihre Mutter, die jetzt so anders war, die Ansprüche anmeldete, die ihr Angst machten.

»Kinder können entscheiden, wo sie bleiben wollen. Wir haben uns für Papa entschieden. Kapier das endlich und lass uns in Ruhe. Komm nicht mehr her. So, wie du aussiehst, ist es nur …, nur …, nur peinlich.«

Sie wandte sich an ihren Bruder.

»Komm, Tim, wir gehen.«

Die Kinder gingen weg, und Ilka erkannte, dass sie schlechte Karten hatte. Die Kinder würden nicht zu ihr kommen. Und jedes Gericht der Welt würde berücksichtigen, dass sie die Familie verlassen hatte. Das Böswilligkeitsprinzip gab es zwar nicht mehr. Aber wenn die Kinder sich bei einer Befragung für ein Leben bei ihrem Vater entscheiden würden, konnte sie nichts machen. Peter war stets seiner Sorgfaltspflicht nachgekommen, er hatte den Kindern ein Heim geschaffen, er hatte, um für sie da zu sein, sogar seinen anspruchsvollen Job aufgegeben.

Die Fakten sprachen für ihn, keine Frage.

Aber sie brauchte Geld, und Unterhalt für die Kinder wäre eine so wunderbare Lösung gewesen.

Zuerst einmal würde sie sich die bunten Haare wegmachen lassen. Sie fand es zwar cool, aber bei den Spießern ringsum erregte es Anstoß. Sogar Maren und Tim fanden es schrecklich. Na ja, darüber durfte sie sich nicht wundern, die standen unter dem Einfluss ihres Vaters, und der war halt ebenfalls einer von den Spießern.

Während Ilka noch darüber nachdachte, wie sie an Geld kommen konnte, rannten Maren und Tim um die Ecke. Als sie aus der Sicht ihrer Mutter waren, sagte Tim: »Maren, das war ganz schön schrecklich.«

»Ja, Tim, das war es«, bestätigte Maren, »doch da müssen wir jetzt durch. Und ich finde auch, dass wir das dem Papa sagen müssen. Er ist so nett zu uns, wir können so froh sein, ihn zu haben, da hat er auch die Wahrheit verdient.«

Damit war Tim einverstanden.

Die beiden hatten immer ein gutes Verhältnis zu ihrem Vater gehabt, das war lediglich getrübt worden, als er mit ihnen in den Sonnenwinkel gezogen war. Da hatten sie gemeutert. Doch mittlerweile war ihnen klar, dass er nur in ihrem Interesse gehandelt hatte. Und so schlecht war es auch nicht. Sie kannte Pamela Auerbach, und wären sie nicht hergezogen, dann hätten sie auch nicht die nette Angela kennengelernt und deren wirklich coole Mutter, die Sophia.

Es war schon richtig.

Ihre Mutter war der größte Unsicherheitsfaktor in ihrem Leben. Käme der nächste Rockmusiker, würde sie erneut davonlaufen, um ein wenig Spaß zu haben.

»Tim, wir gehen jetzt zu ›Calamini‹ und essen einen riesengroßen Eisbecher. Den haben wir jetzt verdient, der Bus ist weg, und der Papa kommt später nach Hause.«

Eisbecher …

Das klang verlockend, zumal der bei ›Calamini‹ so was von superlecker war.

»Ich hab kein Geld«, sagte er voller Bedauern, »mein Taschengeld ist futsch. Ich habe mir ein neues Spiel gekauft.«

Maren war nicht die Mutter, und sie war auch nur zwei Jahre älter als ihr Bruder. Doch irgendwie hatte sie die Mutterrolle übernommen. Und Tim akzeptierte das. Maren war, abgesehen von ihrem Vater, seine erste Bezugsperson. Und dann gab es zum Glück ja auch noch Angela.

»Tim, du hast so viele Spiele. Warum gibst du dein Geld für einen solchen Quatsch aus? In Kürze ist alles überholt, da sind all die Spiele nichts mehr wert. Doch der Hersteller reibt sich die Hände, weil es Dumme wie dich gibt, die immer das Allerneueste haben wollen. Also gut, ich lade dich ein. Aber denk mal über meine Worte nach.«

Das würde er natürlich nicht. Maren war ein Mädchen, die hatte keine Ahnung, aber es war wirklich super von ihr, dass sie ihn einlud. Er wusste auch schon, was er nehmen wollte. Den Schokoladenbecher mit kleinen Schokoladenstückchen drin, mit Schokosauce und obendrauf Sahne und gehackte Mandeln.

»Danke, dass du das Eis für mich bezahlen willst, Maren«, sagte er. Danach blickte er sich noch einmal vorsichtig um.

Von ihrer Mutter gab es keine Spur, also konnten sie davon ausgehen, dass sie ihnen nicht bis zu ›Calamini‹ folgen würde.

Da saßen immer Schüler, manchmal auch Lehrer, herum. Die Mutter mit den bunten Haaren wäre voll peinlich.

Er wollte nicht an die Mama denken, das tat trotz allem nämlich ganz schön weh.

Das Leben mit Mama und Papa, mit Maren, all den Freunden und dem schönen Haus, das war mega gewesen.

Er wollte nicht traurig sein.

»Was für ein Eis nimmst du denn, Maren?«, lenkte er rasch ab.

Maren war auch aufgewühlt, sie wollte sich jetzt nicht umsonst mit einem Eis belohnen.

»Weiß ich nicht, mal sehen.«

»Ich weiß, was ich nehme«, bemerkte Tim.

Maren warf ihrem Bruder einen Seitenblick zu.

»Das weiß ich auch, du nimmst, wie immer, diesen Schokoladenbecher. Kommt der dir nicht langsam zu den Ohren raus? Es stehen so viele Köstlichkeiten auf der Karte. Probier mal etwas anderes aus, Tim.«

Manchmal war Maren komisch.

»Warum soll ich das denn, wenn mir der Schokobecher mega schmeckt?«

Er hätte jetzt am liebsten noch mehr gesagt, doch das ließ er besser bleiben, sonst überlegte Maren es sich nicht anders und lud ihn nicht ein.

*

Nicki meldete sich von sich aus, und ein solch langes Schweigen hatte es noch nie zwischen ihnen gegeben, nicht einmal, wenn sie Krach hatten, was äußerst selten vorkam.

Roberta machte ihrer Freundin keine Vorwürfe, und sie ließ sie erst einmal ausreden. Überrascht war sie allerdings nicht von dem, was Nicki sagte. Sie wiederholte sich.

Neu war allerdings, als sie sagte: »Roberta, ich bin aus allen Wolken gefallen, als sich herausstellte, dass Mathias dieser Graf ist. Warum hat er diese Schmierenkomödie gespielt? Warum hat er nicht die Karten offen auf den Tisch gelegt?«

Es wäre weitergegangen, wenn Roberta sich nicht eingemischt hätte: »Nicki, Graf Hilgenberg war bei mir. Er wollte mit dir reden. Er hat mich auch um deine Anschrift gegeben, die ich ihm natürlich nicht gegeben habe, weil man so etwas nicht tut. Aber ich habe ihm versprochen, dir all das zu erzählen, was er mir gesagt hat, und ich habe ihm versprochen, mit dir zu reden und dich davon zu überzeugen, dass du dich mit ihm aussprechen sollst, wenn …«

Nicki ließ sie nicht aussprechen.

»Roberta, du fällst mir in den Rücken? Das hätte ich nie von dir gedacht. Buckelst auch du vor diesem Mann, bloß weil er ein Graf ist, so ein Blaublütiger, der glaubt, machen zu können, was er will. Ich sage es noch einmal, auch wenn es drastisch klingt: Der feine Herr Graf hat mich so was von verarscht.«

Nicki war verbittert, enttäuscht. Es war alles anders gelaufen, als sie es sich ausgemalt hatte. Wie es gewesen war, entsprach nicht ihren romantischen Vorstellungen. Sie war sich irgendwie als seine Retterin vorgekommen. Wäre Mathias wirklich der, als den Nicki ihn gesehen hatte, wäre es eh nichts von Dauer gewesen. Nicki war durcheinander, weil Mathias sich als ein Graf entpuppt hatte. Sollte sie doch froh sein, sie hatte sich immer einen Prinzen gewünscht. Nun scharrte er mit den Hufen, und das war ihr auch nicht recht.

»Nicki, kannst du mir jetzt mal eine Weile zuhören, ohne mich zu unterbrechen? Ich bitte darum.«

»Na gut, meinetwegen«, sagte Nicki missmutig. »Obwohl ich nicht weiß, was das bringen soll.«

Ehe Nicki es sich anders überlegte, begann Roberta ihr die Geschichte zu erzählen, die sie vom Grafen erfahren hatte.

»Nicki, er ist immerhin sofort zu mir gekommen, um dich zu treffen, um alles aufzuklären, was dumm gelaufen ist. Dass mit der Einladung zur Currywurst, das hast du zu verantworten. Du warst es, die der Annahme war, dass er kein Geld hatte, um sich die zu erlauben. Hast du auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, dass er keine gegessen hatte, weil er sich dort aufgehalten hatte, wo es die nicht gab? Du hattest ein Bild von ihm. Und er hat es genossen, dass sich eine Frau für ihn als Mann interessierte, nicht für den Grafen mit einem entsprechenden Background.«

Es klang alles sehr vernünftig. Aber Nicki wollte nicht vernünftig sein. Sie hatte sich etwas zurechtgelegt, und das war nicht in Erfüllung gegangen. Und jetzt verhielt Nicki sich ein wenig wie ein kleines Mädchen, dessen Träume zerplatzt waren.

»Er hatte Zeit, es aufzuklären. Er wusste, dass er mich über dich erreichen konnte. Ich habe es ihm gesagt.«

»Nicki, auch dafür hat er eine plausible Erklärung. Er musste sich erst im Herrenhaus einrichten, und dann musste er dafür sorgen, dass er in der Dependance seine Firma etablieren konnte.«

»Hör auf damit, Roberta. Alles ist ihm wichtiger als ein Treffen mit mir. Und wer weiß denn schon, wann das erfolgt wäre, hätte er mich nicht zufällig in diesem dämlichen Zelt getroffen.«

Nicki war verbohrt. Manchmal konnte sie wirklich stur sein wie ein Esel.

Roberta musste sich jetzt zusammenreißen, um nicht die Geduld zu verlieren.

»Nicki, Graf Hilgenberg ist kein romantischer Träumer, sondern ein gestandener Mann, der Prioritäten setzen muss. Jeder Mensch, der nur etwas Verstand hat, wird in dieser Reihenfolge vorgehen.«

»Ja aber …«

»Nicki, kein aber. Es liegt jetzt bei dir, dich mit ihm in Verbindung zu setzen, ich bin da raus, ich werde ihm allenfalls sagen, dass ich mit dir gesprochen habe. Ich gebe dir jetzt seine Telefonnummer. Die Adresse hast du. Wenn du gescheit bist, dann hörst du auf, herumzuzicken. Graf Hilgenberg ist ein toller Mann, er ist daran interessiert, dich zu sehen, mit dir zu sprechen. Das ist der erste Schritt. Und dann kann man sehen, was sich ergibt.«

Nicki sagte nichts, und Roberta zwängte ihrer Freundin die Telefonnummer des Grafen förmlich auf. Sie war ein wenig ungehalten. Erst das Theater um diesen Mathias, und jetzt, wo sie ihn gefunden hatte, war es auch nicht richtig, weil er nicht ihren Vorstellungen entsprach. Was wollte Nicki? Das wusste sie vermutlich selbst nicht. Roberta hätte ihr am liebsten gesagt, dass sie sich gefälligst einen Mann backen sollte.

Roberta hatte keine Lust, noch länger mit Nicki über dieses leidige Thema zu sprechen. Dabei könnte es so schön sein, so romantisch. Nicki und der Graf waren voneinander angetan, es konnte etwas daraus werden.

»Nicki, verbaue es dir nicht wieder, weil du verquere Gedanken im Kopf hast.« Sie sprach aus, was sie eben gedacht hatte, und sie fügte hinzu: »Nicki, irgendwo ist es wie ein Wunder, und das Schöne an Wundern ist, dass sie tatsächlich manchmal passieren. Das ist doch das, was du glaubst, was du dir erhoffst …, ich muss das Gespräch jetzt beenden, weil ich arbeiten muss. Ich bin deine beste Freundin, ich will demzufolge auch das Beste für dich. Ruf den Grafen Hilgenberg wenigstens an.«

Nicki wusste noch nicht, ob sie es wirklich tun würde, doch sie wollte jetzt ihre Ruhe haben, alles überdenken, was sie gerade überrollt hatte wie eine Lawine.

»Meinetwegen werde ich ihn anrufen, das kannst du ihm sagen. Es ist auf jeden Fall gut, dass du ihm nichts über mich preisgegeben hast.«

Sie wechselten noch ein paar Worte miteinander, dann beendeten sie das Gespräch.

Ehe Roberta sich wieder ihrer Patientenakte zuwandte, die nach Feierabend noch einmal durcharbeiten wollte, dachte sie an Nicki. Die stand sich, was Männer betraf, manchmal wirklich selbst im Weg. Dabei war Nicki ein Frauentyp, auf den die Männer flogen. Sie hatte schon viele Männerbekanntschaften gemacht, sie hatte sich verliebt, doch der Mr Right war nie darunter gewesen. Meistens war es im Chaos geendet.

Was hinderte Nicki daran, sich jetzt wenigstens auf ein Gespräch mit Mathias von Hilgenberg einzulassen? Der Grafentitel, das Anwesen unterhalb der Felsenburg, das machte aus ihm doch keinen anderen Menschen. Das waren Äußerlichkeiten, die zu überwinden waren. Einen Versuch war es wert. Und Zugeständnisse musste man immer machen. Das sah man bei ihr und Lars. Sie liebten sich, waren Partner, die sich auf Augenhöhe begegneten. Er war ihr Seelenpartner, er war ihr Seelenmensch, er war schlechthin das, was eine Frau sich erträumte. Und dennoch hatte diese große Liebe Schönheitsfehler. Ihr Traum war, Lars zu heiraten, Kinder mit ihm zu bekommen. Und dieser Traum würde sich nie erfüllen. Davon war Roberta mittlerweile überzeugt. Lars war der einsame Wolf, der seinen Freiraum brauchte, der lieben konnte, der sich aber nicht reinlegen lassen wollte.

Roberta hatte es längst begriffen, und sie hatte sich für das entschieden, was Lars ihr geben konnte.

Warum war Nicki so stur?

Der Titel, sein Anwesen, das spielte keine Rolle. Warum war sie nicht bereit, sich auf ihn einzulassen. Warum wollte sie nur das sehen, was sie sehen wollte?

Sie war hinter Mathias her gewesen wie der Teufel hinter der Seele. Um ihn zu finden, hatte sie jeden Hokuspokus mitgemacht, sie hatte Geld aus dem Fenster geworfen für Wahrsager, für Kartenleger, für Kaffeesatzleser und noch mehr.

Nein!

Sie durfte sich da nicht hineinsteigern. Nicki war erwachsen, sie musste wissen, was sie tat. Was allerdings manchmal falsch war. Sie würde noch einmal mit ihr reden, und danach würde sie dem Grafen berichten, was sie erreicht hatte.

So, und jetzt genug davon.

Sie schlug die Krankenakte auf. Die Patientin hatte eine Rheumatoide Arthritis, also einen klassischen Gelenkrheumatismus. Die Patientin war neu, und bei ihr war eine ganze Menge vermurxt worden.

Es dauerte nicht lange, da hatte Roberta ihre Freundin Nicki, den Grafen Hilgenberg vergessen. Ja, sie dachte nicht einmal mehr an ihren Lars, und das wollte etwas heißen …

*

Ein großer Eisbecher half immer. Maren und Tim fühlten sich beide besser. Doch wie sehr sie die Begegnung mit ihrer Mutter bewegte, war daran zu erkennen, dass sie das Thema vermieden, nicht mehr darüber sprachen. Es saß ihnen noch in den Knochen, und Maren und Tim waren noch nicht alt genug, um zu wissen, dass über etwas zu schweigen keine Lösung war.

Es saß in ihnen, es machte ihnen Angst, weil sie keine Ahnung hatten, was ihre Mutter als Nächstes tun würde.

Es war eine sehr vertrackte Situation, und ewig hielt die Freude über den Eisbecher nicht an. Es holte sie ein.

Dr. Peter Bredenbrock merkte sofort, dass mit seinen beiden Sprösslingen etwas nicht stimmte – auch wenn sie sich große Mühe gaben, sich nichts anmerken zu lassen.

»Was ist los?«, erkundigte er sich. »Habt Ihr eine Arbeit verhauen? Gibt es Stress mit einem Lehrer, mit Mitschülern? Heraus mit der Sprache. Ihr wisst doch, nur Sprechenden kann geholfen werden, und nichts kann so schlimm sein, dass man nicht darüber reden kann.«

So war er, ihr Vater, immer nett, nun ja, meistens, in letzter Zeit hatten sie sich super verstanden, waren sie ein gutes Team gewesen.

Maren und Tim sahen sich an, dann sagten sie beinahe wie aus einem Munde: »Wir haben die Mama gesehen, sie war vor der Schule.«

Peter Bredenbrock wurde blass.

Konnte Ilka nicht aufhören, auf den Kinderseelen herumzutrampeln? Warum sprach sie sich nicht mit ihm ab? Was erhoffte sie sich von solchen Aktionen? Sie hatte in den Kindern ein nicht zu übersehendes Durcheinander angerichtet.

»Sie will uns zu sich holen«, rief Tim ganz aufgeregt.

»Wir haben gesagt, dass wir bei dir bleiben wollen, auf jeden Fall«, erklang Marens Stimme.

Die Kinder waren verwirrt, sie hatten Angst.

Peter hätte Ilka am liebsten in der Luft zerrissen. Sie hatte wirklich das Gemüt eines Fleischerhundes. Immer sah sie nur sich. Zuerst hatte sie Spaß haben wollen, und jetzt brauchte sie die Kinder, um an Geld zu kommen. Wie widerlich das war.

Peter riss sich gewaltsam zusammen, ließ die Kinder nicht merken, wie es in ihm aussah. »Bitte, erzählt mir, was geschehen ist.«

Dieser Aufforderung kamen Maren und Tim sofort nach. Sie erzählten ihrem Vater, zu dem sie ein großes Vertrauen hatten, alles, was sich zugetragen hatte.

Er versuchte, seine Kinder zu beruhigen. »Es wird nichts geschehen, was ihr nicht wollt, da müsst ihr überhaupt keine Sorgen haben.«

Dann unterhielt er sich sehr lange und eindringlich mit Maren und Tim. Es gelang ihm, die beiden zu beruhigen, und er war ganz gerührt, als Maren ihn umarmte und sagte: »Papa, es ist so schön, dass es dich gibt.«

Peter war gerührt, und das war er noch mehr, als Tim sagte: »Papa, das finde ich auch. Du bist der beste Papa der Welt, und die Maren und ich, wir möchten niemals von dir weg.«

Ein größeres Kompliment gab es nicht.

Sie unterhielten sich noch eine Weile, danach hatten Maren und Tim es eilig, zu Angela und Sophia von Bergen zu kommen. Peter war sich sicher, dass sie den beiden Frauen alles brühwarm erzählen wollten. Zwischen ihnen herrschte ein ganz enges Vertrauensverhältnis, und ganz besonders Tim fühlte sich zu Angela hingezogen, und er war noch immer der Meinung, dass Angela die perfekte Frau für seinen Papa wäre, wenn sie ein paar Jahre jünger wäre.

Es war Peter ganz recht, dass er allein im Haus war und es für das, was er plante, keine Zeugen hatte.

Er musste mit Ilka reden. Und diesmal würde er es tun, ohne ein Läppchen darum zu machen. Sie hielt sich an keine Absprachen, und sie sollte merken, dass er auch anders konnte.

Er rief sie an, und sie meldete sich auch sofort. Als sie mitbekam, wer der Anrufer war, wurde sie direkt aggressiv.

Sie glaubte wohl, dass Angriff die beste Verteidigung war.

»Du hast die Kinder ja ganz schön gegen mich aufgehetzt, Peter. Was immer du auch tust, es wird dir nicht helfen. Ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um das Sorgerecht, das alleinige, wohlgemerkt, zu bekommen. Und ich werde es schaffen, denn Kinder in dem Alter gehören nicht zum Vater, die gehören zur Mutter.«

Peter wurde bei solchen Worten übel. Er konnte nicht begreifen, dass er diese Frau einmal geheiratet hatte. Ilka musste durch eine Gehirnwäsche gegangen sein, anders war es nicht zu erklären.

»Ilka, warum hast du nicht daran gedacht, als du abgehauen bist, um Spaß zu haben?«

Ilka antwortete nicht sofort, doch dann wetterte sie los. Er solle ihr das nicht ewig vorwerfen und nachtragen, sie sei wieder da, wolle die Kinder, und während ihrer Abwesenheit sei es ihnen schließlich nicht schlecht gegangen.

Am liebsten hätte Peter jetzt das Gespräch beendet. Es war unerträglich. Doch es ging nicht um seine Befindlichkeiten. Es ging um Maren und Tim, und er war wild entschlossen, um die beiden zu kämpfen.

Er versuchte, ganz ruhig zu bleiben, als er sagte: »Ilka, schminke es dir ab. Du wirst das Sorgerecht für Maren und Tim niemals bekommen. Doch ich mache dir einen Vorschlag.«

Sofort wurde sie hellhörig.

»Und der wäre? Aber ich sag dir gleich. Ich bin nicht blöd, ich lasse mich von dir nicht übers Ohr hauen.«

Es fiel ihm immer schwerer, ruhig zu bleiben.

»Ilka, ich habe doch noch überhaupt nichts gesagt. Und hast du einen Grund dafür, anzunehmen, dass ich dich übers Ohr hauen will?«

»Früher nicht, aber jetzt hat sich die Situation verändert, du willst mich ja nicht mehr. Da muss ich sehen, wo ich bleibe, und wenn sich die Gelegenheit bietet, dann werde ich mein Fell so teuer wie möglich verkaufen.«

Es fehlte nicht viel, und Peter hätte das Gespräch Knall auf Fall beendet. Aber die Kinder! Er musste an sie denken.

»Ilka, mal hypothetisch gesehen, du bekämst das Sorgerecht für Maren und Tim. Was würde das bedeuten? Maren ist fünfzehn Jahre alt, du bekämst also für sie den Unterhalt für drei Jahre, und für Tim wären es fünf Jahre. Und um das Geld geht es dir doch, Ilka, nicht um die Kinder. Mein Vorschlag ist, ich zahle dir den Unterhalt für die gesamte Zeit auf einen Schlag, obwohl ich das nicht müsste. Du verzichtest notariell auf die Kinder. Es sei denn, Maren und Tim überlegen es sich anders und wollen zu dir, dann gilt in erster Linie das Kindeswohl. Und wenn du in eine sofortige Scheidung einwilligst, dann lege ich noch etwas drauf, ohne dass du einen Anspruch hast. Das kannst du dir überlegen, informiere mich zeitnah, und dann können wir das über die Bühne bringen.«

Es gab eine kleine Pause, Ilka musste das erst einmal verdauen, dann erkundigte sie sich misstrauisch: »Und wo ist der Haken?«

»Es gibt keinen Haken, ich möchte, dass die Kinder zur Ruhe kommen, und ich möchte die Vergangenheit hinter mich bringen, wieder frei sein.«

»Für eine Neue?«, erkundigte Ilka sich sofort, obwohl sie das ja überhaupt nichts anging.

»Es gibt keine Neue«, antwortete er sofort, doch er konnte es nicht verhindern, dass sich vor sein geistiges Auge ein Gesicht schob, ein wunderschönes Gesicht, das zu einer Frau gehörte, die ihn sofort interessiert hatte. Die Freundin der Frau Doktor. Merkwürdig, dass er jetzt an sie denken musste. Damit war für Ilka das Thema beendet.

»Und wann bekomme ich die Kohle?«, erkundigte sie sich, und jetzt wurde Peter wirklich schlecht. Er hatte es geahnt, und nun hatte er die bittere Bestätigung. Es war Ilka nicht einen Augenblick um Maren und Tim gegangen, sie hatte sie nur einsetzen wollen, um an Geld zu kommen.

»Wenn du unterschreibst, wenn es notariell beglaubigt ist, dann bekommst du das Geld sofort.«

Da musste sie nicht länger überlegen.

»Okay, dann mach direkt einen Termin, und bleib bei dem, was du gesagt hast.«

Darauf antwortete er nicht.

»Ich sag dir Bescheid, rechne in den nächsten Tagen mit einem Anruf.«

Dann verabschiedete er sich kaum von ihr, er wollte das Gespräch bloß beenden.

Es würde ihn viel Geld kosten, das er nicht zahlen müsste. Doch was war Geld denn schon? Es war nicht mehr als willkürlich bedrucktes Papier. Und wenn er sich damit die Freiheit erkaufen konnte und vor allem das Seelenheil seiner Kinder …, dafür würde Peter alles hergeben, was er besaß.

Eigentlich hätte er jetzt noch den Mathetest der Schüler der Oberstufe nachsehen müssen. Er war dazu nicht in der Lage, und so etwas war noch nie zuvor vorgekommen. Aber er war auch noch nie zuvor in einer solchen Situation gewesen.

Ilka war ein geldgieriges Monster!

Es war eine bittere Erkenntnis, die noch bitterer war, wenn man bedachte, dass dieses Monster die Mutter der gemeinsamen Kinder.

Marens und Tims sehnlichster Wunsch war, unbedingt nach Paris fahren zu wollen. Leider nicht, um dort in den Louvre zu gehen und sich all die großartigen Sehenswürdigkeiten anzusehen. Nein, sie wollten nach Paris, um dort Disneyland zu besuchen. Und das hatte Peter bislang kategorisch abgelehnt. Er wollte sich überwinden, er würde Maren und Tim deren Herzenswunsch erfüllen. Und das tat er nicht, um bei ihnen zu punkten. Das war nicht nötig, ihr Verhältnis zueinander war mittlerweile sehr gut. Sie zogen an einem Strang, und die Kinder hatten längst begriffen, dass er nur ihr Bestes wollte. Es war nicht Weihnachten, keiner von den beiden hatte Geburtstag. Es brauchte nicht immer einen bestimmten Anlass, um Wünsche zu erfüllen.

Trotz all seines Elends lächelte er.

Maren und Tim würden Augen machen, wenn er ihnen das erzählte, was er gerade beschlossen hatte. Hoffentlich kamen sie bald von Angela und Sophia von Bergen zurück.

So, und nachdem das jetzt klar war, sprach nichts dagegen, sich doch an die Korrektur des Mathetests zu machen. Es interessierte ihn, wie der Test ausgefallen war.

Dr. Peter Bredenbrock war nicht nur ein Vater, der sehr am Wohl seiner beiden Sprösslinge interessiert war. Nein, er war auch ein ganz besonderer Lehrer, der alles daransetzte, alle Schüler in seinen Fächern durchzubringen. Und bislang war ihm das durch ein besonderes Engagement auch stets gelungen. Darauf konnte er stolz sein.

Disneyland …

Das war nicht seine erste Wahl, doch er würde in den sauren Apfel beißen. Maren und Tim brauchten ganz einfach etwas zum freuen.

Er würde Ilka das Geld geben, damit endlich Frieden einkehrte, und er würde dafür sorgen, dass sie sich den Kindern nicht mehr näherte, wenn die es nicht wollten. Ob er nun freiwillig viel Geld zahlte oder nicht. Darauf kam es nicht an. Es war entscheidend, was Maren und Tim wollten. Und er wäre der Letzte, der ihnen den Umgang mit ihrer Mutter verbieten würde.

So, und jetzt genug davon. Er griff nach der ersten Arbeit.

*

Es war schon erstaunlich, wie sich manchmal im Leben alles scheinbar mühelos fügte. Rosmarie Rückert hätte niemals für möglich gehalten, dass ein Besuch im Tierheim, der Blick in zwei große braune Hundeaugen ihr Leben verändern würde. Und doch war es so.

Missie hatte auf ihren Weg kommen müssen.

Richtig musste man wohl staunen, was den Weg von Heinz betraf. Zwischen Missie und ihm war es Liebe auf den ersten Blick gewesen, und das hielt an.

Beauty war eher der Hund von Rosmarie, Missie gehörte zu Heinz. Sie machten gemeinsame Spaziergänge mit den Hunden. Spaziergänge …

Rosmarie konnte sich überhaupt nicht daran erinnern, wann es die vorher gegeben hatte.

Heinz und sie waren überhaupt näher zusammengerückt. Sie verbrachten viel Zeit miteinander, unterhielten sich. Sie sprachen über vieles. Ein Thema allerdings sparten sie aus. Und das war das Dach des Tierheims. Heinz stand zu seinem Wort, er hatte den Auftrag erteilt, er würde das Dach bezahlen. Ein zweites Mal würde er es allerdings nicht tun. Davon war Rosmarie fest überzeugt. Er hatte sich im Überschwang der Gefühle dazu hinreißen lassen. Das war eine Ausnahme gewesen, mit den Gefühlen hatte Dr. Heinz Rückert, der Notar, es nicht so. Er war eher ein Verstandesmensch. Was sollte es. So schnell würde das Tierheim kein zweites Dach benötigen. Und ansonsten machte sie sich keine Sorgen. Hier und da eine kleine Spende würde Rosmarie ihrem Göttergatten schon noch aus dem Kreuz leiern, und ansonsten hatte sie noch genügend, was man zu Geld machen konnte, Schuhe, Taschen, Outfits und noch Schmuck. Sie hing an nichts mehr, sie hatte genug davon. Und ihr Geschmack hatte sich geändert. Es war für sie nicht mehr wichtig, dass für sie der rote Teppich ausgerollt wurde, wenn sie kam und wenn sie in den Geschäften ihre Bankkarte glühen ließ. Vorbei. Dieser Zeit trauerte sie nicht nach. Es ärgerte sie nur, dass sie so töricht gewesen war zu glauben, mit all diesen Einkäufen könne man sich Glück und Zufriedenheit ins Haus holen. Früher hatte sie über Inge Auerbach oftmals gelächelt. Das hatte sich ebenfalls geändert. Inge hatte es richtig gemacht, sie hatte die richtigen Prioritäten gesetzt. Es war schön, dass sie sich mittlerweile so gut miteinander verstanden. Sie würde Inge mal wieder besuchen müssen. Dazu hatte sie in letzter Zeit kaum Gelegenheiten gehabt, weil sie die Zweisamkeit mit ihrem Heinz genoss. Ja, so war es. Sie genoss das Beisammensein mit ihrem Ehemann, und ihm schien es nicht anders zu gehen.

Es war verrückt!

Es waren die Hunde, die sie zusammengeführt hatten. Rosmarie hätte so etwas niemals für möglich gehalten. Wenn es so einfach war, dann konnte man sich ja teure Therapeuten ersparen. Man musste nur ins Tierheim gehen und einem Hund eine neue Heimat geben, So einfach war es natürlich nicht. Doch darüber wollte Rosmarie jetzt auch nicht nachdenken.

Heinz, sie und die Hunde waren auf einem extra für Hunde ausgewiesenem Spielplatz. Und es war eine Freude, mit anzusehen, wie Missie und Beauty mit anderen Hunden herumtollten.

Rosmarie und Heinz saßen auf einer Bank und schauten dem lustigen Treiben zu.

»Rosmarie, ich finde, unsere beiden sind die schönsten Hunde von allen.«

Das war zwar nicht der Fall, doch wenn Heinz es hören wollte, wenn sie ihm dadurch eine Freude machte, wollte sie es gern bestätigen. »Ja, mein Lieber, das finde ich auch.«

Heinz war zufrieden, Rosmaries Gedanken begannen zu wandern.

Stella hatte sich noch immer nicht gemeldet. Diese Tatsache hatte sie verdrängt, weil es so viel Neues in ihrem Leben gegeben hatte. Jetzt überkam es sie mit voller Wucht, und es machte sie sehr, sehr traurig.

Heinz Rückert bemerkte die Veränderung seiner Frau. Er blickte sie prüfend an.

»Was ist los, Rosmarie? Was hast du?«

Sollte sie mit ihren trüben Gedanken seine gute Laune jetzt verderben? Sie entschloss sich, es nicht zu tun, ihm nicht zu sagen, woran sie gerade gedacht hatte.

»Ach, nichts«, wehrte sie deswegen ab.

Aber Heinz wäre nicht Heinz, wenn er das jetzt so im Raum stehen ließe. Er war Notar. Gründlichkeit gehörte zu den Tugenden seines Berufes. Außerdem kannte er seine Rosmarie, sie waren lange genug miteinander verheiratet.

»Heraus mit der Sprache, Rosmarie. Ich sehe doch, dass dich etwas beschäftigt.«

Heinz würde es immer wieder hinterfragen. Auch wenn sie dadurch seine Laune verdarb, hatte sie keine Chance, jetzt nichts zu sagen.

»Ich musste an Stella denken«, sagte sie, »und es macht mich so traurig, dass sie es nicht für nötig hält, uns über diese große Veränderung in ihrem Leben zu informieren. Sie war mit Jörg verheiratet, sie hat ihn wegen eines anderen Mannes verlassen. Sie ist mit diesem Menschen und den Kindern nach Brasilien gegangen. Das ist elementar. Man kann sich nicht herausreden damit, es vergessen zu haben. Und wir sind die Eltern.«

Heinz umfasste die Schulter seiner Frau. Das hatte er seit gefühlten Ewigkeiten nicht getan, und Rosmarie war erstaunt, wie wohl sie sich dabei fühlte.

»Rosmarie, ich finde ebenfalls nicht richtig, wie unsere Tochter sich verhält, und ich war deswegen auch ganz schön sauer, habe überreagiert, mit Enterbung gedroht. Eine derartige Reaktion war kindisch. Auch als Eltern dürfen wir nicht in das Leben unserer erwachsenen Kinder eingreifen. Wir müssen es hinnehmen, und auch mir gefällt es nicht, dass sie Jörg verlassen hat. Der ist ein guter Mann, er hat immer für seine Familie gesorgt, er hat alles für Stella und die Kinder getan. Ob es dumm war, diesen Mann zu verlassen, um mit einem anderen Mann nach Brasilien zu gehen …, das kann unsere Meinung sein. Stella sieht es offensichtlich anders. Rosmarie, wir haben gewiss nicht alles richtig gemacht. Schlauer ist man immer hinterher.

Irgendwann wird Stella sich melden, und wenn nicht, dann können wir auch nichts tun. Wir dürfen dieser Geschichte keinen zu großen Platz in unserem Leben geben. Ich habe mit Cecile telefoniert. Sie hat uns auf den Landsitz der Raymonds an der Côte d’Azur eingeladen.«

Er warf ihr einen Seitenblick zu.

»Und weißt du was, Rosmarie? Ich habe für uns zugesagt. Wir dürfen sogar Beauty und Missie mitbringen. Cecile möchte Missie unbedingt kennenlernen. Außerdem möchte sie dich und mich sehr gern wiedersehen. Ehrlich gesagt, ich habe ein ziemlich schlechtes Gewissen. Ich habe Cecile sehr vernachlässigt. Dabei ist es ein Geschenk, einen so wunderbaren Menschen als Tochter zu haben. Du hast ein engeres Verhältnis zu ihr als ich. Das muss sich ändern. Also, was hältst du davon? Ich habe für sechs Wochen zugesagt.«

Rosmarie glaubte, sich verhört zu haben.

Sechs Wochen?

Diese Zusage hatte ihr Heinz gemacht?

Natürlich wäre es großartig. Sie mochte Cecile sehr, das Anwesen der Raymonds war ein Traum.

Aber …

»Heinz, bist du dir sicher, dass du für sechs lange Wochen dein Büro verlassen kannst?«

Er wusste, worauf Rosmarie anspielte. Es hatte unendlich viele Diskussionen, auch Kräche gegeben in der Vergangenheit.

»Ich habe einen großartigen Vertreter, der lange schon mit den Hufen scharrt, um meine Nachfolge antreten zu dürfen. Ich habe ihm die Verantwortung für das Büro gegeben, und nach den sechs Wochen werde ich sehen, ob er es gut gemacht hat. Und dann kann ich mich immer mehr ausklinken.«

Rosmarie warf ihrem Ehemann einen prüfenden Blick zu. Hatte Heinz etwas eingenommen? Es war doch nicht ihr Ehemann, der das von sich gegeben hatte. Das musste ein anderer gewesen sein.

»Heinz …, woher kommt dieser Sinneswandel? Ich versuche seit Ewigkeiten, dich aus deinem Büro wegzulocken, bislang vergebens, du hattest immer Ausflüchte. Und jetzt das. Was ist passiert?«

»Ich kann nur sagen … Missie …, durch diesen kleinen Hund ist mir bewusst geworden, dass das Leben mehr bietet als nur das Studium von Akten, das Verlesen von notariellen Verträgen. Und mir ist bewusst geworden, wie einfach es im Grunde genommen ist. Die Spaziergänge mit dir und den Hunden, die schönen Gespräche, die wir dabei geführt haben. Das entschleunigte Leben. Ich genieße es. Und dann ist allerdings noch etwas geschehen. Ich habe zufällig Werner Auerbach getroffen, und wir haben uns sehr lange unterhalten. Der hat ja schon vor einiger Zeit eine gewaltige Kehrtwende gemacht, und das bereut er nicht einen Tag. Er hat es loslassen können, arbeitet nur noch auf Schmalspur, und er genießt es. Und du weißt, dass Werner ein international bekannter und sehr geschätzter Wissenschaftler ist. Ich habe darüber nachgedacht, und dann kam ich zu dem Entschluss, dass ich als Notar in einer kleinen Provinzstadt doch ebenfalls das tun kann, was einem großen Professor gelungen ist.«

Rosmarie war so perplex, dass sie erst einmal überhaupt nichts sagen konnte. Heinz und sie hatten sich mit den Jahren auseinandergelebt, sie waren eine gut funktionierende Zweckgemeinschaft gewesen. Sie merkte, wie ihr Herz vor lauter Aufregung heftig zu klopfen begann.

Das war eine Chance für einen Neuanfang!

Es war die große Chance von einem Auseinander zu einem Zueinander. Auf der gemeinsamen Strecke eines langen Weges hatten Rosmarie und Heinz sich ziemlich aus den Augen verloren. Es war seit langer Zeit kein Miteinander mehr, sondern eher ein Nebeneinander. Es hatte funktioniert, mehr nicht. Rosmarie war die Kluft, die sich zwischen ihnen immer weiter auftat, bewusst gewesen, weil sie sich verändert hatte. Heinz war stehen geblieben. Und auf einmal geschah das, womit sie nicht in ihren kühnsten Träumen gerechnet hätte.

Heinz bewegte sich auf sie zu!

Rosmarie war vollkommen überwältigt, und sie konnte gerade mal seinen Namen hauchen: »Heinz.«

Es war ein magischer Augenblick.

Heinz zog seine Frau näher zu sich heran. Es wirkte ein wenig unbeholfen, doch es war unglaublich schön. Und dann küsste er sie.

Er küsste sie, trotz der Menschen, die vorübergingen, trotz der zahlreichen Hundebesitzer ringsum. Es interessierte ihn nicht, auch nicht, dass man ihn erkannte. Er war schließlich wer in Hohenborn.

Dr. Heinz Rückert wuchs über sich hinaus, und Rosmarie Rückert, seine Ehefrau, glaubte zu träumen. Sie erinnerte sich an früher, als es mit ihnen begonnen hatte.

So ähnlich war sein erster Kuss gewesen. Wie lange lag das schon zurück, und was hatte sich nicht alles ereignet.

In diesem Moment war alles vergessen. Heinz küsste sie, das gefiel ihr, es gefiel ihr sogar sehr, und deswegen erwiderte sie seinen Kuss.

Und das Unglaubliche geschah!

Die Schmetterlinge begannen zu fliegen …

Ringsum bellten fröhlich die Hunde. Beauty und Missie kamen auf sie zugelaufen. Sie bellten, in der freudigen Erwartung, ein paar Streicheleinheiten oder gar ein Leckerli zu bekommen. Sie merkten es nicht.

Für die Hunde war es nicht so gut, doch für Rosmarie und Heinz war es ein Zeichen, ein Zeichen, ein Signal für einen Neustart. Das war gut, sehr gut sogar.

*

Mit Nicki und dem Grafen Hilgenberg war alles in der Schwebe. Roberta konnte sich jedoch darüber nicht weiter den Kopf zerbrechen. Sie hatte ihre Pflicht getan. Sie hatte ihrer Freundin zugeredet, mit dem Grafen doch wenigstens ein Gespräch zu führen, und ihm hatte sie erzählt, was ihre Gespräche mit Nicki ergeben hatten. Vielleicht würde sie sich bei ihm melden, vielleicht auch nicht. Damit hatte sie jetzt nichts mehr zu tun, und mit seiner Enttäuschung musste Graf Hilgenberg allein fertigwerden. Sie hatte überhaupt keine Ahnung, ob der Graf Nicki treffen wollte, um alles zu erklären oder ob er ernsthaft an ihr interessiert war. Es würde sich zeigen oder auch nicht.

Roberta hatte derzeit ganz andere Sorgen.

Im Sonnenwinkel tobte eine Grippewelle, und sie hatte alle Hände voll zu tun. Sie und die unermüdliche Ursel Hellenbrink konnte dem Himmel nur danken, dass sie bislang von der Grippe verschont geblieben waren.

Roberta war richtig froh, dass der letzte Patient an diesem Nachmittag keine Grippe hatte. Er hielt sich zufällig im Sonnenwinkel auf, er war auf der Durchreise, war beim Aussteigen aus seinem Auto hingestürzt und hatte sich am Handgelenk verletzt. Nun wollte er wissen, ob es gebrochen war. Roberta war zwar keine Orthopädin, doch diese Diagnose konnte sie stellen, weil sie eindeutig war. Der Mann hatte sich zum Glück nichts gebrochen, es war eine Verstauchung. Sie sagte ihm, was er tun sollte, und eigentlich hätte er jetzt gehen können. Er tat es nicht, sondern er erkundigte sich: »Wer hat dieses großartige Bild in Ihrem Wartezimmer gemalt? Ich konnte nichts auf der Leinwand erkennen.«

Roberta wusste direkt, worüber er redete. Es war das Bild, das Alma für sie gemalt hatte.

Sie antwortete nicht sofort, deswegen sprach er weiter. »Frau Doktor, ich bin Kunsthändler, und immer auf der Suche nach Neuem. Dieses Bild ist großartig. Es ist nicht perfekt gemalt, aber es fängt die Stimmung total ein, es ist berührend, und das ist manchmal wichtiger als Perfektion. Verraten Sie mir den Künstler? Ich würde mit ihm gern Kontakt aufnehmen.«

Ihr hatte das Bild auch sofort gefallen, und sie war sehr gerührt gewesen, dass Alma es für sie gemalt hatte. Sie hatten von diesem Talent überhaupt nichts geahnt. Zuerst war der Lehrer bei ihr gewesen, bei dem Alma Unterricht nahm. Er hatte sie dazu bewegen wollen, Alma für ein Jahr in einer Künstlerkolonie zu beurlauben. Sie hätte zugestimmt, doch Alma hatte abgelehnt. Und jetzt dieser Kunsthändler. Es schien wirklich eine große Begabung in Alma zu schlummern. Und auch wenn der Gedanke, Alma zu verlieren, unerträglich für sie war, würde Roberta ihrer Getreuen niemals im Weg stehen.

Sie erzählte dem Kunsthändler, um wem es sich da handelte, was er kaum glauben konnte. Aber dennoch wollte er mit Alma unbedingt Kontakt aufnehmen. Den hätte Roberta vermittelt. Es ging nicht, Alma war mit ihrem Gospelchor zu einem Konzert nach Irland geflogen.

Der Kunsthändler war enttäuscht, er beschwor Roberta, unbedingt den Kontakt herzustellen.

»Frau Doktor, ich lasse Ihnen meine Karte hier. Bitte, sagen Sie Ihrer Haushälterin, sie möge mich anrufen«, beschwor er sie, und Roberta versprach es. Sie hätte es eh getan, doch wenn sie ehrlich war, sie wollte den Mann loswerden. Sie war mit Lars verabredet. Er wollte, dass sie ins Haus am See kam, und er hatte ein wenig geheimnisvoll getan, was sie neugierig gemacht hatte.

Er bedankte sich voller Überschwang.

»Frau Doktor, der Unfall hatte geschehen müssen, sonst wäre ich niemals in Ihrer Praxis gelandet, und ich hätte dieses wundervolle Gemälde nicht gesehen. Manchmal passieren solche Dinge. Wenn ich mich recht erinnere, wurde die Grandma Moses mit ihren naiven Bildern weltberühmt, weil ein Vertreter sie zufällig in ihrer Abgeschiedenheit kennengelernt hatte.«

Der Mann war begeistert, auch wenn sein Vergleich ein wenig hinkte.

»Ich werde alles tun, ich verspreche es Ihnen«, sagte sie, dann begleitete sie den Mann hinaus, nachdem der sich noch einmal das Gemälde im Wartezimmer angesehen und mit ihrer Erlaubnis ein Foto gemacht hatte.

»Wir haben es geschafft, Ursel«, rief sie, »und jetzt haben wir unseren Feierabend redlich verdient. Bleiben Sie gesund, das kann ich Ihnen aus vollstem Herzen mit auf den Weg geben, denn ohne Sie wäre ich aufgeschmissen.«

Ursel lachte. »Keine Sorge, Frau Doktor, wir schaffen das, und uns passiert auch nichts.«

Mit diesen Worten ging sie, Roberta eilte in ihre Wohnung, schlüpfte in eine Jeans, einen lässigen Pullover, sie zog bequeme Sneaker an, dann machte sie sich auf den Weg zu Lars.

Sie freute sich unbändig auf ihn, auf den wohlverdienten Feierabend, den sie in dem kleinen Haus so richtig genießen konnte. Es war mittlerweile ihr Zufluchtsort geworden, in dem sie mit dem Mann, den sie liebte, wundervolle Stunden verbracht hatte, von denen sie nicht eine missen wollte.

Sie rannte und kam ein wenig atemlos vor dem Haus an. Es brannte überall Licht. Es wirkte einladend, und als sie die Türklinke herunterdrückte, fiel aller Stress von ihr ab. Sie war nicht mehr die Frau Doktor, sie war die Frau, die liebte, die geliebt wurde.

Es schlug ihr wohlige Wärme entgegen, Lars hatte im Kamin ein Feuer entfacht, es ertönte Musik. Besser ging es nicht.

Es war die richtige Atmosphäre um dahinzuschmelzen.

»Da bist du ja endlich, mein Schatz«, rief Lars, kam ihr entgegen, nahm sie in seine Arme, küsste sie. Dann ließ er sie los, griff in seine Tasche und zog etwas hervor, was ihr den Atem verschlug.

Das …

Das konnte jetzt nicht wahr sein!

Roberta wurde rot, ihr Herzschlag beschleunigte sich, sie bekam feuchte Hände.

Nein!

Sie konnte es nicht glauben!

Der neue Sonnenwinkel Jubiläumsbox 5 – Familienroman

Подняться наверх